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Könnte-sein-Stadt

 

Moskau ist eine von diesen Könnte-sein-Städten. Sie könnte eine der größten der Welt sein mit ihrer kaiserlichen Architektur und ihren seltsamen alten Gebäuden, in denen sich West und Ost vermischt. Sie könnte schön sein, sie könnte der Mittelpunkt der Welt sein, wäre da nicht die Last einer bedrückenden Vergangenheit und ein Klima so rau, dass viel von Russland ebenso gut von der Landkarte gefegt worden sein könnte. So viele Könnte-Seins waren hier begraben, in dunklen Vorstädten und von Müll gesäumten Straßen, die nun auch vor den allgegenwärtigen Läden amerikanischer Handelsketten kapitulierten, nachdem sie ihnen so lange widerstanden hatten.

In der Nacht, wenn die Straßen um Sams Vorstadthotel verlassen waren und ein frostkalter Wind durch die Eiszapfen pfiff, die von den Gesimsen hingen, und kleine Wirbel von schmutzigem Schnee aufscheuchten, erwachte das dunklere, geisterhafte Moskau zum Leben. Er konnte fast die geflüsterten Stimmen einer bitteren Vergangenheit hören und dachte an all die Menschen - Napoleon, die Bolschewiken, die vordringenden Deutschen, entrechtete und zornige ethnische Minderheiten -, die dieses Gespenst hatten in Stücke reißen wollen.

Mein Leben besteht aus einem einzigen immer wiederkehrenden schäbigen Hotel, dachte Sam, als er aus dem klapprigen privaten Taxi taumelte, das alles war, was er am Flughafen hatte auftreiben können. Das Hotel lag in einem heruntergekommenen Gebäude zwischen einem alten Café und einem großen grauen Plattenbau.

»Sebastian Teufel«, sagte er zu der Frau an der Rezeption. »Ich habe reserviert.«

Er wurde mit der üblichen russischen Wärme begrüßt und fragte sich, ob sie der aufrichtigen Gastfreundschaft gegenüber Fremden entsprang oder der Freude, die Geldbörse eines Fremden zu sehen. Er hatte in letzter Sekunde noch daran gedacht, seine Euros am Flughafen zu wechseln; was hätte sie gemacht, wenn er mit ausländischem Geld zu zahlen versucht hätte? Es vermutlich mit einem Lächeln entgegengenommen.

Der Raum sah nicht anders aus als der in Paris, den er erst am Morgen dieses Tages verlassen hatte, außer dass es Schimmel in einer Ecke gab und dass die Tapete noch mehr abblätterte. Irgendwie schaffte er es, einen Schutzzauber auf Tür und Wände zu zeichnen, bevor er auf dem Bett zusammenbrach, ohne sich vorher auch nur die Stiefel auszuziehen.

Wie lange Sam geschlafen hatte, konnte er nicht sagen. Doch zu dem Zeitpunkt, als er ein respektvolles Klopfen an der Tür hörte, stahl sich bereits volles Tageslicht durch den dünnen Vorhang. Von draußen hörte er das Klirren von fallendem Eis im Sonnenschein.

Stöhnend kämpfte sich Sam aus dem Bett, wobei er die Hälfte der Decken mit sich nahm, und öffnete die Tür. »Ja?«, schnappte er.

Ein untersetzter Mann stand vor ihm. Unter einer großen Fellmütze stachen Haarbüschel hervor, die so rot waren, dass sie eigentlich nur gefärbt sein konnten. Als der Mann Sam sah, verbeugte er sich tief. Das Wort, das Sam als erstes in den Sinn kam, war >Skateboarder<. Er hatte die Statur eines Athleten, aber das rote Haar und die intelligenten Augen flüsterten von einem gänzlich anderen Leben. Nachdem er die erste Beschreibung verworfen hatte, fand Sam sich an Bilder aus einem

Buch erinnert, das keltische Krieger mit stacheligen Haaren zeigte, die angriffen, um zu töten oder, was häufiger der Fall war, getötet zu werden.

Er wartete auf die ersten Worte des Mannes, neugierig, ob seine Diagnose zutreffen würde oder nicht.

»Euer Hochwohlgeboren.«

»Was?« Sam war perplex. »Euer Hochwohlgeboren« war weder die Sprache eines Skateboarders noch die eines keltischen Kriegers.

»Euer Hochwohlgeboren, Wisperwind hat mich geschickt.«

Hereingebeten, schien der Mann zu schweben, und als Sam ihm in dem engen Raum einen Moment zu nahe kam, verspürte er eine unwahrscheinliche Hitze, die von dem vermummten Körper ausging. Hitze und dem Geruch von ... Blättern? Sam drehte den Wasserhahn auf, schlug dagegen, bis Wasser kam, und steckte dann den Kopf darunter. Der Schock des eiskalten Wassers brachte ihn wieder in die Wirklichkeit zurück, und er wusste mit einem Mal, was das alles zu bedeuten hatte. Das und die Tatsache, dass der Mann die ganze Zeit, während er mit der Morgentoilette beschäftigt war, einfach neben dem Bett stehen geblieben, sich nicht einmal hingesetzt hatte. Jetzt wusste Sam warum.

»Du bist der Dschinn, stimmt's?«

Das Geschöpf verbeugte sich erneut. »So ist es, Euer Hochwohlgeboren.«

»Hör auf mit dem Quatsch. Im Moment heiß ich Sebastian, und so soll's auch bleiben.«

Der Dschinn wirkte erstaunt über diese Formlosigkeit. Er hatte offensichtlich jemand oder etwas... Satanischeres erwartet. Sam, willensstark und stolz wie er war, fand, dass ihn die Unterwürfigkeit, die der Dschinn an den Tag legte, verärgerte. Zur gleichen Zeit wurde ihm durch die steife Haltung des Geschöpfes klar, dass hier ein Geist stand, der vermutlich seinen eigenen Teil an Kämpfen ausgestanden hatte. Gewiss sah er aus wie ein Krieger - aber eher wie einer, der sich entschieden hatte, seinen Trotz nicht hinauszuschreien, sondern sich des Temperaments zu befleißigen, wie man es von dem Schatzmeister eines Kricketclubs erwartete. Das Ergebnis war eine unheimlich Kombination, die Sam den Eindruck vermittelte, dass hinter diesem äußeren Konflikt von Krieger und Diener die schlimmsten Aspekte von beidem lauerten.

