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Die Hüllen von zwei Springern, deren Energie erschöpft war, trieben auf den Rand des Systems zu, wo sie sich mit weit mehr als stellarer Fluchtgeschwindigkeit überschlugen. Ihre Arbeit war erledigt, sie zählten nicht mehr.
Hinter ihnen wirbelten die Wracks der Republikanischen Heimatflotte wie Ascheflocken in einem sengend heißen Wind durch den Raum. Zwei Drittel der Schiffe, deren technische Gerätschaften rot glühten, sprudelten und schäumten auf, als die klebrige Flüssigkeit ihr Zersetzungswerk begann. Der seltsame metallische Flaum, der sich über die Schiffsrümpfe verteilte, erinnerte an Schwamm, der sich durch die Stämme verfaulender, absterbender Bäume bohrt. Die Schlachtschiffe, die überlebt hatten, machten derweil fast alle volle Fahrt und suchten nach Fluchtwegen, die sie zurück in den tiefen Raum führen würden. Rund um Rochards Welt wimmelte es nur so von aktivierten Alarmsignalen, Störsendern, Feed-back-Heulern, Interferenzfallen und anderen Abwehrinstrumenten. Nur wussten diejenigen, die sie dort installiert hatten, nicht, dass sie ähnlich wirkungslos waren wie Rückenpanzer bei Stammeskriegern, die vor Salven aus Maschinengewehren fliehen.
Eine lose Gruppe viel kleinerer, langsamerer Schiffe bewegte sich, die Geschwindigkeit ständig verringernd, weiter und weiter auf den Planeten zu oder ließ sich im Schwebeflug dorthin treiben. Größtenteils schenkten die verbliebenen Springer dieser Gruppe keine Beachtung: Rettungskapseln warfen normalerweise keine Probleme auf. Schließlich tauchten aus einer Entfernung von mehreren astronomischen Einheiten die ersten Handelsschiffe der merkantilen Flotte auf, die dem Festival überallhin folgte. Ihre Signale waren fröhlich, auffällig und freundschaftlich und hatten geradezu Unterhaltungswert. Im Unterschied zur Neuen Republik waren sie mit dem Festival, seinen Gewohnheiten und Launen gut vertraut.
Allerdings nahm das Festival kaum Notiz von der sich nähernden Handelsflotte, da seine Aufmerksamkeit derzeit anderen Dingen galt: Bald würde es die nächste Generation in die Welt setzen, während die alte dahinschied.
Antimaterie-Fabriken, so groß wie ganze Kontinente, bohrten Löcher in die glühend heiße solare Corona tief im gekrümmten Raum unmittelbar außerhalb der Photosphäre von Rochards Stern. Riesige ringförmige Teilchenbeschleuniger trieben hinter ihren Schutzschilden, durch Kilometer leeren Raums voneinander isoliert. Sonnenkollektoren, schwärzer als die Nacht, absorbierten die solare Energie – viele Megawatt pro Quadratmeter –, während Maser die überschüssige Energie in die sie umschließende Sternennacht abgaben. In jeder Sekunde sammelten sich einige Milligramm von Antimaterie in den Magnetfallen im Herzen der Beschleuniger. Im Abstand von etwa zehntausend Sekunden wurden jeweils einige Gramm der gefährlichen Last auf einem Frachtkahn, der auf Strahlen dahinglitt, zu der Zone rund um Sputnik verschifft, in der die Starwisps zusammenmontiert wurden. Insgesamt waren es hundert Fabriken. Um diese Fabriken zu schaffen, hatte das Festival einen großen Kuiper-Körper zerlegt und den Komplex knapp eine Million Kilometer oberhalb der stellaren Oberfläche errichtet. Jetzt zahlte sich die Investition in Form von reiner Energie aus, die das Millionenfache dessen betrug, was die Zivilisation auf dem Planeten hatte erzeugen können.
Weder waren die Starwisps die einzige Fracht des Festivals noch das Fringe und die Kritiker die einzigen Passagiere, die dem Planeten einen Besuch vor Ort abstatteten. Tief in der Biosphäre des Planeten waren Bakterienüberträger, die über eine eigene reverse Transkriptase verfügten, und seltsame künstliche Chromosomen am Werk. Sie waren oberhalb des gemäßigten Klimagürtels des nördlichen Kontinents in die Atmosphäre eingetreten, absorbierten die dort heimische Ökologie und sorgten für ihre Verbreitung. Komplexe Verdauungsorgane, unterstützt durch Instrumente zur DNA-Spaltung und einige teuflisch komplizierte Gengruppen, die für die Steuerung der Exprimierung zuständig waren, assimilierten und zerlegten die Chromosomen all dessen, was ihre Wirte schluckten. Ein Feed-back-System – das zwar nicht mit Bewusstein begabt war, aber mehr als eine vegetative Existenz führte – hatte die Exprimierung eines genetischen Bauplans erreicht, der seine Lebensfähigkeit vor Ort bewies, obwohl er schon vor tausenden von Jahren geschaffen worden war. Es war eine Pflanze, die in den hiesigen Straßen existieren konnte, ein ganz normaler Saprophyt, der sich von toter organischer Materie ernährte, für das Leben auf Rochards Welt allerdings optimiert worden war.
Riesige Zellmembranen voller Zytoplasma verbreiteten ihre Wurzeln quer durch den Kiefernwald, erstickten die Bäume und ersetzten sie durch Pflanzen, die wie farblose Pinien aussahen. Diese Pflanzen trugen Früchte: Pilze, die auf den verdauten Überresten eines ganzen Ökosystems aus dem Boden schossen. Und sie wuchsen schnell. Spezielle Zellen tief in ihrem Innern sonderten Enzyme ab, die als Katalysatoren wirkten und die polysacchariden Moleküle nitrierten, während sich in ihrer äußeren Schale große Gefäße mit elektrischer Leitfähigkeit befanden, die pflanzlichen Neuronen ähnelten. Die Parasiten des Waldes wuchsen mit irrer Geschwindigkeit, bis zu einen Meter pro Tag. Dieses Projekt war auf eine viel längere Dauer angelegt als die Vernetzung der von der Außenwelt abgeschnittenen Zivilisation, auf die das Festival völlig zufällig gestoßen war – und es war auch viel ehrgeiziger, als die mit Bewusstsein begabten Passagiere des Festivals ahnen konnten. Sie nahmen lediglich die Ausbreitung einer lästigen Vegetation wahr, die nervende, manchmal auch gefährliche Plage, die dem Festival ebenso sicher folgte wie die Possenreißer und andere Geschöpfe des Fringe. Sobald die trockene Jahreszeit begann, würde der Wald des Festivals leicht Feuer fangen können. Derzeit jedoch war er nur ein Nebenschauplatz, der immer noch seiner Bestimmung harrte, derweil die Pflanzen nach und nach in die Höhe schossen. Und diese Bestimmung würde der Wald etwa zu dem Zeitpunkt erfüllen, der mit dem Sterben des Festivals zusammenfiel.
