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Schwachstellen

 

Am Tag zuvor war in einer großen Polizeiwache nahe der Victoria Station der Dienst habende Beamte gebeten worden, in einen Raum zu kommen, wo der Inhalt einer Reisetasche zur Begutachtung ausgebreitet worden war.

Ein silbernes Schwert, äußerst scharf. Ein silberner Reif, der unter anderen Umständen als Krone hätte bezeichnet werden können. Ein paar Kleidungsstücke in Schwarz. Und fünf Pässe, zwei auf den Namen Sam Linnfer, zwei auf den Namen Luc Satise und einer auf den Namen Sebastian Teufel.

Ein Geschenk an die Gesetzeshüter von einem ungenannten Freund.

Ein paar Stunden später war ein Haftbefehl gegen Sam Linnfer ausgestellt worden. Erst am folgenden Tag würde Sam selbst ungerührt in die Polizeiwache hineinspaziert kommen und mit all seinen Besitztümern wieder hinausgehen.

Er hatte keine Kämpfe mehr auszutragen, die nicht seine eigenen waren. Darin fand Sam einen gewissen Trost. In der Vergangenheit hatte er Gesellschaft und Freundschaft gesucht, und damit war die Verantwortung gekommen, anderen zu helfen und sich um sie zu sorgen. Er hatte es sogar genossen, die Kämpfe anderer Leute auszutragen, von dem Vertrauen seiner Freunde getragen zu werden. Vertrauen war ein Luxus, der ihm oft verwehrt geblieben war, und in der Kameradschaft hatte er zumindest etwas davon gefunden.

Aber das war nun vorbei. Das Mondgespinst-Netzwerk war so gut wie aufgeflogen, Peter und Wisperwind Geiseln für sein Wohlverhalten. Freya war tot. Seth, Sohn der Nacht, bahnte sich, womöglich mit schrecklicher Absicht, seinen Weg in das Vakuum, das Sam selbst allzu lange schon in der Hölle hinterlassen hatte.

Seth, Odin und Jehova sind alle drei hinter diesen Schlüsseln her. Einer von ihnen hat Freya ermordet. Oh, Licht! Alle drei von ihnen spielen mit dem Feuer!

Doch in diesem Moment der Aussichtslosigkeit, in dem er alles verloren zu haben schien, was er besaß, selbst seine irdischen Identitäten, hinter denen er sich hätte verstecken können, hatte er einen Grund, sich sicher zu fühlen. Nicht glücklich oder gut, aber sicher. Jetzt war alles, was seine Feinde tun konnten, ihn zu treffen - er hatte keine Schwachstellen mehr, die nicht seine eigenen waren.

Keine außer einer, flüsterte eine kleine Stimme in seinen Gedanken.

Ein wildes Hämmern ließ die Tür erdröhnen, verbunden mit dem Summen einer Klingel. Solche Szenen waren nicht üblich in den ruhigen Hinterstraßen von London, WC 2. Als selbst jetzt auf sein Klopfen keine Antwort kam, trat Sam zurück in die Mitte der Straße und legte den Kopf in den Nacken, um zum Fenster hinaufzurufen: »Annette! Annette, bitte mach auf!«

Keine Antwort. Er lief zurück zur Tür und rammte die flache Hand mit einer Kraft gegen das Schloss, dass der Rückstoß einen Schauder bis in sein Schultergelenk jagte. Das Schloss klickte, der Riegel schob sich wie aus eigenem Willen zurück, und die Tür schwang auf. Sam stürmte die Treppe hinauf, drei Stufen auf einmal.

Die Tür zu Annettes Apartment stand bereits offen. Ihre Dienerin starrte anklagend auf ihn herab.

»Wie sind Sie hereingekommen?«, fragte sie in ihrem stark akzentuierten Englisch. »Madame wünscht keine Besucher.«

»Weg da!«, schnappte Sam, schob sie zur Seite und betrat die Wohnung.

»He!«, rief sie aus und versuchte, ihn aufzuhalten, indem sie ihm weitere Türen versperrte. Da er mit der Kraft eines Irren nach Annette suchte, drängte Sam sich leicht vorbei.

