18

Puzzleteile

 

Sam trat aus dem Tor heraus und fand sich in völliger Dunkelheit wieder. Seine Ohren wurden betäubt von Wasserrauschen und seine Nase von dem Gestank von Algen. Als er weiterging, rutschten seine Füße auf nassem Marmor aus, und fast wäre er hingefallen. Sein katzenhaftes Sehvermögen stellte sich rasch auf die Dunkelheit ein und seine Augen konnten einen unterirdischen Fluss erkennen, der durch eine Höhle aus weißem Marmor rann, welche ein längst verstorbener zwergischer Baumeister in makellosen Proportionen aus dem Stein gehauen hatte.

Das Höllentor hatte sein eigenes gemeißeltes Portal, auf dem sich Feuer und Eis in einem verschlungenen Tanz ineinander wanden. Sam wandte sich davon ab und ging über den glatten Marmorpfad auf die einzige, schwache Lichtquelle zu. Das Licht kam aus einem kleinen Durchgang, ein mattes weißes Flackern eines magischen Scheins, der niemals erlosch. Im Eingang hielt er inne und nahm seine silberne Krone hervor, setzte sie auf in Ehrerbietung für einen anderen gekrönten Fürsten, der für alle Ewigkeit im Inneren ruhte. Dann zog er sein Schwert und trat ein.

Die Höhle war riesig. Sie war trocken, trotz des rauschenden Flusses draußen und des unnatürlich stillen Sees in ihrem Zentrum. In der Mitte dieses Sees ruhte ein goldener Sarg auf einer Plattform aus Diamant, die auf dem Wasser schwamm, als sei sie nicht schwerer als eine Feder. Die Wände waren aus Kristall und warfen unendliche Widerspiegelungen des weißen magischen Lichts der Höhle zurück, die alle Schatten vertrieben. Wo ein verirrter Lichtstrahl sich fing, wurde er in die Tiefen des größten Kristalls zurückgeworfen und trat auf der anderen Seite gebrochen wieder hervor, um Baldurs letzte Ruhestätte mit allen Farben des Regenbogens zu erfüllen.

Sam verneigte sich steif vor dem Grab, das traditionelle Zeichen des Respekts, und umrundete mit leisen Schritten den See, wobei er den Blick nie von dem goldenen Sarg nahm. Er hatte das Gefühl, wenn er spräche, würde der Schrein zerspringen und in sich zusammenfallen. Er hielt sein silbernes Schwert gezückt, um sich selbst ebenso wie die Hüter des Ortes davon zu überzeugen, dass er ein Fürst des Himmels war, von gleichem Rang wie dieser schlafende Sohn von Licht. An diesem Ort würde keiner je Blut vergießen. Es war ein Heiligtum, die ultimative Freistatt.

Er brauchte nicht lange zu warten. Dennoch fuhr er unwillkürlich zusammen, als eine leise Stimme vom Eingang her sagte: »Schau an, wen haben wir denn da? Was macht der Rücken?«

Seth, gekleidet mit seiner üblichen Eitelkeit, stand in der Tür. Er trug ein langes, gekrümmtes Schwert an der Seite und war mit einer langen schwarzgoldenen Samtrobe bekleidet, die in den späten Sechzigerjahren für gerade mal zehn Minuten der letzte Schrei gewesen war, heute aber nur noch im Kleiderschrank von Exzentrikern überlebte.

Unbehaglich nahm Sam die dunklen lachenden Augen wahr, die Intelligenz wie einen Makel trugen. Sams eigenes weißes Gesicht war hart wie Stahl. Er steckte sein Schwert ein. »Ich weiß, was du vorhast.«

»Das freut mich für dich.«

»Ich weiß, dass du versuchst, die Hölle zu übernehmen.«

»Nur einen kleinen Teil davon. Und nicht für lange.«

Sams Gesicht wurde warm, und sein Magen zog sich zusammen. Er schluckte die Worte herunter, die mit der Galle aufstiegen. »Du hast Freya getötet.«

»Nicht persönlich.«

»Dann hat Jehova es getan. Oder Odin.«

»Sie war uns im Weg. So wie du.«

»Du willst sie wirklich freisetzen? Die Pandora-Geister? Alle drei? Und Uranos?« Selbst jetzt konnte Sam seinen eigenen Worten kaum glauben.

