Epilog

Ein kurzer Sieg

 

Sam hörte einen Kessel pfeifen. Es war ein seltsames Geräusch, eines, das er nicht erwartet hatte. Er hatte zumindest mit Feuer und Schreien gerechnet. Eine lange Zeit lag er ganz still und starrte gegen die Decke. Es war nicht der interessanteste Anblick, denn sie war von Wasserflecken verfärbt und nicht mehr besonders weiß. In einer Ecke hing ein Spinnennetz.

Er lag auf einem Sofa, zugedeckt bis zum Kinn und mit einem fremden Hemd bekleidet. Der Rücken tat ihm weh. Der Arm ebenfalls. Er hob versuchsweise den Arm und sah ihn sich an. Er war mit einer blutdurchtränkten Mullbinde bedeckt, die er vorsichtig abwickelte. Ein großer Bereich von getrocknetem Blut kam zum Vorschein. Er kratzte das Blut ab. Darunter kam ein rosiges Netz von Narbengewebe zum Vorschein, wo die Kugel eingedrungen war. Es gab keine Kugel, auch keine Wunde, und die Vernarbung heilte bereits ab.

Er setzte sich auf. Er spürte die Wärme seines Gesichts und seiner Hände, als hätte er sich nicht vorstellen können, jemals wieder zu heilen. In diesem Augenblick ging die Tür auf, und jemand kam rücklings, mit einem Tablett in den Händen, herein. Sam blickte ein paar Sekunden auf den gerundeten Rücken, ohne sich irgendetwas dabei zu denken, dann sah er auf das Tablett. Der Toast und Kaffee darauf fanden seine ungeteilte Aufmerksamkeit den ganzen Weg durch das Zimmer hindurch bis zu seinem Schoß.

Adam hockte sich neben ihn auf das Sofa.

»He«, machte Sam.

»He. Ihr lebt also.« »Glaub schon. Und du?«

»So, wie's aussieht. Die Pandora-Geister scheinen fort zu sein.«

»Ich...«

»Ihr habt die Geister mit dem Licht angegriffen. Ihr habt tausende Seelen gebündelt, habt an Vertrauen, Liebe und Mitleid gedacht - und peng! Sie sind geplatzt.«

»Aber ... ich habe sie nicht vernichtet.« Sams Kommentar bedurfte keiner Antwort. »Wenn ich sie getötet hätte«, fuhr er langsam fort, »hätte ich jede einzelne Seele, jedes Bewusstsein in jeder einzelnen Welt zusammenbringen müssen. Die Anstrengung hätte mich wahrscheinlich ebenso getötet wie sie.«

»Ihr habt auch Seth nicht getötet«, sagte Adam. »Obwohl Ihr ziemlich nahe dran wart. Und offensichtlich seid auch Ihr nicht tot.«

»Aber ich war auch verdammt nahe dran?«, fragte Sam.

Adam nickte. »Seth ist geflohen«, fügte er hinzu. »Die Geister sind stark geschwächt und haben sich verkrochen. Ihr habt sie für eine Weile aufgehalten.«

»Für eine sehr kleine Weile.«

»Eine Atempause«, stimmte Adam zu.

»Was ist geschehen, nachdem ...?«

»Ich wachte auf mit Eurer Magie tun mich herum und einer vagen Erinnerung der Art, dass ich - äh - versucht hatte, Euch zu töten. Von den Geistern war nichts mehr zu spüren, also ging ich Euch suchen. Ihr wart im Koma; Ihr habt fast eine Woche lang in einer regenerativen Trance gelegen. Keiner von uns konnte Euch wecken. So haben wir Euch eingepackt und heimgeflogen.« Adam lächelte nervös. In seinen Augen stand Staunen, gepaart mit einem Hauch von Furcht. »Ihr habt gesiegt.«

»Für den Augenblick.«

»Dennoch habt Ihr gewonnen. Zumindest eine Schlacht, wenn nicht den Krieg.«

Sam sagte nichts.