Fünfzig Kilometer über dem Meer flog die Rettungskapsel der Marine immer noch mit zwölffacher Schallgeschwindigkeit dahin. Nach dem Wiedereintritt in die Atmosphäre liefen die Rotoren hinter dem Schutzschild an, gleich würde die Autorotation beginnen.
»Da wünschte man doch, die Admiralität hätte sich das Luxusmodell geleistet«, murmelte Leutnant Kossov mit zusammengebissenen Zähnen, als die Kapsel ins Schlingern geriet, heftig wackelte und wie ein brennendes Natriumklümpchen auf einem Wasserbecken durch die Ionosphäre hopste. Als Kommandeur Leonow ihn mit einem finsteren Blick bedachte, grunzte er, als hätte ihm jemand einen Stoß versetzt, und hielt fortan den Mund.
Dreißig Kilometer tiefer und fünfzehnhundert Kilometer näher an der Küste des nördlichen Kontinents löste sich der Plasmaschild auf. Die Rotoren, die an ihren Spitzen weiß leuchteten, gingen in der hohen Stratosphäre in den Freilauf über und wirbelten so schnell herum, dass sie wie eine einzige glänzende Scheibe wirkten.
In den Beschleunigungssitzen des Cockpits schlug sich die Besatzung mit dem Problem herum, wie sie einen selbstdrehenden Kreisel, der sich immer noch mit fünffacher Schallgeschwindigkeit bewegte, ohne Bodenkontrolle und Leitinstrumente auf einer Rollbahn landen sollte, dazu noch auf einer, die höchstwahrscheinlich von Feinden belagert wurde. Robard stockte das Blut, als er darüber nachdachte. Instinktiv warf er einen Blick zu seinem Herrn und Meister hinüber. Da er sein Leben ganz und gar der Aufgabe gewidmet hatte, für den Admiral zu sorgen, war ihm dies zur festen Gewohnheit geworden. Immer noch suchte er Führung bei ihm, auch wenn das alte Schlachtross kaum noch bei Bewusstsein war.
»Wie steht es um ihn?«, fragte Robard.
Dr. Hertz blickte flüchtig auf. »So wie man es unter diesen Umständen erwarten darf«, erwiderte er kurz angebunden. »Haben Sie seine Medikamente dabei?«
Robard zuckte zusammen. »Nur die für die nächste Einnahme. Es waren einfach zu viele Pillenflaschen…«
»Na, dann…« Hertz kramte in seiner Ledertasche und entnahm ihr eine bereits aufgezogene Spritze. »Hat er eigentlich Laudanum eingenommen? Ich erinnere mich zwar nicht daran, es ihm verschrieben zu haben, aber…«
»Nicht, dass ich wüsste.« Robard schluckte. »Er leidet an Diabetes, an Ticks und einer… äh… Gedächtnisschwäche. Außerdem machen ihm natürlich seine Beine zu schaffen. Aber er hatte keine Schmerzen.«
»Na, dann wollen wir mal sehen, ob wir ihn wach bekommen.« Hertz hielt die Spritze hoch und entfernte die Schutzkappe. »Normalerweise würde ich einen alten Mann vor der Landung ja nicht so roh behandeln, schon gar nicht jemanden, der einen Schlaganfall erlitten hat, aber unter diesen Umständen…«
In zwölf Kilometer Höhe fiel der Autogyro unter zwei Mach. Während sich die Rotoren blitzschnell mit Donnergeräusch drehten, tastete sich das Suchgerät über die Küste vor. Dort, wo die Strahlen den Boden erfassten, flohen die Tiere voller Panik. Derweil verabreichte Hertz dem Admiral die Spritze, die ihn wach machen sollte. Die Kapsel verlor weiter an Höhe, bis sie eine Minute später unter Schallgeschwindigkeit fiel. In der Kabine machte sich ein neues, schneidendes Geräusch bemerkbar, sodass Robard instinktiv aufblickte.
»Hab nur die Aerospikes aktiviert«, murmelte Kossov. »Damit wir mit Antriebskraft landen können.«
Als der Admiral etwas Unverständliches grunzte, beugte sich Robard vor. »Können Sie mich hören, Sir?«
Mit etwas weniger als halber Schallgeschwindigkeit schlug die Kapsel einen seitlichen Kurs ein, wobei die Spitzen der Drehflügel eine grelle Feuerspur hinter sich herzogen und die Mitte der Drehscheibe nur noch vage auszumachen war. Mehrmals bemühte sich der Kopilot, Kontakt mit der Reichsverkehrsüberwachung aufzunehmen, hatte jedoch keinen Erfolg. Er tauschte besorgte Blicke mit seinem Befehlshaber aus. Der Versuch, angesichts der Flak zu landen, deren Garnison auf dem Schädelberg stationiert war – ohne zu wissen, wer die Stadt dort unten hielt –, war schon nervenaufreibend genug. Wenn man außerdem bedachte, dass kaum noch Treibstoff vorhanden war und sich ein todkranker Admiral an Bord befand…
Aber es war keine Spur von einem Suchradar zu bemerken, der die Kapsel erfasst hätte. Selbst als sie über dem Schloss am Horizont aufstiegen und im gemächlichen Tempo von vierhundert Stundenkilometern dahinglitten, war von der Bodenabwehr nichts zu hören oder zu sehen. Der Pilot schaltete die Sprechanlage ein. »Das Rollfeld existiert noch, auch wenn sich niemand bei uns meldet. Anflug über visuelle Steuerung, macht euch auf eine holperige Landung gefasst.«
Der Admiral murmelte irgendetwas Unzusammenhängendes und schlug die Augen auf. Robard lehnte sich in seinem Sitz zurück, als das Kreischen und Dröhnen der Aerospikes leiser wurde und der Pilot die restliche Antriebskraft in die Rotoren leitete, um Geschwindigkeit gegen Höhe einzutauschen. »Oh.« Leutnant Kossov wirkte ganz grün im Gesicht.
»Hasse Hubschrauber«, murmelte der Admiral.
