7
Die Schwierigkeit war, nach Paris zu gelangen. Zum Glück wusste er, wie lasch die Passkontrolle in Dover in einer frostigen Nacht sein würde, wenn der Regen von allen Seiten zugleich kam und die weißen Klippen den Wind direkt gegen den Fährhafen trieben, der unter ihnen lag.
Andernfalls wäre er wieder versucht gewesen, die Weltenpfade zu benutzen. Aber nein. Es würde vermutlich nicht länger dauern, wenn er die Fähre nahm und von dort den Zug nach Paris. Es hatte Zeiten gegeben, als er stundenlang durch Paris geirrt war, so niedrig war die Verteilung von Toren in der Stadt. Anders als in London waren viele der Tore dort überbaut worden. Manchmal wünschte er sich, Paris wäre schmutziger, dunkler, als es war. So könnte er ein Tor benutzen, ohne sich Gedanken darüber zu machen, ob er inmitten eines gepflegten Parks oder Kinderspielplatzes auskommen würde.
Der Bus von der Dover Priory Station bog zum Eingang des Fährhafens ein, und Sam begann im Geist seinen deutschen Akzent zu üben. Wenn er unter dem Namen Sebastian Teufel reiste, dann sollte er besser auch so klingen. Das Ergebnis ließ ihn dem Schurken in einem James-Bond-Film ähneln, doch es war das Beste, was er zustande brachte. Falls jemand ihn auffordern sollte, Deutsch zu reden, wäre er in Schwierigkeiten. Hoffentlich wollte auch niemand sehen, was er in seinem Rucksack trug. »Golfschläger«, sagte er versuchsweise mit seinem deutschen Akzent und rollte dabei die Silben im Mund.
»Aha. Eine gute Reise.«
»Danke«, sagte er zu der Frau an der Passkontrolle, ganz der höfliche deutsche Tourist. Sie hatte kaum hochgeblickt, um sein Passfoto zu überprüfen. Seine eigenen Sinne waren voll gespannt, lauschten, fühlten nach irgendeinem Zeichen von Thor oder seinen Gehilfen. Ich bin der Einzige mit wirklich guten Verbindungen hier, dachte er inbrünstig. Die anderen sind so auf den Himmel fixiert gewesen, dass die Netzwerke, die sie hier unten haben, mehr als dürftig sind.
Trotzdem, mit den Walküren ist nicht zu spaßen.
Die Pride of Calais war ungewöhnlich voll für eine Abendfahrt. Bei rauer See und solch einem Regen vermieden es die Passagiere, an Deck zu gehen, und drückten sich lieber unter Deck zwischen Spielautomaten und Kiosken herum. Es war unmöglich, irrational, aber als die Fähre sich vom Kai löste und die Lichter von Dover in der Dunkelheit verschwammen, sagte sich Sam, dass er es vielleicht doch gerade noch geschafft hatte. Thor war in England. Die Polizei war in England. Er würde das Mondgespinst-Netzwerk finden, unerkannt. Sie würden wissen, wo Andrew war, und Andrew würde alles erklären. Alles erschien mit einem Mal ganz einfach.
Doch es war zu schön, um wahr zu sein.
Als er in einer der vielen Bars saß und an einem Bier nippte, spürte Sam etwas und wusste, dass es die Antwort auf seine Sondierungen war. Er erstarrte, sah sich in plötzlicher Panik um. Ein schlafender Lastwagenfahrer; eine müde Frau, die versuchte, die Times zu lesen; ein paar Geschäftsleute, die sich unterhielten. Zahlreiche Leute in Freizeitkleidung, die alle nicht schlafen konnten, da das Schiff sich hob und senkte. Draußen an Deck war es dunkel.
»Und wohin wollen Sie?«
»Wie bitte?«, fragte er, wobei er sich gerade noch rechtzeitig an seinen deutschen Akzent erinnerte.
Der Barkellner, praktisch der Einzige auf dem Schiff, dem dessen konstante Bewegung nichts ausmachte, polierte ein Glas. »Oh, Sie sind Deutscher... Warum fahren Sie nach Calais?«
»Ich fahre zu meiner Familie. Ich bin fertig mit meiner Arbeit, und jetzt machen wir Urlaub.« Sein nervöses Lächeln wurde verstärkt durch den Alarm, der nun seinen sechsten Sinn schrillen ließ. Gefahr. Gefahr ist nahe. »Ich liebe Golf, wissen Sie.«
»Ach ja? Sind das Ihre Schläger?«, fragte er mit Blick auf das Bündel, das Sam auf den Knien liegen hatte.