»Wie ist dein Name?«

»Ich verwende den menschlichen Namen Peter Schukow, Euer... Herr.«

»Herr« war schon eine Verbesserung gegenüber »Euer Hochwohlgeboren«, aber Sam war nicht in toleranter Stimmung, insbesondere gegenüber einer so zwiespältigen Gestalt wie dem Dschinn. In seinem ermüdeten Zustand machte die Verwirrung, die er empfand, es ihm noch schwieriger, seinen Arger zu unterdrücken.

»Hast du mir etwas zu berichten?«

»Über den Sterblichen, den Ihr sucht? Ja, Herr.«

»Und? Und bitte, setz dich hin.«

Der Dschinn setzte sich nervös auf die Kante des Bettes, als wäre es ein heiliges Objekt. Er umklammerte eine große Tasche, die er öffnete, als käme es ihm gerade erst in den Sinn. Er zog daraus einen schwarzen Parka von der langen dicken Art hervor, wie die Russen sie schätzen. »Ich habe eine Jacke für Euch mitgebracht, Herr. Es ist hier kälter als in Paris.«

Sam nahm das Geschenk dankbar entgegen und merkte, wie ein wenig von seiner Feindseligkeit verrauchte. »Wie ... äh ... umsichtig. Danke... Was ist mit dem Sterblichen?«

»Er ist hier, Herr.«

»Hier?« Die unerwartete Nachricht traf ihn wie ein Blitz aus heiterem Himmel.

»Ja, Herr. Hier in Moskau.« »Woher weißt du das?«

»Seine Verfolger sind hier, schon seit mehreren Tagen. Zwei Walküren, ein Engel und zwei Feuertänzer. Sie alle durchsuchen die Stadt.«

Sam hob eine Hand. »Entschuldige, wenn ich skeptisch bin.« Ohne auf Peters Erstaunen über die Formulierung zu achten, fuhr er fort: »Wenn Walküren, Engel und Feuertänzer zusammenarbeiten, statt zu versuchen, einander umzubringen, warum haben sie ihn noch nicht gefunden?«

»Sie arbeiten nicht zusammen, Herr. Gestern gab es eine Auseinandersetzung zwischen den Feuertänzern und dem Engel, und zumindest einmal sind die Walküren fast mit ihnen allen handgreiflich geworden. Und da ist noch mehr, Herr.«

»Wieso überrascht mich das nicht?«

»Irgendeine Macht beschirmt den Sterblichen. Wir können sie nicht sehen oder spüren, aber wir wissen, dass sie da ist.«

»Wie?«

»Ein paar von uns haben versucht, den Sterblichen im Vorgriff auf Eure Ankunft zu sichten. Wir sind gegen eine Mauer geprallt.«

So. Andrew hat Freunde ebenso wie Feinde. »Wer sonst noch hält Ausschau nach Andrew, neben Erzengeln und dergleichen?«

»Ein kleiner Hexenzirkel und ein paar dienstbare Geister von unserer Seite.«

»Hexen? Welcher Art? Es gibt so viele.«

»Sie wissen nichts, Herr. Niemand sagt Sterblichen, warum sie nach jemandem suchen sollen, nur nach wem.«

Sam blieb eine lange Zeit stumm, um die Worte des Dschinns zu verdauen, während dieser wartend auf der Bettkante saß und Wachsamkeit und Pflichtbewusstsein ausstrahlte.

Sam sagte: »Wisperwind hat mir gesagt, viele unserer Quellen seien ausgetrocknet. Woher kommt das?«

»Es hat Razzien gegen die irdischen Tarngeschäfte örtlicher

Anderer gegeben, die dem Mondgespinst-Netzwerk nahe stehen. Einige von uns, die keine Tarnung verwenden, sind offen angegriffen worden. Nie tödlich, nur zu dem Zweck, uns aus Moskau und Umgebung zu vertreiben. Es gibt einen engen Ring von Dienstbaren um die Stadt. Die Dienstbaren sollen uns draußen halten, während die Himmlischen nach dem Historiker suchen. Unterdessen schirmt ihn irgendjemand ab.«

Sam überlegte. »In Tibet hat mir der Abt erzählt, Andrew habe gewusst, dass ich komme. Und dass er den Abt gebeten habe, mir zu helfen.«

»Wie meinen, Herr?«

»Ich frage mich, wie dieser Schutzschild genau wirken mag. Ob er mich durchlassen würde, um der Freundschaft willen.«

»Es scheint ein sehr guter Schild zu sein, Herr.«

»Ich bin ein sehr guter Magier«, sagte Sam. Nicht als Zurechtweisung, sondern als Feststellung.

Irgendjemand weiß, dass ich nicht bloß versuche, Andrew zu finden. Sie wissen, dass ich auf der Spur bin und nahe dran—sogar in der richtigen Stadt.

»Was werdet Ihr tun, Herr?«

»Als Erstes? Unter die Dusche gehen und frühstücken.«

Diese ganze Geschichte ist wie eine ummauerte Stadt, und die Antwort liegt irgendwo im Innern. Durch Freyas Tod, Odins Hass, Andrews Flucht und die Enthüllung des Abtes kann ich klar die Größe und Form der Mauern erkennen. Doch bis ich den Historiker gefunden habe, sind mir alle Tore versperrt.

Das Frühstück bestand aus »authentischer europäischer Küche« - fettige Spiegeleier mit ebenso fettigem Schinken auf einem Teller mit zwei roten Klecksen, die so etwas wie gegrillte Tomaten darstellen sollten. Bei dem Anblick sagte sich Sam, dass er nicht nach Russland gekommen sei, um etwas zu essen, was er in irgendeinem seiner europäischen Heimatländer hätte besser bekommen können.