Nachdem die Motoren ausgeschaltet waren, sank die Rettungskapsel weiter und weiter nach unten, wobei sie sich wie ein Ahornsamen von fünfzig Tonnen Gewicht ständig um sich selbst drehte. Vor der Bodenberührung zog der Pilot noch einmal kurz hoch, sodass die Kapsel einen Augenblick lang nach oben schoss, doch gleich darauf war unterhalb der Passagierkabine ein nervenaufreibendes Knirschen zu hören. Das Aufkreischen von lädiertem Metall erzählte eine eigene Geschichte. Die Kapsel neigte sich auf beängstigende Weise zur Seite, schwankte dann wie besoffen in die andere Richtung und kam schließlich in einem Neigungswinkel von fünfzehn Grad zum Stillstand.
»Bedeutet das tatsächlich das, was ich annehme?«, fragte Robard.
»Halten Sie die Klappe und kümmern Sie sich um Ihren eigenen Kram«, fuhr Kommandeur Leonow ihn an, rappelte sich vom Sitz hoch und blickte sich um. »He, ihr da, nehmt Haltung an, bemannt die Luftschleuse! Sie und Sie da drüben, brechen Sie den Schrank mit den Faustwaffen auf und halten Sie sich bereit, uns den Weg freizuschießen!« Er machte sich daran, die kurze Leiter zum Flugdeck hinunterzuklettern, und hielt sich dabei trotz des Neigungswinkels von fünfzehn Grad ganz gut, wobei er immer noch Befehle brüllte. »Sie da, Roboter oder wie immer Sie heißen mögen, bereiten Sie Ihren Mann auf den Aufbruch vor, weiß nicht, wie viel Zeit uns noch bleibt. Ah, Flugzeugführer Wolff. Ich nehme doch an, dass wir auf der Rollbahn gelandet sind. Haben Sie irgendetwas von einem Empfangskomitee bemerkt?«
Der Pilot wartete, bis Leonow rückwärts die Leiter hinuntergestiegen war, und folgte ihm dann aufs Deck. »Sir, melde gehorsamst, dass wir auf dem Abschnitt zwei der Notlandebahn von Nowyj Petrograd angekommen sind. Ich konnte keinen Kontakt zur Verkehrsüberwachung oder Luftabwehr des Flughafens herstellen, aber uns hat niemand beschossen. Ich habe unten auch niemanden herumstehen sehen. Allerdings hat sich die Stadt sehr verändert, sie ähnelt überhaupt nicht mehr den Bildern, die man uns zur Vorinformation gezeigt hat. Muss leider sagen, dass uns auf der letzten Anflugstrecke der Treibstoff knapp wurde, deshalb die holperige Landung.«
»War ganz annehmbar unter diesen Umständen.« Leonow wandte sich der Luftschleuse zu. »Sie da! Öffnen Sie die Luke, Tempo, Tempo! Die Bodentruppe wird sofort das Umfeld sichern!«
Offenbar versuchte sich der Admiral aufzusetzen. Robard klappte die Rückenlehne des Rollstuhls hoch und beugte sich gleich darauf hinunter, um die Kabel zu lösen, mit denen das Gefährt gesichert war. Während er noch damit beschäftigt war, gab der Admiral ein seltsames Kichern von sich.
»Was ist los, Sir?«
»He… Spuck-Sputnik, he!«
»Völlig richtig, Sir«, erwiderte Robard und richtete sich auf. In die enge Kapsel strömte frische Luft: Jemand hatte die Luftschleuse manuell mit dem Nothebel geöffnet, sodass beide Luken gleichzeitig aufgegangen waren. Es roch nach Regen, Kirschblüten, Gras und Schlamm.
Leutnant Kossov folgte der Bodentruppe in die Schleuse, tauchte jedoch noch einmal nach hinten ab: »Melde gehorsamst, dass die Bodentruppe das Umfeld gesichert hat. Kein Anzeichen von Einheimischen, Sir.«
»Ha, gut, Leutnant. Sie und Roboter können jetzt den Alten herunterbringen. Folgen Sie mir!« Hinter den letzten Offizieren – den Piloten und zwei Korvettenkapitänen, die Robard nicht kannte; es mussten wohl Angehörige des Admiralstabs oder der Kommandozentrale sein – betrat Leonow die Luftschleuse.
Stöhnend und schwitzend schafften Robard und Leutnant Kossov den Rollstuhl des Admirals über eine nicht sonderlich stabile Trittleiter aus Aluminium auf den Boden hinunter. Sobald Robards Füße Beton berührten, holte er tief Luft und blickte sich um. Eine der drei Landungsstützen sah seltsam aus, ein Stoßdämpfer war nicht richtig ausgefahren, sodass die Kapsel recht schief dastand. Robard erkannte sofort, dass mehr als eine Tankfüllung Treibstoff nötig sein würde, um sie wieder flugtauglich zu machen – ganz zu schweigen von einem Start in den Orbit. Gleich darauf erfasste er mit einem Blick, was jenseits des von Rost zerfressenen Betonfeldes geschehen war, und schnappte nach Luft.
Die Landebahn lag an der Peripherie des spärlich besiedelten Nordufers des Flusses, nicht einmal zwei Kilometer von den düsteren Mauern rings um die Garnison entfernt. Südlich des Flusses hätte sich eigentlich ein dichtes Straßengewirr mit spitzgiebeligen Häusern befinden müssen, und in der Ferne hätten sich Türme vor mehreren Verwaltungsgebäuden abzeichnen sollen. Doch jetzt waren fast alle Häuser verschwunden. Dort, wo früher das Rathaus gestanden hatte, ragten seltsame silberne Farne in den Himmel. Zwischen den zu Fraktalen geordneten Wedeln huschten Glühwürmchen hin und her. Der Herzogliche Palast war heftig in Mitleidenschaft gezogen. Eine Wand sah so aus, als wäre eine riesige Faust dagegen gekracht – eindeutig die anmaßende, Effekt heischende Tat schwerer Artillerie.
Der Admiral klopfte schwach auf die Armlehne seines Rollstuhls. »Also los!«
»Genau, Eure Lordschaft.« Robard sah sich noch einmal um und hielt Ausschau nach der Vorhut der Landungstruppe. Sie hatten es schon halbwegs zum Kontrollturm geschafft, da zischte etwas, das grellgrün leuchtete, über ihre Köpfe hinweg und ließ den Boden mit seinem Dröhnen erzittern.
»Feindliche Flugzeuge!«, brüllte Kossov. »Sieh an, die sind uns bis hierher gefolgt. Wir müssen den Admiral schnell in Sicherheit bringen!« Er stieß Robard zur Seite und packte die Griffe des Rollstuhls so hastig, dass er ihn fast umgeworfen hätte.