»Ja.«
»Oh ... Haben Sie Kinder?«
»Zwei Mädchen, kleine Lauser«, sagte er mit dem verlegenen Lachen eines stolzen Vaters, der versucht, nicht anzugeben.
»Ach. Ich habe selbst ein Mädchen. Hat nächste Woche Geburtstag. Liebt die Teletubbies, leider Gottes.«
Sam gab ein weiteres unsicheres Lachen von sich; er wusste nicht, ob die Deutschen Teletubbies hatten oder ob sie davon verschont geblieben waren. Etwas bewegte sich in der Dunkelheit draußen auf dem Deck. Sein Kopf fuhr herum wie der einer Schlange, doch es war niemand dort.
»Sauwetter, nicht wahr?«, meinte der Barkellner.
»Oh, ja. Entschuldigen Sie, aber ich muss raus und frische Luft schnappen. Es ist etwas stickig hier drin.«
»He, es ist nicht schön da draußen.«
Sam überging den Einwand. »Könnten Sie so lange auf meine Tasche aufpassen?«
Als er die Glastür aufschob, die aufs Deck hinausführte, peitschte ihm der Regen ins Gesicht. Sein Magen revoltierte. Er stemmte die Tür hinter sich zu und schob sich seitwärts das dunkle Deck entlang, wobei er jeden Schritt mit Vorsicht setzte. Ich kann dich spüren. Ich weiß, dass du hier bist.
Über ihm bewegte sich etwas. Er rannte los und bog um eine Ecke, wobei seine Füße auf dem glitschigen Deck fast den Halt verloren. Rutschend kletterte er eine Metalltreppe hinauf, drehte sich auf dem oberen Absatz, dann eine weitere Treppe, und schließlich stand er auf dem Oberdeck und spähte in die Dunkelheit.
Hier peitschte der Regen von allen Seiten zugleich, und die riesigen Schornsteine der Fähre wummerten laut. Hektisch blickte er sich um, spürte die Bewegung in der Luft hinter sich. Eine Walküre, durchnässt von ihrer Kletterpartie auf dem Deck, schwang sich über die Reling. Er sah das Aufblitzen einer Klinge und duckte sich, riss die Hände nach oben und schloss sie um ihren Arm.
Jahrhunderte des Überlebens hatten Sam seine eigene Kampfmethode gegeben, die perfekte Körperbeherrschung und ständige Übung erforderte. Alle Teile seines Körpers bewegten sich gleichzeitig; während seine Ellbogen die Walküre zurückstießen, hakte sich ein Fuß um ihren Knöchel und zog sie nach vorn. Sie fiel, rollte herum — und er war schon wieder woanders, hinter ihr, zog ihre Arme so fest zurück, dass ihr schier die Knochen brachen. Der Dolch fiel aus ihrer Hand. Mit einem Ausdruck der Empörung nahm er ihn auf.
»Stahl?«, schrie er ihr ins Ohr. Sein Griff hielt sie auf die nassen Deckplanken gepresst. Ihr Gesicht war schmerzverzerrt. »Du bist schlecht vorbereitet!«
Sie versuchte zu schreien, weniger um Hilfe herbeizurufen, als um ihm zu trotzen. Doch er hatte ihr bereits ein Knie in den Rücken gestemmt, um gleichzeitig eine Hand um ihren Mund zu schließen. Über das Heulen des Sturm und das Prasseln des Regens hinweg schrie er ihr direkt ins Ohr. »Thor hat dich geschickt, nicht wahr?«
Sie blieb regungslos.
»Hör zu, Mädchen, ich bin der Fürst der Finsternis, der Bastardsohn von Vater Zeit. Und ich bin imstande, dir beide Arme zu brechen, wenn ich keine Antwort kriege. Ich weiß, dass Thor dich geschickt hat, also nick einfach!«
Sie nickte. Wütend auf sich selbst, wand sie sich in seinem Griff und versuchte, ihn in die Hand zu beißen.
»Woher hat er gewusst, dass ich über Dover kommen würde?« Er zog seine Hand zurück, und sie begann zu schreien. Sofort hielt er ihr den Mund wieder zu und verdrehte ihr mit einem Ruck den Arm. »Sag's mir! Oder ich töte dich!« Er zog die Hand wieder zurück, ein kurzes Schnippen des Handgelenks, und der silberne Dolch lag in seiner Hand. Die Spitze war gefährlich nahe an ihrem Auge.
