6

Bello

 

Als er erneut durch das Tor in den kleinen Kerkerraum stolperte, war Sam klar, dass irgendjemand dort gewesen war und die Sachen, die er zurückgelassen hatte, erkannt hatte; denn die Tür war offen, und auf dem Boden in der Mitte der Zelle, die sonst immer bitter kalt war, brannte ein Feuer. Zwei Köpfe schoben sich durch die Tür, als Sam eintrat Jeder von beiden trug einen eng sitzenden eisernen Helm, besaß frostsilberne Augen und hatte Flecken mit blauen Schuppen auf der bleichen Haut. Weißes Haar wuchs in ihrem Nacken und fiel über ihren Rücken. Die beiden Wachen trugen leichte Kettenhemden unter weißen Pelzen und hielten Speere mit eisernen Spitzen.

»Corenial, Setrezen«, sagte Sam höflich.

»Der Fürst erwartet Euch, Herr«, knurrte einer der beiden. »Euer übliches Gemach ist vorbereitet.«

»Danke.« Er hatte seine Krone abgenommen, und sie ruhte nun in der Tasche an seinem Gürtel. Die Augen der Dämonen beobachteten sie bei jedem Schritt, den er tat, als er den Gang entlangging. Sie dürsteten danach, sie zu tragen, wie er wusste, wagten es aber nicht.

Es war nicht notwendig, die Winterkleidung abzulegen. Tibet und der Teil der Hölle, in dem Sam angekommen war, konnten sich die Hand reichen, was die Temperaturen betraf. Der einzige Unterschied war, dass in Gehenna immer Winter herrschte. Sieben Achtel der Hölle glühten sechzehn Monate im Jahr, und er hatte sich ausgerechnet das eine Achtel ausgesucht, in dem es immer fror.

Gehenna war eine Stadt mit einer langen Geschichte. Sam wusste das, denn er war ein Teil dieser Geschichte. Er hatte schließlich den Großteil von Gehenna erbaut. Sie lag im äußersten Norden des Planeten, und elf Monate pro Jahr sah sie das Sonnenlicht für maximal fünf Stunden am Tag. Für den Rest der Welt, außer einem kleinen Eisflecken am Südpol, galt das Gegenteil. Er sah kaum je die Nacht.

In Sams Lebzeiten war Gehenna erst ein Dorf gewesen, dann eine kleine Stadt, dann eine große Stadt mit einer Burg, dann ein Schutthaufen, dann wieder aufgebaut worden, noch einmal geschleift, dann erneut aufgebaut mit Stadtmauern und einem stehenden Heer und nie wieder eingenommen, obwohl man es versucht hatte.

Oh, und wie man es versucht hatte!

Aber er war vorsichtig gewesen. Inzwischen hatte er nicht nur einen amtierenden Fürsten mit einem Rat, sondern auch ein Netzwerk von Spionen und Boten. Er konnte von einem Angriff Monate im Voraus erfahren und sich auf der Erde umsehen, bis der Tag gekommen war, um dann nach Gehenna zurückzukehren und der vorrückenden Armee mit allen Tricks einer fortgeschrittenen Technik einzuheizen.

Einst hatte er hier als König regiert. Doch in den letzten Jahrhunderten war er weniger ein Administrator als ein gelegentlicher Nothelfer geworden, da Gehenna, nach Jahren mühevoller Aufbauarbeit, außer in besonderen Krisenzeiten auch ohne ihn zurechtkam. Er traute dem Fürsten und dem Rat zu, sich um ihre Angelegenheiten selbst zu kümmern, und sagte sich, dass er sich nach Tausenden von Jahren höllischer Küche und Waschwasser mit Eisstücken drin ein Recht auf die Erde, Kaviar und Zentralheizung verdient hatte. Nicht mehr gebraucht zu werden machte ihn sehr dankbar.

In dem kalten Gang nickten ihm weitere Dämonen zu, als er vorbeiging, ein Zeichen von Respekt und nicht viel mehr. Sie waren die perfekten Winterkrieger, dachte er bei sich, als er ihren Gruß erwiderte. Ihre Haut war dick, ihr weißes Haar und ihre blauen Schuppen waren eine gute Tarnung, und sie konnten stundenlang kämpfen, vorausgesetzt dass sie vorher anständig etwas zu essen gekriegt hatten. Sie glänzten im Schnee, ihre Sommervettern gediehen in der brennenden Wüste. Mit einer so offensichtlich durch die Evolution gezogenen Trennlinie war es Sam unverständlich, warum die Dämonen ständig im Krieg miteinander lagen. Wenn Eisdämonen es im Gebiet der Sanddämonen nicht aushalten konnten und umgekehrt, warum der ganze Streit?

Weil sie Dämonen sind, dachte er mit Abscheu. Und trotz allem, was ich für sie getan habe, sind sie immer noch kriegslüsterne Primitive, die nichts verstehen außerhalb ihrer eigenen Waffen und Begierden. Und, bei Vater Zeit, ein Großteil der Waffen, die sie ihr Eigen nennen, stammt von mir. Ich habe sie alles über Mauern und Belagerungen, über Strategie und Taktik gelehrt, in der Hoffnung, dass sie des Krieges müde würden. Und mit welchem Ergebnis? Trotz all meiner Bemühungen, wette ich, würde die Hälfte von ihnen mir immer noch liebend gern ein Messer in den Rücken jagen.