»Hören Sie mal!«, knurrte Robard, der sich darüber ärgerte, dass er von seinem angestammten Platz verdrängt wurde. Nachdem er besorgt einen Blick auf den Himmel geworfen hatte, beschloss er, die Sache auf sich beruhen zu lassen. Das Verhalten des Leutnants war zwar unverschämt, aber vorrangig ging es jetzt darum, den Admiral sofort zu einem sicheren Ort zu schaffen. »Hören Sie mal, da drüben ist ein Weg. Ich gehe voran. Falls wir den Turm erreichen können…«
»He, Sie da! Folgen Sie uns!«, rief Kossov Soldaten der Bodensicherung zu, ängstlichen und verwirrten Dienstpflichtigen, die – dankbar für jeden richtungsweisenden Befehl – sofort ihre Karabiner schulterten und hinterherliefen. Keuchend schob der Leutnant den Rollstuhl über den von Rissen durchzogenen Asphalt. Robard ging mit weit ausgreifenden Schritten neben ihm her, eine große, düstere Gestalt mit Leichenbittermiene, in die sich tiefe Sorgenfalten gegraben hatten. Es war ein warmer Morgen. Auf beiden Seiten des Weges wucherte das Unkraut bis zur Taillenhöhe, und auch sonst waren überall Spuren der Vernachlässigung zu erkennen. Die Landebahn sah so aus, als hätte man sie schon seit Jahren nicht mehr benutzt, obwohl seit der Invasion des Festivals erst ein Monat vergangen war. Ringsum summten und brummten Bienen und andere Insekten, während in der Ferne Vögel heftig schimpften oder tirilierten. Schon das zeigte, dass die Einheimischen ihr DDT-Programm – das Sprühen von Insektenvernichtungsmitteln – mittlerweile eingestellt hatten.
Ein fernes Rauschen brachte Robard dazu, einen Blick über die Schulter zu werfen. Etwas Grellgrünes, das die Vögel aufscheuchte, wirbelte unter der türkisfarbenen Himmelskuppel durch die Lüfte und schien gleich darauf im Schwebeflug zu erstarren. »Laufen Sie los!« Er stürzte vor und warf sich im Schatten junger Bäume zu Boden.
»Was?« Kossov blieb stehen und starrte in den Himmel, wobei sein Kiefer auf komische Weise herunterklappte. Das grüne Leuchten wurde beängstigend schnell greller und greller, ohne dass irgendein Geräusch zu hören war. Plötzlich explodierte der Himmel in smaragdgrünen Farbtönen, und es donnerte, als wäre eine riesige Tür zugeschlagen. Die Schallwelle drückte Robard ins Gras, doch gleich darauf hallte nur noch ein leichtes Dröhnen wie von einem Güterzug nach. Nachdem das Ding im Tiefflug über die Kapsel hinweggedonnert war, schlug es die Richtung zum anderen Ende der Stadt ein und verschwand schließlich am Horizont. Umschwärmt von wütenden, aufgescheuchten Bienen, rappelte sich Robard hoch, um sofort nach dem Admiral Ausschau zu halten.
Auch der Leutnant, den die Druckwelle umgeworfen hatte, setzte sich jetzt auf und barg den Kopf vorsichtig in den Händen. Vom Rollstuhl her, der stehen geblieben war, drang eine laute, wenn auch genuschelte Schimpfkanonade zu ihnen herüber. »Ihr Giftspritzer, ihr Schwanzlutscher, ihr Mist… Mistkerle!« Kurtz streckte den gesunden Arm hoch und schwenkte die zitterige Faust gegen den Himmel. »Ihr Revolutionäre sollt Scheiße fressen! – Aua!« Der Arm sank herunter.
»Alles in Ordnung, Sir?«, keuchte Robard besorgt.
»Das Mistvieh hat mich gestochen«, jammerte Kurtz und spuckte auf die Rückseite seiner Hand. »Verdammte Bienen.« Robard schlug mit seinen verdreckten Handschuhen auf die wütende Biene ein, die wie verrückt summte. »Es wird Ihnen bestimmt besser gehen, Sir, sobald wir Sie zum Kontrollturm und danach zum Schloss gebracht haben.« Als er die zerquetschte Biene kurz inspizierte, erstarrte er und bekam eine Gänsehaut: Rote Buchstaben waren gestochen scharf in ihren Unterleib geritzt und nur aufgrund des Schlages leicht verwischt. Vorsorglich wischte er seinen Handschuh auf dem Boden ab. »Wir machen besser, dass wir hier fortkommen, ehe die im Flieger zu der Ansicht gelangen, dass wir Feinde sind.«
»Übernehmen Sie«, sagte Kossov und presste sich ein mit rötlichen Flecken übersätes Taschentuch an die Stirn. »Also los.« Gemeinsam drehten sie sich um und schoben den Rollstuhl auf den Kontrollturm zu. Und auf das, was dahinter lag: der Herzogliche Palast (was er auch bergen mochte) und die Hauptstadt (oder das, was unter dem neuen Regime aus ihr geworden war).
Achtzig Kilometer entfernt landete eine weitere Rettungskapsel.
Rachel schüttelte sich erschöpft und schlug die Augen auf. Sie brauchte einen Moment, bis ihr bewusst wurde, wo sie sich befand. Der Wiedereintritt in die Atmosphäre war beängstigend unruhig verlaufen: Die Kapsel war so regelmäßig hin und her geschwungen, dass ihr übel geworden wäre, hätten die ihr implantierten Dämpfungsmechanismen nicht einiges abgefangen. Als sie hinter sich ein Stöhnen hörte, wandte sie den Blick zur Seite. Offenbar wachte Martin gerade auf. Während er den Kopf schüttelte, verzog sich sein Gesicht zu einer Reihe grässlicher Grimassen. Wassily, der hinter ihr lag, stöhnte erneut. »Oh, das war ja wirklich schrecklich.«
»Aber du lebst noch, oder?« Sie spähte zum Schirm hinüber, der größtenteils von schwarzen Schlieren überzogen war: Der Hitzeschild war bei Eintritt in die Atmosphäre geschmolzen und hatte Streifen auf den Außenkameras hinterlassen. Während sie unter dem großen Fallsegel weiter und weiter nach unten glitten, war der Horizont nur noch als flache blaue Linie zu sehen und der Boden halb von einem Wolkenschleier verborgen. Ein Höhenmesser zeigte tickend die letzten zweitausend Meter Abstieg an. »Sagt ja, falls ihr noch mit den Zehen wackeln könnt.«
»Ja«, erwiderte Martin, während Wassily nur stöhnte. Rachel machte sich nicht die Mühe, sich eingehender nach der Verfassung der beiden zu erkundigen, denn sie musste vor der Landung noch allzu viel erledigen. Da sie jetzt keinen Antrieb mehr hatten, konnte sich alles sehr schnell in einen großen Schlamassel verwandeln.
