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Verräter und Erzengel

 

Er benutzte die Bilder, die er in Uriels Gedanken gelesen hatte, um sein Ziel zu bestimmen. Als er durch das Höllentor ging, glaubte er das Gesicht des Dunkelelfen zu sehen, den er sich dienstbar gemacht hatte, um Seth zu finden. Nach Gabriel zu sichten würde zwecklos sein - Uriel hatte klargemacht, dass die Abschirmung des Erzengels außergewöhnlich war. Es kümmerte ihn auch nicht, wer ihn aus dem Tor hervortreten sah. Er war jetzt auf dem Kriegspfad, bereit zu kämpfen, wie er es nie zuvor gewesen war.

Trotz seiner Müdigkeit, auch wenn Körper und Geist unter der Anstrengung schmerzten, hörte er Uriels Stimme wieder in seinem Geist. Jeder, der durch ein Tor kommt, wird gesehen und damit zur Zielscheibe.

Das sollte ihm recht sein. Er wollte, dass Gabriel wusste, wo er war. Er wollte zur Zielscheibe werden.

Er trat durch das Erdentor und sah sich um, ob es irgendwo einen Hinweis darauf gab, wo er sich befand. Es war dunkel. Er war in einem Hinterhof voller Kisten ausgekommen. Es roch nach Bier. Er hörte Geräusche von Bewegung aus dem Inneren des großen gekalkten Hauses vor ihm und kletterte schnell über die Hofmauer, um nicht entdeckt zu werden.

Es gab andere Häuser mit Fensterläden. Geruch von niedergegangenem Regen lag in der Luft. Die Dächer waren mit Wellblech gedeckt, das vor sich hin rostete. Sam spürte Augen, die ihn beobachteten, fühlte wachsame Geister, die sich um ihn regten, und fragte sich, wer oder was seine Ankunft bemerkt hatte. Er stieg über ein paar weitere Mauern, bis er in einer schlammigen Straße auskam und sich umsehen konnte.

Seine Nachtsicht zeigte ihm, dass in der einen Richtung eine menschenleere Landschaft lag, die nur geringfügig durch ferne Hügel und den einen oder anderen Dornbusch belebt wurde. Die Schilder waren auf Spanisch. Als er sich umwandte, sah er auf der anderen Seite ein kleines Dorf liegen, das sich einer Tankstelle mit ganzen zwei Zapfsäulen auf ihrem kleinen Vorplatz und einer Kneipe rühmen konnte, komplett mit zwei alten Männern auf der Türstufe und dem Klacken von Pool-Billard-Kugeln. Außerdem gab es noch einen Dorfladen, aus dem eine alte Dame mit gebräunter Haut und einem geblümten Kleid trat, die Arme voll beladen. Fünf alte, zerbeulte Autos. Drei Motorräder. Ein Fahrrad.

Eine stillere Kleinstadt hatte er nie gesehen. Und es gab nichts, wo ein Fremder sich verstecken könnte. Das Land ringsum war vollkommen ungeschützt. Wenn jemand sich hier mit einem guten Gewehr mit Zielfernrohr verschanzt, käme niemand rein oder raus.

Der perfekte Ort für Gabriel, um eine Belagerung auszusitzen. Sam ging zu der Kneipe hin, bestellte sich ein Bier und nahm dann seine Flasche mit nach draußen, um sich zu den alten Männern auf die Stufen zu setzen. Er war dankbar, dass er ihre Gedanken nicht lesen konnte. Ausgerüstet mit seinem Bier und dem damit verbundenen Recht, hier zu sitzen, zog er den Dolch und legte ihn lässig vor seinen Füßen auf den Boden. Die alten Männer machten, dass sie fortkamen.

Sam summte eine kleine Melodie vor sich hin. Er zog die Jacke enger um die Schultern, lehnte seinen Kopf gegen die Wand und summte weiter. Er wartete.

Das Dorf hatte wenig an Nachtleben zu bieten außer dem Zirpen von Insekten und dem fernen Gemurmel der Trinker in der Kneipe. Man hörte das Tack-Tack, mit dem ein Junge den einzigen Spielautomaten in der Kneipe malträtierte, und das Flippern der Kugel. Gläser klirrten. Leute sahen Sam, sahen die blanke Klinge und machten einen Bogen. Sam wartete.