Er ging eine Treppenflucht hinauf, vorbei an Steinwänden, die mit Wandteppichen behangen waren, um die Wärme festzuhalten, und auf einen Flügel der riesigen Festung von Gehenna zu, wo die Feuer immer brannten. Die Wandbehänge zeigten Eisdämonen, die ihren Feinden verschiedene Dinge antaten, die sich Sam lieber nicht anschauen wollte. Er war damit vertraut, doch sie bereiteten ihm immer noch Übelkeit.

Er kam an eine große hölzerne Tür, die von zwei Dämonen bewacht wurde, trat darauf zu und schlug dagegen. Sie öffnete sich sofort.

Von den zwei Personen im Raum war eine sehr alt, eine noch jung. Der Ältere rekelte sich in einem gepolsterten Stuhl am

Feuer. Er trug ein mildes Lächeln auf dem Gesicht, das niemals schwand. Er hatte Katzenwiege gespielt, das alte Fadenspiel, das sich zwischen seinen Fingern mit endloser Geduld und der Konzentration eines Meisters zu immer neuen Mustern wandelte. Seine lange blaue Robe war am Saum ausgefranst, und an den Füßen trug er plüschige Slipper zu grellbunten Socken.

Als Sam eintrat, wandte sich das unveränderliche Lächeln des alten Dämonen und der Blick jener uralten Augen, die nie ein Gefühl zeigten, ihm zu. Die Stimme dieses Dämonen erhob sich nie im Zorn. Dieser Dämon hatte nie nach dem Blut der Schlachten gelüstet oder sein eigenes Weib wegen Unbotmäßigkeit geschlagen. Er war der notwendige Dämon, welcher den unbesungenen Posten füllte, den die stummen Denker der Welt - die Kinder, die nie die gewaltsamen Spiele auf dem Spielplatz mitmachen wollten und die nie ihre Hausaufgaben vergaßen - immer füllen: Staatsbeamter. Großwesir. Der alte Beelzebub. Die Macht hinter dem Thron.

Niemand ahnte, dass er solch eine Macht verkörperte, aber Sam wusste es. Und Beelzebub wusste es. Sie konnten das Wissen in dem jeweils anderen lesen, durch jedes gemessene Nicken, jedes leise Wort, das nichts enthüllte außer dem, was es ungesagt ließ.

Der jüngere Dämon war in jeder Hinsicht Beelzebubs Gegenteil. Er blickte nicht einmal auf, als Sam den Raum betrat, sondern fuhr fort, um einen Tisch herumzugehen, auf dem eine Karte ausgebreitet war. Auf der Karte lagen kleine Holzklötze mit Fähnchen. Sam seufzte innerlich. Der Junge spielte wieder mit seinen Soldaten.

Dieser jüngere Dämon trug eine lange blauweiße Robe mit ausgestellten Ärmeln und üppiger Stickerei, die ihm zwar etwas Königliches gab, aber auch den Eindruck erweckte, ein Kind habe den Kleiderschrank seiner Mutter geplündert. Dennoch, dies war derselbe Fürst, der manch einen Baron zur Unterwerfung gezwungen und der seine Krone gewonnen hatte, indem er seine Brüder einen nach dem anderen im Zweikampf tötete. Er strahlte Energie aus, wie immer, während eine steile Falte seine Stirn runzelte und seine Finger auf dem Schwert auf und ab trommelten.

Und ja, er ist ein guter Fürst, dachte Sam. Die Art von Fürst, der weiß, wann man zu Bestechung greifen oder wann man die Dienste der allzeit bereiten Soldaten in Anspruch nehmen muss, um einem Unschuldigen ein Geständnis abzupressen, welches er gegen einen Schuldigen verwenden konnte, der zu groß für seine Stiefel geworden war. Ein skrupelloser Fürst. Und darum ein guter, aber nicht im moralischen Sinne. Diese Unterscheidung zwischen Macht und Moral musste es irgendwo geben, und Sam hatte sie vor langer Zeit getroffen. Den Fürsten bewunderte er. Die Person konnte er nicht ausstehen. Er nahm an, dass das Gefühl auf Gegenseitigkeit beruhte. Eines Tages, dachte er säuerlich, wirst du zu dem Schluss kommen, dass ich nicht notwendig bin. Und du wirst so verblendet von deinem eigenen Ruhm sein, dass du glaubst, dir könnte gelingen, woran zahllose andere gescheitert sind. Mich in der Nacht zu vergiften. Meuchelmörder auszuschicken. Vielleicht gar, mich zum Zweikampf zu fordern. Doch du weißt nicht, wie ich zu töten bin. Du weißt nicht einmal, auf welche Weise man mir überhaupt etwas anhaben kann. Du glaubst, blankes Eisen würde jedes Problem lösen.

»Ah«, sagte Fürst Asmodeus. »Du bist zurück. War's schön auf der Erde?«

»Interessant.«

Beelzebub sah zu, schweigend wie immer. »Sag mir«, verlangte Asmodeus, »glaubst du, ich sollte Belial eine Forderung übersenden, seine Truppen aus dem Klauenpass zurückzuziehen, oder sollte ich einen Überraschungsangriff wagen?«

Sam trat an den Tisch und blickte auf die Karte. »Wenn du Belial eine Forderung sendest«, antwortete er gelassen, »wird er sie allein aus Trotz zurückweisen.«

»Ein Überraschungsangriff also?«

»Ich bezweifle, dass es eine Überraschung sein wird. Belial sucht seit Jahren nach einem brauchbaren Vorwand für eine Invasion. Ich rate davon ab, ihm einen zu liefern.«

»Hmm.« Asmodeus ging zur anderen Seite des Tisches. »Der Klauenpass schützt eine der besten Sklavenrouten. Die Wüste dahinter hat keine Verteidigung bis auf seine verdammte Festung- die Sklavenjäger bräuchten nur zuzugreifen, wenn sie bis dahin kämen.«