Während des Essens bedachte er die ungelöste Frage nach Freyas Sicherheitsvorkehrungen. Wieso hatten sie versagt? Sie mussten hoch gewesen sein, wenn man bedachte, wie sie Andrew, ihren wichtigsten Ermittler, abgeschottet hatte. Selbst Sam, der so viel länger auf der Erde war als die anderen Fürsten, hatte nicht bemerkt, dass sie, eine seiner Schwestern, einer großen Sache auf der Spur war.

All diese Hintertürchen. Wie lange hatte Freya gewusst, dass sie sich, wenn nötig, an Sam um Hilfe wenden würde? Wie lange schon war Sam ihr unwissentlicher Komplize, derjenige, bei dem man sich darauf verlassen konnte, dass er die Antworten finden würde? Ist es mein Schicksal, jedem, meinem Vater, meiner Schwester, als Helfer zu dienen? Selbst Jehova hat mich zu seinem Vorteil benutzt, mit seinem halb-sterblichen Sohn, und ich habe ihm ahnungslos den Weg bereitet.

Peter, der ihm gegenübersaß, sah ohne ein Wort zu, während Sam frühstückte. Alles, was der Dschinn haben wollte, war eine Tasse Kaffee. Wenn Sam sich richtig an die Ernährungsgewohnheiten der meisten Dschinns erinnerte, waren ihre Geschmäcker für die menschliche Küche ansonsten eher ... ungewöhnlich.

Vielleicht war es die selbstsichere Art, mit der Sam seinen Teller zurückschob und seine Finger streckte. Jedenfalls hob der Dschinn plötzlich den Blick und sagte: »Ihr habt Euch entschieden, was Ihr tun wollt?« Es war nicht wirklich eine Frage.

»Ja. Wenn Freyas Plan fest genug gezurrt war, um mich so effektiv in die Sache hineinzuziehen, dann wette ich, dass sie auch aus dem Grab heraus nicht lockerlässt, um mir den Weg frei zu machen. Ich werde nach ihm sichten.«

Sam musste zugeben, dass Peter ein Profi war. Aus den Augenwinkeln warf der Dschinn ihm manchen verstohlenen Blick zu, als er Sams Gesicht studierte. Und immer wenn Sam sich schnell genug umdrehte, um seinen Blick aufzufangen, oder auch nur leicht irritiert wirkte, verneigte sich Peter sofort, als wäre es seine Schuld.

Seine Kompetenz sprach Bände, als sie in Sams Zimmer zurückkehrten. Ohne ein Wort ging Peter zum Waschbecken, steckte den Stöpsel rein und drehte den Wasserhahn auf. Hier war einer, der wusste, was Sichten bedeutete. Rasch füllte er das Becken mit eiskaltem Wasser, zog die fadenscheinigen Vorhänge zu und hängte seinen Mantel darüber, sodass der Raum nur noch von der einzigen gelben Glühbirne an der Decke erhellt wurde.

Seinerseits sah der Dschinn respektvoll zu, wie Sam sich ans Werk machte, das Licht ausdrehte, sodass der Raum hinter der behelfsmäßigen Verdunkelung in fast völlige Finsternis getaucht wurde, und mit der Lässigkeit eines Meisters, der eine alltägliche Verrichtung erledigt, zum Waschbecken ging. Der Lärm des Verkehrs draußen wirkte mit einem Mal lauter. Auf der Straße stritt sich ein Paar. Zwei rivalisierende Katzen zischten sich im Hinterhof an. Ein Baby weinte. In der Nacht könnte ein Kind sich im Halbschlaf aus einer derartigen nachbarschaftlichen Musik eine ganze Geschichte zusammenspinnen.

Sam hörte nichts von all dem, als er seine Hände mit den Handflächen nach unten über die Oberfläche des Wassers ausstreckte. Wie schäbig, dachte Peter, Magie unter solchen Bedingungen vollbringen zu müssen. Ein Fürst des Himmels sollte seine Zauber über marmornen Becken sprechen, in Tempeln erhellt von Kerzenschein. Alles hier wirkte wie eine Beleidigung für die Größe eines Weltenwandlers: die improvisierte Blende über der durchhängenden Vorhangstange, das rosa Plastikbecken, der Sperrholzschrank. Peter wollte ausrufen, nein, das gehe so nicht, alles andere wäre besser als dieses triste, lärmige kleine Zimmer.

Aber Sam war bereits in den Zauber versunken und achtete nicht mehr auf das schmutzige Becken und den zerbrochenen Spiegel. Peters Entrüstung wandelte sich in Zerknirschtheit. Wer war er, dass er an solchen Details Anstoß nahm, wenn sie für ein Wesen, das zwischen den Welten wandeln und alles zerstörende Magie heraufbeschwören konnte, nichts bedeuteten? So hielt er sich still und sah zu, wie die Magie ihr Werk tat.

Eine Sichtung, hatte Sam einmal erklärt, sei genau wie ein magischer Fernseher. Dies hatte nicht die erwartete Reaktion bei seiner Zuhörerschaft hervorgerufen. Die hatte hören wollen, dass eine Sichtung der größte magische Fortschritt sei, der je erzielt worden sei, und dass ihre Manipulation von Bildern sich jedem Verständnis entziehe.

Nein, hatte Sam knallhart gesagt. Es sei wie ein Fernseher, und der Geist sei die Fernbedienung. Wir drücken einen bestimmten Knopf, um dem Fernseher zu sagen, was wir sehen wollen, ein Signal wird zum Gerät gesandt, und das Gerät schaltet den richtigen Kanal ein und empfängt ein Bild. Dieses Bild wird dann auf den Bildschirm projiziert, indem Partikel mit sehr hoher Geschwindigkeit dagegen geworfen werden. Mit einer Sichtung sei es nicht anders. Der einzige Unterschied sei, dass bei einer Sichtung der Fernseher seine Energie direkt von dem beziehe, der die Fernbedienung drücke, und wenn man den Finger vom Knopf nehme, würde das Signal erlöschen.

Achja, und es könnte notwendig sein, zwischendurch ein paar Mal gegen den Fernseher zu hauen, damit es funktioniert.