»Ja. Wenn es sich anbietet.« Seth seufzte, als langweile ihn das. »Weißt du, ich bin nur aus Neugierde gekommen.« Er blickte Sam an. »Und um den Feind einschätzen zu können.«

»Warum bin ich dein Feind?«

»Es ist nicht, wer du bist, Lucifer, sondern was du bist. Der Träger des Lichts. Du bist Vaters Werkzeug, dazu bestimmt, in seinem Dienst zu sterben. Du hast keine Wahl. Nicht seit wir uns aktiv gegen Vater aufgelehnt haben und Vater Freya ausgeschickt hat, um ums nachzuspionieren ...«

»Hat er das?«

»Höchstwahrscheinlich. Wobei ich zugeben muss«, fügte er mit einem plötzlichen schiefen Lächeln hinzu, »dass sie die Sache ziemlich verpatzt hat. Der einzige Grund jedoch, weshalb ich hier bin, ist, um zu sehen, was Vater uns als Nächstes zwischen die Beine werfen wird. Sieht so aus, als wärst du es.« Er legt den Kopf auf die Seite. »Warum wolltest du, dass wir uns treffen? Warum willst du mich sehen?«

»Vielleicht, weil... weil ich dich einst respektiert habe. Ich wollte sehen, was davon übrig ist. Ich hoffte, wir könnten dieser Sache Einhalt gebieten.«

»Mein lieber Junge, du kommst mehrere Jahrhunderte zu spät. Aber du warst nie auf der Höhe der Zeit.«

Sam sagte nichts, doch er spürte, wie der Hass in ihm aufstieg. Seth hatte alles, was ich nie hatte, und sieh, was er daraus gemacht hat.

»Nein«, sagte Seth schließlich, ohne die Augen von Sam zu nehmen. »Ich glaube nicht, dass du ein Problem sein wirst. Es ist wirklich schade. Du hättest ein großer Verbündeter sein können. Wenn Baldur heute noch am Leben wäre, wenn er mein Feind gewesen wäre und nicht du, hätte ich dich wahrscheinlich eingeladen, dich unserer Sache anzuschließen.«

»Oh, wie schön. Und danke, meinem Rücken geht es gut.«

Seths Augen glühten. »Ich wollte dich tot sehen. Aber Jehova hat diesen Narren Michael damit beauftragt. Er hätte daran denken sollen, dass Erzengel keine Erzengel töten, nicht einmal gefallene.«

»Und was bezweckt ihr mit eurer >Sache<?«

»Sie wird uns frei machen.«

»Ich fühl mich frei genug.«

»Dann hast du nie französische Philosophie studiert. Nirgendwo sonst findest du so Tiefschürfendes über die Isoliertheit des Seins und die Gefangenschaft der Seele.«

»Ich ziehe den guten alten Skeptizismus vor.«

»Hat er dich dahin gebracht, wo du heute stehst?«

»Das war dein Verdienst.«

»Unsinn! Ich habe nur nachgeholfen, in den letzten paar Wochen. Es war Vater, der dich so weit gebracht hat.«

»Ich habe nichts mit ihm gemein«, sagte Sam kalt.

»Aber du bist ein Teil von ihm. Er ist ein Teil von dir. Enger kommt man nicht zusammen.«

»Das gilt für dich genauso wie für mich. Dennoch widersetzt du dich ihm.«

Spott und Verachtung funkelten in Seths Augen. »Das sagst ausgerechnet du, Lucifer? Hast du nicht dein ganzes Leben lang versucht, dich Vater zu widersetzen. Dich seinem Griff zu entwinden, seine Pläne zu vereiteln, etwas zu sein, was du nach seinem Willen nicht sein sollst? Dein ganzes Leben war ein einziger Alleingang. Ich gehe da einfach nur einen Schritt weiter.«

»Wie? Was genau gedenkst du zu tun? Sag's mir!«

»Warum sollte ich? Du hast Freunde, die schöne, starke Schilde konstruieren können und das Spiel kennen, das unsere geliebte Schwester Freya endlich aufgehört hat zu spielen. Man hat dich gejagt, auf dich geschossen, dich zusammengeschlagen, man hat dich zu jeder Musik tanzen lassen außer deiner eigenen - finde es doch selbst heraus! Oder erwartest du ernsthaft, dass ich meinem größten Feind reinen Wein einschenke?«

»Ich habe dir nie etwas getan. Ich habe mich erst eingemischt, als du meine Schwester umgebracht hast.«

Seth blieb ungerührt. »Du würdest mich auf jeden Fall bekämpfen. Chronos wird dich dazu zwingen. Du wirst, fürchte ich, an einer Überdosis sterben. Von Zeit, meine ich.« Er runzelte die Stirn, dann lachte er. »Entschuldige«, sagte er. »Es amüsiert mich, dass ich, ein Sohn der Nacht, der diese ganze Sache geleitet hat, von Freyas Tod an, mit der einen Waffe rede, die mich daran hindern könnte, Freiheit zu erlangen.«