»Ich werde dir nicht helfen, Sklaven zu machen.«

»Nein, das wirst du wohl nicht«, sagte er mürrisch. »Du tust anscheinend überhaupt nichts, oder? Du bist nie hier.«

Weil ich dich als aussichtslosen Fall betrachte, mein Junge. »Wäre dir lieber, ich wäre hier? Um zu herrschen, so wie einst? Eine Krone zu tragen?«

Asmodeus warf einen Blick zu Beelzebub hinüber, um Hilfe für den Angriff auf seine Stellung zu suchen. Doch der alte Dämon war noch mehr erstarrt als gewöhnlich und starrte in die Flammen. Der Fürst bemühte sich, eine passende Antwort zu finden, aber ihm fiel nichts ein. Voller Wut machte er wie ein trotziges Kind seinen Abgang Richtung Tür, wobei er etwas von »Staatsgeschäften« brummelte.

»Reize Belial nicht zu mehr Krieg«, warnte Sam, doch Asmodeus hatte die Tür bereits hinter sich geschlossen.

Seufzend ließ sich Sam auf einen Stuhl am Kamin gegenüber von Beelzebub nieder, zog die Beine hoch, sodass sein Kinn auf den Knien aufruhte und er nicht größer war als ein Kind. »Warum haben wir ihn bloß gekrönt?«

»Weil Dämonen nur körperliche Stärke anerkennen. Weil sie jemanden als Fürsten brauchen, der skrupellos genug ist, seine eigenen Brüder zu töten, und weil auch wir einen Mann wollen, der keine Skrupel kennt.« Es war eine Antwort, die Sam viele Male zuvor gehört hatte.

Der alte Dämon fügte hinzu: »Du verbringst mehr und mehr Zeit auf der Erde. Hast du langsam die Nase voll von uns?«

»Ich weiß nicht. Aber es tut mir leid.«

»Nein. Ich bin derjenige, dem es leid tut.«

Eine Zeit lang saßen sie schweigend da.

»Bello, es könnte größere Probleme geben, als wir dachten«, sagte Sam schließlich. Bello war der Name, den er immer gebrauchte, zum Teil um seinen Gesprächspartner zu ärgern, zum Teil aus Zuneigung, zum Teil weil er selbst so viele Namen getragen hatte, dass er sich angewöhnt hatte, anderen eigene Namen zu geben.

»Größere Probleme als einen neuen sinnlosen Krieg von Asmodeus gegen Belial?«

»Viel größere. Meine Familie ist wieder im Krieg.« Sam beschrieb die Umstände von Freyas Tod.

»Ich glaube, sie hat Nachforschungen nach den vier Schlüsseln betrieben.«

Wenn Beilos Gesicht je eine Regung zeigte, dann zeigte es nun Überraschung. »Die vier Schlüssel?«, wiederholte er. »Die Pandora-Schlüssel? Aber die sind fort.«

»Das hat man mir auch erzählt. Aber Freya ist tot. Und im Himmel herrscht Aufruhr.«

Ein weiteres Schweigen folgte, länger und schmerzlicher als das erste, während ihre Gedanken zu gewissen offensichtlichen Schlüssen kamen. Bilder von Krieg und Zerstörung standen ihnen vor Augen, voll mit Wesen, die sich an der zu schaffenden Zukunft weideten.

Sam ertappte sich dabei, dass er vor Erschöpfung ob seiner Gedanken gähnte. Bello fragte: »Wirst du hier bleiben?«

»Nein. Die Menschen haben sich in den Kopf gesetzt, dass ich etwas mit Freyas Tod zu tun haben könnte. Und es gibt Leute, die ich finden muss - dringend.«

»Was kann ich derweil tun?«

»Ich brauche Informationen über die Schlüssel. Hinweise darauf, wo sie verborgen sind; was es bedeutet, wenn ihre Geister entfesselt sind; einfach alles. Und tu das, was du immer tust. Asmodeus im Zaum halten. Den unvermeidlichen Krieg so lange wie möglich hinauszögern.«

Beelzebub wirkte beunruhigt, ein Flackern in seinem ansonsten heiteren Gesicht. Doch selbst ein solches Flackern war so ungewöhnlich, dass Sam ihn scharf ansah.

»Was ist los?«

»Oh - Sorgen. Ich werde alt, weißt du. Vielleicht liegt es an mir, aber Asmodeus wird immer schwerer zu kontrollieren.«

»Kontrollierst du ihn?«

Der Dämon lächelte, ein wissendes Lächeln, getragen von dem Geheimnis, das nur sie beide kannten. So offensichtlich war dieses Geheimnis, so eklatant und so einfach, dass niemand sonst es gesehen hatte. Sam hatte oft gesagt, der beste Ort, ein Geheimnis zu verbergen, sei in aller Öffentlichkeit.

»Natürlich nicht. Ich kann seine Entscheidungen allenfalls ... beeinflussen.«

»Und es wird schwerer?«

»Ja. Die Hälfte meines Einflusses stammt von dir, und du bist nicht hier.«

Sam fühlte sich plötzlich schuldig angesichts dieser einfachen Aussage. »Ich werde mir Mühe geben. Alles was ich brauche, ist ein wenig Zeit, um herauszufinden, was Freya von mir wollte.«

»Zumindest«, sagte Beelzebub mit einem Lächeln, »war es nie ein Problem für dich, zu tun, was sie wollte.«

Aber was ist mit deinem Problem, alter Dämon?, dachte Sam, als er die letzten paar Stufen zu seinem Apartment hochstieg. Innerhalb von vierundzwanzig Stunden war er in Devon, in Tibet und in der Hölle gewesen. Nach London zurückzukehren war fast wie eine Heimkehr für ihn, und mit Erleichterung schloss er die Tür auf. Hast du noch Zeit, es zu lösen? Manchmal vergesse ich, wie schnell ihr anderen sterbt.