Pilot: Gib mir eine grafische Darstellung der Entfernung und des Kurses bis zum Treffpunkt Omega. Über den Bildschirm legte sich ein blinkendes Raster. Sie würden verblüffend nahe am Zielpunkt landen, nur einige Kilometer entfernt. Pilot: Liefere mir bitte alle Angaben zum Hilfsmotor. Es folgten weitere Grafiken und Karten zur Analyse und Selbstüberprüfung des kleinen Motors, den sie zur Landung einsetzen würden. Er war genau in der Mitte der Takelage zwischen dem quadratischen Fallschirm und dem Kapseldach befestigt. Ausgelöst durch Radar, würde die Turbine eine Minute vor Bodenberührung zünden, die Kapsel abbremsen, sie vor einem selbstmörderischen Absturz bei fünfzig Stundenkilometern bewahren und für eine weiche Landung sorgen.
»Ich könnte was zu trinken gebrauchen«, bemerkte Martin.
»Da wirst du dich noch ein, zwei Minuten gedulden müssen.« Rachel sah angespannt auf den Bildschirm. Noch tausend Meter.
»Ich kann meine Zehen nicht mehr spüren«, klagte Wassily.
O Scheiße! »Kannst du mit den Zehen wackeln?«, fragte Rachel, der das Herz plötzlich bis zum Hals schlug. Sie hatte ja nicht mit einem dritten Passagier gerechnet. Falls er sich beim Abstieg, den er in der Hängematte mitgemacht hatte, die Wirbelsäule verletzt hatte…
»Ja.«
»Warum, zum Teufel, hast du dann gesagt, du könntest sie nicht spüren?«
»Sie sind eiskalt!«
Rachel gähnte, um den Druck auf den Ohren loszuwerden. »Ich glaube, wir hatten gerade eine Dekompression. Du musst deine Zehen wohl auf der Entlüftung gehabt haben.« Der Außenraum war jetzt in bleichen Nebel getaucht. Nach weiteren zehn Sekunden verzog sich die zarte Wolke und gab den Blick auf Bäume und Flüsse frei. Der Boden rückte näher und näher; es war ein so Schwindel erregender Anblick, dass Rachel mit den Zähnen knirschte. Martin rutschte hin und her, um besser sehen zu können.
»Achtung: Das Landungsfloß bläst sich gleich auf.« Am Boden der Kapsel entrollte sich eine gelbe Pythonschlange und blähte sich so auf, dass sie Rachel den Blick auf den Boden unter ihnen nahm. Während sie angespannt nach einer Lichtung zwischen den Bäumen Ausschau hielt, fluchte sie lautlos vor sich hin. Der Baldachin des Waldes war ungewöhnlich dicht.
»Da drüben«, sagte Martin.
»Danke.« Mithilfe des Lenkungshebels dirigierte sie den Autopiloten zur Lichtung. »Pilot: Landung am vorgesehenen Ort vorbereiten. Automatische Landevorrichtungen bei Ankunft aktivieren.«
»Achtung: Hilfsmotor zündet in fünf Sekunden. Bodenberührung steht unmittelbar bevor. Noch drei Sekunden bis zur Zündung. Hauptschirm löst sich jetzt.«
Die Kapsel sackte plötzlich so ab, dass es einem den Magen umdrehen konnte. »Motor zündet jetzt.« Als von oben ein lautes Rumpeln zu hören war, wurde der Sturz der Kapsel abgebremst. Während die Lichtung näher und näher ins Blickfeld schlingerte, stieg das Rumpeln zu einem Dröhnen an, das die Kapsel erzittern ließ. »Achtung: Bodenberührung in zehn Sekunden. Für die Landung wappnen.«
Vor der gläsernen Kapsel teilten sich die Bäume. Sie hatten makellose grüne Stämme und trugen von purpurroten Adern durchzogene Blätter, die so groß wie Buchrücken waren. Martin schnappte nach Luft. Wie in einem gläsernen Fahrstuhl, der an der Seite eines – unsichtbaren – Wolkenkratzers zu Boden gleitet, sanken sie stetig weiter nach unten. Nach einem kurzen Aufprall, der so heftig ausfiel, dass ihnen die Zähne aufeinander schlugen, blieb die Kapsel schließlich liegen.
Schweigen im Walde.
»He, Leute.« Leicht mitgenommen löste Rachel ihren Sicherheitsgurt. »Danke, dass Sie sich für einen Flug mit UN-Air entschieden haben. Darf ich Sie bei dieser Gelegenheit einladen, bald wieder mit uns zu fliegen?«
Martin grunzte und streckte die Arme hoch. »Nein, komme von hier aus nicht heran, muss erst den Sicherheitsgurt lösen.« Er ließ die Arme wieder sinken. »Fühl mich bleischwer. Seltsam.«
»Acht Stunden bei null g, und du bist kuriert.« Rachel kramte in den Vorratskisten neben ihren Beinvertiefungen herum.
»Ich glaube, ich verstehe euch Terraner jetzt«, meldete sich Wassily zu Wort, brach aber gleich wieder ab, da er selbst merkte, wie seine Stimme zitterte. »Ihr seid alle verrückt«, fuhr er schließlich fort.
Martin warf Rachel einen schrägen Blick zu. »Und das merkt er jetzt erst!«
»Hat lange genug dazu gebraucht.« Rachel, die einen voll gestopften Rucksack umklammerte, setzte sich auf.
»Also gut, was machen wir jetzt? Nehmen wir einfach den großen Dosenöffner oder warten wir, bis jemand vorbeikommt und den Verschlussring aufzieht?«
»Als Erstes«, Rachel war eifrig damit beschäftigt, auf verschiedene Symbole am Steuerpult zu drücken, »teilen wir den Kritikern mit, dass wir sicher gelandet sind. Deren Vertreterin hat uns ihre Hilfe dabei versprochen, die Verbindung zu ihnen herzustellen. Und als Zweites mache ich das hier.« Sie griff nach dem oberen Rand des Schirms, der sich wie dünner Kunststoff zusammenfalten ließ und dabei den Blick auf die innere Kapselwand freigab. Ins Schott war ein großer Schiffskoffer eingelassen, aus dessen halb geöffnetem Deckel sich ein Wirrwarr von Leitungen und Kabeln schlängelte.