Licht erglühte unter Sams Fingern, ein nebliges Weiß, das wie auf einem imaginären Fernsehschirm die Oberfläche des Wassers erfüllte, von einem unsichtbaren Gedanken gelenkt. Sam dachte an Andrew, an das Bild von dem sommersprossigen jungen Mann, das man ihm gegeben hatte. Er rief sich das Bild vor Augen und machte es zum Brennpunkt seines Willens, befahl der Sichtung, dieses und nur dieses Signal zu finden.

Es dauerte lange, doch schließlich war es da. Dasselbe sommersprossige Gesicht - doch die Augen waren nun müde, schwer von Schlafmangel. Andrew trug einen schmutzigen alten Mantel, und sein Haar war wirr. Er hatte sich seit Tagen nicht rasiert; auf seinen Wangen waren die Stoppeln schon zu einem Vollbart gewachsen, wenngleich Sam nicht sicher war, ob das als Verkleidung gedacht war. Auf seiner Stirn und um Augen und Mund waren Falten, die auf dem Bild nicht da gewesen waren.

Dann, unvermittelt, fast im selben Augenblick, als das Bild aufschien, war es fort, und was blieb, war nur ein pulsierendes, nebliges Weiß unter Sams Fingern. Er suchte noch einmal nach dem Bild, doch es war, als ob eine feste Wand ihm Widerstand leistete. Sam nahm einen tiefen Atemzug, fast ohne zu wissen, dass er es tat, und widmete sich dem Hindernis, das ihn so zurückwies.

Er war der einzige Sohn von Magie und Zeit. Wenn er nicht durch einen einfachen Schild hindurchkam ..

Ja, er sah dessen Schwächen - typische Fehler an typischen Stellen. Die kleinen Schwachstellen, wo Zauber miteinander verwoben waren, winzige Unvollkommenheiten in einer ansonsten makellosen Struktur. Dies war nicht das Werk eines Menschen oder auch nur eines gewöhnlichen Geistes. Wahrlich, Andrews Freund war einer von den Großen.

Im letzten Moment entschied Sam sich dagegen, den Schild einzureißen. Der Prozess wäre mühsam - eine der vielen harten Übungsaufgaben, die ihm seine Mutter zu stellen pflegte, um seine Ausdauer zu prüfen; damals, als er die andere Seite seiner Herkunft noch nicht einmal gekannt hatte. Und sobald der Schild gefallen war, würden andere gleichermaßen imstande sein, Andrew zu erspähen. Das war etwas, was Sam um jeden Preis vermeiden wollte. Wenn Andrew zu finden war, dann musste er der Erste sein, der ihn fand.

Er begann die Oberfläche des Schilds abzutasten, auf der Suche nach Rezeptorzaubern, die wie bei einem menschlichen Körper die Antigene auf der Oberfläche eines Angreifers lesen und erkennen konnten, wie man ihn am besten abwies. Gewöhnlich war es etwas, was er nie tat; sich einem Feind zu offenbaren heißt, seine beste Waffe zu verlieren. Doch er tat es jetzt, im Vertrauen auf Freyas Voraussicht, dass der Schild ihn einlassen würde.

Und da war es. Ein Rezeptorzauber, der hastig auf die Oberfläche des Schilds aufgepfropft worden war, genau da, wo Sam selbst ihn angebracht hätte. Nach der Art zu urteilen, wie Spuren in verschiedenen Schattierungen von Magie daran hafteten, war mehr als eine Person auf diesen Zauber gestoßen und als Feind eingestuft worden.

Doch Sam öffnete sich selbst weit für den Zauber und ließ ihn über sich hinwegrollen, spürte, wie dieser durch die Tiefen seiner Magie pflügte zu seiner tiefsten Seele, auf der Suche nach dem Hinweis dafür, wer er war und was seine Absichten waren. Und hinter dem Zauber ein Bewusstsein. Müde, angeschlagen von zu vielen Angriffen - dasselbe Bewusstsein, das diesen Schild errichtet hatte und immer noch aufrecht hielt. Sam öffnete sich ihm ganz, flüsterte durch den Zauber: Ich bin ein Freund. Du weißt, wer ich bin und was ich will. Du weißt, ich will helfen.

Er spürte, wie sich das andere Bewusstsein regte. Ein alter, alter Geist, müde vom Kampf, doch voller Entschlossenheit und voller Schmerz. Sam wurde von dem Verlangen erfüllt, eins mit dem zu werden, der solchermaßen empfand, ihn, wer immer es sein mochte, zu trösten. Sein plötzlicher Drang, wie ein freundlicher Vater zu murmeln: »Da, da«, schockte jeden Teil in ihm, der je auf den Namen Teufel Anspruch erhoben hatte.

>Du bist gekommen.« Der Hauch eines Gedankens, so erleichtert, dass Sams Herz sich aus Mitgefühl hob. >Chronos sei gepriesen, du bist da.< Plötzlich wurde die Stimme tiefer, dunkler. >Hilf mir!<

»Was soll ich tun?<

»Ich kann den Schild nicht mehr lange halten. Hilf mir!<

>Wo ist Andrew? Ich kann ihn in Sicherheit bringen.«

Bilder fluteten seinen Geist. Ein Platz, ein kleines Café, kaum zu erkennen hinter den Menschenströmen, die vorübereilten. Das Klirren von Eis, das von den Dachtraufen auf das Pflaster herunterfiel. Indem er seine eigene Kraft in den anderen Geist einspeiste, drehte Sam das Bild, um etwas zu finden, das ihm einen Hinweis darauf geben konnte, wo dieser Ort war. Endlich erkannte er ein Gebäude nahe dem Café -groß und anmaßend, wie viele Moskauer Gebäude es waren.

Das Museum für... für...

>Halt den Schild noch ein bisschen länger«, bat er. Unter dem Druck des aufrechterhaltenen Kontakts begann der andere Geist zu schwächeln.

Jetzt konnte er ein Schild sehen. Das Museum für Naturgeschichte.