Aber jetzt fiel das Vergessen schwer. Als er sich zum Schlafen niederlegte, erinnerte er sich an Dinge, die er lieber vergessen hätte. Er war arrogant gewesen, die Jahre zu missachten, als er jünger gewesen war. Er hatte alles im Schneckentempo an sich vorbeiziehen lassen und nicht bedacht, dass zu der Zeit, wenn die eine Blume erblühte, die andere bereits verwelkt sein würde.

Nichts hatte er vergessen. Er erinnerte sich an Annette und dachte: Sterbliches Kind, warum musstest du so alt werden?

Es war einer jener denkwürdigen kühlen Frühlingsabende, bevor der Krieg im Himmel schließlich auf die Erde übergegriffen hatte. Er hatte versucht, eine Zigarette zu rauchen, da das Rauchen zu jener Zeit in Paris in Mode war, doch stellte fest, dass es nicht ging. Immer wenn er zu inhalieren versuchte, hatten sich die natürlichen Abwehrmechanismen seines Körpers gemeldet, und das Blut hatte in seinem Kopf gedröhnt, während seine regenerativen Kräfte in Aktion traten. So hatte er den Versuch aufgegeben und stand nun an eine Balkonbrüstung gelehnt und sah den vereinzelten Automobilen zu, die über die Straße fuhren, von einer Straßenlaterne zur nächsten abwechselnd in Licht und Dunkel getaucht

Hinter ihm ein heller, überfüllter Raum und das schallende Gelächter seiner französischen Gastgeberin, als ein weiterer geschmackloser Witz zum Besten gegeben wurde. Der Humor war den ganzen Abend derber geworden, der Rauch dichter, das Trinken heftiger. Die Menschen sind nervös, dachte Sam. Sie spüren die Gefahr, die in der Zukunft lauert. Neunzehnhundert-achtunddreißig, das Jahr, in dem Beschwichtigungspolitik einen brüchigen Frieden sichert und Deutschland seine erste kleine Schlacht gewinnt. Eine Schlacht, die mit Papier und Drohungen ausgetragen wurde, aber dennoch ein Sieg. Und immer noch frische Erinnerungen an einen anderen Krieg. Ihr seid alle nervös. Ihr spürt es in den Knochen, was geschehen wird; aber nach außen erklärt ihr, dass ihr kein Wort davon glaubt. Weil ihr es nicht wahrhaben wollt.

Er nahm einen Schluck aus dem Glas in seiner Hand. Auch betrunken zu werden war schwierig, sosehr er es auch versucht hatte. Beim Barte des Chronos!, fluchte er. Warum kann mein Körper nicht zur Abwechslung einmal gehorchen? Er hatte schon eine halbe Flasche Scotch geleert. Und das ohne weitere Folgen außer einer Whiskyfahne und dem gelegentlichen Grummeln seines Magens, während sein Körper Tausende kleiner Toxine, die einen gewöhnlichen Menschen auf die Bretter geschickt hätten, in ihre Bestandteile zerlegte.

Irgendjemand kam zu ihm auf den Balkon getaumelt. Eine junge Frau, Anfang zwanzig. Sie kicherte unkontrolliert. An die Brüstung geklammert, nahm sie mehrere tiefe Atemzüge. Dann kippte ihr Körper nach vorn wie ein totes Gewicht. Wäre nicht das leise Stöhnen gewesen, hätte man glauben können, sie sei dort im Stehen gestorben.

»Merde!«, stieß sie schließlich hervor.

»Was ist?«, fragte er auf Französisch.

Sie rollte ihren Kopf ein paar Mal hin und her und schlang die Arme um den Körper, um die Kälte abzuhalten, die durch ihr dünnes Kleid drang. Dann erklärte sie mit verwaschener Stimme: »Ich bin betrunken.«

»Das ist wahr.«

»Scheiße.«

»Es gibt Schlimmeres«, sagte Sam und wünschte sich, er könnte ihren betäubten Zustand teilen, trotz drohendem Kater und allem.

Erst jetzt schien sie ihre Umgebung wahrzunehmen und lächelte allerliebst, als hätte sie ihn gerade erst bemerkt. »Wer bist du?«

»Luc.«

»Und was machst du beruflich? «, fragte sie, die Worte fast gurrend. Sie schwankte, und er hielt sie automatisch fest. Gegen die Brüstung gelehnt, begann sie erneut zu kichern.

»Ich bin der Teufel in Verkleidung«, erklärte er. »Alles in Ordnung mit dir?«

Sie lachte. »Ich heiße Annette. Wie heißt du?«

»Ich sagte es schon. Lucifer.«

Aber Annette lachte nur.

Warum musstest du sterblich sein?, dachte er müde und drehte sich auf die andere Seite, um Schlaf zu finden, der ihm wie die Wirkung von Drogen, Alkohol und Zigaretten verwehrt zu sein schien. Und wenn du schon sterblich bist, warum kannst du nicht einfach sterben und mich meinen Erinnerungen überlassen? Warum bist du immer noch da?

Das Geräusch der Post, die auf die Türmatte fiel, weckte ihn. Die Sonne drang bereits durch seine fadenscheinigen Vorhänge, und ein rascher Blick auf die Uhr bestätigte ihm, dass es schon heller Tag war. War es wirklich schon so spät?

