Morse wird in Cambridge Way eingelassen, erregt das Mißtrauen eines der Bewohner und entdeckt einen Toten.
Morse hatte über eine Stunde friedlich auf der Bank zugebracht, als er erschrocken hochfuhr. Da vertrödelte er nun hier die Zeit im Park, dabei war längst Pub-Öffnungszeit und der Duke of Cambridge lag nur etwa hundert Meter weit entfernt die Straße hinunter. Doch dann, vor der Tür der Gaststätte, zögerte er. Eine unerklärliche Ahnung, daß die Dinge plötzlich in Bewegung geraten seien und er keine Zeit verlieren dürfe, trieb ihn zurück zum Cambridge Way. Diesmal hatte er Glück. Auf sein wiederholtes Klingeln öffnete ihm nach einiger Zeit ein grämlich blickender Mann, Ende sechzig, der mit einem beigefarbenen Overall bekleidet war. In der rechten Hand hielt er einen Mop – offenbar war er der Hausmeister. Seinem schweißglänzenden Gesicht nach zu urteilen, hatte Morse ihn wohl gerade bei einer anstrengenden Tätigkeit gestört.
«Der Herr wünschen?» fragte er und nestelte nervös an seinem Hörgerät.
Morse erklärte, wer er sei, und mit kaum merklichem Zaudern trat der Mann beiseite, um ihn einzulassen. Er sei, sagte er unaufgefordert, seit etwas über einem Jahr hier als Hausmeister beschäftigt – übrigens «Oskins» sei der Name. Morse, vertraut mit dem Londoner Dialekt, ergänzte für sich im stillen das fehlende Anfangs-H. Er sei, fuhr der Mann fort, dienstags bis freitags jeweils von 8.45 Uhr bis 16.30 Uhr anwesend. Eine angenehme Arbeit alles in allem. Im wesentlichen sei er dazu da, tagsüber, während die Bewohner abwesend seien, ein Auge auf alles zu haben; und einmal in der Woche habe er das Treppenhaus zu reinigen.
«Wie ich draußen sah, sind immer noch einige Wohnungen zu haben.»
«Nein, nicht mehr. Zwei waren längere Zeit noch frei, aber inzwischen sind sie beide verkauft. Ich wollte das Schild draußen immer schon abnehmen, bin nur noch nicht dazu gekommen.»
«Alle beide sind verkauft?»
«Ja. Die im ersten Stock gehört jetzt einem Herrn aus Oxford. Der Verkauf liegt schon einige Monate zurück.»
«Und die andere?»
«Die ist erst vor ein paar Tagen weggegangen. An einen Ausländer.»
«Dieser Herr aus Oxford – war das zufällig ein gewisser Mr. Westerby?»
«Ja. Kennen Sie ihn?»
«Wissen Sie, ob er jetzt da ist?»
«Glaube ich nicht. Ich habe ihn seit damals, als er sich die Wohnung angesehen hat, hier nicht mehr gesehen.» Er zögerte. «Ist irgend etwas passiert, daß Sie sich …?»
Morse nickte ernst. «Ja, sogar eine ganze Menge. Und jetzt möchte ich mir mal seine Wohnung ansehen.»
Der Hausmeister stieg ihm voraus die Treppe hinauf zum ersten Stock, zog umständlich einen Schlüssel aus der Tasche und schloß auf. Gleich darauf standen sie in einer kleinen Diele, die geschmackvoll mit grauem Teppichboden ausgelegt war, auf dem auch nicht ein Stäubchen zu sehen war. Er mußte vor nicht allzu langer Zeit gesaugt worden sein.
«Zum Wohnzimmer geht es hier entlang.»
Der Raum machte keinen besonders einladenden Eindruck, Möbel und Kisten standen durcheinander, so wie die Packer sie abgesetzt hatten. Nur eine der Kisten mußte schon einmal geöffnet worden sein, um ihr den Kopf von Jacob Burckhardt zu entnehmen, den Morse gleich beim Eintreten auf dem Kaminsims entdeckt hatte.
Morse deutete auf die Büste. «Anscheinend ist Mr. Westerby inzwischen doch einmal hier gewesen.»
«Nicht, daß ich wüßte. Aber er kann natürlich abends mal vorbeigekommen sein, als ich schon weg war …»
Morse nickte, ging hinüber zu den beiden eingebauten Wandschränken und öffnete sie nacheinander. Doch nichts als staubige Leere gähnte ihm entgegen. Er runzelte irritiert die Stirn. Irgend etwas stimmte nicht. «Den Teppich draußen in der Diele – haben Sie den gesaugt?»
Morse hätte schwören können, daß der Mann um eine Spur blasser geworden war. «Nein, ich, ich, äh … ich sagte doch schon, ich bin nur zuständig für die Reinigung des Treppenhauses …»
Morse war überzeugt, daß er log, und glaubte auch den Grund dafür zu kennen: ein Hausmeister in einem Apartmenthaus wie diesem … die Bewohner zum Teil reiche Junggesellen … da bekam er garantiert ab und zu ein paar Pfundnoten in die Hand gedrückt, um den einen oder anderen Extraservice zu leisten, wie zum Beispiel Staubsaugen oder auch andere Dinge … Und er würde eine ganze Menge über die Bewohner hier wissen.