»>He< war nie ein Wort der Macht, und wenn es eins wäre, so beherrschst du es nicht.«

Er stürmte durch eine Tür, die sie verraten hatte, indem sie sie zu deutlich bewachte, und hörte Annettes Stimme im gleichen Augenblick, als er ihrer selbst gewahr wurde. Annette saß aufrecht im Bett, von Kissen gestützt und mit hochgezogenen Decken. Ihr dünner gewordenes weißes Haar umfloss ihr Gesicht wie eine Fassung aus reinem Silber, deren einziger Zweck darin bestand, dem verzauberten Prinzen ihr juwelengleiches Antlitz darzubieten.

»Lass uns allein«, murmelte sie zu dem Mädchen, ohne die Augen von Sam zu wenden.

Als die Tür ins Schloss fiel, stürzte Sam an Annettes Seite, erforschte ihr Gesicht, ihren Geist, nahm ihre alten Hände in die seinen und lachte laut aus schierer Erleichterung. »Ich hatte Angst, sie könnten dir etwas antun«, sagte er. »Ich dachte, ich würde dich vielleicht nicht mehr wiedersehen.«

Ihr Gesicht wurde ernst. In einem mütterlichen Ton sagte sie: »Was hast du jetzt schon wieder angestellt, dummer Junge?«

Sam lachte nur noch lauter. Im Überschwang der Erleichterung fand er kaum die Worte. »Ich wurde erschossen, habe zwei Kämpfe zugleich verloren und verbrachte eine Woche auf einer Müllhalde, um mich zu regenerieren.«

»Ah. Immer noch die alten Spiele, auch wenn du selbst inzwischen viel zu alt dafür sein solltest!«

»Ich weiß, ich weiß.«

»Und jetzt ist die Polizei hinter dir her.«

Sams Lachen verstummte abrupt. »Was hast du gesagt?«

»Die Polizei, junger Unsterblicher. Die Friedenshüter, die Säulen der Gerechtigkeit. Sie kamen her und stellten Fragen über dich, meinten, ich wäre eine aktenkundige Kontaktperson« von Luc Satise. Sie haben deine Pässe, kennen deine Decknamen. Sie haben dein Schwert und deine Krone und scheinen aus unbekannten Quellen darüber informiert worden zu sein, dass du jemanden umgebracht hast.«

Sein ernstes Gesicht kam dem ihren gleich, doch wo ihre Augen zugleich lachten und weinten, enthielten die seinen nichts als Besorgnis. »Was hast du ihnen gesagt?«

»Nichts. Du wärst der nette junge Mann, der mal mit meiner Enkelin ausgegangen sei; das sei alles, was ich wüsste.

Dann kamen die anderen Männer, die Fragen über dich stellten. Sie wirkten sehr zornig. Ist er mit irgendwelchen Ärzten befreundet, wo hält er sich am liebsten auf, können Sie uns Adressen angeben? Ich habe ihnen natürlich nichts gesagt. Ich war nur die harmlose alte Dame, die wirres Zeug redet« Sie ballte ihre alten Finger zur Faust, und mit ihrer freien, zittrigen Hand zog sie sein Gesicht näher zu sich heran. »Was hast du getan?«, fragte sie leise. »Was haben sie sonst noch gesagt?«

»Ich soll dir etwas sagen, wenn du hier aufkreuzt. Dich warnen, auch wenn sie dich nicht hätten töten können, hätten sie immer noch deine Freunde in Kaluga. Und dass du dich raushalten sollst.« Er sagte nichts.

»Luc? Luc, ich habe dich geliebt. Ob ich in den Himmel oder die Hölle komme, ich werde auf dich warten. Was hast du getan?«

Er machte sich von ihr los und wandte sich zur Tür. »Ich bin nur gekommen, um zu sehen, ob alles mit dir in Ordnung ist«, murmelte er. »Ich hatte Angst, sie könnten dir etwas antun.« »Wir sind alle jung im Himmel. Wir sind alle alt in der Hölle. Wir können zusammen alt oder jung sein. Wenn du stirbst. Wenn du zu mir kommst.«

Sam wandte sich in der Tür um und sah aus, als wollte er etwas sagen. Er wollte ihr sagen, dass er für sie sterben würde, wenn sie nur das Wort aussprach. Nie mehr in ihr Leben zurückkehren würde. Ein Geist unter vielen.

Aber er hatte nicht den Mumm. Was, wenn er sie noch einmal brauchte?

So sagte er nichts.

Für sie hatte er genug gesagt.

Ich hatte Angst, sie könnten dir etwas antun.

Annette lächelte vage in sich hinein und lehnte sich gegen den Berg von Kissen zurück, als die Tür sich schloss. Der Unsterbliche hatte Angst um ihr Leben gehabt. Sie war zufrieden.