Sam schaffte es, sich in wenig mehr als zehn Minuten zu waschen und anzuziehen. Er nahm seine Post mit in die Küche und las sie bei einer Schüssel Cornflakes, wobei es ihm völlig gleich war, ob das Papier dabei Milch- oder Kaffeeflecken bekam.

Nachdem er drei Sendungen geöffnet hatte - eine Rechnung; einen Werbebrief, der ihm versicherte, dass sein Haus perfekt für eine bestimmte Immobilienfirma sei, sollte er je deren Dienste benötigen; und eine weitere Rechnung —, kam er an einen Brief, der in einem verschlossenen braunen Umschlag steckte und in Adams Handschrift an Luc - nein, das war durchgestrichen: an Sam Linnfer adressiert war. Er fragte sich, was Adam so schnell herausgefunden haben konnte.

Es war ein einziges Blatt darin, auf das in Eile eine Botschaft gekritzelt war: »Der alte Hammer hat Euch gefunden. Die Walküren haben alle Adressen, die ich kenne. Macht, dass Ihr wegkommt. Adam.« Der Brief war von Hand überbracht worden.

Er starrte eine lange Zeit darauf, las ihn wieder und wieder, als könnte er es nicht ganz glauben. Dann wurde er aktiv. In Windeseile durchsuchte er sein Apartment, holte Pässe hervor, Schlüssel, Kleidungsstücke, Karten - alles, was er in einem Rucksack verstauen konnte. Er konnte es sich nicht leisten, sich zu belasten.

Während er hin und her lief, versuchte er, sich zu erinnern, wie viele Adressen Adam kannte. Drei, vielleicht vier? Alle außer einer in England. Was sonst wusste Adam? Kontaktpersonen, geheime Treffpunkte, alternative Namen. Gehen wir davon aus, dass »Sam« und »Luc« bekannt sind. Wie weit reicht Thors Einfluss — wird er auch Spione in der Passkontrolle haben? Oder bin ich der Einzige, der sich die Mühe gemacht hat, richtige Netzwerke aufzubauen? Wird er einfach die Walküren auf mich hetzen, oder ist das selbst für Thors kleinen Verstand zu schlicht?

Wie viele Adressen können sie bis jetzt überprüft haben? Eine ganze Menge, sagte er sich. Er schulterte sein Gepäck, schlug die Tür hinter sich zu und sauste die Stufen hinunter. »Mrs Dinken! Wenn jemand kommt und in meine Wohnung will, aus welchem Grund auch immer, lassen Sie keinen rein, ja? Oh - und haben Sie was zum Schreiben?«, fragte er noch, als er in seinen Taschen nichts fand, während sie vor ihm auf dem Flur stand und mit eifrigem Nicken ihre Zustimmung zu Worten bekundete, die ungesagt blieben. Sie watschelte zurück in ein Zimmer. Eine Ewigkeit später kam sie mit Papier und Stift wieder zum Vorschein. Sam kritzelte eine hastige Notiz, sprang die Stufen wieder hinauf und heftete sie an seine Tür.

»Mr Sam Linnfer ist zurzeit aus geschäftlichen Gründen in Oxford. Bitte wenden Sie sich an seinen Assistenten.« Er hatte keinen Assistenten, aber das war nicht der Punkt.

Auf der Straße starrten ihn aus jedem Auto Augen an, und der Himmel kam ihm voller Raben vor. Er versuchte, sich an das zu erinnern, was er über das Aufspüren von Verfolgern wusste. Achte auf Autos, suche nach Details, an denen du sie identifizieren kannst. Achte auf Gesichter in Autos. Achte auf Fußgänger, die zu viel Zeit damit verbringen, in dieselben Schaufenster zu schauen wie du. Erinnere dich, zu welchen anderen Kontaktpersonen Adam Zugang hatte, von welchen anderen er wusste.

Sam ging mit forschem Schritt die Straße hinab, vorbei an Bushaltestellen und endlosen Läden mit Sonderangeboten. Dieser Ort, anders als Holcombe, hatte alle Persönlichkeit verloren. Teenager drückten ihre Nasen gegen das Fenster von GAP, und Geschäftsleute tranken überteuerten Kaffee mit Fantasiebezeichnungen wie »Espresso grande« oder »Mocca Spezial«. Die Hauptstraße war ein einziger großer Supermarkt, durchschnitten von einem Fluss von Autos und Lastwagen, die aggressiv dem jeweiligen Ende der Straße zustrebten. Der Mann in dem kleinen roten Kabriolett hatte seine Stereoanlage voll aufgedreht, um die klassische Musik der Familie in dem großen grünen Volvo - eine Ehefrau mit geblümtem Seidenschal, ein Vater mit Krawatte und zwei herausgeputzte Kinder mit mürrischem Gesichtsausdruck, die vielleicht einmal Anwälte oder Richter werden würden - zu übertönen.

Thor glaubt, ich hätte Freya getötet. Oder vielleicht auch nicht; vielleicht benutzt er das nur als Vorwand, um mit mir ein Hühnchen zu rupfen. Er hasst mich. Warum? Ich habe ihm nie etwas getan.

Es gibt auch keine Beweise gegen mich. Sie haben nichts in der Hand.

Die unvermeidliche Gegenstimme meldete sich. Thor will nichts beweisen. Er will nur ein Geständnis aus allem herausprügeln, was sich bewegt, und ich habe mich schon zu lange bewegt.

