13
Die Sonne war schon untergegangen, als der Zug in den Bahnhof von Kaluga einfuhr. Es war zehn Minuten vor der vereinbarten Zeit. Unter dem Deckmantel der Illusion kaufte Sam sich einen übel schmeckenden Instantkaffee und hockte sich mit dem Plastikbecher in der Hand auf einen Fahrradständer draußen vor dem Eingang zum Bahnhof. Er war zu müde, um den Menschen, die den Parkplatz querten, den flackernden Neonlichtern oder den knisternden Lautsprecheransagen im Bahnhof Beachtung zu schenken. Es war ein Wunder, dass seine Illusion ihn nicht hier und jetzt verließ, während seine Gedanken auf Pfaden wandelten, die zu komplex waren, als dass der Körper ihnen hätte folgen können. Er hatte seinen Kaffee ausgetrunken, doch unbewusst hob er den Becher wieder zum Mund. Irgendwo schlug eine Uhr sieben. Er wartete.
Am Himmel zogen sich Wolken zusammen, und Schnee begann zu fallen - feuchter Schnee, der sofort schmolz, wenn er auf das Pflaster traf. Sam streckte die Hand aus und sah zu, wie die kleinen Kristalle sich darauf niederließen, vergingen und zu Wasser wurden, so rasch, als sei die Natur auf Schnellvorlauf gestellt.
Viertel nach. Ein freundlicher Gepäckträger, der ihn als Fremden erkannte, fragte, ob alles in Ordnung sei. Er bejahte es; doch die Frage hatte etwas in ihm in einen Zustand der Alarmbereitschaft versetzt.
Wo ist Wisperwind?
Er hatte das Gefühl, dass die Sekunden vorbeikrochen. In seiner Fantasie sah er in jedem Auto, das am Bahnhof vorbeifuhr, drei Personen sitzen, doch keine davon warf ihm einen Blick zu. Zugleich gab er sich selbst die Schuld an diesem neuerlichen Fehlschlag - und zerbrach sich den Kopf, um einen Ausweg zu finden.
Der feuchte Schnee fiel nun dichter. Seine Kleider waren inzwischen halb durchweicht. Der Schneeregen und seine eigene Müdigkeit ließen die Neonlichter verschwimmen. Sam schüttelte den Kopf, um ihn zu klären, und merkte, dass sein vorgetäuschter Bart sich gelichtet hatte, ohne dass es ihm bewusst geworden war. Mit schierer Willenskraft brachte er ihn erneut zum Vorschein, und das selbst geschaffene Trugbild legte sich wieder über seine wahre Gestalt.
Nebel kam auf. Ein seltsamer Nebel, denn für Kaluga war so etwas nicht typisch, nicht um diese Jahreszeit und nicht bei diesem Wetter. Innerhalb von wenigen Sekunden stieg er von überallher auf, wurde dicht und erstickte sogar den Schnee. Er verdrängte den Gestank der Autoabgase und ließ einen leichten Hauch von toten Blättern zurück. Bald war er dicht genug, dass die Lichter der Straßenlaternen nur noch als leuchtende orangefarbene Flecke im trüben Dunst schwammen. Sam ließ seine Illusion sinken, verließ sich auf den Nebel als Deckung. Wo bist du, Wisperwind? Warum hast du deine Macht aufgeboten?
Ein Betrunkener beschwerte sich lautstark über den Nebel, als er mit einer Flasche in der Hand auf der Suche nach ein wenig Wärme und Schutz die Stufen zum Bahnhof hochtorkelte. Ein vorbeigehendes Paar wunderte sich darüber, wie plötzlich das Wetter umgeschlagen war. Eine hinkende alte Frau versicherte ihrem bejahrten Begleiter, dass dies »nicht normal« sei.
Ein Auto stoppte abrupt - doch nicht Peter stürzte heraus, mit Sams Namen auf den Lippen, sondern ein junges Paar, das in Panik war, den Zug zu verpassen. Hinter ihm hupte ein Lastwagenfahrer; verärgert setzte der Fahrer des PKWs sein Gefährt wieder in Bewegung.