»Wie... wie war es? Das Licht«

»Es war... geradezu friedlich. Ich hörte die Seelen von allen reden. Ihre vereinten Gefühle - Liebe, Vertrauen und Mitleid. Und dann ... Dann spürte ich, wie Hass, Gier und Argwohn vor dem Licht zu fliehen versuchten, und ich tat nichts. Ich war nichts - wir waren eins. Aber...« Sam lächelte leicht. »Aber ich weiß nicht, ob das meine eigene Erinnerung ist oder ob ich mich an die Erinnerung von jemand anderem entsinne.«

Schweigen. Dann sagte Adam: »Was werdet Ihr jetzt tun?«

»Ich weiß es nicht. Seth hat Andrew durch die halbe Welt nachgejagt, um seinem Geist die Information über Uranos zu entreißen, was Andrew das Leben kostete. Ich glaube nicht, dass Seth dieses Wissen auf ewig vergraben wird.«

»Ihr meint wirklich, er will weiter nach Uranos suchen?«

Sam dachte nach. Uranos ist nicht das Ende von allem; er ist das Ende von allem, wie wir es kennen. Ein Ende der Zeit - ein Ende des Todes, ein Ende des Schicksals, ein Ende der Gefangenschaft, in der wir leben. Seth hatte vor Eifer geglüht, als er das sagte. In seinen Augen hatte ein fanatischer Glanz gelegen, wie Sam ihn oft in Jehovas Augen bemerkt hatte. Der Blick eines Mannes, der entschlossen war, einen wahnwitzigen Plan zu Ende zu führen. »Ja, ich glaube, das wird er. Aber jetzt noch nicht Er kann es nicht.«

»Was ist mit Fran?«

Sam zuckte die Schultern. »Sie hat Freya an jene drei verraten. Sie hat ihnen gesagt, was Freya getan hatte und wie sie ihre Pläne vereiteln wollte.«

»Werdet Ihr sie zur Rechenschaft ziehen?«

»Sie ist ein Kind des Chronos in dritter Generation. Es gibt bessere Gelegenheiten für Rache. Sie wird ihrem Schicksal nicht entgehen, genau wie Asmodeus und Seth. Aber Uranos...« »Wenn Uranos freikommt.«

»Dann werde ich wahrscheinlich gezwungen sein, wieder das Licht anzuwenden. Etwas, dem ich, um das klarzustellen, aus Prinzip abgeneigt bin.«

»Aus welchem Prinzip?«

»Lucifers Überlebensprinzip, komplett mit Fußnoten und einer illustrierten Sonderausgabe für den passionierten Sammler. Aber Uranos wird nicht freikommen.«

»Warum nicht?«

Ein Lächeln. Der Hauch einer Erinnerung an jenes jungenhafte Grinsen, das einst sein Kennzeichen gewesen war, ein Funke des alten Sam. »Warum nicht? Weil ich mit einem großen Schwert und einer Menge Motivation dafür sorgen werde, darum nicht. Wenn irgendeiner von denen auch nur zuckt, werde ich da sein. Ich bin schließlich der Teufel. Nachdem man mir Tausende von Jahren nachgesagt hat, dass keiner an mir vorbeikommt, bin ich fast geneigt, es zu glauben.«

»Meint Ihr nicht, dass Tausende von Jahren von seiner eigenen dunklen Macht zu hören zu einer gewissen Selbstüberschätzung fuhren kann?«

»Du redest mit einem Mann, der womöglich die Welt vor einer kleineren Apokalypse gerettet hat.«

»Für den Augenblick.«

»Ja«, stimmte Sam zu. »Für den Augenblick.«

Eine lange Zeit sagte keiner etwas. Adam brach das Schweigen, und in seiner Stimme schwang etwas, was, wäre sie menschlich gewesen, als Furcht gedeutet werden könnte. »Und was nun?«

»Was nun?« Sam hätte fast gelacht. »Jetzt werde ich frühstücken. Ich sterbe vor Hunger. Und morgen ist ein neuer Tag, nicht wahr?«

»Solange es Leben gibt, gibt es Hoffnung.«

»Solange es Zeit gibt«, wies Sam ihn milde zurecht. »Und

selbst dann braucht dieses Sprichwort eine neue Formulierung. Vielleicht: »Solange es Zeit gibt, gibt es Bewegung auf der Raum-Zeit-Linie ? «

»Und Hoffnung?«

»Du wirst doch nicht zum Romantiker, oder?«

»Noch nicht.«

»Aber morgen?«

»Ich weiß nicht, ob es so etwas wie einen romantischen Elfen gibt.«

»Die Zeit verändert jeden, Adam. Das solltest du inzwischen gelernt haben.«

Schweigen. »Und morgen?«

»Es gibt Hoffnung«, stimmte Sam schließlich zu. »Neue Bedrohungen, aber auch Hoffnung.«

»Für den Augenblick.«

»Bis morgen. Und vielleicht darüber hinaus.«

Sam lächelte vage und lehnte sich zurück. Mit halbem Ohr lauschte er den Stimmen, die immer noch in seinem Kopf widerhallten. Uranos ist nicht das Ende von allem; er ist das Ende von allem, wie wir es kennen.

Ich weiß, Bruder. Aber die Dinge, wie wir sie kennen, sind nicht völlig schlecht, nicht wahr?

Er schlief.