Ein zerbeulter alter Wagen hielt auf ihn zu. Unter normalen Umständen hätte er ihm keine Beachtung geschenkt. Doch dieser Truck trug Zauber auf Türen und Windschutzscheibe; sie flammten vor seinen magischen Augen, während die Magie ihn zugleich wispernd drängte, seinen Blick abzuwenden. Er zwang sich, hinzusehen und sie zu studieren. Ein allgemeiner Schild gegen Sichtungen, ein Ablenkungszauber und ein Standard-Schutzzauber. Der Wagen hatte drei Insassen. Alle drei waren Andere.

Der Wagen kam vor ihm zum Halten. Drei Augenpaare betrachtete ihn durch die Fenster. Eine Tür öffnete sich, und eine Stimme rief auf Englisch: »Leg das Schwert in den Kofferraum!«

»Beweist mir erst, dass dies keine Falle ist, wie in Kaluga«, gab er zurück.

»Wir können überhaupt nichts beweisen. Du musst uns einfach glauben, wenn wir sagen, dass Gail uns geschickt hat. Behalte den Dolch, wenn du dich damit sicherer fühlst.«

Mit einem innerlichen Achselzucken tat Sam wie geheißen und stieg in den Wagen.

»Ist euch jemand gefolgt?«, fragte er.

»Nein. Niemand hat es bis jetzt geschafft, den Schild zu durchbrechen.«

»Wie kommt's?«

»Gail geht kein Risiko ein. Doch es ist gut, dass du gekommen bist.«

Sam sagte nichts. Er beobachtete die leere Landschaft, die am Fenster vorbeirauschte. »Wo sind wir?«, fragte er unvermittelt.

»In Mexiko. Gail hat hier Quartier bezogen, als sie hörte, dass Andrews Tarnung aufgeflogen war. Aber sie wusste, dass du nicht lockerlassen würdest.«

»Wie das?«

»Du bist nicht der Einzige mit Freunden unter den Elfen, weißt du«, sagte der Fahrer mit einem leisen Lachen.

Sam fühlte seine Finger kribbeln. Er kannte dieses Lachen. »Adam?«

»Tja, ich hab mich anwerben lassen.«

Sie boten von der Hauptstraße ab und schlängelten sich über schlammige Pfade, die kaum breit genug für den Wagen waren. Sam spähte voraus in die Dunkelheit und sah ein kleines Farmhaus. Eine Öllampe brannte auf der Veranda, und die Fenster waren von einem matten gelben Glühen erhellt. Sie hielten vor dem Haus, und Sam durchforschte rasch die Gegend, bevor er ausstieg. Der Ort war geladen mit Magie. Zauber, die die Aufmerksamkeit anderswohin lenkten; Zauber, die riesige Landstriche ringsum abschirmten; Zauber, um Sichtungen abzuwenden; Zauber, um vor herannahender Gefahr zu warnen - und alle von solch geschickter Hand gewirkt, dass Sam sich unwillkürlich fragte, ob seine Mutter ihn belogen hatte und er nicht doch einen unbekannten Bruder oder eine Schwester erster Generation besaß.

Er nahm sein Schwert und seine Umhängetasche wieder an sich und folgte Adam die Stufen hinauf zum Haus. Es gab keine Elektrizität, aber die staubigen alten Räume mit ihren zerschlissenen Sofas und mottenzerfressenen Vorhängen wurden von Öllampen erleuchtet. Sam ging weiter, selbst in diesem späten Stadium noch immer auf der Hut gegen möglichen Verrat.

Drei Lehnsessel, deren Polster durch den brüchigen alten Stoff quoll, standen vor dem Kamin, mit dem Rücken zur Tür. Zwei davon waren besetzt. Sam nahm, ohne zu fragen, den dritten.

»'n Abend zusammen«, sagte er locker. »Gut gemacht«, meinte Gabriel. »Du hast es geschafft« »Ihr habt es mir nicht leicht gemacht. Und wer deine Schutzzauber gemacht hat, der war wirklich brillant.« »Danke«, sagte Buddha.