Er hatte sein erstes Ziel erreicht. Eine Seitenstraße mit einem Gewirr von Marktständen aus Metallgestellen und Plastikplanen, dahinter Imbissstuben, Do-it-Yourself-Shops und Blumenläden, die echte Plastikblumen verkauften, für ein Pfund das Stück. Diese von Abfall gesäumte Gasse voller Lärm und Farben hatte Charme, wenn auch von der zwielichtigen Art, auf der Schattenseite des Gesetzes, mit zweifelhaften Uhren und DVDs mit seltsamen Covern, die irgendwie zur gleichen Zeit wie die Filme selbst auf den Markt gekommen waren.

Hier kaufte Sam einen billigen grünen Anorak und eine Baseballkappe, mit der Überlegung, dass wohl keiner von ihm erwarten würde, solche Sachen zu tragen. Er hatte einen gewissen Stil und genug Geschmack, um sich nicht zu kleiden wie ein Trainspotter. Hi, ich bin der Fürst der Finsternis, ist das wirklich ´ne Castles-Class-Lok von 1923? Wow, lassen Se mich mal die Seriennummer sehn! Er bahnte sich seinen Weg zurück zur Hauptstraße und nahm den erstbesten Bus, den er finden konnte. Er hatte ein bestimmtes Ziel vor Augen, aber die Absicht, sich viel Zeit zu nehmen, um dorthin zu gelangen.

Der Bus fuhr die Caledonian Road entlang mit ihren schäbigen Apartmentblocks, heruntergekommenen Reihenhäusern, Tierläden, ihrem Hallenbad und Gefängnis. Aber auch hier gab es so etwas wie Leben. Ein paar Häuserblocks nach Osten lagen grüne Parks und private Gärten und luxuriös sanierte Häuser, in denen sich Bankiers, Steuerberater und Politiker einträchtig in bürgerlicher Eleganz zu übertreffen suchten.

Keiner von ihnen sagte, dass sie nahe der Caledonian Road wohnten; sie waren aus Islington. Ihre Kinder hatten adrette Frisuren und spielten mit sauberem, neuem Spielzeug. Die Straßen, in denen sie lebten, waren zugeparkt mit Mittelklassewagen, mit denen sie zur Schule gebracht wurden. Und dies keine halbe Meile von den elenden Straßen um das Pentonville-Gefängnis entfernt. Es war, als ob Gott in all seiner Weisheit genau auf dem Mittelstreifen der Straße eine soziale Grenze gezogen hätte, über die hinweg sich der örtliche Pub und die neue Weinstube gegenseitig belauerten und die nur die Tollkühnen zu übertreten wagten.

Bei Kings Cross wechselte Sam den Bus. Der Bahnhof war ein schmuddeliges Gebäude, das durch eine Plaza voller Fast-Food-Läden und Hinweistafeln, welcher Zug heute wieder Verspätung hatte, noch schäbiger wirkte.

In Schrittgeschwindigkeit ging es mit dem nächsten Bus die Euston Road hinab. Von dort bog die Route ab zum Tavistock Square und einem Gebiet von Hotels, Büros und unterirdischen Parkhäusern. Am Russell Square gab es Schatten von hohen Bäumen und Universitätsgebäuden, deren Seminarräume sich bis in die hohen georgianischen Reihenhäuser ausgebreitet hatten. Sam sprang an einer Ampel ab und ging zu Fuß bis Holborn, von wo ein dritter Bus ihn bis zum Fluss brachte. Während er das Embankment entlang ging, nahm er sich viel Zeit. Er war immer noch auf der Hut vor Verfolgern, ob magischer oder irdischer Natur, auch wenn er sich inzwischen ziemlich sicher war, dass es keine gab.

Außerdem musste er sich Gedanken darüber machen, was er sagen sollte. »Hi, du warst mal Spion und hattest Zugang zu einem Netzwerk, das ich brauche. Wo ist es?«

Die Antwort lag auf der Hand: »Aber das ist sechzig Jahre her, und du warst es, der beschlossen hat, das Mondgespinst-Netzwerk stillzulegen.«

Warum hatte er das getan? Hatte er sich selbst überzeugen wollen, dass er es nicht mehr brauchte und ein nettes friedlichen Leben ohne seine Hilfe fuhren konnte? Ein übereilter Entschluss, gelinde gesagt.

Jedoch nicht so übereilt, als dass er jede Tür hinter sich zugeworfen hätte. Du hast sie ein Stück in das Netz eingeführt, für den Fall, dass sie einmal dessen Hilfe brauchen würde. Und weil sie eine Hintertür hat, hast du auch eine. Vielleicht warst du gar nicht so naiv.

Der Fluss stand hoch, da Flut war, und die Spur einer Meeresbrise blies die Schwaden des Ufernebels fort; es war sogar möglich, den Lärm des Verkehrs zu überhören, der sich auf Westminster zubewegte. An einem kleinen Park neben einem der großen Hotels, die diesen Teil von London okkupierten, bog Sam ab und stieg zwischen riesigen Gebäuden voller Staatsbediensteter eine Treppe hinauf, wobei er zwei Stufen auf einmal nahm. Die Treppe endete in einer Seitenstraße, leer bis auf ein Postauto. Er ging jetzt schneller, da sein Ziel in Reichweite war, schlüpfte durch weitere kleine Straßen, wo das Sonnenlicht selten über die hohen Gebäude spitzte, bis der Straßenverkehr zu einem fernen Dröhnen abgeebbt war, weniger als eine Minute und doch eine Welt von dem Ort entfernt, an dem er sich befand.

Das Haus, nach dem er suchte, hatte zwei Messingschilder neben der Tür. Auf einem stand zu lesen, dass im Erdgeschoss die Kanzlei Noble & Transton residierte, Anwälte der sehr Reichen und Trivialen, Betteln und Hausieren verboten. Ein sehr viel kleineres Schild, verwittert und an den Kanten grün angelaufen, wies die Wohnung von Mrs Annette Wilson aus.