Eine Waffe. Keine Person. »Welche Freiheit?«

»Freiheit von unserem Vater, natürlich. Freiheit von der Zeit. Siehst du, Lucifer, du denkst nur in vier Dimensionen. Das war immer dein Problem. Einfach ein bisschen zu pragmatisch, ein bisschen zu sehr hier-und-jetzt. Vater Zeit mag das Leben sein. Aber er ist auch der Tod.«

»Du kannst dich seiner Macht nicht widersetzen.«

»Du hast es getan. Du solltest der Träger des Lichts sein, Baldurs glorreicher Nachfolger. Aber du hast auf seinen Thron gespuckt und ihm getrotzt, er solle dich doch zwingen, das Licht freizusetzen. Du hast gesagt, du würdest nicht sein Diener sein. Eine riskante Politik, wenn du mich fragst.«

»Glaub mir, ich habe dafür bezahlt Auf die Erde verbannt,

für Tausende von Jahren, noch bevor die Zahnpasta erfunden wurde. Und aufgrund meiner Unbotmäßigkeit hat Vater seinen anderen Kindern nicht Einhalt geboten, als sie mich verbannten, nachdem ich das Eden-Projekt verhindert hatte.«

Seth sagte nichts. Als er dann wieder das Wort ergriff, klang seine Stimme ernst, beinahe besorgt: »Schließ dich mir an.«

»Nein.« Sam kämpfte den Impuls nieder, diesen heiligen Ort zu entweihen und Seth ins Gesicht zu schlagen. »Du hast Freya getötet.« Sein Gesicht war gerötet vor Zorn und Bitterkeit.

»Was kümmert es dich? Für dich ist sie doch gewiss nur etwas, was du nicht berühren kannst, aus einer Welt, die hinter dir liegt. Was hat sie dir bedeutet?« Seths Ton war leicht, aber er beobachtete Sam genau. Sams Züge waren erstarrt.

»Ich verstehe«, murmelte Seth. »Das ist es. Was hat Freya dir bedeutet? Was würdest du zu ihrem Angedenken tun, jetzt da sie tot ist? Ist es das, wofür du kämpfst?« Er senkte die Stimme, doch der Triumph darin war nicht zu überhören. »Aber sie hat dich verlassen. Sie ging zu Thor. Du hast ihr nichts bedeutet. Hör auf mit diesem unsinnigen Spiel, Lucifer. Nicht einmal du bist mächtig genug, um gegen uns zu gewinnen.«

»Ich habe sie geliebt.« Sam sagte es ebenso um seiner selbst willen wie aus irgendwelchen anderen Gründen. »Aber ich sehe jetzt« - er warf einen scharfen Blick auf Seth — »dass jemanden wirklich zu lieben seltener ist, als selbst mir klar war.«

Seth beachtete ihn nicht. Er machte einen Schritt auf Sam zu, der instinktiv zurückwich. »Warum setzt du das Licht nicht frei, jetzt? Baldur würde dir vergeben. Du bist sein Erbe, praktisch sein Sohn, wenn auch nicht von seinem Blut. Also lies meinen Geist und dann zerstöre ihn. Das ist es doch, was du wirklich willst, nicht wahr?« Sein Lächeln war unerschütterlich. »Komm. Kämpfe. Du hast immer gekämpft, warum nicht jetzt?«

Sam sagte nichts.

»Ah.« Seths Lächeln wurde breiter. »Aber du kämpfst bereits, nicht wahr?«

Sams Augen blitzten, aber er zeigte immer noch keine Reaktion.

»Nur bin ich es nicht, gegen den du kämpfst«, flüsterte Seth. »Du kämpfst gegen Chronos. Du glaubst, er will, dass du mich vernichtest. Und darum tust du es nicht. Du kämpfst gegen das Unvermeidliche. Aber du wirst diesen Kampf verlieren. In Wahrheit hast du immer verloren. Wie Freya.« Sams Hände, die schlaff an seinen Seiten hingen, ballten sich zu Fäusten. »Weißt du«, hauchte Seth, »es war Jehova, der sie getötet hat. Natürlich hat er erst seinen Spaß mit ihr gehabt. Na, wie findest du das?«

Warte, bis wir uns zu einer anderen Zeit begegnen, an einem anderen Ort...