»Er weiß, dass Ihr nicht gern die Tore benutzt! Er hat den Walküren befohlen, alle Fähren zu bewachen, und andere angeheuert, die Flughäfen im Auge zu halten.«
»Wen, andere? Menschen oder Elfen?«
»Beides! Ein paar natürliche Zauberer, meistens Elfen.«
Das passte. Wilde Elfen waren diejenigen, gegen die Sam hauptsächlich sein Netzwerk errichtet hatte. Sie gehorchten nichts und niemandem außer ihrem Verlangen nach Magie, um sich davon zu nähren, oder ihrem Trieb, dem stärksten Herrn zu dienen.
Er schüttelte die Walküre härter. »Sag ihm, ich habe Freya nicht getötet. Sag ihm, er soll mich in Frieden lassen!«, schrie er, unbeeindruckt von ihren Anstrengungen. Er legte die Hand auf ihre Stirn. Ihre Augen schlossen sich, ihr Körper erschlaffte, und sie blieb mit dem Gesicht nach unten auf dem nassen Deck liegen.
Vor Kälte zitternd, schob Sam den Dolch wieder in die Scheide. Wenn Thor sämtliche Häfen beobachten ließ, dann hatte er seine Walküren ziemlich ausgedünnt. Er muss wirklich zornig sein.
Er kehrte in die Wärme des Schiffsinneren zurück, nahm
seine Tasche an sich, ohne dem erstaunten Barkellner ein Wort der Erklärung zu gönnen, und eilte zu einer Kabine in den Herrentoiletten. Dort zog er seinen nassen schwarzen Mantel aus und ersetzte ihn durch den grünen Anorak. In einem der Bordläden erstand er einen anderen Rucksack, der ihn als »World Trekker« auswies, und stopfte seine Siebensachen hinein. Er setzte die Baseballkappe auf, verzichtete aber auf die Sonnenbrille. Im trüben Februarlicht wäre sie zu auffällig gewesen.
Ferienreisende sind oft enttäuscht bei ihrer Ankunft in Calais. Nachdem man Dover, das größtenteils zerbombt und später behelfsmäßig wieder aufgebaut worden war; hinter sich gelassen hat, wünscht man sich, in einem schmucken Hafen zu landen, wo ein Mann mit einem Strohhut Wein und Knoblauch verkauft. Aber nicht in Calais. Vom Hafen geht es direkt weiter zur Autobahn, von wo aus der Blick über Eisenbahn-, und Industrieanlagen schweift. Der Bus zum Stadtzentrum fährt vorbei an Reklamewänden und riesigen Wellblechbaracken, in denen Berge von Beton aufgehäuft sind, in Vorbereitung auf den unseligen Tag, an dem die Welt so viel von diesem Zeug braucht. Das erste Anzeichen dafür, dass man in einem anderen Land ist, ist das Rathaus aus rotem Ziegelstein, in pseudo-mittelalterlichem flämischen Stil, mit einem riesigen Uhrturm. Wie die zynischeren Touristen betonen, ist es sicher nicht Dover Casde. Aber es ist anders.
Das Endziel des Busses waren die beiden Eisenbahnstationen der Stadt, die eine international, die andere regional. Sam kaufte eine Fahrkarte und lief zum Bahnsteig, von dem der Zug nach Paris abging. Er erreichte ihn Sekunden, bevor das Pfeifsignal ertönte. Doch gewiss nicht zu früh. Wann würde die Trance, in die er die Walküre versetzt hatte, abklingen? War es jetzt schon bekannt, dass er in Calais von der Fähre gegangen war?
Kann ich es wagen zu schlafen?, fragte er sich, als der Zug aus dem Bahnhof ratterte. Oder gibt es mehr Feinde dort draußen, die auf mich warten? Wegen eines Verbrechens, das ich nicht begangen habe? Oder um einer Wahrheit willen, deren Entdeckung Freya den Tod gebracht hat?
Es war auf einer anderen Zugfahrt gewesen, von Paris nach Orleans, als er sich damals entschlossen hatte, aktiv zu werden. Er hatte dies nur mit Widerstreben getan, da er wusste, wie gefährlich es war, sich in Belange der Sterblichen einzumischen.
Seine Mitreisenden waren eine Frau mit Hut und schickem Mantel, die steif und mit leerem Gesicht dasaß. Entweder eine Spionin oder eine Informantin, sagte er sich aus einem plötzlichen Gefühl heraus. Ein Mann, der grobe, schmierige Kleidung trug, mit ungekämmtem Haar und Schmutz an Gesicht und Händen. Ein paar kichernde kleine Kinder, die ihre Nasen gegen das Fenster drückten und die draußen im Dunkel vorbeirauschende Landschaft zu erkennen versuchten. Eine weitere Frau in einem schäbigeren Mantel, die bei ihrem Mann saß. Auf ihrer Stirn stand eine unauslöschliche steile Falte.