»Ich wusste es!«, verkündete Wassily laut. »Sie haben illegale…«
»Halt die Klappe.« Rachel beugte sich vor und hantierte mit irgendetwas herum, das sich unmittelbar unter dem Kofferdeckel befand. »Also, los geht’s! Beeilt euch!« Sie stand auf, sperrte die Dachluke auf und ließ sie in die Kapsel hinuntergleiten, wo sie den Platz des früheren Schirms einnahm. »Hilf mir hoch, Martin.«
»Okay.« Eine Minute später saßen alle drei auf dem Landungsfloß. Der Kegelstumpf der früheren Rettungskapsel ruhte, umgeben von dicken gelben Gummischläuchen, mitten auf einer Wiese. Links von ihnen rann ein träger Bach durch dichtes Schilf, rechts standen seltsame dunkle Nadelbäume so nah beieinander, dass kein Licht hindurchdrang. Die kalte frische Luft roch unerträglich sauber. »Und was nun?«, fragte Martin.
»Ich rate Ihnen, sich den Behörden zu stellen.« Wassily baute sich über Martin auf. »Falls Sie nicht kooperieren, wird es ein böses Ende für Sie nehmen. Aber wenn Sie sich mir an Ort und Stelle überantworten, werde ich… werde ich…« Er wusste nicht, wo er seine Augen lassen sollte.
Rachel schnaubte. »Welchen Behörden?«
»Denen der Hauptstadt.«
Das brachte bei Rachel das Fass zum Überlaufen. »Hör zu, Junge, wir hängen hier am Arsch der Welt fest, und zwar in einer Rettungskapsel, deren Energie erschöpft ist. Wir haben kaum noch Vorräte. Der Planet, auf dem wir gelandet sind, hat gerade eine Singularität dritten Grades erlebt. Und ich selbst habe die letzten sechsunddreißig Stunden damit verbracht, mein Letztes dafür zu geben, unsere Ärsche zu retten. Und ich meine den Arsch von jedem hier, deinen eingeschlossen. Ich wäre dir wirklich überaus dankbar, wenn du einfach nur eine Weile die Klappe halten würdest! Unsere erste Priorität ist jetzt das Überleben. Und gleich danach kommt für mich das Ziel, Verbindung mit den Leuten aufzunehmen, die ich hier besuchen will. Das dritte Ziel besteht darin, in die Zivilisation zurückzukehren. Kannst du mir so weit folgen? Deine Behörden gibt es nämlich nicht mehr, jedenfalls nicht solche, wie du sie dir vorstellst. Die sind gerade durch rund tausend Jahre Fortschritt, die in nicht mal dreißig Tagen auf sie eingestürmt sind, entmachtet worden. Und falls dein Kurator vor Ort immer noch an seinem Schreibtisch sitzt, hat ihn der Zukunftsschock vermutlich in Katatonie versetzt. Die Zivilisation dieses Planeten ist in ein völlig neues Stadium eingetreten. Die Kolonie existiert nicht mehr, sie war einmal. Und so ziemlich die Einzigen, die mit diesen großen Veränderungen umgehen können, sind die Leute, die ihr als Dissidenten bezeichnet. Und selbst was diese Menschen betrifft, bin ich nicht sonderlich optimistisch. Derzeit sind wir hier diejenigen, auf die du noch am ehesten setzen kannst, wenn du überleben willst. Vergiss das bloß nicht!« Sie warf Wassily einen finsteren Blick zu, den er sofort erwiderte. Er war offensichtlich wütend, aber nicht fähig, seinem Ärger Luft zu machen.
Martin, dem Rachel den Rücken zuwandte, war mittlerweile zur Wiese hinuntergestiegen. Jetzt bückte er sich, irgendetwas hatte seine Aufmerksamkeit erregt. »He!«
»Was ist los?«, rief Rachel. Damit war der Bann gebrochen: Wassily zog sich murrend zurück, um nach einer Ausstiegsmöglichkeit zu suchen. Martin sagte irgendetwas, das Rachel nicht verstehen konnte. »Was?«, brüllte sie.
»Irgendetwas an diesem Gras ist merkwürdig!«
»O Scheiße.« Rachel folgte Wassily über den seitlichen Abstieg; zweieinhalb Meter glitt sie an der sanft geneigten Kapsel hinunter, bis sie weich auf einem Bett aus feinem Spinngewebe landete. »Was meinst du damit?«
Martin richtete sich auf und reichte ihr wortlos einen Grashalm.
»Das ist ja…«
»Rochards Welt hat doch angeblich eine erdähnliche Biosphäre, stimmt’s?« Martin warf ihr einen forschenden Blick zu. »So stand es jedenfalls in meinem Lexikon.«
»Was ist das denn!«, fragte Wassily.
»Gras oder was man dafür halten könnte.« Unangenehm berührt zuckte Martin die Achseln. »Sieht mir nicht sonderlich erdähnlich aus. Hat zwar die richtige Farbe und, insgesamt betrachtet, auch die richtige Form, aber…«
»Autsch! Hab mich an dem verdammten Ding geschnitten.« Rachel ließ den Grashalm fallen, der nach unten flatterte, ohne dass sie ihn weiter beachteten. Als er auf dem Boden auftraf, löste er sich mit unheimlicher Geschwindigkeit auf, wobei er entlang der strahlenförmigen Adern zerriss. »Was ist mit den Bäumen?«
»Auch die haben etwas Seltsames.« Ein Knacken in seinem Rücken ließ Martin zusammenfahren. »Was ist das?«
»Kein Grund zur Sorge. Ich dachte mir, wir würden hier unten irgendein Transportmittel brauchen, deshalb habe ich die Produktion angeordnet. Das Ding verleibt sich gerade die Raumkapsel ein.«
»Tolle Ausrüstung«, stellte Martin bewundernd fest. Die Restkapsel, aus der ein warmer organischer Geruch wie nach frischem Brot drang, faltete sich nach innen zusammen.
»Tja.« Rachel wirkte beunruhigt. »Meine Kontaktperson müsste eigentlich wissen, dass wir hier sind. Ich frage mich, wie lange es…« Sie brachte den Satz nicht zu Ende, denn Wassily stapfte gerade zielstrebig zum anderen Ende der Lichtung hinüber, wobei er irgendetwas pfiff, das nach Militärmarsch klang.
»Wer ist diese Kontaktperson denn überhaupt?«, fragte Martin leise.