>Ich kann in einer halben Stunde da sein. Andrew soll sich nicht von der Stelle rühren.<

»Beeil dich!«

Sam löste sich bereits aus dem Zauber. Die Dunkelheit in dem kleinen Raum wurde vollkommen, als das Licht unter seinen Händen verblasste. Kaum dass Peter aufgestanden war, berstend vor Fragen, war Sam an der Tür, hatte das Licht eingeschaltet und schnappte sich seinen Parka.

»Wie kommen wir am schnellsten zum Museum für Naturgeschichte?«

»Mit dem Taxi, Herr. Die U-Bahn und die Straßenbahnen brauchen viel länger.«

»Lauf nach unten und bestell eins. Sag, wir wollten zum Puschkin-Museum.«

»Aber, Herr, das Puschkin-Museum liegt...«

»Ich will nicht, dass uns jemand folgt.«

Unten in der Hotelhalle blieb Sam stehen und lauschte. Jetzt schenkte er den Geräuschen der Umgebung seine volle Aufmerksamkeit, sandte seine Gedanken durch die Straßen, um zu hören, ob es irgendetwas gab, so klein es sein mochte, was fehl am Platze war.

»Das Taxi ist in zehn Minuten hier, Herr«, sagte ihm Peter, der über die eisbedeckten Eingangsstufen hereinkam.

Sam runzelte die Stirn. »Wie viele Leute haben wir hier in der Gegend stationiert?«

»Vier in Moskau, Herr. Weitere sieben beobachten die Tore innerhalb eines Radius von dreißig Kilometern.« »Und ungefähr wie viele gibt es auf der Gegenseite?«

»Ungefähr ein Dutzend in Moskau und zwanzig im Umkreis von fünfzehn Kilometern, von denen die meisten heute Morgen Stellung bezogen haben.«

»Es gibt aber keine zwanzig Tore.«

»Sie beobachten Flughäfen und Straßen, Herr.«

»Haben sie mich ankommen sehen?«

»Wir glauben nicht. Weitere kommen jede Stunde herein, und je größer ihre Zahl wird, desto aggressiver werden sie.«

Sam biss sich auf die Unterlippe. »Gib allen Befehle, das Gebiet zu räumen«, sagte er schließlich. »Herr!«

»Sag ihnen, sie sollen kein Geheimnis aus der Tatsache machen, dass sie sich zurückziehen. Und beauftrage irgendjemanden, zwei Tickets auf den Namen Luc Satise nach London zu buchen, frühestmöglicher Flug.«

»Herr?« Peter wusste ebenso gut wie Sam, dass Luc Satise wohl der letzte Name war, unter dem er reisen sollte.

»Tu's einfach, bitte. Und wir sollten einen Treffpunkt ausmachen, für den Fall, dass wir getrennt werden. Ich will, dass Adamarus Andrew nach London bringt, doch wir müssen damit rechnen, dass irgendetwas schiefgehen könnte. Wenn das der Fall ist, sollten sich so viele von uns wie möglich vor der Kaluga-Bahnstation treffen, heute Abend um sieben.« Ich beginne den Feind zu verstehen, wer er auch sein mag. Er ist immer einen Schritt voraus; seine Truppen bewegen sich immer ein bisschen schneller, als ich es kann, und für jeden Zug, den ich mache, wird bereits ein Gegenzug ausgeführt. Also verwirren wir jetzt den Gegner, machen ihn glauben, ich hätte es irgendwie geschafft, ihn zu überholen.

Doch wird er darauf hereinfallen?

Das Taxi war ein kleiner enger Wagen mit einem grinsenden Esten am Steuer. Es war kurz vor Ablauf der versprochenen zehn Minuten angekommen, was an sich schon verdächtig war. Sam wusste, dass Taxis immer zu spät kamen.

»Nicht zum Puschkin-Museum«, sagte er dem Fahrer, als sie quietschend vom Bordstein losfuhren. »Museum für Naturgeschichte.«

»Das kostet mehr.«

»Kein Problem.«

»Warum haben Sie Ihren Hockeyschläger dabei.«

»Weil ich ein Vandale bin und beschlossen habe, alles im Museum kurz und klein zu schlagen.«

»Gut!«

Bei der ersten Wendemöglichkeit kratzte das Taxi die Kurve, und ein Schwarm Tauben schoss himmelwärts. Sam revidierte bald seine Ansicht über die Dinge, die ihn umbringen konnten. Wenn irgendein Sterblicher es schaffen könnte, ein unsterbliches Leben zu beenden, wäre dieser Mann ein Kandidat für den Posten. Auch Peter bedachte den Rücken des Fahren mit bösen Blicken. Zwei plüschige Würfel hüpften unter dem Rückspiegel gegeneinander, und ein Aufkleber auf der Heckscheibe machte klar, dass der Fahrer Fan einer St.-Petersburger Fußballmannschaft war.

»Ein Scheiß-Verkehr«, erklärte der Fahrer vergnügt, als sie eine rote Ampel überfuhren. »Zehnmal schlimmer als früher.«

»Wirklich?«, fragte Sam schwach. Bei der nächsten Ampel musste ein Lastwagen ausweichen, um einen Zusammenstoß zu vermeiden. Peter war blass geworden - Dschinns, wie sich Sam erinnerte, waren leichter zu töten als Unsterbliche. Der Fahrer hatte als Kind wohl zu viele Autorennspiele gespielt - von der Art, bei der man die doppelte Punktzahl kriegt, wenn man Passanten umnietet. Jedenfalls, dachte er in stiller Verzweiflung, dürfte es ein Verfolger schwer haben dranzubleiben.

Dennoch behielt er den Rückspiegel im Auge und sandte seine Sinne himmelwärts aus.

