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»Kommt er?«
Wisperwind hatte in einem zerbeulten alten Toyota auf ihn gewartet, das Kinn in die Hände gestützt, mit einem bekümmerten Blick. Sam riss die Beifahrertür auf, warf seinen Rucksack auf die Rückbank und ließ sich in den Sitz fallen. Er war außer Atem, nachdem er das Stück von der letzten Bushaltestelle aus bergauf gerannt war. Die Fahrt aus Paris aufs offene Land hatte vierzig Minuten gedauert, vorbei an schier endlosen Reihen neuer Apartmenthochhäuser und riesigen Baustellen. Wisperwind parkte auf einem bewaldeten Hügel, von wo aus man in der Ferne einen Fluss erspähen konnte.
»Er kam eben an einem Tor hier in der Nähe an.«
Der Zeitpunkt für das Treffen, zu dem Sam, unter dem Deckmantel eines Mondgespinst-Verräters, Thor gebeten hatte, war erst in einer halben Stunde. Doch Sam war bereits nervös. »Sind alle auf ihrem Posten?«
»Ja.« Wisperwind wand sich. »Dir ist klar, dass wir dir nicht helfen können, wenn er dich angreift?« Als Fürst des Himmels hatte Thor, wie Sam selbst, absolute Macht über die Unirdischen.
»Gib nur Acht, dass du selbst nicht in Schwierigkeiten gerätst. Du weißt, wo wir uns treffen, wenn etwas schief geht?«
Wisperwind nickte.
»Gut.« Sam schüttelte Wisperwinds eiskalte, substanzlose Hand, wohl darauf bedacht, nicht zu fest zuzudrücken, und stieg aus dem Wagen. Er ging los, einen schlammigen Weg hinauf, der halb von Farnkraut überwuchert war.
In dem kalten Dämmerschein, der einem winterlichen Sonnenuntergang folgt, war die große, gemauerte Scheune zwischen den länger werdenden Schatten kaum zu erkennen. Sie war seit Jahren von allen verlassen außer dem wuchernden Efeu - und Ratten. Sam hatte sie ausgewählt wegen der Wälder in der Umgebung, die Sterbliche davon abhielten, in die Nähe zu kommen. Er konnte die Augen des Mondgespinst-Netzwerks in der Umgebung als ein Prickeln in seinem Nacken und ein sanftes Summen spüren, das seine Sinne erfüllte.
Er stieß die alte, verwitterte Scheunentür auf und trat in das muffige Düster. Die Dielenbretter unter seinen Füßen knarrten, als wollten sie durchbrechen. Die meisten Fensterscheiben waren zerbrochen, und Dorngestrüpp und Holunder waren hindurch gewachsen. Ja. Es würde gehen.
Als er das Schwert zog, hörte er aus der Ferne einen Automotor. Mit erhobener Klinge drehte er sich um. Von irgendwo draußen war das Schlagen einer schweren Tür zu vernehmen, und bald darauf wurden Schritte hörbar. Sam zog sich tiefer in den Schatten der Scheune zurück. Sie kamen zu früh - aber das war zu erwarten gewesen. Sie wollten prüfen, ob die Luft rein war.
Eine Walküre trat als Erste ein, mit einem langen Schwert in der Rechten. Mit Erstaunen erkannte Sam dieselbe Frauengestalt, der er auf der Fähre begegnet war. Ihr folgte, die mit Runen beschriftete Axt bereits gezückt, ein größerer, dunklerer Mann. Der tief herabgezogene Helm verbarg seine Gesichtszüge. Ein langer grüner Mantel, weiche Rentierstiefel. Kopfbewegungen wie eine Taube, die auf eine Katze wartet.
Und zu allem Überfluss war es der Falsche.
Odin sah Sam und lächelte. »Hallo, Kleiner. Dann waren's doch keine Elfen?«
»Wo ist Thor?«
»Unwichtig, kleiner Lucifer. Kleines Licht und kleines Feuer.«
Mehr Gestalten betraten die Scheune. Walküren mit gezückten Schwertern. Tod glitzerte in ihren Augen. Sam begann zurückzuweichen. »Was habt ihr vor?«, fragte er ruhig. »Warum seid ihr hinter mir her?«
Odin lächelte weiter. »Du hast einen strategischen Fehler gemacht, Lucifer. Du hättest es dir gründlicher überlegen sollen.«
»Du würdest lieber mich töten, als den Mann zu finden, der deine Schwester umgebracht hat?«
»Du bist nach Tibet gegangen, kleiner Lucifer. Du hast mit dem Abt gesprochen. Du hast Fragen gestellt.«
Sam trat noch einen weiteren Schritt zurück. Es waren jetzt mindestens ein Dutzend Walküren in der Scheune. Und Odin war ein Sohn von Krieg. Das ist so unfair.