Sam hatte gewusst, dass er früher oder später eingreifen würde. Er hatte die zerbombten Häuser in London gesehen, Gerüchte über Konzentrationslager gehört, war selbst im Warschauer Ghetto gewesen. In seinem Herzen wusste er, das Einzige, was ihn zurückhielt, war Angst. Immer noch fürchtete er die Sterblichen.
»Papiere.« Ein deutscher Soldat, der Französisch mit starkem Akzent sprach, betrat das Abteil. Sams Luc-Satise-Ausweis wurde kurz überprüft und dann zurückgegeben. Die Papiere der Frau mit dem Stirnrunzeln und ihres Ehemanns wurden inspiziert und einbehalten. Der Soldat verließ das Abteil wieder und zog die Tür zu. Von draußen hörte man eine halbherzige Unterhaltung mit seinem vorgesetzten Offizier.
»Sie stehen auf der Liste, Herr Hauptmann.«
»Sind Sie sicher?«
Sam warf einen Blick auf das Paar. Sie hielten einander bei den Händen. Ihre Gesichter waren leer. Resistance-Kämpfer. Sie sind verraten worden, die Soldaten können sie identifizieren.
Die Abteiltür wurde erneut aufgestoßen, und der Soldat deutete mit einer Pistole auf die beiden. »Ihr zwei. Mitkommen!«
Ohne ein Wort standen sie auf. Furcht war in ihren Mienen zu lesen. Sam sah in ihre Gesichter, in die Dunkelheit draußen und wieder zurück. Selbst die Kinder waren verstummt.
Der Mann und die Frau wurden in Richtung Zuganfang fortgeführt. Sie hielten die Köpfe gesenkt, in der unterwürfigen Haltung von Gefangenen. Sam wandte sich an seinen Nebenmann und fragte mit leiser Stimme. »Wie weit ist es noch bis Orleans?«
»Wir sind bald da.«
»Man wird sie erschießen, nicht wahr?«
»Erst verhören.« Es schien ihn gleichgültig zu lassen.
Sam stand auf. Draußen auf dem schmalen Gang hangelte er sich am Handlauf bis zum Ende des Wagens und schob ein Fenster hoch. Zum Glück trug der Wind den Qualm zur anderen Seite des Zuges. Er steckte den Kopf hinaus und blickte nach vorn zur Lokomotive hin. Seine Augen schlossen sich kurz, als er seine geistigen Fühler ausstreckte. Bremsen kreischten. Sam wurde auf eine Seite geschleudert. Der Zug ächzte unter dem Druck der plötzlichen Verlangsamung. Als er rüttelnd zum Halten kam, stieß Sam eine Wagentür auf und sprang hinunter in die Nacht.
Durch die Dunkelheit rannte er nach vorn den Zug entlang. Plötzlich sprang vor ihm ein deutscher Soldat heraus und schrie den Lokführer an. Sam duckte sich unter einen Wagen, kroch zur anderen Seite hindurch und lief geduckt weiter den Bahndamm entlang. Jetzt schrien bereits zwei Soldaten auf das Zugpersonal ein, das sich verwirrt auf dem Führerstand drängte, um herauszufinden, warum die geölte und bislang reibungslos funktionierende Maschinerie sich plötzlich gewaltsam sperrte.
An den Abteilen der ersten Wagenklasse angekommen, riskierte Sam einen Blick durchs Fenster. Zwei gelangweilte deutsche Soldaten hielten mit angelegten Gewehren das stumme französische Paar in Schach. Die Gefangenen trugen Handschellen, und das Gesicht des Mannes zeigte bereits Anzeichen eines Blutergusses am Mund.
Wieder fasste Sam einen Entschluss, auch wenn er sich selbst dafür einen blinden Narren schalt. Alle vier Köpfe fuhren herum, als er gegen das Glas klopfte. Er klopfte noch einmal, dann trat er schnell zurück und presste sich gegen die Seite des Zuges. Die Tür ging auf, und ein deutscher Soldat streckte den Kopf heraus. Sam sprang hoch, packte ihn um den Nacken, zog ihn in die Dunkelheit, wobei er rigoros sein Bewusstsein durchforstete. Ein sterblicher Geist, unvorbereitet - davon abgesehen hatten die Menschen es nie verstanden, sich gegen die Gedanken eines anderen zu verteidigen. Ein Ruf ertönte, und der Kamerad des Soldaten erschien mit angelegtem Gewehr in der Wagentür. Doch Sam stand bereit, ihn in einem Netz aus Magie zu fangen. Als der Mann heraussprang, trug ihn sein Sprung bis über den Bahndamm hinaus. Ein Aufschrei, ein Wimmern, dann blieb er liegen; sein Bein stand in einem unnatürlichen Winkel ab. Mehr Schreie und Rufe waren zu hören.