Weniger eine Erinnerung als ein Traum. Ein Traum der Vergangenheit und vielleicht auch der Zukunft.

Träume haben eine Bedeutung, so hatte man ihm erzählt. Doch Erinnerungen machen einen zu dem, was man ist. Und so erinnerte er sich.

Der Raum der Uhren war leer. Der einzige Laut darin war das ständige Ticken von Uhrwerken. Er schaute sich um, und sein Blick fiel auf die Uhr, in der er vor langer, langer Zeit ein

Schwert und eine Krone gefunden hatte. Dann hob sich sein Blick zum ersten Mal zu dem riesigen leeren Thron an der Kopfseite der Halle empor. Hinter dem Thron war die größte Uhr von allen, aus reinem Licht gemacht. Ihr Ziffernblatt sah merkwürdig aus; man hatte ihm einmal erzählt, dass der Sekundenzeiger nicht die Pause zwischen einem Schlag und dem nächsten maß, sondern die Schwingung des Lichts. Sam stand da und starrte auf den leeren Thron. »Nein«, sagte er schließlich, »es kümmert dich nicht, nicht wahr?« Er seufzte und begann die Halle mit seinen Schritten zu durchmessen, wobei er weitersprach, wie zu sich selbst.

»Es ist sehr kompliziert, aber ich glaube, der Dreh- und Angelpunkt der Sache ist dies: Du bist der Prozess, durch den wir leben und schließlich sterben. Du bist der Anfang und das Ende, und beides ist dir von Natur aus gegeben. Allein aber bist du nicht mehr als das. Aber mit dem Leben, insbesondere denkendem und fühlendem Leben, wirst du zu etwas mehr. Jeder Gedanke, den ich fasse, braucht Zeit und nimmt ein bisschen von dir, und so erinnerst du dich natürlich daran, als ob es dein eigener wäre. Und so ist jeder Gedanke und jedes Gefühl ein Teil von dir, ist in dir, irgendwo in einem großen Gemenge zusammen mit allen anderen. Und doch kümmert dich das alles nicht.«

»Warum bist du hier?« Die Stimme schien von allen Seiten zugleich zu kommen, erfüllte den Raum, dröhnte betäubend in seinen Ohren.

Er duckte sich in Furcht, doch als er sprach, geschah es mit Trotz: »Du solltest es wissen! Du bist in meinen Gedanken!«, schrie er laut, um die Echos zu übertönen.

Der Raum schien sich zu verdunkeln, die Schatten wurden länger, verschmolzen ineinander. Sam war es plötzlich sehr kalt.

»Anmaßender Bursche! Du wagst es, jetzt zu mir zu kommen? Du wagst es anzunehmen, dass ich dir helfen werde?«

»Ich bin dein Sohn!«

Etwas huschte über Sams Fuß. Etwas anderes packte ihn von hinten, doch als er sich umdrehte, war es nur ein Schatten. Etwas Schweres traf ihn zwischen den Schultern, und er fiel auf Hände und Knie nieder.

Auf Hände und Knie, direkt vor dem leeren Thron. Dann packte ihn eine Hand, unnachgiebig und kalt wie Eis, bei den Haaren und riss seinen Kopf hoch. Er spürte den Druck einer Klinge an seiner Kehle und den Schmerz eines Schnitts, als wäre es wirklich geschehen.

»Niemand hat je so zu mir gesprochen wie du, Knabe. Niemand hat es je so gewagt, meinen Zorn herauszufordern!«

»Du hast mich selbst dazu gebracht!«, schrie er zurück, zitternd vor Furcht. Es war nicht seine Furcht, denn in dem Augenblick verspürte er eine große innere Ruhe, sondern ein älterer Schrecken, der aus seinen Erinnerungen gespeist und ihm von einem zornigen Vater immer wieder vorgehalten wurde.

»Bin ich nicht dein notwendiges Kind? Hast du mich nicht geschaffen, um deinem Zweck und allein deinem Zweck zu dienen? War nicht das Licht zu sanft für dich, und ist nicht Magie die einzige Macht, die deine tödlichen Spiele mitspielen kann? Bin ich nicht dein?«

»Du widersetzt dich mir! Mir! Mit jedem Atemzug, den du tust, trotzt du mir, und jeder Gedanke, den du denkst, ist darauf gerichtet, mich zu überlisten. Mich!«

Sam öffnete den Mund, um zu sprechen, doch die Stimme peitschte seine Ohren, bevor er etwas sagen konnte. »Streite es nicht ab, denn ich bin in deinen Gedanken und bin es immer gewesen!«

»Dann weißt du auch, warum ich dir trotze! Wie kannst du in mir sein, und doch kümmert es dich nicht?«

Schmerz durchfuhr ihn wie Feuer. Sam wand sich, doch der

Griff war unmöglich zu brechen. »Du weißt, dass ich nicht die Absicht habe, dir und deinen Plänen zu dienen. Wenn es dich nicht kümmert, warum tötest du mich dann nicht und sparst dir den Ärger?«

Der Griff lockerte sich plötzlich, und Sam kippte nach vorn nach Atem ringend. Die Furcht war fort, und der Schmerz ebenso. Doch die Schatten um tanzten ihn immer noch. Er ließ den Blick durch die Halle schweifen. Es war niemand da.