»Woher weißt du, dass ich in Tibet war?« Etwas hat den Bibliothekar beunruhigt... er wurde entdeckt. Von Leuten, die Ausschau hielten, die die Bibliothek beobachteten, den Historiker. »Wozu tust du das?«
Odin schüttelte den Kopf wie im Scherz. Seine Hände hingen herab; er hielt die riesige Axt in der Rechten, als wäre es eine Feder. Sam spürte, wie sein Rücken gegen die Wand stieß. Sehr leise, in den Tiefen seines Verstandes, dachte er: Verdammt, das sieht wirklich nicht gut aus.
»Ich versuche zu helfen!«, rief er aus. »Herauszufinden, wer deine Schwester getötet hat!«
»Kleiner Lucifer, will es dir wirklich nicht in den Kopf hinein, dass wir deine Hilfe vielleicht nicht wollen? Freya starb an einer Überdosis Wissen. Du, fürchte ich, wirst unwissend sterben.«
»Es kümmert dich nicht«, hauchte Sam. »Du arbeitest mit ihnen zusammen! Mit den Mördern deiner Schwester!«
Sam hatte, das musste man ihm lassen, immer ein gutes Gespür für den richtigen Zeitpunkt gehabt. Wenn man in die
Ecke getrieben ist und nirgendwohin mehr fliehen kann, dann ist das Letzte, was irgendjemand erwartet, dass man zum Angriff übergeht, als würden einem die Armeen der Hölle auf dem Fuße folgen. Und so, in jenem Augenblick bitterer Erkenntnis, ging Sam direkt auf Odin los. Und während er auf ihn losging, verwandelte er sich.
Vor langer Zeit hatte man ihm einmal von einer Rasse von Anderen erzählt, die Schatten als wirkliche Dinge ansahen und die in Schatten wandeln, Schatten werden konnten. Diesen Effekt hatte er nachzuahmen gelernt, unvollkommen, mit Magie - doch ein Dutzend Mal tödlicher. Als er den ersten Schritt getan hatte, war sein Schatten dichter geworden, hatte dann begonnen, selbst einen Schatten zu werfen. Als er seinen zweiten Schritt tat, war der Schatten seines Schattens wirklich geworden. Ein dritter Schritt, und es gab vier Sams, die alle auf die Reihen der Walküren zustürmten, mit silbernen Schwertern und Mord in ihren Augen. Als Sam schließlich sein Schwert hob und es gegen Odin schwang, war die Scheune voll von ihnen.
Für Odin bedeuteten diese Illusionen nichts; er würde sie in einer Sekunde durchschauen. Doch für die Walküren waren sie so real wie die Wirklichkeit, die sie umgab. So geschah es, dass die Walküren jeden Sam außer dem wirklichen angriffen. Und Sam, der unscheinbare, stille kleine Sam mit seinem jungenhaften Lächeln, das in jüngerer Zeit zu selten zu sehen gewesen war, ließ sein Schwert mit aller Kraft auf Odins erhobene Axt niedersausen.
Im Augenblick des Aufpralls, als Odins Arme sich in einem Wirbel zu bewegen schienen, um Sams tollkühnen Schlag zu parieren, wusste Sam, dass er keine Chance hatte. Im Bruchteil einer Sekunde war Odin von einem festen zu einem beweglichen Ziel geworden, eine Reaktion, die Sam mit all seinen Jahren harter Übung und kalter Duschen nie nachvollziehen könnte. Gegen einen Sohn von Krieg auf dessen eigenem Feld konnte Sam nicht gewinnen. Um ihn herum zerschnitten Schwerter die Illusionen wie die Schatten, aus denen sie bestanden, und durch einen Prozess der Eliminierung kamen sie Schritt für Schritt ihrem eigentlichen Gegner näher.
Schwert und Axt ineinander verhakt, blickte Sam direkt in Odins breites Grinsen. »Was hast du vor?«, zischte er.
»Das wirst du nie erfahren«, sagte Odin.
Sam zuckte innerlich die Achseln. »Dann werde ich wohl unwissend sterben. Und ehrlos.«
Odin, bei all seiner Überlegenheit als Kämpfer, hatte nicht erwartet, mit solcher Wucht ein Knie zwischen die Beine gerammt zu bekommen. Als er taumelte, riss sich Sam los. Er duckte sich unter einem Schwerthieb weg, der auf seinen Kopf gezielt hatte, ließ seine eigene Klinge heruntersausen und zeichnete damit eine rote Linie auf den Schenkel einer Walküre, zog das Schwert zurück, um einen Hieb zu parieren -und wechselt es in die Linke, um es in einem Bogen nach oben zu schwingen.