»Kommt!«, rief Sam. Der Mann und die Frau brauchten keine weitere Aufforderung und kletterten so schnell aus dem Zug, wie es ihre Handschellen erlaubten.
»Beeilt euch!« Sie rannten los, brachen sich blindlings ihren Weg durch das Dornengestrüpp am Fuße des Bahndamms. Hinter ihnen ertönte Gewehrfeuer, und Sam spürte, wie ihn etwas im Rücken traf. Der Schlag schleuderte ihn herum und warf ihn zu Boden. Der Mann und die Frau hielten inne, doch mit einer atemlosen und schmerzerfüllten Stimme rief er: »Weiterlaufen!« Sie zögerten, dann flohen sie in die Dunkelheit
Keuchend vor Schmerz kroch Sam auf Händen und Knien durch Dornsträucher und Farngebüsch. Die Ranken zerrissen seine Kleider, und seine Hände bluteten. Nach Luft ringend brach er hinter einem Baum zusammen. Er konnte bereits spüren, wie sein Körper die Trance einleitete, welche die Wunde heilen würde, doch er ließ es nicht dazu kommen. Die unwillkürliche Starre, die der Heilungsprozess mit sich brachte, war ein Überbleibsel aus den Tagen, als die meisten Waffen nicht in einem stecken blieben. Kugeln waren anders. Er biss die Zähne zusammen und konzentrierte sich auf das, was er tun musste. Schmerz zerriss seinen Rücken, als endlich die Kugel frei kam, wie von einem ungeduldigen Chirurgen herausgezogen, den die Schmerzen anderer nicht kümmerten.
Das kommt davon, wenn man sich einmischt, dachte er bitter, bevor er der Länge nach mit dem Gesicht nach unten zu Boden fiel.
Er war aufgewacht an einem Ort, der nach Tod stank, und wusste, dass er noch nicht außer Gefahr war. Sein Rücken brannte wie Feuer, und sein Herz begann gerade erst wieder seinen normalen Schlag zu finden. Sein Körper war aus seinem vorherigen Zustand gerissen worden, weil die Trance durch einen Warnmechanismus durchbrochen worden war. Gefahr hatte ihn geweckt, eine Gefahr, der er nur bei vollem Bewusstsein begegnen konnte.
Er lag mit dem Gesicht nach unten in einer schlammigen Grube. Er trug dieselbe Kleidung wie zuvor, durchtränkt von seinem eigenen Blut. Als er sich fragte, wer er war und was er hier tat, klatschte ein Klumpen nassen Lehms auf seine Beine. Dann ein weiterer. Mit der Rückkehr des Bewusstseins hörte er das Knirschen einer Schaufel und spürte mehr Erdreich herunterprasseln. Irgendjemand war dabei, ihn zu begraben, ohne Sarg, in einem namenlosen Grab.
Auch wenn jeder einzelne Nerv dagegen aufschrie, stemmte er sich hoch. Es war ein einzelner Franzose, der ihn begrub. In seinem Schrecken ließ der Mann die Schaufel los, sodass sie dumpf zu Boden polterte.
»Hi«, sagte Sam. Schlamm tropfte von seinem Gesicht, als er seinen ausgedörrten Mund zu bewegen versuchte.
Der Mann drehte sich um und rannte davon. Na, so schlimm sehe ich nun auch wieder nicht aus, dachte Sam, bevor er erneut das Bewusstsein verlor.
Der Zug kam nach Mitternacht in Paris an, und Sam stellte fest, wie schwer es war, ein Hotel zu finden, das rund um die Uhr geöffnet hatte. Schließlich fand er eines in einer Seitenstraße, wo das Mädchen am Empfang, das von irgendwo aus Osteuropa stammte, vor Müdigkeit fast umfiel. Er buchte ein heruntergekommenes Einzelzimmer unter dem Namen Michel Lesson, den er aufs Geratewohl wählte, in der Hoffnung, dass ihn niemand nach seinem Ausweis fragen würde.
Als die Uhren der Stadt zwei schlugen, schlüpfte er wie schon so oft zuvor in eines jener fremden Betten in einem muffigen Zimmer mit einem Schwarzweißfernseher und einem Fenster, das auf Betonfassaden hinausblickte, und schlief ein, ohne sich auch nur Gedanken wegen seiner sonst üblichen Schutzzauber zu machen. Er war einfach zu müde.