Also hatte Michael nun dafür gesorgt, dass die britische Polizei hinter ihm her war. Wider Willen war Sam beeindruckt. Gewiss war er ein Meister in der Kunst der konstruktiven Behinderung. Sterbliche Polizeikräfte waren nichts, was sich nicht mit zwanzig Jahren Aufenthalt im Ausland oder einfach durch das Verbrennen von ein paar Akten in den Griff kriegen ließ. Aber er konnte nicht leugnen, dass es lästig war.

Michael versucht, mich auszubremsen. Der schlaue Erzengel kann rechnen - sagen wir, eine Woche für die Regeneration, ein Tag, um mich zu orientieren, ein weiterer Tag, um meine Sachen zusammenzusuchen, noch ein Tag, um die Spur wieder aufzunehmen. Michael tut alles, was in seiner Macht steht, um mich kaltzustellen, ohne dabei bis zum Äußersten zu gehen.

Der gute alte Michael. Ich könnte dir fast - aber nur fast - alles vergeben.

Das nächste Problem war Geld. In den Zeiten, als er einfach mit einer Handbewegung die Illusion von Gold hervorrufen konnte, war alles viel einfacher gewesen. In den komplizierteren Zeiten, als Maschinen und Ordnung ihren Einzug hielten, hatte er sich gezwungen gesehen, ein Bankkonto zu eröffnen. Und zu seiner Schande hatte er es durch Tricks und Kniffe heimlich, still und leise zu einem hübschen Vermögen gebracht, das seit mehr Jahren, als Sam Linnfers Geburtsurkunde dies möglich zu machen schien, Zinsen für ihn ansammelte.

Das Konto wurde überwacht, dessen war er sich sicher. Doch selbst in diesen Tagen der Sicherheitsvorkehrungen gab es noch andere Möglichkeiten, an Geld zu kommen.

Zuerst ging er zu einem Antiquitätenladen in einer der Straßen nahe Annettes Apartment. Nachdem er einen ebenso hilfsbereiten wie aufdringlichen jungen Mann verscheucht hatte, der es nicht verstehen konnte, dass jemand seine Leidenschaft für sündhaft teure Regency-Stühle und -Tische nicht teilte, befasste er sich mit einer kleinen Statue. Sie war mit einem Preis von fünfhundert Pfund ausgezeichnet und stellte eine unmöglich geformte Frau dar, die eine Halskette trug und sonst wenig. Sam studierte sie, bis seine Augen schmerzten, prägte sich jeden Zug und jede Kontur ein, hob sie hoch, fühlte ihr Gewicht, drehte sie nach allen Seiten um.

Als er den Antiquitätenladen mit leeren Händen verließ, blickte der Verkäufer übellaunig diesem Philister - oder Geizhals - hinterher, der seine Zeit vergeudet hatte.

Es war irgendwie seltsam, mit leeren Händen durch London zu gehen. Sam, immer in Bewegung, war an ein Gewicht auf seinem Rücken gewohnt. London selbst war immer eine sichere Stadt für ihn gewesen; die kleinen Seitenstraßen und ausgedehnten Vorstädte hatten zahllose Verstecke und Fluchtmöglichkeiten geboten. Das Busliniennetz und das U-Bahn-System waren kompliziert genug, um jeden Verfolger abzuschütteln, und die Innenstadt mit ihren großen, einheitlich gestalteten Häusern war verwirrend genug, um es jedem Späher, so geschickt er auch sein mochte, schwer zu machen, die richtige Adresse herauszufinden.

Aber jetzt war er auf der Hut vor allem und jedem. Vorbeieilenden Passanten warf er forschende Blicke zu und blieb oft vor Schaufenstern stehen, um zu sich zu vergewissern, ob ihm jemand folgte. Suchte den Himmel nach Raben ab. Sondierte die Straße nach Anderen. Doch da war nichts.

Er bog um die Ecke in eine kleine Seitenstraße. Vor zweihundert Jahren war dieser Ort voller Pferdedreck gewesen und erfüllt von schmutzigen, lärmenden Kindern. Jetzt gab es hier Boutiquen, die Weihrauchstäbchen und Papierlampen mit »authentischem« Licht verkauften.

Irgendwie war er, während er in diese Gasse einbog, an ein Gepäckstück gelangt.