Die Luft bewegte sich. Die Walküren wichen unisono zurück wie ein improvisiertes Ballett. Sam war bereits auf dem Weg zur Tür. Mit einer anmutigen Bewegung seiner Rechten schob er die Walküren, die ihm den Weg versperrten, beiseite. Auf seine Geste hin ging das Stroh in der Scheune in Flammen auf, als sei es mit Benzin getränkt, und ließ sie in Panik auseinanderspritzen. Sam selbst machte sich keine Sorgen wegen der seltsam gefärbten Flammen. Eine wohl platzierte silberne Axt in seinem Rücken würde ihn töten. Feuer nicht.
Einen Schritt vor der rettenden Tür packte ihn etwas am Arm, schwang ihn herum. Er sah in Odins Auge. Im Feuerschein sah es irrer und erschreckender aus denn je. Fast hätte
Sam laut aufgeschrien, als das stumpfe Ende von Odins Axt sein Handgelenk traf und erst Schmerz, dann Taubheit durch seinen Arm schoss. Er hörte das Klirren seines Schwertes, als es zu Boden fiel, sah Odins Axt auf sein Gesicht zukommen, wich zurück und stürzte. Das Feuer war überall um ihm. Die Hitze war unglaublich. Der Schmerz in seinem Arm war auch unglaublich: ein dumpfes Pochen, das irgendwie in seiner Schulter am schlimmsten war, während es dort, wo die Axt ihn getroffen hatte, fast nicht zu fühlen war.
Odin ragte über ihm auf. Wenn Sam je einen Preis für das tückischste Blinken im Auge eines Gegners verleihen müsste, stünde Odin ganz oben auf der Liste der Anwärter. Er fragte sich, welchen Zauber er besaß, den Odin nicht abschütteln konnte. Er spürte, wie Feuer in seinem Innern aufstieg. Kaltes, weißes, blendendes Feuer. Er sah die große Axt aufblitzen. Der Gedanke kam ... Ach, zur Hölle damit! Es gibt Schlimmeres.
Er ließ das Feuer wachsen und brennen und sich aufbauen. Schloss die Augen. Öffnete die Hände.
Er hatte die Natur des Lichts nie wirklich verstanden. Niemand hatte sich bemüßigt gefühlt, ihn darüber aufzuklären; es war, als ob er, indem er es besaß, von selbst verstehen würde, was es war und wie man es benutzte. Doch er wusste, dass es sich nach seinen Gedanken richtete, solange sie verständlich und zusammenhängend blieben, und dass es, wenn es nach mehr Menschen suchte, um sich an ihrer Kraft zu nähren, nicht deren Herzen ergriff, sondern deren Geist.
So, auf dem Boden einer brennenden Scheune liegend, öffnete eine einsame Gestalt mit schwarzem Haar ihre Hände und ließ das Licht heraus. Es weitete sich um ihn aus in einem blendenden Kreis von Energie, sodass die Umstehenden vor Schmerz ihre Augen bedeckten. Es brach durch Wände, schoss durch den Geist Wisperwinds und strömte in einem sich rasch ausweitenden Kreis hinaus ins Land.
Und wo das Licht die Gedanken anderer berührte, da antworteten sie auf Sams eigene Angst. So flüsterte es ihnen von dunklen Ecken zu und von ungesehenen Schlangen und von der leeren Straße spät in der Nacht und der halb wahrgenommenen Gestalt im Laternenschein, die fort war, wenn man wieder hinsah. Es nahm die Furcht auf, nährte sich daran, wurde mächtig und stark.
Sam spürte seine Kontrolle entgleiten, als das Licht immer mehr Geister umfasste. Er versuchte, seine Gedanken zu sammeln, doch es war schwer, sich daran zu erinnern, dass er Sam war, nicht Jean-Paul oder Jeannette oder Julien; schwer, sich zu erinnern, dass er Angst hatte, von dem Licht verzehrt zu werden, und nicht vor den Spinnen im Garten und den Ratten in den Abwasserkanälen und der Gestalt, die verschwunden war, wenn man wieder hinsah, und vor den Ecken und der Dunkelheit und den Gedanken und dem Feuer...
Aber da war etwas in seinem eigenen Geist, etwas, was sich heiß anfühlte, als er den Griff darum schloss, heiß wie glühendes Eisen. Der Schmerz in seiner Schulter. Seiner Schulter, etwas, auf was er sich konzentrieren konnte: seinen Körper, seinen Geist, sein Ich.