»Ich hab mal Hockey gespielt. Eishockey, mein ich. Ich galt als sehr gut.«

»Achja?«

»Auf welcher Position spielen Sie?«

»Verteidiger.«

»Sind Sie gut?«

»Im Fechten bin ich besser. Einer meiner Brüder hat es mir beigebracht. Verschiedene Kampftechniken.«

»Haben Sie viele Brüder?«

»Jede Menge.«

»Und welcher von ihnen ist Kampflehrer?«

»>Lehrer< dürfte übertrieben sein. Ich bekomme gelegentlich Crash-Kurse. Meistens ohne Warnung. Einige meiner Brüder sind temperamentvoll.«

»Ihr kämpft richtig? ... Arschloch!« Das galt dem Fahrer eines roten Saab, einem Geschäftsmann mit gelecktem Haar, und der Aura eines Ganoven, der aus einer Seitenstraße geschossen kam und sie knapp verfehlte. »Der Scheißkerl hat Glück gehabt, dass er uns nicht erwischt hat.«

Als sie sich dem Museum und dem nahe gelegenen Café näherten, schwoll Sams Herz vor Erwartung. Wie viele, viele Fragen Andrew ihm beantworten konnte!

Er spürte etwas. Eine Gedankensonde streifte seine Sinne. Er drängte sie zurück, spürte, wie sein Magen sich verkrampfte. Irgendein Feind hatte das Passieren eines Anderen bemerkt und nachgehakt. Wer war es? Ein Feuertänzer? Ein Engel? Eine Walküre?

»Sie sind sehr nahe«, sagte er leise.

»Was?«, wollte der Fahrer wissen.

»Ihr seid sicher, Herr?«, fragte Peter, für den jede Wissbegierde in Sams Gegenwart eine undenkbare Sünde war.

»Ja. Sehr, sehr nahe.«

Aber sie selbst waren es auch. Als der Wagen um eine Ecke bog, erkannte Sam das Museum, dann sah er das Café. Als das Taxi zum Halten einschwenkte, konnte er Andrew im Fenster sitzen sehen, mit einer Tasse Kaffee vor sich und einem ebenso müden wie verängstigen Blick in den Augen.

Sam drückte dem Fahrer ein Bündel Banknoten in die Hand. »Behalten Sie den Rest.« Er sprang auf die Straße, das Schwert über den Rücken geschlungen, und rannte auf das Café zu. Peter hinter ihm hatte Mühe, nicht den Anschluss zu verlieren.

Vor der Tür hielt Sam an. Selbst in einem Moment wie diesem schaffte er es, in einen schlendernden Gang zu wechseln. Andrew blickte auf, als er näher kam. Seine Augen weiteten sich. »Endlich«, sagte er mit einer Stimme, die rau war von zu wenig Essen und Mangel an Schlaf.

»Ich bin gekommen«, sagte Sam und setzte sich. Andrews Hände krampften sich um die Kaffeetasse, seine Knöchel waren weiß. Um ihn konnte Sam den blassen Schimmer einer Schutzmagie wahrnehmen, mit derselben Signatur der Macht, die den Schild errichtet hatte.

»Die da auch«, entgegnete er matt. Mit einem Kopfzucken deutete er auf zwei dunkelhäutige Asiaten, die von einem anderen Tisch herüberstarrten. Sie trugen Rot. Rote Jeans, geschmacklose rote Hemden, dunkles Haar, narbige Gesichter, vermutlich durch einen Hauch Magie geschönt. Wenn sie die Absicht gehabt hatten, unerkannt zu bleiben, dann hatten sie sich nicht viel Mühe gegeben. Über ihnen plärrten aus einem Lautsprecher harte elektronische Klänge. Unter der Jacke trug jeder von ihnen zweifellos ein gekrümmtes Schwert, kurz aber tödlich.

»Seit wann sitzen die beiden hier?«

»Seit zehn Minuten.«

»Wie haben sie dich gefunden?«

»Ich war ein Narr. Ich hatte mich vor ein paar Nächten in ein Hotel eingebucht und meine Zahnbürste dagelassen. Freya hat mich gewarnt, sie könnten mich durch einen einzigen Gegenstand ausfindig machen, wie Spürhunde.«

»Scheiße.«

»Es ist noch schlimmer«, sagte Andrew. »Ich kann mich vom Hals abwärts nicht bewegen.«

Die ruhige Art, mit der er sprach, wurde durch einen schrillen Unterton, der an Hysterie grenzte, Lügen gestraft. »Ich ... ich kann mich nicht bewegen«, wiederholte er. »Ich habe

einen Schluck von dem Kaffee getrunken - ich war ein Idiot!« Von dem lächelnden jungen Mann war nichts mehr geblieben; sein Blick war voller Schrecken.

»Keine Panik«, murmelte Sam. Er konnte sich tausend verschiedene Möglichkeiten denken, wie die Feuertänzer ihr unglückliches Opfer vergiftet haben könnten, und nur eine Hand voll möglicher Lösungen für dieses neue Problem.

Peter, der wie ein gehorsamer Diener zwei Schritte hinter Sam stand, ergriff schließlich das Wort: »Wenn die Feuertänzer hier sind, werden die anderen nicht weit sein.«

»Wer ist das?«, fragte Andrew mit ängstlicher Stimme.

»Ein Freund. Peter, ich brauche einen Rollstuhl, so schnell wie möglich.«

»Einen Rollstuhl?«, wiederholte Peter. »Wie soll ich an so etwas kommen, Herr?«

»Ruf einen Krankenwagen, und wenn er kommt, dann schnapp dir einen. Wie du das machst, überlasse ich ganz dir.«

Mit einigem Widerstreben ging Peter nach draußen und bahnte sich seinen Weg durch den Verkehr zu einer nahe gelegenen Telefonzelle, ein Krieger, dem man die Aufgabe eines Kriminellen erteilt hatte.

Sam wandte sich wieder Andrew zu. Dieser hatte leise zu schluchzen begonnen. Die Feuertänzer würden an so einem öffentlichen Ort nicht eingreifen - nicht mehr, als sie es getan hatten.

»Es wird alles gut«, erklärte Sam, als Andrews Tränen schneller flossen. »Es gibt nichts, was Feuertänzer anrichten können, das ein Sohn der Zeit nicht ungeschehen machen kann.«

»Verdammte Freya«, flüsterte Andrew, unfähig, sich selbst die Augen zu wischen. »Das ist alles ihre Schuld.«

Sam war versucht, ihm zuzustimmen, als eine Befürchtung seine nachklingende Trauer über Freyas Tod verscheuchte. »Wo sind deine Sachen?«

Andrew schaffte es, mit dem Kinn in Richtung seiner Füße zu deuten, wo unter dem Tisch eine kleine Tasche seine Besitztümer enthielt.