Das Quietschen von Bremsen gehörte zu einem kleinen weißen Ford, der aussah, als würde er jeden Moment auseinander fallen, als er schlingernd und mit überhöhter Geschwindigkeit auf den Parkplatz einbog. Kaum die ängstliche Fahrweise von Wisperwind. Der Wagen hielt dennoch vor Sam an, und ein Fenster wurde heruntergekurbelt. Ein bleiches Gesicht, das Sam nie zuvor gesehen hatte, rief ihm zu: »Hierher!«
»Wer bist du?«
»Peter schickt mich. Er ist in Schwierigkeiten!«
Überrascht mich nicht. Sam hielt die Hände bereit für einen Kampf oder einen Trick, als er auf den Wagen zuging. Keine von seinen Warnzaubern ging los, so nahm er auf dem Beifahrersitz Platz und sank in das Polster zurück, als der Wagen losfuhr. »Wer bist du?«, fragte er.
»Man nennt mich Mascha.«
Er erkannt sie als Nixe, roch das Meer und bemerkte ihr gefärbtes blondes Haar. Unter der Tönung war die Farbe vermutlich blau. Sie hatte ein kleines, sorgenvolles Gesicht und konzentrierte sich ganz aufs Fahren.
»Wo sind Peter und Wisperwind?«
»Sie sind in Sicherheit. Im Augenblick.«
»Und der Mensch, Andrew?«
»Auf dem Weg zur Hölle.«
Sams müdes Gesicht verzog sich, bevor sein Gehirn die Worte übersetzte. »Er stirbt?«
»Das Gift des Feuertänzers zehrt ihn aus. Er liegt im Koma, wacht vielleicht nicht mehr auf. Er und die anderen sind zusammen.«
»Aber wo?«
»Es ist nicht weit«, versprach sie. »Aber der Feind ist auch nahe.«
Sie waren von der Hauptstraße abgebogen und fuhren jetzt durch leere Seitenstraßen. Ein Plattenbau ragte im Nebel auf, grauer, hässlicher Beton. Zerbrochenes Glas war zu sehen und Autos, die seit Jahren nicht mehr bewegt worden waren. Aber in ein, zwei Fenstern sah Sam, dass wenigstens irgendjemand stolz genug auf die eigene Wohnung gewesen war, um eine hässliche Plastikvase mit Blumen zu füllen. Wenn man nichts anderes kannte, mochte jedes Zuhause als wunderbarer Ort erscheinen.
Mascha hielt vor einem der höchsten Wohnblocks an. »Sie sind da drin. Dritter Stock. Der Aufzug ist kaputt.«
»Kommst du nicht mit?«
»Ich habe damit nichts zu tun. Ich bin nicht verrückt.«
Irgendein sechster Sinn Sams schlug bei diesen Worten an. Oh, aber du hast was damit zu tun. Jetzt schon.
Auch sie war voller Misstrauen, als Sam sich anschickte auszusteigen. Ihre Augen folgten jeder seiner Bewegungen oder versuchten es zumindest. »Ist noch was?«
»Nichts. Ich will nur nichts hier lassen.«
Spürte sie die Lüge hinter seinen Worten? Wenn ja, dann sollte sie wissen, dass sie nichts gegen ihn ausrichten konnte...
Die Tür des Hauseingangs stand unerklärlicherweise offen. Irgendjemand hatte ein altes Telefonbuch zwischen Tür und Rahmen geklemmt. Hinter ihm quietschten die Reifen, als der Wagen davonschoss.
Sam trat in die Eingangshalle. Das Tropfen von undichten Rohren war zu hören und das Mahlen eines Lifts, der zwischen den Stockwerken fest hing. Es stank nach Urin, und an einigen Stellen verunzierten Graffiti die Wände. Sam wunderte sich erneut über Wisperwinds Wahl eines Verstecks. Im Schein der einsamen Glühbirne, welche die Halle erleuchtete, zückte er sein Schwert, dann zog er den Dolch aus dem Ärmel und band ihn sich mit der Schnur von seinem Schwert lose um den
Unterschenkel. Seine Nerven schrien: Gefahr!, doch von wem oder woher konnte er nicht sagen.
Mit dem Schwert in der Hand schlich Sam die Betontreppen hoch. Dabei zählte er die Stufen, aus keinem ersichtlichen Grund, streckte zugleich seine Sinne nach vorn und hinten aus und hielt sich eng an der Wand. Es war kalt genug in dem Gebäude, dass sein Atem eine weiße Wolke bildete.