Es war nicht sein Schwert oder sein Rucksack; doch seine Hände, die ein paar Augenblicke zuvor leer gewesen waren, hielten nun einen großen, schweren Gegenstand, der in Seidenpapier gewickelt war. Er suchte sich einen Antiquitätenladen aus, der seinen Charakter und Charme einem blitzenden Schaufenster und überhöhten Preisen geopfert hatte, trat durch die Tür und ging auf die Theke zu.

»Verstehn Se wat von Antiquitäten?«, fragte er die Frau, die dort saß.

»Das hier ist ein Antiquitätenhandel, wissen Sie, und ich leite ihn.« Sie hatte einen beleidigten Ton, der Sam beim ersten Hinhören missfiel. Er war genau in der richtigen Stimmung für Vorurteile.

»Ich will dat hier verkaufen.« Er packte sein Bündel aus. Unter der Umhüllung kam eben jene Statue zum Vorschein, die, ob die Dame es wusste oder nicht, immer noch ein paar Straßen weiter an ihrem angestammten Platz thronte.

»Wir sind kein Trödelladen, wissen Sie.«

Er hatte das Gefühl, dass sie den Ausdruck »wissen Sie« ziemlich häufig gebrauchte.

»Zweihundert Pfund, Ma'am. Und dat is' 'n guter Preis.« Er liebte dieses »Ma'am«. Wenn sie ihn schon mit irgendwelchen Nachsätzen nervte, konnte er das auch.

Widerstrebend schenkte sie der Statue einen Blick. Dann einen zweiten. Schließlich nahm sie sie in die Hände und drehte sie um, studierte die Basis, strich mit den Fingern darüber, und ihr Gesicht hellte sich zu einem leichten Stirnrunzeln auf.

»Hundertundfünfzig, und das ist mein letztes Angebot«

»Anderswo krieg ich fünfhundert dafür.«

Sie zögerte. »Woher haben Sie die Statue?«

»Meine Mam is' grade gestorben.«

»Hmm.« Beileidsbezeugungen schienen dieser Frau nicht leicht zu fallen. Ihr ganzes Leben war Arbeit, und Arbeit war für sie der einzige Weg, sich selbst zu überzeugen, dass ihr Leben erfüllt war. »Verstehen Sie etwas davon?«

»Ich weiß, dat mein Freund gesagt hat, ich könnte dafür Geld kriegen.«

Wieder ein kleines »Hmm«, ein Schürzen der Lippen. »In Ordnung. Zweihundert, auch wenn's mir in der Seele wehtut«

Ja, dachte er. Aber es tut dir nicht weh. Wenn du jemand anders gewesen wärst, wenn die Zeiten anders gewesen wären, hätte ich mich schuldig gefühlt. Aber im Augenblick ist das ein Luxus, den ich mir, mittellos wie ich bin, nicht leisten kann.

»In bar.«

»Sind Sie verrückt?«

»Bargeld, oder ich geh mit dem Ding woandershin.«

Sie stieß verärgert die Luft aus, doch zählte ihm dann widerwillig zehn Zwanzig-Pfund-Noten auf den Tisch. Er nahm sie und machte, dass er wegkam. Fünf Minuten später war nicht

nur er auf Nimmerwiedersehen verschwunden, sondern auch die Statue. Als hätte es sie nie gegeben.

Sam folgte seinem Gespür, das ihm den Weg zu seiner geraubten Waffe wies, so wie er ihm von der Hölle aus gefolgt war.

Als er das Tor zur Erde geöffnet hatte, hatte er sich auf kein spezielles Ziel konzentriert, sondern auf das Lied, das in seinem Kopf sang - die Melodie, die all seine Waffen gemeinsam hatten. Er hatte sich davon leiten lassen, war auf dem Weltenpfad darauf zugegangen, bis er glaubte, seine Lungen und sein Geist müssten bersten. Zu seiner Überraschung hatte ihn das Lied nach London geführt. Und jetzt führte es ihn weiter zu einem Bus, der durch den langsamen Verkehr Richtung Südwesten fuhr.

Eine junge Mutter sehnte sich nach Schlaf, während ihre Kinder auf dem Sitz neben ihr wibbelten und kicherten. Der Schaffner diskutierte mit einem Mann, der zwei große Einkaufstaschen trug. Hier ist nicht genug Platz, Sir. Der nächste Bus kommt in ein paar Minuten, Sir. Ein Junge hörte Rap aus einem Ohrstecker, viel zu laut Alles, was Sam mitbekam, war das regelmäßige Dum, Dum, Dum des Schlagzeugs, wie der Herzschlag eines Elefanten. Ein paar Frauen in Hosenanzügen redeten mit hoher, überdrehter Stimme, entzückt von dem >Charme< des Busses. Sie arbeiteten in der City, dem Finanzdistrikt. Busse waren für andere Leute oder wenn es keine Taxis gab.

