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Der Mann in Schwarz

 

»Ein Adler mit Angst vorm Fliegen.« So das Urteil eines seiner Kollegen über Sam Linnfer. »Wahrscheinlich hat er auch noch irgendwo eine Leiche im Keller versteckt.«

Wie alle Gerüchte, so fand auch dieses irgendwann seinen Weg zurück zu Sam und zauberte ein breites Grinsen auf sein jungenhaftes Gesicht.

Wenn es eines gab, was Sam an seiner Arbeit liebte, dann war es das Geheimnis, das ihn in den Augen anderer Leute umgab. Es verschaffte ihm große Befriedigung, dieselben Züge zu benutzen, dieselben Mahlzeiten zu essen, an denselben Bushaltestellen zu warten und dabei doch immer über allem zu stehen, und sei es nur in den wilden, fantastischen Geschichten, die man über ihn erzählte.

Obwohl Sam in der Tat anders war, schien ihn jeder in der Universität irgendwie gut zu kennen. Sein aufblitzendes Lächeln und sein Mangel an Ehrfurcht gegenüber Respektspersonen machten ihn bei den Studenten beliebt, und offensichtlich langweilte ihn schon der bloße Gedanke an ein Leben, wie es die Professoren führten, bestimmt von einem täglichen Ritual, dessen Höhepunkt im Austausch von lateinischen Wortspielen zu bestehen schien, wenn sie im Speisesaal Hof hielten. Doch entsprach Sam auch nicht wirklich dem Bild eines Studenten, denn trotz seiner augenscheinlichen Jugend umgab ihn ein Hauch von Autorität, die einer langen, in keinem Lied besungenen Geschichte entstammte.

Meist trug er Schwarz - eine zugeknöpfte schwarze Jacke über einem ausgebeulten schwarzen Pullover und darunter

ein formloses schwarzes Hemd. Er trug die schäbigen Kleider als eine Art Schutzpanzer, den noch keiner durchdrungen hatte. Viele stellten Vermutungen an, was er wohl unter all diesen Schichten von Kleidung verbergen mochte. Die meisten von ihnen lagen falsch. Der Gedanke, dass er aus Eitelkeit Schwarz trug, überlebte nie eine erste Begegnung: Zu diesen Kleidern gehörten ein Paar uralte Turnschuhe und ein verfilzter blaugrauer Schal, den irgendeine unbekannte Person mal für ihn gestrickt hatte. Das Bild wurde vervollständigt durch Manschetten, die nie geschlossen waren, Hemdknöpfe, die nicht zueinander passten, und manchmal ein geflicktes Jackett, das ihm das Aussehen einer modebewussten Vogelscheuche gab.

Um diesen Charakter, dessen Widersprüche andere Menschen so anzogen, abzurunden: Er hatte dichtes schwarzes Haar und Augen so dunkel, dass auch sie fast schwarz wirkten. Nicht dass viele ihnen lange genug standgehalten hätten, um dies bestätigen zu können, denn Sams Blick war von einer Intensität ohnegleichen. Seine Stimme hatte einen ganz leichten Akzent, wenngleich niemand sicher war, woher dieser Tonfall kam. Einige sagten, er sei nordenglisch; andere meinten, dass eine Spur Gälisch darin liegen müsse. Irgendwann schrieb man ihm den Hauch eines walisischen Akzents zu, was das Gerücht in die Welt setzte, er sei in den wilden Bergen am Mount Snowdon aufgewachsen. Ein paar schworen, er müsse ein Zigeuner sein. Sam selbst, wenn man ihn über seine Vergangenheit befragte, gab nur ausweichende Antworten.

Was das Geheimnis noch vertiefte, war die Tatsache, dass Sam auch eine Kenntnis ungewöhnlicher Sprachen an den Tag legte. Einmal war ein Wissenschaftler aus Indien zu Besuch, auf einem bezahlten Trip von jener Art, die Akademiker gern »Forschungsreise« nennen. Sam, der zufällig mitbekam, wie der Gast im Gespräch über einen englischen Begriff stolperte, war nicht nur imstande, mit dem korrekten Wort in Hindi auszuhelfen, sondern fügte auch noch ein paar Erklärungen in dieser Sprache hinzu. Nachdem etwas in dieser Art zum dritten Mal vorgekommen war, immer in einer exotischen Sprache, war dies tagelang Gesprächsthema gewesen.

Über Sams genauen Status an der Universität herrschte Unklarheit. Er hielt keine Seminare ab und korrigierte keine Hausarbeiten. Doch als eines Tages ein überarbeiteter Ordinarius bei einer schwierigen Frage über die traditionelle Verehrung der Erdmutter Gaia hatte passen müssen, war Sam es gewesen, der sie beantwortet hatte. Dies war der Beginn einer ungewöhnlichen Beziehung gewesen, wobei Sam gegen unbegrenzten Zugang zu den Universitätseinrichtungen bei der Abfassung von wissenschaftlichen Arbeiten half, die ansonsten wochenlange Recherchen in Anspruch genommen hätten. Institute, die sich mit alten Kulturen oder fremden Völkern befassten, begannen sein immenses Wissen anzuzapfen und zählten auf seine Fähigkeit, im Handumdrehen irgendwelche entlegenen Informationen auszugraben.

Seine Bewegungen bildeten ein Muster, wenn auch keiner dieses richtig zu deuten wusste. Etwa an fünf Tagen im Monat kam Sam mit dem Zug von London, aß am Dozententisch zu Mittag und saß dann in der Bibliothek, um sich Aufzeichnungen in fremden Sprachen aus vergessenen Büchern zu machen. Für den Rest des Monats war er wie vom Erdboden verschwunden.