Der Ausdruck in Sams Gesicht entging Seth nicht. »Wie wäre es mit Gift? Viel effizienter. Oder mit dem Licht? Verbrenn mich zu Asche, spüre, wie dein Geist in ein Meer von tausend anderen Geistern hineingezogen wird, vergiss deinen Namen, vergiss deine Sorgen, vergiss...«

Sams Hand zuckte hoch, und der silberne Dolch lag darin. Die Spitze kam einen Fingerbreit vor Seths Gesicht zum Halten. Seths eigener Dolch war ebenfalls gezückt, zielte auf Sams Unterleib. Das Wasser um Baldurs Sarkophag erzitterte in konzentrischen Kreisen. Funken knisterten in der Luft um ihre Waffen. Keiner konnte seine Hand auch nur einen Millimeter weiterbewegen.

»Zu einer anderen Zeit, an einem anderen Ort.« Sam sprach

es laut aus. Er lächelte grimmig. »Außerdem gibt es da noch Dinge, die ich wissen muss.«

Sie behielten einander im Auge, als beide Dolche verschwanden. »Woher willst du dein Wissen bekommen?«, fragte Seth. »Es ist niemand mehr übrig.«

»Doch, da gibt es noch jemanden.« Freyas Tagebuch. Gail. Erinnerst du dich an mich, Freya? Ich bin der, der durch die Welt zieht um die Kämpfe anderer Leute auszutragen. Vermisst du mich, Freya? Ich bin netter, als ich aussehe.

»Aber vielleicht bin ich eher da als du«, sagte Seth. »Und ich fürchte, wenn du dich aus dieser Sache nicht schleunigst heraushältst, wirst du nie wieder irgendetwas erfahren.«

»Nein. Du irrst dich«, sagte Sam. »Du solltest wissen, dass ein Mann, der nichts zu verlieren hat, zehnmal härter kämpft. Ihr legitimen Kinder der Zeit habt das wahre Ausmaß meiner Macht nie wirklich gekannt oder verstanden. Magie wurde nie zu einer offiziellen Königin des Himmels gekrönt, weil die anderen Königinnen sie fürchteten; sie war eine von jenen Mächten, welche der Zukunft die Stirn bieten konnten, indem sie die unwahrscheinlichste, die winzigkleinste Möglichkeit zum Leben erweckte. Wunder waren immer ein unvorhersehbarer Faktor, der sich über alle Planungen und Prophezeiungen hinwegsetzt - das ist der Grund, weshalb man meiner Mutter nicht die Ehre erwies. Und das ist es, warum du mich furchtest!«

Diesmal war von Seths glatter Art nichts mehr zu sehen. Seine Augen brannten, doch sein Gesicht war so ausdruckslos wie ein Visier.

»Vergiss eines nicht: Ich bin derjenige, der als Gott der Zerstörung verehrt wird.« Er wandte sich ab, bevor Sam etwas erwidern konnte, und schritt zur Tür. Doch ehe er sie erreicht hatte, hielt er noch einmal inne und drehte sich um wie ein Schauspieler, der die Bühne verlässt. »Als Träger des Lichts, der allein kämpft, magst du interessant sein. Aber mehr auch nicht.«

Er verschwand in der Dunkelheit, und Sam starrte ihm nach in die Leere.

Du hast ihr nichts bedeutet.

»Sebastian?«

In der Sekunde, als er sie sprechen hörte, wusste er, was sie sagen würde. »Sebastian« hatte ihm alles gesagt.

»Lucifer. Ich heiße Lucifer«, antwortete er ruhig, auch wenn er wusste, dass es vergebens war. »Nenn mich bei meinem richtigen Namen, bitte.«

Er hatte vor dem Fernseher gesessen und zugesehen, wie der Mensch seine ersten Schritte auf dem Mond tat, und sich gefragt, was die Menschheit sich als Nächstes würde einfallen lassen. Sam hatte mehrere Stunden auf sie gewartet, und als sie zaghaft an seine Tür geklopft hatte, war ihm alles klar gewesen. Normalerweise klopfte sie nie an. Dafür verstanden sie sich viel zu gut.

»Du weißt, dass ich fort muss«, sagte sie plötzlich, als wollte sie verzweifelt, dass er ihr glaubte. »Ich kann nicht mehr bei dir bleiben.«

»Warum?«, fragte er einfach.

»Mein Haus stirbt.« Sie schrie ihm die Worte fast ins Gesicht, denn sie wusste, dass ihm Thor und Odin und der ganze Rest ihrer alten, einstmals mächtigen Familie völlig egal waren. »Walhalla liegt im Sterben.«

Ab mit Schaden. »Und darum musst du losziehen und an Thors Seite die Prinzessin markieren. Ja, ich glaube, ich kenne die Story. Es ist das Märchen von der Prinzessin und dem Bettelknaben, in dem die schöne Prinzessin gezwungen wird, für Volk und Vaterland den Prinzen zu heiraten. Und der arme

Bettelknabe darf weiter Mist schaufeln wie alle anderen vertriebenen Bauern.«

»Lucifer...«, begann sie, mit einem flehenden Unterton in der Stimme.