Er drückte die Klingel, und aus dem Lautsprecher drang eine kurz angebundene Stimme mit einem leichten französischen Akzent: »Ja, bitte?«

»Ich bin's. Luc.«

Ein langes Schweigen folgte. Luc versuchte, sich auszumalen, was sie jetzt wohl tat. Wahrscheinlich starrte sie im Schock auf die Sprechanlage, versuchte, sich zu überzeugen, dass ihre ertaubten Ohren nicht gehört hatten, was sie gehört hatte, rieb ihre verwelkten kleinen Hände aneinander und streckte ihren gebeugten Rücken, um den Türöffner zu drücken. Hatte sie nicht eine Haushälterin? Er erinnerte sich: ein Mädchen mit wässrigen Augen, das kaum ein Wort Englisch sprach und sich um Annette kümmerte, als wäre es eine Strafe für ihre Sünden in einem früheren Leben.

Schließlich summte die Tür, und er drückte sie auf. Die Eingangshalle war marmorverkleidet und kalt. Er lief die Stufen hinauf, um nach der Februarkühle, die draußen herrschte, ein wenig Wärme in sein System zu kriegen. Eine schwere Tür mit Paneelen öffnete sich, und jene besagte Sünderin blickte auf ihn herab und fragte mit einem schweren Akzent: »Mr Luc?«

Er nickte, und ohne ein weiteres Wort ließ sie ihn ein.

Der Teppich war so dick, dass Sam das Gefühl hatte, von ihm verschluckt zu werden. Er hatte vergessen, was für einen Sinn für Luxus Annette hatte. Sie war keineswegs eine arme Frau - die französische Regierung hatte sie gut belohnt für ihre Tätigkeit in der Résistance, und sie hatte eine Sammlung reicher Ehemänner hinter sich gebracht, wie ein Kind seine Lieblingsbonbons auflutscht, eins nach dem anderen. Plastiken, seltsame Dinge aus verdrehtem Holz, schmückten die Winkel des Raumes, und Lampen mit gebogenen Stielen beleuchteten zahlreiche Gemälde, darunter einige von ihr. Als Künstlerin war Annette gut gewesen. Mindestens ein Regal war voller Bücher über ihre Lieblingsbeschäftigung - Weben. Arme Annette. Können deine Hände heutzutage überhaupt noch etwas halten?

Und da war sie. Gekrümmt saß sie in einem großen Sessel voller Kissen. Selbst jetzt war in ihrem alten, runzligen Gesicht noch zu lesen, wie hübsch sie einst gewesen war. Ihre Augen, immer noch schrecklich hell vor Intelligenz, musterten ihn kritisch, als sie die Sünderin mit einer vagen Handbewegung aus dem Zimmer schickte. Schließlich ergriff sie das Wort.

»Es ist wahr. Du wirst nicht älter, stimmt's? Warum kannst du nicht alt werden, Luc? Warum konntest du nicht sein wie meine Ehemänner? Sobald ich sie geheiratet hatte, vergaß ich warum, weil sie plötzlich alt und leblos waren. Warum konntest du nicht sein wie sie?«

»Wie geht es dir?«, fragte er, hockte sich zu ihren Füßen nieder und nahm ihre Hand, ihre kalte, schlaffe Hand. Sie lächelte zufrieden bei seiner Berührung.

»Du wirst nie alt«, murmelte sie müde. »Wie viele Herzen hast du gebrochen, weil du nicht sterben wolltest wie der Rest von uns?«

»Ich brauche Hilfe. Ich muss Verbindung mit ein paar alten Freunden aufnehmen. Sehr alten Freunden. Ich weiß, wir haben das Netzwerk stillgelegt, als der Krieg vorbei war, aber ich brauche nun wieder Zugang dazu.«

»Welches Netzwerk?«, fragte sie matt. »Es gab so viele.« Annette war mit dem Fallschirm hinter den feindlichen Linien abgesprungen und dann immer in Bewegung geblieben.

»Unser Netzwerk. Das, worüber niemand sonst etwas wusste. Das Netzwerk, das einem half, wenn man ihm half. Unser Netzwerk.«

»Ah ja«, sagte sie, als erinnerte sie sich erst jetzt. »Das Mondgespinst-Netzwerk, gegründet neunzehn-einundvierzig, angeführt von Luc Satise. Zweck...« Ihre Stimme verlor sich wieder, als sie sich an die ungeschriebenen Akten zu erinnern versuchte, die keiner aufzuzeichnen gewagt hatte. »Hilfe von nicht-irdischer Art gegen Besatzungsmächte einzusetzen. Magie. Kannst du immer noch deine Zauber wirken, Luc?

Kannst du immer noch mit einem Hauch Feuer anzünden und den Wind singen lassen?«

»Das Mondgespinst-Netzwerk«, wiederholte er. »Du warst eine Agentin für verdeckte Operationen. Ich trat an dich heran und sagte dir, ich könnte dir Zugang zu einer Gruppe von Widerständlern verschaffen, Saboteuren, die von niemandem aufzuspüren wären, einem geheimen Netzwerk ganz besonderer Art.«

»Mondgespinst«, sagte sie träumerisch. »Du warst unser Glücksbringer. Immer wenn bei der Résistance etwas fehlschlug, aber alle lebend davonkamen; immer wenn wir verfolgt wurden, und ein Nebel kam auf; immer wenn eine Bombe nicht hochging und wir dachten, wir hätten versagt, doch sie explodierte, als wir Meilen entfernt waren - wir nannten es Glück. Doch das war es nicht, nicht wahr? All diese außergewöhnlichen Spezialisten.« Sie runzelte die Stirn. »Das Mondgespinst. Aber es wurde aufgelöst. Die Welt sei noch nicht reif für Magie, sagtest du. Und Frieden war das ultimative Glück.«