Doch alle Fragen, die Morse in dieser Richtung stellte, stießen nur auf undurchdringliches Schweigen. Nein, er habe mit den Mietern keinen besonderen Kontakt, manche kenne er überhaupt nur vom Sehen …
«Haben Sie Mr. Westerby damals die Wohnung gezeigt?»
«Nein, der Makler hatte jemanden geschickt, einen jungen Mann.»
«Ist es immer derselbe junge Mann?»
«Wie? Ich verstehe nicht …»
«Sie sagten doch, die andere Wohnung sei gerade vor einigen Tagen verkauft worden.»
«Ach so, Sie meinen, ob da auch wieder der junge Mann … Das kann ich Ihnen nicht sagen, da bin ich nicht dagewesen.»
«Dieser junge Mann – das ist nicht zufällig Mr. Gilbert selbst?»
«Glaube ich nicht, aber genau kann ich Ihnen das nicht sagen, ich habe ihn nie getroffen.»
Morse nickte. Wieder hatte er das Gefühl, daß irgend etwas nicht stimme, und so gab er auf gut Glück einen Schuß ins Dunkle ab. «Mr. Westerby war doch neulich noch mal hier, vor … na, wann wird es gewesen sein? – So vor gut einer Woche, würde ich sagen …»
«Davon weiß ich nichts. Ich habe ihn nur damals gesehen, als er sich die Wohnung hat zeigen lassen.»
«Ah ja», sagte Morse, «ich verstehe.» Doch das einzige, was er verstanden hatte, war, daß er nicht nur nicht ins Schwarze getroffen, sondern die Zielscheibe überhaupt verfehlt hatte. Ohne bestimmte Absicht, getrieben von einer diffusen Unruhe, warf er noch einen Blick ins Bad und in die Küche. In beiden Räumen war der Fußboden ungewöhnlich sauber, so als sei er kürzlich erst gewischt worden. Hoskins mußte einen schönen Nebenverdienst haben …
Weder die Inspektion von Westerbys Wohnung noch das Gespräch mit dem Alten, augenscheinlich jemand, der wußte, wann man die Hand aufhielt, aber ansonsten wohl harmlos, hatten Morse auch nur einen Schritt weitergebracht, und so war er, als er hinter dem Hausmeister die Treppe hinuntertrottete zurück ins Erdgeschoß, nicht gerade bester Laune. In diesem Augenblick kam ihm der Zufall zu Hilfe. Er hörte plötzlich hinter sich ein leises Geräusch, und als er sich umdrehte, entdeckte er, daß sich hinter ihm, links vom Eingang, ein Fahrstuhl befand. Merkwürdig, den hatte er vorhin gar nicht wahrgenommen. Die Fahrstuhltür öffnete sich, und heraus trat ein dunkelhäutiger Mann in einem eleganten grauen Maßanzug.
Hoskins tippte ehrerbietig mit dem Zeigefinger der rechten Hand an einen imaginären Mützenrand. «Tag, Sir.»
Zu Morse’ Erstaunen wandte der Mann sich nach links zur Rückseite des Hauses. «Wohin geht der denn?» flüsterte er Hoskins zu.
«Es gibt einen Hinterausgang», gab dieser leise zurück.
Als habe der Mann gespürt, daß über ihn gesprochen wurde, drehte er sich in diesem Moment halb um und warf einen teils erstaunten, teils argwöhnischen Blick zurück, den Morse auf sich bezog – offenbar war man hier empfindlich, was fremde Gesichter anging.
«Wer war das?» fragte er, als der Mann verschwunden war.
«Er wohnt im …»
Aber Morse hörte schon gar nicht mehr hin, der herunterkommende Lift hatte ihn daran erinnert, daß es auch noch ein zweites und drittes Stockwerk gab. «Hoskins, ich möchte die Wohnung sehen, die zuletzt verkauft worden ist!»
Der Fahrstuhl trug sie in Sekundenschnelle nach oben. Hoskins brauchte einige Zeit, ehe er den richtigen Schlüssel gefunden hatte, dann öffnete er die Tür und ließ Morse vorangehen.
Für Morse hatten sich unversehens einige Dinge geklärt, er glaubte, plötzlich wieder eine Richtung zu sehen.
«Hat man Sie an dem Nachmittag weggeschickt, Hoskins?»
«Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen», sagte der Hausmeister mürrisch, aber sein Widerstand brach angesichts von Morse’ Vorhaltungen bald zusammen.
Ja, gab er zu, am Freitag vor zwei Wochen habe er morgens einen Anruf von Brooks & Gilbert erhalten, man wünsche, daß er sich ab Mittag freinehme.