Schließlich hatte er dann eine nominelle Anstellung akzeptiert. Als Teilzeit-College-Bibliothekar, dessen Fachgebiet niemand so recht kannte, verdiente er nicht viel, aber die Höhe seines Gehalts hatte ihn nie wirklich interessiert. Von den Begünstigungen, die man ihm angeboten hatte - angefangen von leicht verdientem Geld über klangvolle Titel bis hin zu Dingen, nach denen sich die meisten Dozenten die Finger lecken würden -, hatte Sam selbst die besten ausgeschlagen.

Einmal hatte er sogar einen Lehrstuhl abgelehnt, mit den Worten, er wolle sich nicht binden.

»Darf ich fragen, Linnfer, was Sie eigentlich genau tun?«, hatte der Dekan des Colleges einmal gefragt. »Wenn Sie nicht recherchieren, meine ich.«

»Ich schreibe Bücher für Schwachköpfe, die sich zu fein sind, sie selbst zu schreiben.«

Das Gesicht des Dekans hellte sich auf. Er liebte nichts mehr, als sich gegenüber einem Rivalen in »seinem« Feld einen Vorteil zu verschaffen, als ob ein Fachgebiet von jemandem besetzt werden konnte, der es erforschte. »Jemand dabei, den ich kenne, oder dürfen Sie es nicht sagen?«

Aber Sam gab keine Antwort. Nicht aus Diskretion — nein, diesmal hielt er den Mund, weil er sich gerade nicht einfach um eine Antwort herumgedrückt hatte; dieses eine Mal hatte er eine direkte Lüge gebraucht. Nicht dass er sich deswegen schuldig gefühlt hätte. Einige Wahrheiten waren viel, viel schädlicher als die gelegentliche kleine Lüge.

Und nein, es gab keine versteckte Leiche in seinem Keller oder in seiner Wohnung. Aber dafür einige andere Dinge.

An einem verregneten Abend im Februar kam Sam zu später Stunde die Treppe zu seinem Apartment hochgestapft. Er fischte in seiner Tasche nach dem Türschlüssel - und erstarrte.

Das Apartment lag in einem Mietshaus in einer jener endlosen Reihen von Mietshäusern am Rande von Camden, die seit vierzig Jahren immer teurer geworden waren, aber irgendwie immer noch tropfende Wasserhähne hatten. Die Frau, der er jede Woche die Miete zahlte, war in den Achtzigern, auf einem Ohr taub und kannte kaum seinen Namen. Sie nannte ihn immer noch Mr Samuel, obwohl er schon seit drei Jahren in

der Wohnung lebte. Doch ihr schwindender Geist am Rande der Vergreisung kam ihm gerade recht. Wenn er seine Wohnung nächtelang nicht gesehen hatte, war Mrs Dinken die ideale Person, die bezeugen konnte, er sei die ganze Zeit dort gewesen - und es dabei sogar glaubte.

Doch an diesem Abend hatte Sams feines Gehör vernommen, dass sich etwas in der Wohnung bewegte. Seine dunklen, dunklen Augen hatten ein leichtes Glimmen unterhalb der Wohnungstür gesehen, was darauf hindeutete, dass drinnen irgendwo Licht brannte. Er wusste, dass er keins angelassen hatte. Als er weiter auf die Tür starrte, wurde sein Blick leer, und einen Augenblick lang schien er einer inneren Stimme zu lauschen. Schließlich wandelte sich sein Blick der Konzentration zu einem Stirnrunzeln. Er fand den Schlüssel und stieß die Tür auf.

Die Eindringlinge trugen so einfache, gewöhnliche Kleidung, dass Sam sie sofort als das erkannte, was sie waren. Polizisten.

Einer von ihnen zückte eine Polizeimarke. »Entschuldigen Sie, Sir.«

Wenn er schon anfing, sich zu entschuldigen, bevor Sam ins Zimmer getreten war, musste es schlimm stehen.

»Was«, fragte Sam mit einer sehr ruhigen, beherrschten Stimme, die sein junges Gesicht älter machte und ihm eine unerwartete Autorität verlieh, »machen Sie in meiner Wohnung?«

»Wenn Sie hereinkommen könnten, Sir...«

Da er keine andere Möglichkeit sah, trat er in das kleine, ein wenig muffige Wohnzimmer mit seinen Stapeln von ungeöffneter Post, ungelesenen Zeitungen und Zeitschriften und leeren Kaffeetassen, in denen sich interessante Pilzkulturen bildeten. Trotz der Verwahrlosung umgab den Raum ein Gefühl der Ordnung und ein Hauch von Gemütlichkeit.

Es waren zwei Männer. Ohne ein weiteres Wort zu sagen,

bedeuteten sie ihm, durchzugehen und sich an den Küchentisch zu setzen. Einer von ihnen, der ältere, setzte sich im gegenüber, als wollte er ein Verhör durchführen. Der jüngere lehnte sich gegen eine Arbeitsplatte, mit einer lässigen Zwanglosigkeit, die Sam irgendwie verärgerte.

»Es tut mir leid, Sie behelligen zu müssen, Sir...«

»Aber...?«

»Die Sache ist etwas heikel.«

Sam zog seinen Mantel aus und schob ihn achtlos über die Stuhllehne. »Sagen Sie mir, was Sie wollen.«

Als der Polizeibeamte zu sprechen begann, war Sam Linnfer alsbald klar, dass ihm eine unruhige Nacht bevorstand.