»Ja«, sagte er schnell. »Das Mondgespinst wurde aufgelöst; es wurde nicht mehr gebraucht. Doch ich habe einige der Quellen weiter gepflegt, für meine eigenen Zwecke, verstehst du. Erinnerst du dich an Adamarus?«

»Ach, ja. Er hörte das, was andere sagten, als eine Art Lied. Wenn jemand log, dann hörte er Missklang. Oder war das der andere ...?«

»Ja - Adamarus war der Wahrheitsfinder. Ich war der Anführer. Und du warst unsere Verbindung mit der >realen< Welt; du hast uns gesagt, was wann und wo gewünscht wurde. Erinnerst du dich an Wisperwind?«

»Das war der, der den Nebel rief, nicht wahr? Die Rettung für den Notfall«, murmelte sie, in Gedanken weit fort in einer anderen Zeit, an einem anderen Ort. »Der, den ich anrufen sollte, falls irgendetwas schief ging.«

»Ja. Ja, den meine ich. Wie war das Verfahren zur Kontaktaufnahme, das er dir gab? Wie solltest du ihn rufen?«

Doch sie hatte den Faden bereits wieder verloren. »Führt deine Familie immer noch Krieg?«

»Ja.«

»Hmm. Und du?«

»Ich stecke bis zum Hals drin, danke der Nachfrage. Mein Haupt-Kontaktmann ist aufgeflogen, und ein erzürnter Verwandter ist mit gewalttätigen Absichten hinter mir her.«

»Ach.« Das schien sie nicht im Geringsten zu sorgen. »Du hast das Netzwerk aufgelöst, als die Alliierten den Spieß umdrehten. Du sagtest, nachdem du vier Jahre lang auf der Seite der Verlierer gekämpft hättest, könntest du dir das schlecht abgewöhnen, und gingst nach Berlin, um Deutsche aus den Trümmern auszugraben, die sie sich selbst zuzuschreiben hatten. Du bist von einem Bein aufs andere gesprungen wie ein aufmüpfiges Kind, das seine alten Freunde satt hatte.«

»Ich habe für die Franzosen gekämpft, als sie starben. Als sie zu töten begannen, habe ich mich um die neuen Leidgeplagten gekümmert. Jeder Arzt hätte dasselbe getan.«

»Aber wenn du so die Seiten wechselst, verlängerst du nur den Kampf.«

»Wenn ich nicht helfe, werde ich das sein, was sie in mir sehen wollen.«

»Du und dein Stolz!« Sie seufzte und warf den Kopf zurück, als posiere sie für einen unbekannten Künstler. »Und warum willst du Wisperwind finden?«

»Selbst wenn das Mondgespinst-Netzwerk offiziell nicht mehr besteht, hören sie alle irgendetwas. Ich will wissen, was sie darüber gehört haben, wer meine Schwester getötet hat.«

Das weckte immer noch kein Interesse. Er hätte genauso gut sagen könne: »Ich möchte hören, wer Zucker statt Salz auf deinen Tisch gestellt hat.« »Warum wirst du nie alt, Luc?«

»Wie ist das Verfahren?«

Sie begann zu summen. Er hielt ihre Hand fester, als könne er den schwachen alten Geist mit bloßer Willenskraft zu einer Antwort zwingen. Sie hörte auf zu singen und murmelte: »Sag dem Mann im Buchladen, dass du nach einer Erstausgabe von The Whispering Game suchst, und warte im Park.«

»Welchem Buchladen?«

»Librairie Riviere«, sagte sie auf Französisch. »Paris. Neben der Kirche.«

»Ist er noch da? Der alte Buchladen, derselbe Besitzer?«

»Der Besitzer war einer von ihnen«, antwortete sie, jetzt wieder auf Englisch, mit einer solchen Leichtigkeit, dass Sam sich fragte, ob sie überhaupt gemerkt hatte, dass sie die Sprache gewechselt hatte. »Er wird nie sterben. Nie, nie und nimmermehr.« Sie flüsterte die Adresse.

Er merkte, dass sie den Tränen nahe war. Also stand er auf, legte einen Arm um ihre Schultern und ließ ihren Kopf an seine Seite sinken.

»Warum willst du einfach nicht sterben?«, flüsterte sie.

»Ich kann nicht. Noch nicht.«

»Ich hasse dich, Luc. Ich hasse dich.«

»Und auch ich liebe dich immer noch.«

Sie schniefte. »Oh, Luc. Warum konntest du nicht jemand anders sein?«

»Dann wäre ich nicht ich.«

»Sag es mir, Luc. Wenn wir sterben, kommen wir alle in den Himmel. Nicht in die Hölle. In den Himmel. Versprich es mir, Luc.«

Er starrte auf sie herab, von Schuld gepeinigt, fühlte, wie die schreckliche Wahrheit gegen seine Zunge drückte und verlangte, ausgesprochen zu werden. Nein, wollte er sagen, dies hier ist deine große Chance. Dies ist dein Leben, und Himmel und Hölle gibt es nicht — jedenfalls nicht so, wie du es dir vorstellst. Der wirkliche Himmel jenseits des Tores ist ein Ort, wohin weder du noch ich gehen können.

»Alle kommen in den Himmel«, sagte er leise, beschämt, wie leicht die Lüge über seine Lippen glitt. »Auch du.«