Er bog auf dem Absatz zum dritten Stock um die Ecke, und was dann geschah, kam für ihn ebenso vorhersehbar wie plötzlich.
Sie lauerten direkt hinter der Ecke. Sam hatte sie nicht erspürt; denn es waren Menschen, und er hatte nicht mit einer nichtmagischen Drohung gerechnet. Sie stürzten alle zugleich auf ihn zu, und er merkte schnell, wie schwer es war, ein Schwert zu führen, wenn drei große Männer auf einen eindrangen. Hände packten seinen Schwertarm und hielten ihn fest. Ein Arm legte sich um seine Kehle, brach ihm fast das Genick. Etwas Hartes stieß ihm in den Rücken. Er schloss die Augen, um Magie zu sammeln und die Männer abzuschütteln, und hörte das Klicken einer Pistole. Und eine Stimme: »Silberkugeln, Lucifer! Zwing mich nicht...!«
Sam öffnete die Augen wieder. Er spürte die ölige Mündung der Waffe im Nacken, wusste, dass sie Silbergeschosse enthielt, wusste, dass er sterben würde. Er gab allen Widerstand auf - was seine Angreifer noch mehr zu verwirren schien, sodass es noch einige Hiebe dauerte, bis seine betäubten Ohren die Worte vernahmen: »Hört auf damit und schafft ihn rein!«
Es war die Niederlage, die Sam unbewusst den ganzen Tag hatte kommen sehen. Die letzte Abrechnung, mit der er gerechnet hatte. Traue keinem außer dir selbst, dachte er. Dann weißt du wenigstens, warum du was falsch machst.
Er war sich bewusst, dass jemand ihm sein Schwert abgenommen hatte und dass andere ihn in eine kleine Wohnung zerrten, einen spärlich möblierten Raum, wo unter großen Lampenschirmen gelbe Lichter schienen und eine alte Dame Tee servierte. Eine Hexe, stellte er mit nur mildem Interesse fest. Es gab mehr von ihnen, als die meisten vermuteten. Alte Hexen insbesondere wussten ihre magischen Fähigkeiten geschickt zu verbergen. Sie hatten erkannt, dass die beste Methode war, einfach seinen Geist auszusenden, während man den ganzen Nachmittag mit den Freundinnen herumsaß.
Zwei Leute durchsuchte ihn, doch sie gingen dabei nicht sehr gründlich vor. Man hatte ihnen sicher gesagt, wo sie suchen sollten, da sie sich hauptsächlich auf Arme und Handgelenke konzentrierten.
Eine weitere Hand tastete ihm den Hals ab. »Nichts da.«
Höchst unprofessionell, dachte Sam.
Unsanft wurde er in die Mitte des Teppichs gestoßen und an Händen und Füßen mit Klebeband gefesselt. Er hörte, wie die alte Dame mit besorgter Stimme fragte: »Was ist mit seinen Augen? Wird er keine Magie wirken?«
Wieder der Druck einer Pistolenmündung gegen seine Haut. »Nein, nicht mit dem hier im Nacken. Du bist zu empfindlich, nicht wahr, Lucifer?«
Ein Teil seines Geistes, der in Deckung gegangen war, als der Kampf begann, kam nun wieder hervorgekrochen und eröffnete ihm einige interessante Tatsachen. Zum einen hockten da Wisperwind und Peter, ebenfalls an Händen und Füßen gefesselt und mit verbundenen Augen, am anderen Ende des Zimmers unter einem Fenster an der Wand. Neben ihnen stand ein weiterer Anderer, der für Sams magische Augen in demselben Licht glühte, wie es Wisperwind eigen war. Ein Nebelbeschwörer also. Zum anderen sah er auf einem Sofa Andrew liegen, bewusstlos, blass und schweißbedeckt; sein Atem ging flach. Und überdies - für Sam der wichtigste Faktor - standen eine Handbreit von seiner Nase entfernt zwei schwarze, glänzende Stiefel, und die Stimme, die gesprochen hatte, klang... vertraut.
»Michael? Was machst du hier?«, fragte er matt.