Irgendwo in der Ferne verlangsamte die weiße Front des Lichts ihren Lauf, hielt inne und begann sich dann wieder zurückzuziehen, auf das Zentrum zurückzufallen, wobei das Licht immer heller wurde. Es traf Sam, der schwankte, wie unter einem physischen Schlag. Eine Sekunde lang war alles dunkel. Odin wankte, blinzelte Tränen weg. Die Walküren wagten wieder in Sams Richtung zu sehen ... Was jetzt?
Sams Augen öffneten sich. Die schwarzen Iriden waren rein weiß, und die Gedanken, die seinem Gesicht zuvor solches Leben gegeben hatten, waren verloren. Es gab einfach zu viele andere Geister in seinem Kopf, die um Platz kämpften.
Ein kurzes Schweigen trat ein. Dann, mit dem entrückten
Lächeln eines Wahnsinnigen, hob Sam seine Hände und öffnete sie. Ein Strahl von weißem Licht schoss auf Odin zu, traf, wirbelte ihn herum wie eine Puppe. Die volle Kraft der Furcht von tausend Menschen fuhr durch Sam hindurch und wieder hinaus, füllte die Scheune mit dem Schrillen von Insekten, die kamen, um zu töten; dem Heulen von Wölfen im Wald; dem Summen der zerbrochenen Lampe auf der dunklen Straße, die eine Sekunde lang die halb wahrgenommene Gestalt aus der Düsternis riss ...
Selten hatte man Odin je schreien hören. Es war kein besonders eindrucksvoller Laut, etwas zwischen einem Gurgeln und einem Keuchen. Jetzt jedoch stand er eine Sekunde lang wie erstarrt. Dann drehte er sich um, stierte auf das Feuer, als hätte er den Tod darin gesehen, und rannte los. Die Walküren flohen auch, behinderten sich selbst in ihrer Eile, dem wie auch immer gearteten Dämon zu entkommen, der sie verfolgte.
Irgendwie gelang es Sam, sich zu bewegen. Er stemmte sich auf Hände und Knie hoch, versuchte aufzustehen und sackte halb wieder in sich zusammen. Sein Gesicht verzerrte sich, als er die Augen zukniff und seine Ohren gegen das Tosen all jener Geister mit den Händen bedeckte.
Seltsamerweise, obwohl er Odins Geist deutlich wahrnehmen konnte, gab es keine Worte. Nur Bilder. Auf der einen Seite den Schrecken des Unbekannten; das Klacken von Klauen auf steinernen Stufen; das Gefühl, beobachtet zu werden, ohne sehen zu können, wer da war... Doch auf der anderen spürte er die Entschlossenheit, diesen Feind - ihn, Lucifer - zu Fall zu bringen, und hörte Odins Gedanken.
Und sah die Gesichter in seinem Geist.
Das Gesicht des Mannes auf dem Bild, das man ihm in Tibet gegeben hatte. Andrew. Odin hatte Andrew gesehen. Mehr Gesichter. Freya, so schön im Tod wie im Leben. Jehova, eine stattliche Gestalt, durch Odins Augen betrachtet, Bilder von
den beiden beim Händeschütteln, Erinnerungen an Stimmen. Dein Haus verfällt, Odin, flüsterte die Erinnerung Jehovas, die Sam bis zu diesem Augenblick nie gehabt hatte, aus Odins Geist gepflückt. Mein Haus stand immer für sich, allein. Zusammen können wir stark sein. Erinnerungen, die nicht die seinen waren, blitzten durch seinen Geist, zu schnell, um sie zu sehen. Auch andere, vertraute Gesichter, bei denen Sam plötzlich zum ersten Mal fand, dass er sie nicht verstand. Thor. Michael. Uriel. Seth.
Wer unter diesen war nur ein Werkzeug? Und wer Odins Komplize.
Dann der Schrecken der Entladung des Lichts. Und Odins Gedanken. Er weiß, wie man das Licht benutzt! Er weiß, wie es töten kann...
Die Tür wurde aufgestoßen, und Wisperwind stürzte herein, aufgewühlt bis ins Innerste. Auch er hatte die Auswirkungen verspürt.
»Zeit bewahre«, flüsterte Wisperwind, als er Sam half, auf die Füße zu kommen. »Du hast das Licht eingesetzt?«
»Verbinde mir die Augen«, flüsterte der weißäugige Sam, um einen Gnadenakt flehend.
Wisperwind griff in eine Tasche und zog einen gefleckten Schal heraus, mit dem er Sam die Augen verband. Dann nahm er das Schwert vom Boden auf, und wie ein Krankenpfleger, der einen gebrechlichen alten Patienten aus dem Operationssaal führt, half er Sam, sich zu dem Toyota zu schleppen.