Seine Träume waren voller Bilder von Schneestürmen in den tibetischen Bergen, Historikern, Andrews, Gails sowie Freyas Blut an den Händen eines Bruders. Obwohl er unter mehreren Decken lag, erwachte er zitternd vor Kälte.
Der Buchladen lag neben einer kleinen Kirche, die Sam, wäre da nicht das Schild gewesen, das sie als Haus Gottes auswies, wahrscheinlich übersehen hätte. Es war eine jener modernen Kirchen, die in dem Glauben gebaut worden war, dass das Gebet allein zählte, nicht der Ort, wo man es sprach. Doch was der Kirche an Persönlichkeit mangelte, machte die Librairie Rivière, gegründet im ersten Jahr des zwanzigsten Jahrhunderts, mehr als zehnmal wett.
Sam stieß die Tür auf, die mit fünfzig Jahre alten Plakaten beklebt war, und hörte den gedämpften Klang der alten Schelle. Er blickte sich um. Der Laden wurde ganz offensichtlich von einem Sammler geführt, und zwar einem leidenschaftlichen. Es gab eine Vielzahl von signierten Exemplaren, einige Erstausgaben, ein ganzes Regal mit alten Manuskripten und sogar eine Originalausgabe von Pride and Prejudice, die darauf wartete, für mehrere tausend Euro in den Besitz eines ungeheuer reichen Büchernarren zu wechseln. Eine rötlichgelbe Katze lag zusammengerollt und friedlich schlafend auf einem Regal. In einer Ecke bildete ein Haufen Kissen eine Kuschelecke für Kinder zum Vorlesen von Geschichten. Ein Auslagekästchen mit Broschüren zeugte davon, dass dies ein »Gemeinde«-Buchladen war.
Die Kasse war nicht besetzt. Sam sah sich mit Absicht erst ein wenig im Laden um, bevor er an die Theke trat und die kleine Klingel betätigte, die darauf stand.
»Bin schon unterwegs!«
Ein verhutzelter, kleiner Mann, eher Zwerg als Mensch, betrat den Raum. Er trug eine Brille mit Halbgläsern auf der Nasenspitze, und obwohl er langes graues Haar hatte und einen Wulst um den Bauch, war er so leicht auf den Füßen wie ein Kind. Für Sam war unverkennbar, dass eine Art Schatten ihm folgte, wahrzunehmen nur aus den Augenwinkeln. Dieser Mann, wie Adamarus, wie Wisperwind, war einer von den Anderen.
»Betreiben Sie diesen Laden schon lange?«, fragte Sam leise.
Der kleine Mann sah ihn an und japste, als ihm aufging, was für ein Wesen es war, das da vor ihm stand. »Ziemlich lange, Monsieur«, murmelte er und jonglierte mit seiner Brille, als wäre sie aus nasser Seife. »Wie kann ich Ihnen helfen?«
»Ich suche nach einer Erstausgabe von The Whispering Game.«
Der Mann wurde noch nervöser als zuvor, als seine alten Ohren auf einen Kode ansprachen, den er seit vielen Jahren nicht mehr gehört hatte. »Sie kennen nicht zufällig den Autor?«, fragte er mit atemloser Stimme.
Annette hatte nichts über Autoren gesagt.
»Nein. Aber ich kenne den Verlag. Mondgespinst, 1941.«
»Welches Interesse haben Sie an diesem Buch?«
»Ich war der Chef des Unternehmens.«
Der Mann stieß ein nervöses kleines Lachen aus, nun da er nicht nur wusste, was, sondern auch, wer hinter diesem verschlüsselte Ansuchen um ein Treffen steckte. »Ich werde versuchen, es zu besorgen, Monsieur.«
»Ich warte draußen.«
Mit einem teuflischen Lächeln verließ Sam den Laden. Ein Stück Fußweg entfernt war ein kleiner Park, den er von Annettes Berichten kannte. Er ging dorthin, fand eine Bank und setzte sich. Selbst in Paris war der Februar ein ungemütlicher
Monat, und es dauerte nicht lange, bis er sich in die Hände blasen und die Arme reiben musste, um die Kälte abzuhalten. Wie lange würde es dauern, um Wisperwind eine Nachricht zu übermitteln? Würde er überhaupt kommen?
Nach einer Weile stand er auf und hüpfte umher, um sich aufzuwärmen, womit er seltsame Blicke von Vorübergehenden auf sich zog. Mit seinem grünen Anorak und der Baseballkappe war das nicht überraschend. Das modebewusste Paris sah ihn vermutlich als wenig besser, als einen Clochard an. Schließlich setzte er sich wieder und bibberte unauffällig vor sich hin, bemüht, niemandem in die Augen zu sehen und den Eindruck zu erwecken, er sei nur ein weiterer einsamer Fremder, welcher auf einen Freund wartete, der nicht kam.