Sams Gedanken gingen zurück in die Vergangenheit.

Es hatte einen anderen gegeben. Vor seiner Zeit; doch damals im Himmel hatte Sam all die Geschichten gehört. Einen anderen Sohn der Zeit, Stolz und Freude von allen Werken seines Vaters.

Er hatte die Geschichte von Baldur von einem zugleich klugen und guten Mann gehört, einem Mann, der sich nie für irgendeine Sache hatte einspannen lassen, weder von seinen Geschwistern noch von irgendjemandem sonst...

»Sie hassen dich, Lucifer.«

»Warum?«

»Weil du für etwas stehst, was sie nicht begreifen können.«

Sam saß mit untergeschlagenen Beinen auf einem Tisch in einer kühlen, halbdunklen Bibliothek, mit einem vergessenen Buch auf dem Schoß und schaute sehnsüchtig auf das Sonnenlicht draußen. Der Bibliothekar saß an einem Tisch ihm gegenüber und stellte Kreuzverweise zwischen Büchern her, die so alt aussahen, dass sie nur durch ein Wunder nicht längst auseinandergefallen waren. Sam konnte draußen vor dem Fenster Engel reden hören und das Fauchen eines Drachen, und er wünschte sich von ganzem Herzen, irgendwo anders zu sein. Doch er hatte seinem einzigen guten Freund versprochen, ihm zu helfen, und im Himmel wog ein gebrochenes Versprechen besonders schwer.

»Alles steht in Büchern geschrieben, weißt du«, sagte Buddha plötzlich. Es war ein Lieblingsthema des kleinen, stillen Sohns der Weisheit. Seine Haut war braun, seine tintenfleckigen Finger gezeichnet von langen Arbeitsstunden nicht nur in der Bibliothek, sondern auch im Garten und den Laboratorien der Alchimisten und von seiner liebsten Freizeitbeschäftigung, dem Angeln. Sam hatte sich zu ihm hingezogen gefühlt, weil er anders war als seine anderen Halbbrüder und -schwestern. Buddha schien nichts von Himmel, Erde, Hölle oder Sam selbst zu wollen. Sein Halbbruder hatte auch Sams Zuneigung gewonnen durch die Tatsache, dass Buddha ihn an ein ständig überraschtes Meerschweinchen erinnerte.

»Es gibt immer jemanden, der irgendwo Dinge dokumentiert. Vielleicht nicht genau, aber zumindest versucht man es.«

»Was meinst du?« Sam war an diese plötzlichen Themenwechsel gewöhnt und folgte liebend gern Buddhas oft verwirrenden Gedankenprozessen zu einem unbekannten Ziel.

»Nun, hier ist ein Beispiel. Ich habe drei Bücher, die die Geschichte von Baldur erzählen, und keines davon stimmt in irgendwelchen Details mit den anderen überein außer der Tatsache, dass er gestorben ist.«

»Bist du Baldur je begegnet?«

»Ich? Liebe Zeit, nein. Ich war noch ein Kind.«

»Erzähl mir von ihm.«

Buddha veränderte seine Haltung, um es sich bequem zu machen. Er saß immer gerade, als hätte ihm jemand einen unsichtbaren Faden durch Rücken und Kopf gezogen und hielte diesen straff gespannt.

»Einst gab es nicht acht Königinnen, sondern neun. Und die neunte war Licht. Sie hatte nur einen Sohn, und Chronos verkündete, wenn jemand den Himmel beherrschen würde, dann wäre es dieses goldene Kind. Baldur. Baldur wurde eine Macht gegeben ähnlich der, die du besitzt. Wie bei dir erschien sie in der Form von Licht, ausgelöst, wenn er es wollte.

Es sei, erklärte Chronos, die ultimate Waffe. Dieses Licht würde alles Böse in der Welt fortbrennen und nur das Gute übrig lassen. Dieses Licht würde alles Unreine vernichten. Also löste Baldur es eines Tages aus. Und das Licht breitete sich aus über die Erde und zerstörte Tausende von Leben und machte Ozeane zu Wüsten. Baldur war so entsetzt von dem, was er getan hatte, dass er sich weigerte, es je wieder einzusetzen. So zartfühlend und freundlich war dieser Sohn von Licht, dass er keinem lebenden Wesen etwas antun wollte.