»Dann geh doch!«, schnappte er, plötzlich entschlossen. »Tu, was du glaubst tun zu müssen. Tu es jetzt und schau nicht zurück. Ich werde mich an unsere Abmachung halten; ich schwöre es. Du wirst nichts mehr von mir hören. Erst wenn du es selbst willst«

Wenn überhaupt, so machte dies alles noch schlimmer. Aber das hatte er ja vorher schon gewusst.

»Sebastian! Lucifer! Schau mich an.« Freya konnte alle Gefühle auf einmal zeigen, und sie waren alle echt. Auch das war eine Gabe der Tochter der Liebe. »Nein.«

»Warum nicht?« Er zuckte die Schultern.

Als sie näher trat, starrte er gebannt auf den schwarzweiß flackernden Bildschirm, wo ein Mann in einem weißen Raumanzug eine viertel Million Meilen entfernt auf einem Stück toten Gesteins auf und nieder hüpfte. Er fragte sich, ob die Weltenpfade auch zum Mond oder zu anderen Planeten führten oder ob Chronos andere Kinder für jenen Zweck gezeugt hatte.

Er spürte Freyas Wärme, als sie neben ihm niederkniete. Er spürte ihren Atem seinen Nacken kitzeln und schloss die Augen.

»Du kannst die Augen nicht auf ewig davor verschließen«, sagte sie leise. »Ich muss so handeln. Das weißt du. Wir haben alle Dinge tun müssen, die zu dem Zeitpunkt übereilt oder schmerzlich oder hart erschienen, doch auf lange Sicht zahlt es sich aus! Wir haben so ein langes Leben. Man kann nicht immer für die Gegenwart leben - früher oder später muss man an die Zukunft denken, einfach weil es so viel davon gibt. Und wenn die Zukunft auf ihrem gewundenen Weg wieder die Gegenwart erreicht hat - ja, dann ist es Zeit, zu lachen und zu lieben und ein Geschöpf des Jetzt anstelle des Morgen zu sein, frei von allen Kümmernissen. Doch um jene Zukunft zur Gegenwart zu machen, musst du denken und handeln wie unser Vater. Sei ein Kind der Notwendigkeit, tu das, was getan werden muss. Ich möchte, dass du das verstehst.«

»Verstehen?«, antwortete er mit einem Auflachen. »Du willst den notwendigen, illegitimen Sohn der Zeit Verständnis lehren?« Er drehte sich um und sah ihr direkt ins Gesicht. Sie wich seinem Blick nicht aus, so schwer es ihr fiel.

»Ich liebe dich. Und auch wenn ich verstehen kann, warum du gehst und wohin, verstehe ich nicht, warum ich, der ich ein ganzes Leben damit verbrachte habe, allzu gut zu verstehen, dich nicht gehen lassen kann. Ich habe mein ganzes Leben nach Vernunft und Logik gelebt, aber jetzt..,« Er zuckte wieder die Schultern und wandte den Blick ab. »Deine Logik scheint die meine untergraben zu haben. Ich glaube, es gibt eine Grenze für das Ausmaß an Vernunft im Universum. Je mehr der eine davon hat, umso weniger hat der andere. Es ist eine Frage des Gleichgewichts; man muss versuchen, den Punkt zu finden, an dem Vernunft und Logik bei allen Beteiligten ausgewogen ist, sodass sie einander schließlich auf gleicher Höhe in die Augen sehen können.«

Sie lächelte leicht, doch es lag kein Humor darin. Ganz behutsam gab sie ihm einen langen, zärtlichen Kuss. Als sie sich von ihm löste, lächelte sie immer noch, doch alles, was er tun konnte, war, sie in stummem Verlangen anzuschauen.

»Ich liebe dich, Lucifer. Ich möchte, dass du das weißt.«

»Ich liebe dich auch. Ich weiß aber, dass es keinen Unterschied macht.«

»Wenn du das glaubst, dann hast du wirklich nichts verstanden.« Sie stand auf und ging zur Tür.

Kr drehte sich um, um ihr nachzuschauen. Er wünschte sich, sie würde gehen, als ob sie nie da gewesen wäre. Er betete darum, dass sie innehalten und zurückkommen würde. »Freya!«, rief er, als sie die Tür erreichte. Kniend richtete er sich auf, streckte die Hände aus wie ein Bettler. Sein Gesicht war heiß, sein Herz raste. »Freya!« Sie drehte sich nicht um.