»Du hast einen Pass?« »Ja.«

»Unter welchem Namen?«

»Meinem eigenen.«

»Ah. Welche Nationalität?«

»Amerikaner.«

»Wo wirst du sicher sein?«

»Nirgendwo.«

»Du bist ein unverbesserlicher Optimist.« Irgendwie gelang Andrew ein Grinsen. »Komisch«, sagte er, »aber Optimismus fällt mir im Moment ziemlich leicht.« »Ich habe immer so eine positive Wirkung auf Leute.« »Oh, sicher.« Aber er sah ein bisschen glücklicher aus. Auf der anderen Straßenseite stand Peter in der Telefonzelle, den Kopf leicht zur Seite geneigt, als er seinen Anruf tätigte. Dann ging Sams Blick vorbei an dem Dschinn zu der Stelle, wo zwei blonde Frauen die Straße heruntergeschritten kamen. »Scheiße!« »Was?«, rief Andrew. »Walküren«, flüsterte Sam.

Peter wandte sich im selben Moment um, und seine Augen weiteten sich, als auch er sie sah. Er knallte den Hörer auf die Gabel und rannte aus der Telefonzelle auf das Café zu.

Atemlos riss er die Tür auf. »Der Rettungswagen braucht mindestens fünf Minuten! Was sollen wir tun?«

Die Walküren überquerten die Straße und kamen zielstrebig auf sie zu.

»Okay«, sagte Sam. »Peter, würdest du bitte Andrew unter den Arm fassen? Andrew, wir gehen 'ne Runde spazieren.«

Der Dschinn hob Andrew hoch wie eine Marionette. Sam packte ihn auf der anderen Seite. Die Arme des Amerikaners hingen nutzlos herunter, und seine Zehen schleiften über den Boden. Andrew hatte sogar Mühe zu verhindern, dass sein Kopf herabbaumelte. Offensichtlich breitete sich das Gift der Feuertänzer immer noch in seinem Körper aus und drohte ihm das Bewusstsein zu rauben. Alle Augen im Café waren auf die drei gerichtet, als sie auf die Tür zugingen. Ein Schaben von Stühlen auf dem Boden verriet, dass die Feuertänzer ebenfalls aufgestanden waren.

Vor der Tür hatten die beiden Walküren angehalten, um auf sie zu warten.

»Peter«, sagte Sam mit leiser Stimme, »schaff Andrew zur Straßenecke und warte auf den Krankenwagen. Steigt nicht ein, ehe ich da bin.«

»Herr?«

»Frag nicht. Tu es einfach.«

Er wandte sich zum Gehen, doch Andrew krächzte etwas. Sam drehte sich um und versuchte Mitgefühl zu zeigen, trotz seines pochenden Herzens. »Gabriel«, hauchte Andrew. »Wenn ich nicht... dann Gabriel. Sie sind ihr sowieso auf der Spur. Ich kann's dir genauso gut sagen.«

»Warum sind sie hinter dir her?«, fragte Sam ruhig.

Andrew stieß ein bitteres Lachen aus. »Ich habe herausgefunden, wo die Schlüssel sind. Sie wollen Pandora befreien -Gott!« Schmerz verzerrte sein Gesicht, und Sam trat unwillkürlich einen Schritt auf ihn zu, ohne dabei die Feinde aus den Augen zu lassen, die von allen Seiten näher kamen.

Andrew wirkte sehr klein und zerbrechlich und irgendwie nicht stark genug, um das Wissen zu ertragen, das er besaß. »Da ist noch mehr... Gefahr...«

Sam drückte ihm beruhigend die Schulter. »Du kannst es mir später erzählen«, drängte er. »Wenn wir hier raus sind.«

Die Tür des Cafés fiel ins Schloss, als die Feuertänzer hinter ihnen aufrückten. Die Walküren kamen drohend näher, in der offenkundigen Absicht, ihren Abgang zu verhindern.

Sam drehte sich so, dass er beide feindliche Parteien im Blick hatte, während er selbst zwischen ihnen und Andrew blieb. »Meine Damen, meine Herren«, sagte er mit höflicher Verbeugung, »kann ich Ihnen helfen?«

»Gib ihn uns«, sagte ein Feuertänzer leise.

»Ah. Da haben wir ein Problem«, meinte Sam, wobei er langsam zurückwich, um nahe bei Peter und Andrew zu bleiben, während diese sich die Straße hinunterbewegten. »Seht ihr, ich bin von Natur aus sehr misstrauisch. Und ich fürchte, ihr könntet nicht die richtigen Leute sein, um für meinen kranken Freund zu sorgen.«

In der Hand eines der Feuertänzer blinkte etwas auf. Eine kleine Klinge aus einem hellen Material, das durchaus Drachenbein sein mochte.

»Gib ihn uns!«, wiederholte der Feuertänzer.

»Nein.«

Menschen ringsum warfen ihnen Blicke zu, unsicher, was diese seltsame Konfrontation zu besagen hatte oder wie Andrews baumelnde Gestalt zu deuten war.

Ein Wagen bremste plötzlich am Bordstein, Und das Fenster wurde heruntergedreht. Aus dem Augenwinkel sah Sam Wisperwind, der hinter sich griff, um die Fahrgasttür zu öffnen.

»Peter! Schaff Andrew in den Wagen!«, befahl Sam. »Wisperwind! Bring Andrew hier raus, ganz gleich wie!«

Peter begann Andrew auf den Wagen zuzuschleppen, und eine Walküre trat in Aktion. Sam war bereits da, die Hand erhoben mit der Handfläche nach außen wie ein Taekwondo-Kämpfer. Obwohl er sie gar nicht berührte, taumelte die Walküre zurück, als wäre sie getroffen. Ein Feuertänzer sprang vor. Ein Messer blitzte auf, und die umstehenden Sterblichen

stoben in Panik auseinander. Sam bekam seinen Dolch frei und benutzte ihn, um die Hand mit dem Messer zu durchbohren. Die andere fing er in einer Faust von Magie auf und drehte beide zugleich nach unten.