Chronos war zornig und blieb dabei, dass Baldur in sich die ultimate Waffe des Guten trüge. Doch Baldur weigerte sich. Er sei kein Kämpfer, sagte er, und die Waffe werde nie zum Einsatz kommen. Chronos tobte und sagte, dass er Baldur die andere

Waffe hätte geben sollen. Die verfluchte Waffe, die ihren Benutzer verzehrte ebenso wie ihr Ziel und die Welt von Dunkelheit und Unreinheit singen ließ.«

Buddha starrte Sam an, aber Sam ließ sich nichts anmerken. Er blieb weiter sitzen, unbeweglich wie Buddha selbst, bis sein Bruder fortfuhr.

»Auch wenn er fluchte, Chronos strafte sein Kind nicht, sondern sagte, es würde immer noch eines Tages den Himmel regieren. Inzwischen wurde Loki - seiner Natur als Vater der Lügen und der Unbeständigkeit getreu - eifersüchtig. Er war eifersüchtig auf dieses schöne Kind mit der unglaublichen Waffe in seinem Innern. Eifersüchtig, dass Vater Zeit es unter den anderen hervorhob. So erschlug Loki Baldur. Und Licht floh vor Kummer aus dem Himmel. Und die ultimate Waffe gab es nicht mehr.«

»Wenn ... wenn unser Vater Baldur so geliebt hat, warum hat er Baldur nicht vor dieser Gefahr gewarnt?«

»Chronos sieht alle Zukünfte voraus, doch er weiß nicht, welche davon eintreffen wird, bevor es geschieht. Er sah, dass es eine geringe Wahrscheinlichkeit gab, dass Loki seinen eigenen Bruder töten würde, und so versuchte er Loki und Baldur getrennt zu halten. Die Wahrscheinlichkeit blieb klein; die meisten Zukünfte, die Chronos sah, verhießen, dass Baldur überleben würde. Aber Loki ist unberechenbar, und er machte aus jener geringen Wahrscheinlichkeit Realität. Ich glaube, dass Chronos in der Sekunde, bevor Baldur starb, sah, wie all jene Tausende von künftigen Möglichkeiten sich änderten, wie die Möglichkeiten, in denen Baldur überlebt, eine nach der anderen vergingen, und die Möglichkeiten, in denen Loki seinen Bruder tötet, in Wellen zunahmen. Die unwahrscheinliche Zukunft, in der Baldur starb, war Wirklichkeit geworden.

Es gab natürlich Gerüchte. Gerüchte, dass Loki es die ganze Zeit geplant und es irgendwie geschafft hatte, Chronos für die wirkliche Gefahr, in der sein Sohn schwebte, blind zu machen. Gerüchte von Zaubern, die Lokis Gedanken dem Zugriff der Zeit entzogen hatten, Gerüchte über alles vom Wilden bis zum Trivialen, ohne große Rücksicht auf das Glaubhafte. Aber der Grund war eigentlich ganz simpel: Chronos hatte das Vermögen seiner Kinder unterschätzt, ihre Kräfte gegen ihn zu wenden.

Ein Fehler, den Chronos nicht noch einmal machen wird. Nun benutzt er seine Kinder, um die Zukunft zustande zu bringen, die er will.«

Sam schwieg lange, bevor er wieder sprach. »Er benutzt mich, nicht wahr? Mich, das notwendige Kind.«

»So sieht es aus. Und um die Wahrheit zu sagen, diese andere verfluchte Waffe, von der Chronos sprach ... Nun, wenn ein Sohn von Licht sie nicht auslösen wird, dann wäre der Sohn eines nicht so zarten Elements vielleicht eher dazu imstande.«

»Spricht aus, Bruder«, ermahnte ihn Sam. »Die Waffe auszulösen und dabei selbst vernichtet zu werden. Seth weiß es. Ich weiß es. Du weißt es. Unser Vater weiß es. Die interessante Frage ist, ob er mich auch falsch eingeschätzt hat.«

Buddha lächelte matt, doch es war etwas in seinen müden Augen, was Sam das Blut in den Adern gefrieren ließ.

»Lucifer, hast du nicht zugehört? Nach Baldur wird Chronos keinem mehr eine Wahl lassen.«