Hinter ihm bewegte sich etwas.
»Du bist in Gefahr«, sagte eine Stimme an seinem Ohr wie das Seufzen des Windes.
»Und ich bin gefährlich.« Er wandte sich um, um Wisperwind besser in Augenschein nehmen zu können. »Danke, dass du so schnell gekommen bist.«
»Ich habe mir gedacht, dass du hierher kommen würdest; es erschien mir das logische Ziel. Ich habe Gerüchte gehört. Jemand von den Erstgeborenen ist tot. Unter den Unsrigen wird geflüstert, dass es Freya ist, die gestorben sei, und dass man nach dir sucht.«
Wisperwind war ein alter, alter Elf, wie Adamarus. Doch während Adamarus leicht als ein normales menschliches Wesen durchgehen mochte, war Wisperwind bleich wie Schnee, mit Fingern so lang und einer Gestalt so dünn, dass es schien, wenn man ihn nur zu stark anhauchte, würde er in tausend Scherben zerspringen. Er trug Bluejeans und ein fleckiges Hemd unter einer blauen Jacke, die an ihm hing, als wäre er vom Hals abwärts ein Skelett. Was bei näherer Überlegung durchaus zutreffen mochte.
In Wisperwinds Gesicht war nichts von der Jungenhaftigkeit, die Sam kennzeichnete, und kein Fremder, der Wisperwind beim Vorbeihuschen erspäht hätte, würde ihn anders als alt bezeichnen. Klugheit, Wissen und Zeit standen in seinen hellen Augen und dem schmalen Lächeln geschrieben, das, wie Beelzebubs, nie seinen Ausdruck zu ändern schien. Doch wo Beelzebubs Züge von Sorge zermürbt waren, war Wisperwinds Gesicht von einem Gefühl der Vorahnung gezeichnet.
Vorahnung, was mich betrifft? Oder was aus der Welt rings um uns her geworden ist?
»Ich weiß, dass die Anderen immer miteinander in Verbindung stehen. Es gibt Dinge, die ich herausfinden muss.«
»Natürlich. Auf unsere eigene Art liebten wir alle Freya. Und ich erinnere mich noch an die alten Zeiten. Das Mondgespinst-Netzwerk.« Wisperwind seufzte, ein Laut wie eine Brise, die von einem trägen Fluss an einem Sommertag aufsteigt. »Wir waren die Einzigen, die wirklich etwas getan haben, weißt du? Die anderen hatten viel zu viel Angst vor den Sterblichen. Oder hassten sie, für das, was die Menschen ihnen angetan hatten. Uns aus unseren Heimen vertrieben, unsere Schreine zerstört, uns das Gedenken verwehrt. Doch wir haben etwas bewirkt.«
»Hast du eine Ahnung, wie viele Thor nach mir ausgeschickt hat? Ich muss wissen, wie ernst die Lage ist.«
»Thor?«, echote Wisperwind ungläubig. »Nach dem, was ich höre, ist Thor das geringste deiner Probleme. Ein hirnloser Schläger, den du bei jedem Spiel schlagen kannst. Nein, worüber du dir Sorgen machen solltest, ist die jüngere Schule.«
Sam schnappte nach Luft. »Die Jüngeren? Warum sind sie hinter mir her?«
»Ich weiß nicht, ob sie im Besonderen hinter dir her sind«, gab Wisperwind zu. »Aber Walküren und Engel sind gesichtet worden. Ich weiß auch, dass gewisse dienstbare Geister angeheuert wurden, um deinen Standort ausfindig zu machen.«
Wann immer Wisperwind das Wort »dienstbar« aussprach, tat er dies mit Inbrunst. Dienstbare waren für ihn gefährliche Widersacher, die die Menschheit und all ihre Werke hassten. »Die mit Verbindungen haben auch die Dienste sterblicher Hexer angeworben.«
»Wen meinst du damit?«
»Diejenigen, die mehr Zeit auf Erden verbringen. Es heißt, Jehova habe Freya nahe gestanden, bevor sie starb. Es heißt, dass Odin immer weniger Zeit in Walhalla verbringt, dass er mitunter monatelang auf die Erde verschwindet. Das ist nicht üblich bei Ersten - die Erde ist nur eine Quelle für sie, keine Welt. Einige sagen sogar, Odin sei in die Hölle gegangen, ein Reich, das von allen Ersten gemieden wird. Naja, fast allen.«
Sam nickte, obgleich sein Herz klopfte. Wenn einer seiner Brüder die Hölle aufsuchte ... »Warum dorthin? Suchen sie Verstärkung?«
»Möglicherweise. Die Hölle hat einiges an Kämpfern zu bieten. Oni. Balors. Es gibt auch Gerüchte von ein paar Titanen in bestimmten Gebieten. Und Erste, wie du weißt, sind in der Hölle hoch angesehen. Die Ankunft eines Sohnes der Zeit, der ein großes Schwert und einen weisen Gesichtsausdruck trägt, würde ausreichen, um eine beträchtliche Gefolgschaft zu sammeln.«
»Sie würden nicht in der Hölle rekrutieren, wenn sie nicht ernsthaft versuchten, ihre Truppen zu sammeln. Traditionell geht man dorthin, wenn man nach ganzen Armeen Ausschau hält.«
»Ich weiß.« Wisperwinds Ton war selbst nach seinen Maßstäben beunruhigend.