Morse nickte. So etwa hatte er sich das auch vorgestellt. Alles Nötige war unauffällig, aber nichtsdestoweniger effizient organisiert worden. Genauso unauffällig und effizient wie die geschäftliche Verbindung der beiden Brüder: der eine Makler, der andere Umzugsunternehmer … Wie viele Aufträge Alfred seinem Bruder wohl über die Jahre zugeschanzt haben mochte …? («Also, wenn Sie ein zuverlässiges Umzugsunternehmen suchen …»)
Morse blickte sich aufmerksam in der Wohnung um: eine kleine Diele, ein Wohnzimmer, ein Schlafzimmer, Küche und Bad. Alle Räume waren frisch renoviert, und überall waren die Fußböden so makellos sauber wie der Fußboden in einem Kasernenschlafsaal, wenn sich der diensthabende Offizier zu einer Inspektion angesagt hat.
«Hier haben Sie scheint’s auch saubergemacht, was, Hoskins?» sagte Morse.
Der Anblick der hellgelb gestrichenen Wände und der weißglänzenden Türen und Fenster erinnerte ihn daran, daß er eigentlich schon seit Jahren vorhatte, seine dunklen Räume zu Hause wieder einmal streichen zu lassen. Und vielleicht sollte er sich auch endlich von den schweren, klobigen Walnußholzmöbeln trennen, die er von seiner Mutter geerbt hatte, und sie gegen eine leichtere, moderne Einrichtung eintauschen.
Er trat an einen der Wandschränke, öffnete ihn und blickte hinein. Doch es gab nicht viel zu sehen, der Schrank war leer. Als er den zweiten öffnen wollte, stellte er fest, daß er verschlossen war. Das war ja eigenartig.
«Haben Sie einen Schlüssel für diesen Schrank hier, Hoskins?»
«Nein, Sir. Ich habe nur die Schlüssel für die Wohnungen.»
«Ich meine, ich hätte neben der Spüle was liegen sehen …» Morse ging hinüber in die Küche und kehrte mit einem Schraubenzieher in der Hand zurück.
«Damit müßten wir ihn aufkriegen.»
«Ich … äh, ich möchte nicht, daß Sie Schwierigkeiten kriegen, Sir – oder ich. Ich hätte Sie eigentlich gar nicht hier heraufbringen dürfen … Und wenn Sie jetzt noch den Schrank hier aufbrechen …»
Morse tat der Mann leid, anscheinend zitterte er innerlich vor Aufregung. «Nun beruhigen Sie sich mal, Hoskins. Für alles, was hier geschieht, übernehme ich die volle Verantwortung. Und schließlich tun wir beide nur unsere Pflicht – ich als Polizeibeamter und Sie als Bürger.» Die Worte hatten offenbar tatsächlich eine beruhigende Wirkung auf Hoskins. Er nickte leicht mit dem Kopf und schien sich dreinzuschicken, und am Ende war er es – nicht Morse, dessen Bemühungen vergeblich gewesen waren –, der den Schrank aufbekam, indem er den Schraubenzieher tief in den Spalt zwischen der Tür und dem Querbalken darüber schob und diese so aufhebelte. Auf dem Boden des Schrankes, das Gesicht zur Rückwand gedreht, lag die Leiche eines Mannes. In seinem Sportjackett, ziemlich genau zwischen den Schulterblättern, befand sich ein kleines Loch, aus dem in steter Folge Blut tropfte, das sich in einem dunklen kleinen See sammelte. Morse mußte tief Luft holen, bevor er sich überwand, unter den leblos hängenden Kopf zu fassen und ihn herumzudrehen.
«Mein Gott!»
Einen langen Moment lang starrten beide Männer in das Gesicht des Toten, der sie aus weit aufgerissenen, hervorquellenden Augen anzusehen schien.
«Kennen Sie ihn?» sagte Morse heiser, seiner Stimme kaum mächtig.
«Ich habe ihn in meinem ganzen Leben noch nie gesehen, ich schwöre, ich …» Er war aschfahl und schien am Rande eines Zusammenbruchs.
«Schon gut, alter Junge, schon gut», sagte Morse und wollte ihm gerade beruhigend auf die Schulter klopfen, als er plötzlich die Augen verdrehte und in sich zusammensackte. Seufzend beugte sich Morse hinunter und tätschelte ihm die Wangen, bis er wieder zu sich kam, ließ sich dann seine Adresse geben und schickte ihn nach Hause. Sollte er sich dort erst einmal erholen. Befragen konnte man ihn immer noch, er lief ja nicht weg. Nachdem Hoskins gegangen war, wählte Morse 999 und informierte die Metropolitan Police über seine Entdeckung. Dann trat er wieder an den Wandschrank, um sich den Toten noch einmal in aller Ruhe, bevor die Kollegen eintreffen würden, anzusehen. Aus der rechten Brusttasche des Jacketts lugte eine weiße Karte hervor. Morse zog sie mit spitzen Fingern heraus und steckte sie, nachdem er einen kurzen Blick darauf geworfen hatte, mit grimmigem Lächeln ein. Ja, er hatte sich nicht geirrt, als er glaubte, in dem Toten jenen Mann wiedererkannt zu haben, dem er vor fünf Tagen in George Westerbys Räumen begegnet war: A. Gilbert, Umzugsunternehmer.