»Warum widersetzt du dich mir?«, flüsterte eine Stimme, und sie klang so traurig und müde, dass ihn ein plötzliches Schuldgefühl überkam, den Sorgen dieser alten Macht noch eine weitere hinzugefügt zu haben.

»Dich kümmert es nicht einmal, was mit deinen Kindern geschieht. Sie vernichten sich gegenseitig, und wenn dies eine bestimmte Zukunft herbeiführt anstelle einer anderen, dann nimmst du es in Kauf. Der einzige Grund, weshalb du mich noch nicht vernichtet hast, obwohl ich mich gegen dich auflehnte, ist, weil du mich brauchst.

So. Ich habe das Eden-Projekt vereitelt. Hoho! Gut für mich. Wenigstens dein Sohn kann etwas fühlen, auch wenn der Vater das Herz eines Ziegelsteins hat. Und was jetzt? Wenn du mich am Leben lässt, lass mich um meinetwillen leben, nicht um deinetwillen. Vater! Willst du mich wirklich glauben machen, dass ich als ... als eine Maschine geschaffen wurde, die eine bestimmte Aufgabe vollbringen und dabei krepieren soll? Kannst du nicht wenigstens so tun, als würde es dich kümmern?«

Schweigen. Mit einem Seufzer raffte Sam sich auf und bedachte den Thron mit einem ausgesprochen finsteren Blick. »Es ist dir egal, nicht wahr? So war es immer. So wird es immer sein.«

»Du wirst mir dienen.« Es war ein Wispern, nicht mehr. »Was immer du tust, du wirst mir dienen. Es gibt kein Entkommen.«

Sams Augen wanderten zu der Lichtuhr hinter dem Thron. Und er lächelte ein leeres, humorloses Lächeln.

»Man kann allem entkommen, wenn man nur weiß, wie man es anstellt.«

Er setzte sich in Bewegung, tat den ersten Schritt, den zweiten. Erst langsam, dann immer schneller lief er. Magie erhob sich um ihn, als er auf den Thron zurannte. Schatten griffen nach ihm, krallten nach seinen Füßen. Die Furcht war wieder da und der Schmerz, zehnfach stärker als zuvor. Und die dröhnende Stimme, die den Raum erfüllte, die das ganze Universum erfüllte mit ihrem Zorn.

»Du wirst dich mir nicht widersetzen, Träger des Lichts! Nicht dieses Mal!«

Bilder erhoben sich vor seinen Augen, schreckliche Bilder, aus den Erinnerungen von Milliarden anderer Seelen ans Licht gezerrt, doch Sam achtete nicht darauf. Er wusste, wer er war, und er konzentrierte sich auf jenes eine Ich unter all den anderen. Im Weiterlaufen verwandelte er sich. Funken sprühten aus seinen Fingern, und als er seine Arme ausbreitete, war es, als ob ein Mantel aus reinem Licht mit ihnen aufwallte, Schwingen gleich, die ihn trugen.

»Lucifer! Du kannst mir nicht entrinnen!«

Mit einem Lachen, das dem Mut der Verzweiflung entsprang, stürmte Lucifer direkt durch die Uhr aus Licht und auf der anderen Seite wieder hinaus.

So hatte er am Ende also doch Recht gehabt, und als er seine magischen Schwingen öffnete und spürte, wie ihn der Aufwind ergriff, fragte er sich, was seine Brüder und Schwestern wohl sagen würden, wenn sie wüssten, wie dünn die Wände der Zeit und auf wie viel Leichtgläubigkeit sie gebaut waren.

Irgendwo in London öffnete sich ein Durchgang aus silbernem Licht, schimmerte ein paar Sekunden in der Luft und verschwand wieder.

Er wusste, wer der Feind war, wohin er zu gehen und was er zu tun hatte. Es gab drei davon, die mit Feuer spielten. Sie hatten sich die Finger verbrannt, aber das Spiel ging weiter.

Er hatte nur eine winzige Chance, eine Chance von eins zu einer Million. Aber es war besser als nichts.

ENDE