Sam blickte scharf auf. »Was sonst noch?«
»Man hat auch Feuertänzer gesichtet.«
Sams Aufmerksamkeit verdoppelte sich. »Wie viele?«
»Zwei wurden in Rom gesehen. Zwei hat man in St. Petersburg erspäht, zwei in New York. Wir sind uns sicher, dass es noch mehr sind.«
»Wo«, begann Sam bedacht, »ist Andrew?« Er erzählte Wisperwind das Wenige, was er wusste, wobei er sich darüber klar war, dass Andrew den unbekannten Faktor in der Gleichung darstellte und zu behandeln war wie ein rohes Ei. Oder wie eine Bombe.
»Wir wissen nicht einmal, wer Andrew ist.«
Sam zog die Fotografie heraus, die der Abt ihm gegeben hatte. »Dieser Mann.«
Wisperwind dachte nach, durchforschte sein Gedächtnis. »Der Mann, der aus dem Kloster floh? Ja... ein Historiker.«
»Bis du dir sicher? ... Also, wohin ist der Historiker - Andrew - gegangen?«
»Wir wissen es nicht. Mindestens ein Feuertänzer ist hinter ihm her. Vielleicht auch noch eine Walküre. Sie halten seinen Weg bedeckt. Nach der Spur der Dunkelheit zu urteilen, die er hinter sich herzieht, könnte er irgendwo östlich von Polen sein. Unsere Quellen finden es schwer, irgendetwas in Russland aufzuspüren. Wie glauben - aber es ist nur ein Gerücht ...«
»Seit wann haben wir Gerüchte missachtet?«
Wisperwind sah unbehaglich drein. »In Tibet sollen seltsame Dinge passieren. Irgendjemand hat spezielle Bücher zusammengetragen. Seltene Bücher. Den Illthoran, den Arrenisi-Kodex, die Ashen'ischen Berichte, alles Texte mit Bezug auf...;«
»Uranos und die Schlüssel«, sagte Sam leise. »Der Historiker hat nach Büchern geforscht, die mit den Pandora-Schlüsseln zutun haben.«
Wisperwind nickte. »Aber die Schlüssel sind verschwunden, heißt es. Man braucht alle drei von ihnen, um die Pandora-Geister zu befreien. Um Uranos zu befreien, bräuchte es nur einen, aber der ist verschwunden - sie sind alle verschwunden.«
»So wie die Mannschaft der Marie Celeste, aber das hat sie nicht daran gehindert, durch die Anderwelt nach Hause zu wandeln.« Sam senkte die Stimme. »Hat der Historiker sie gefunden? Weiß er, wo die Schlüssel sind?«
Wisperwind zuckte die Schultern.
»Was meinst du?«
Wisperwind wich seinem Blick aus. »Niemand hat je versucht, nach den Schlüsseln zu suchen. Sie sind zu gefürchtet, zu gefährlich, verborgen von Vater Zeit selbst. Doch wenn es nur eine Frage des Suchens ist, dann - ja - gibt es eine Chance, dass er weiß, wo sie sind. Nicht einmal die Zeit kann alle Spuren verwischen. Sieht man, wie viel Arbeit dieser Mensch darin investiert hat, und den Aufwand, den man betreibt, um ihn zu finden, und den Tod Freyas - will man das alles rechtfertigen, muss er irgendetwas von immensem Wert wissen.«
»Die Schlüssel? Er weiß, wo sie sind?«
»Vermutlich. Es spricht einiges dafür.«
Sam ließ die Knöchel knacken. Der Laut ließ Wisperwind zusammenzucken.
»Sag mir«, Entschlusskraft lag in Sams Stimme, »wo ist das nächste Reisebüro?«