»Schauen, dass dir nichts passiert, altes Haus.«
»Sehr nett von dir. Hat Jehova dich geschickt? Was macht er in diesem ganzen Schlamassel?«
Die Stiefel verschwanden, ein Paar Knie kam in Sicht, dann eine Hand. Aus der Hocke heraus rollte Michael Sam weit genug herum, dass sie einander in die Augen sehen konnten.
Er war genau, wie Sam ihn in Erinnerung hatte. Der Effiziente mit allen Antworten.
»Ich würde dir gern eine Theorie vortragen, Lucifer.«
»Schieß los.« Er verzog das Gesicht bei seinen eigenen Worten, als er an die Pistole dachte. »Vielleicht nicht gerade die beste Wortwahl. Aber bitte, lass hören!«
»Du hast dich da in eine Sache reingeritten, die dich nichts angeht.«
»Ah. Da es nichts gibt, was mich angehen sollte, außer der Tatsache meiner Verbannung, finde ich es schwer, näher zu bestimmen, was diese »Sache« sein könnte.«
»Lucifer, ich habe einen Auftrag erhalten.«
»Wirklich? Wie schön für dich.«
»Ich bin dir noch etwas schuldig. Jehova versteht, dass ich so handeln muss. Du hast mir einmal das Leben geschenkt. Nun tue ich dasselbe für dich.«
»Warum nimmst du dann nicht das lebensbedrohliche Ding da weg? Dann könnte ich dir leichter glauben.«
Michael überhörte die Worte und hielt die Pistole weiterhin auf ihn gerichtet.
»Und warum erzählst du mir das alles?«
»Um dich zu warnen. Mit diesem Sterblichen als Komplizen hat Freya versucht, die Schlüssel zu finden, um die Pandora-Geister freizulassen. Sie wusste, wenn man sie entdeckte, konnte sie sich darauf verlassen, dass du ihr Werk vollenden würdest. Die Schlüssel zu finden und sie ihrem Komplizen zu geben, der ihren Plan zu Ende führen würde. Du warst nur eine Figur in ihrem Spiel, Lucifer. Ein notwendiges Teilchen im Puzzle, nichts weiter.«
Sam blieb stumm. Glaubte Michael, der getreue Idiot, wirklich seine eigene Geschichte? Schließlich schüttelte er den Kopf. »Nein. Nein I Ich weiß nicht, wer dir das alles in den Kopf gesetzt hat.« Er sah Michael in die Augen, doch sah darin nur den unbeirrbaren Glauben an die gerechte Sache. »Freya war die Tochter der Liebe. Sie hätte nie die Geister befreit.«
»Wie du willst, Lucifer. Meine Schuld ist nun beglichen. Es wird keine weiteren Warnungen mehr geben.«
Sam, auf dem Teppich, schnaubte verächtlich. Michael erhob sich wieder und gab jemandem einen Wink. Ein paar seiner menschlichen Helfer traten auf Andrew zu, packten ihn an Armen und Beinen und zerrten ihn hoch. Peter und Wisperwind wurden auch gezwungen aufzustehen.
»Was willst du jetzt tun?«, rief Sam. »Mich hier liegen lassen?«
»Nein.«
Er hob die Augen und versuchte den Kopf zu drehen, um sehen zu können, was Michael tat. Während einer der Menschen die Pistole mit den Silberkugeln hielt, zielte Michael, dessen Waffe mit einer gewöhnlichen Bleikugel geladen war, mit ruhiger Hand auf Sams Rücken. »Tut mir leid. Aber wir können es uns nicht leisten, dass du uns folgst«
Zu seiner Ehre musste man sagen, dass Sam mehr an Peter und Wisperwind dachte als an die Pistole. Mit Pistolen kam er klar. Pistolen waren physische Waffen, und was sie seinem Körper an Verletzungen zufügen konnten, nachdem er Tausende von Jahren auf der Flucht gewesen und so oft erschlagen, erstochen und erschossen worden war, dass er inzwischen langst
den Überblick verloren hatte, war unerheblich. »Was ist mit Peter und Wisperwind? Was wirst du mit ihnen machen?«
»Wenn du uns folgst, werden sie sterben.«
Sam kniff die Augen zusammen, den Bruchteil einer Sekunde, bevor der Knall des Schusses ihn erreichte und sein Kopf nach vorn auf den Teppich fiel.