»Ein Mann namens Rubenstein. Zählt zu den vernünftigeren Kadern des Widerstands, deshalb ist er auch hier gelandet, im inneren Exil. Diejenigen, die weniger Vernunft bewiesen haben, sind alle tot.«
»Und was willst du von ihm?«
»Ich soll ein Paket bei ihm abgeben. Nicht, dass er es – nach dem zu urteilen, was hier geschehen ist – überhaupt noch brauchte.«
»Ein Paket? Was für ein Paket?«
Sie wandte sich um und deutete auf den Schiffskoffer, der inzwischen inmitten eines zusammenfallenden Haufens von Stützverstrebungen auf der Wiese lag und still vor sich hin dampfte. »Diese Art Paket.«
»Diese Art…« Martins Augen verrieten, was ihm durch den Kopf ging. Rachel griff nach seinem Ellbogen.
»Komm schon, Martin. Wir untersuchen den Waldrand.«
»Aber…« Er warf einen Blick über die Schulter. »Nun gut.«
»Dahinter steckt Folgendes«, begann Rachel, während sie sich auf den Weg machten. »Weißt du noch, was ich über Hilfe für die Menschen in der Neuen Republik gesagt habe? Es ist schon eine Weile her – sogar schon einige Jahre –, da kamen bestimmte Leute einer Abteilung, über die du eigentlich nichts Näheres wissen musst, zu dem Schluss, die Neue Republik sei reif für eine Revolution. Normalerweise mischen wir uns in solche Dinge nicht ein. Regime mittels äußerer Hilfe zu entmachten ist eine faule Sache, selbst wenn man sie ablehnt oder aus stichhaltigen moralischen Gründen handelt. Doch einige unserer Analysten meinten, eine Wahrscheinlichkeit von etwa zwanzig Prozent spreche dafür, dass die Neue Republik bösartige Proselyten machen und sich in eine imperialistische Macht verwandeln werde. Also haben wir uns beeilt, die libertäre Untergrundbewegung, die sich dort eigenständig entwickelt hat, mit wirkungsvollen Instrumenten auszurüsten. Das geht schon zehn Jahre so.
Was das Festival betrifft… Als es auftauchte, ahnten wir noch gar nicht, was es darstellt. Hätte ich damals schon gewusst, was ich unterwegs, in Klamowka, von dir erfahren habe, wäre ich jetzt nicht hier. Ebenso wenig wie diese Ausrüstung, die eigentlich den ganzen Zweck der Übung ausmachte. Als die Aristokratie vor rund zweihundertundvierzig Jahren den letzten Arbeiter- und Techniker-Sowjet entmachtete, vernichtete sie auch die Letzten der Füllhörner, mit denen das Eschaton die Neue Republik bei ihrer Gründung bedacht hatte. Danach konnte die Aristokratie ihre Herrschaft über die Arbeiterklasse dadurch sichern, dass sie den Zugang zu Bildung und Technik drastisch einschränkte und die Informationstechnologie eng definierten Zwecken und Gruppen vorbehielt. Das Gepäck, das ich mitführe, besteht aus einem voll funktionsfähigen Füllhorn, Martin. Es enthält Baupläne für nahezu alles, was sich eine postindustrielle Zivilisation Mitte des einundzwanzigsten Jahrhunderts nur vorstellen konnte – von gefriergetrockneten Kopien der amerikanischen Library of Congress, der Bundesbibliothek, bis zu allen möglichen Dingen der ausgefallenen Art. Außerdem kann sich das Gerät auch selbst replizieren.«
Als der Waldrand nur noch wenige Meter entfernt war, blieb Rachel stehen und holte tief Luft. »Man hat mich hierher geschickt, um das Füllhorn dem Untergrund zu übergeben, Martin. Man hat mich hierher geschickt, damit ich den Rebellen die Mittel in die Hand gebe, Revolution zu machen.«
»Revolution zu machen…« Martin starrte sie an. »Aber du kommst zu spät.«
»Genau.« Sie ließ ihm einen Augenblick Zeit, die volle Tragweite des Gesagten zu erfassen. »Natürlich kann ich meine Mission immer noch zu Ende bringen – für den Fall der Fälle –, aber eigentlich glaube ich nicht, dass…«
Er schüttelte den Kopf. »Und wie sollen wir aus diesem Schlamassel herauskommen?«
»Hm, gute Frage.« Sie drehte sich zu der schmelzenden Raumkapsel um, griff in irgendeine Tasche und zog einige übrig gebliebene Spionageroboter hervor. Derweil umkreiste Wassily ziellos die Lichtung. »Normalerweise würde ich mich einfach in der alten Stadt niederlassen und abwarten. In sechs Monaten wird ein Handelsschiff vorbeikommen. Aber angesichts des Festivals…«
»Es werden Schiffe auftauchen«, sagte Martin im Grundton der Überzeugung. »Und du verfügst über ein Füllhorn, eine komplette mobile Anlage zur Produktion militärischer und industrieller Güter. Wenn diese Anlage eine Rettungskapsel für uns basteln konnte, schaffe ich es bestimmt auch, das Ding so zu programmieren, dass es alles herstellt, was wir zum Überleben brauchen. Bis wir die Chance haben, aus diesem gottverlassenen Loch zu entkommen. Meinst du nicht?«
»Wahrscheinlich hast du Recht.« Sie zuckte die Achseln. »Aber zuerst mal sollte ich wirklich den Kontakt herstellen, und wenn es nur zur Bestätigung dient, dass sich die Übergabe des Füllhorns erübrigt hat.« Sie schlug den Rückweg zum Landungsfloß ein. »Dieser Rubenstein soll für einen Revolutionär ein recht nüchterner Denker sein. Wahrscheinlich wird er wissen, was…« In der Ferne war ein Knacken wie von brechenden Zweigen zu hören. Von der anderen Seite der Lichtung aus rannte Wassily auf die Ausrüstung zu. »Scheiße!« Rachel zog Martin zu Boden und kramte in der Tasche nach ihrem Betäubungsgewehr.
»Was ist los?«, flüsterte er.
»Weiß ich auch nicht.«
»Verdammt noch mal, sieht ganz so aus, als hätten sie uns gefunden, wer sie auch sein mögen. Jedenfalls war’s schön mit dir.« Ein großes buckliges Geschöpf mit zwei riesigen, monströsen Füßen torkelte auf die Lichtung zu und sperrte dabei ein Maul von der Größe einer Haustür auf.