»Komm!«, schrie Wisperwind.

»Ab mit euch!«, rief Sam zurück. »Ich finde euch schon!«

Der zweite Feuertänzer stürzte sich auf den Wagen. Sam machte einen Satz, packte ihn um die Hüfte und zerrte ihn von der Tür weg. Die Tür schlug zu. Er hörte jemanden vor Wut aufbrüllen und trat nach einem Schienbein, bevor er zur Seite sprang und auf Russisch schrie: »Hilfe! Banditen! Überfall!«

Die Menge zeigte kaum eine Reaktion. Zu viel Fernsehen hatte sie gegen Anblicke wie den eines einsamen Mannes, der von einer Gruppe Fremder angegriffen wird, geimpft. Vermutlich warteten sie darauf, dass Sam einen Ninja-Schrei ausstieß und seine Gegner mit einem doppelten Salto rückwärts erledigte. Typisch Sterbliche!

Das Problem mit dem Edelmut, dachte Sam, als der Wagen sich entfernte, ist, dass man selten ungeschoren davonkommt. Er konnte sich der Erkenntnis kaum verschließen, dass er allein gegen vier wütende Diener des Himmels nicht die geringste Chance hatte. Also setzte er alles auf eine Karte und schwang die linke Hand in einem großen Bogen. Vor seiner ausgestreckten Handfläche taumelten die Angreifer zurück - und Sam drehte sich um und rannte los.

Er lief die Mitte der belebten Straße entlang, in dem Wissen, dass er sich physisch auf eine Weise regenerieren konnte, wie es die anderen nicht vermochten. Autos kurvten und Reifen quietschten um ihn herum, doch er rannte einfach weiter. Er sah eine Straßenbahnhaltestelle und hielt darauf zu, die Augen auf eine Straßenbahn gerichtet, die von der anderen Seite näher kam. Er warf einen kurzen Blick zurück und sah, dass ihm sein wahnwitziger Spurt durch den Straßenverkehr einen

kleinen Vorsprung vor seinen Verfolgern verschafft hatte. Ein Feuertänzer war am nächsten, dann eine Walküre; den anderen beiden, die sich durch den dichten Verkehr drängelten, stand die Furcht vor allen mechanischen Dingen ins Gesicht geschrieben.

Doch als er die Haltestelle erreichte, war Sam bereits klar, dass die Bahn nicht rechtzeitig ankommen würde. Er würde sich auf sich selbst verlassen müssen. Er spürte, wie sein Herz schneller schlug, und seine Haut erbleichte, während Chemikalien ähnlich wie Adrenalin - bis auf ein paar kleine, subtile Unterschiede - durch seine Adern zu rinnen begannen. Er fragte sich, wie gut Feuertänzer wohl laufen konnten. Sicher nicht besser oder weiter als er!

Also rannte er, ohne wirklich darauf zu achten, wohin, und ließ die ganze Zeit unbewusst Magie in seine Füße fließen. Fußgänger wichen erschocken zur Seite, Autos hupten, als er ihnen in die Quere lief. Er erhaschte einen Blick auf einen Wegweiser und änderte scharf die Laufrichtung, als er sah, was dort stand: Bahnhof.

Seine Verfolger waren schnell, aber er war schneller und einen Tick klüger. Und ihn beflügelte Furcht - die Furcht, dass er Wisperwind seinem Schicksal überlassen hatte; Peter und Andrew ebenfalls.

Folgt mir, dachte er verzweifelt. Vergesst Andrew. Ich bin euer Ziel, nicht sie.

Die nächste Straße, in die er einbog, war belebt genug, um mehr Schutz zu bieten. Indem er das Schwert vom Rücken nahm und in die Armbeuge legte, begann er sich weniger auf das bloße Weiterlaufen zu konzentrieren. Gegen ihn drängte die fließende Masse von Menschen wie die Strömung in einem Fluss. Zufällig fand er sich von einem Passanten in die Türnische eines Ladens gedrückt. Er schnappte nach Luft - in seiner wilden Flucht hatte er nicht darauf geachtet, wie weit er gelaufen war. Hinter ihm in der Menge konnte er vier Wellen ausmachen, wo die einzelnen Verfolger sich auf ihn zu bewegten. Doch es waren jetzt so viele Menschen zwischen ihm und ihnen, dass er sich gerade sicher genug fühlte, um es zu wagen ...

Der Bettler beobachtete den Fremden mit Interesse. Wiesen die gefutterte Jacke und der Hockeystock, den er trug, auf Müßiggang und Reichtum hin? Könnte das jungenhafte Gesicht, gerötet vom Laufen, von einem Lächeln der Großzügigkeit gekrönt werden, sobald sein Atem nicht mehr in keuchenden Stößen kam?

So konzentriert war der Bettler auf seinen potenziellen Gönner, dass er der Einzige auf der Straße war, der etwas merkte, als ... es... geschah ...

Die Haut des Mannes wurde dunkler, seine Kleidung heller; die Jacke wurde zu einem dichten Pelz, auf dem Gesicht spross ein entsprechender Bart. Der Hockeyschläger wurde zu einem Geigenkasten, auf den nun breiteren, höheren Rücken des Mannes geschlungen. Die Augen traten weiter auseinander und wurden heller, das Haar lichtete sich zu einem Mausbraun und stach in gezackten Strähnen unter dem Hut hervor. Und als der Fremde sich von dem Eingang in den Menschenstrom hinausschob, mit dem Gang eines Einheimischen bei seinen täglichen Geschäften, hatte der Bettler sich fast schon selbst überzeugt, dass der Mann die ganze Zeit so und nicht anders ausgesehen hatte. Als die veränderte Gestalt sich in der Menge verlor, schüttelte er nur noch den Kopf über seine eigene Dummheit

Und Sams Illusion war vollkommen.