»Warte.« Rachel drückte ihn mit einer Hand zu Boden. »Nicht bewegen! Es ist wie ein verdammter Panzer ausgestattet, hat überall Sensoren.«
Das Ding schwenkte auf das Landungsfloß zu, um sich gleich darauf niederzuhocken und eine lange, flache Zunge zu entrollen. Etwas Großes tauchte darauf auf und benutzte die Zunge als Leiter zur Wiese. Den Kopf hin und her schwenkend, nahm es alles ringsum auf: die sich auflösende Raumkapsel, Wassily, der sich dahinter versteckte, und den Rest der Lichtung. Gleich darauf rief es mit verblüffend tiefer Stimme: »Hallo? Wir gekommen nicht in Kriegsabsicht. Ist hier eine Rachel Mansour?«
Also los. Sie stand auf und räusperte sich. »Wer will das wissen?«
Die Kritikerin grinste sie an und bleckte dabei beängstigend lange Fangzähne. »Bin Siebente Schwester. Ihr kommt gerade rechtzeitig! Haben Krise!«
Gegen Abend versammelten sich Menschen vor dem Herzoglichen Palast. Sie kamen einzeln oder zu zweit und scharten sich um die verrußten Außenmauern. Sie wirkten so, als hätte der Gang der Ereignisse sie verstört, sahen ansonsten aber nicht viel anders aus als die anderen Bürger der Neuen Republik. Vielleicht ein bisschen ärmer und ein wenig stumpfer als die meisten.
Robard, der im Hof stand, beobachtete sie durch die Tore. Dort waren zwei der überlebenden Rekruten postiert, die ihre Waffen gezückt hatten – Überbleibsel einer früheren Staatsmacht. Irgendjemand hatte eine Fahne aufgetrieben, die an einem Rand zwar angekohlt, aber noch zu nutzen war. Etwa eine Stunde, nachdem sie die Fahne gehisst hatten, die jetzt stolz im leichten Wind flatterte, waren die Menschen nach und nach zusammengeströmt. Die Fenster mochten zerbrochen und die Möbel zertrümmert sein, aber sie waren immer noch Soldaten Seiner Kaiserlichen Majestät, und es gab, bei Gott und dem Kaiser, immer noch gewisse Normen, an denen man sich ausrichten würde – jedenfalls hatte das der Admiral verkündet, und daran hielten sie sich.
Robard holte tief Luft. Das sollte ein Insektenstich gewesen sein? Wahrhaftig ein äußerst verdächtiges Insekt! Aber seitdem der Admiral gestochen worden war, hatte sich sein Zustand auffällig verbessert. Zwar hing seine linke Wange immer noch schlaff herunter, und die Finger waren nach wie vor taub, aber sein Arm…
In der Mittagshitze hatten Robard und Leutnant Kossov ihren alten Herrn und Meister fluchend und schwitzend zum Kontrollturm geschafft. Als sie dort angekommen waren, hatte Kurtz einen Anfall erlitten und sich cholerisch – keuchend und nach Luft schnappend – im Rollstuhl herumgeworfen. Robard hatte schon das Schlimmste befürchtet, da war Dr. Hertz gekommen und hatte dem Alten eine gewaltige Dosis Adrenalin gespritzt. Wie ein Hund hechelnd, war der Admiral in seinen Stuhl zurückgesunken. Gleich darauf hatte sich sein linkes Auge geöffnet, zur Seite gewandt und Robard mit einem schrägen Blick fixiert.
»Was möchten Sie, Sir? Kann ich irgendetwas für Sie tun?«, hatte Robard gefragt.
»Warten Sie«, hatte der Admiral gezischt und sich sichtlich angespannt. »Mir isso heiß. Aber seh allesso deutlich.« Beide Hände hatten sich bewegt und die Lehnen des Rollstuhls umklammert. Und dann war der Alte zu Robards Bestürzung aufgestanden. »Mein Kaiser! Ich kann wieder gehen!«
Unmöglich, die Gefühle zu beschreiben, die Robard dabei empfand. Vor allem war er fassungslos, aber er war auch stolz auf den Admiral. Eigentlich hätte der Alte dazu doch gar nicht in der Lage sein dürfen, schließlich war er in Folge des Schlaganfalls halbseitig gelähmt. Solche Schäden, hatte der Arzt gesagt, seien nie wieder zu beheben. Und dennoch hatte sich Kurtz aus seinem Rollstuhl hochgerappelt und einen unsicheren Schritt nach vorn getan…
Danach hatten sich die Ereignisse derart überstürzt, dass Robard sich nur noch nebelhaft an den Weg vom Kontrollturm zum Schloss erinnern konnte: Sie hatten irgendein Fahrzeug beschlagnahmt und waren damit durch die weitgehend verlassene Stadt geholpert. Die eine Hälfte der Häuser war zu Schutt und Asche niedergebrannt, die andere hatte bizarre Blüten getrieben. Das Schloss war verwaist. Bring den Admiral als Erstes ins Schlafzimmer des Herzogs, hatte er sich gesagt. Dann such die Küche und sieh nach, ob du in den riesigen Speisekammern im Keller etwas Essbares auftreiben kannst. Irgendjemand hisst eine Fahne. Wachsoldaten am Tor. Zwei schüchterne Dienstmädchen huschen wie kleine Labormäuse aus ihrem Versteck und treten knicksend wieder zum Dienst an, den sie doch längst aufgekündigt hatten. Eine Einzelheit, die ihm beim Aufräumen auffällt: Irgendjemand hat die zertrümmerten Möbel skrupellos auf den Stapel mit Feuerholz geworfen, der für den Kamin im Großen Ballsaal vorgesehen ist. Hinter den hohen Fenstern, die zersprungen sind, Sicherheitsgardinen aus Stahlnetz. Am Tor Wachsoldaten, mit Gewehren bewaffnet. Man muss die Wasserleitungen überprüfen. Weitere uniformierte Soldaten, die in der staubigen Hitze des Nachmittags vorrücken. So vieles zu erledigen – und alles gleichzeitig.
Er hatte sich eine Minute davongestohlen, um in das Büro des BÜRGERS von Beck einzubrechen. Keiner der revolutionären Kader war so weit ins Schloss vorgedrungen, zumindest hatte keiner die Verteidigung des Kuratorenbüros überlebt, denn die Gerätschaften des Kurators lagen alle noch griffbereit da.
Er blieb kurz stehen, um den Kausalkanal zu überprüfen, der Notsituationen vorbehalten war: Dessen Energiereserven waren völlig erschöpft, obwohl der Bandbreitenmonitor noch mehr als fünfzig Prozent freier Kapazität anzeigte. Nachdem sich seine schlimmsten Befürchtungen bestätigt hatten, bediente er sich unbekümmert der Insektizide, die von Beck gehortet hatte. Er sprühte sich damit ein, bis ein Blauschleier in der Luft ihm den Atem nahm. Gleich darauf griff er nach einem kleinen Gegenstand, auf dessen Besitz, sofern man nicht dem Kuratorenbüro angehörte, die Todesstrafe stand. Danach verließ er das Zimmer, sperrte hinter sich ab und widmete sich wieder den Aufgaben, die er als Diener des Admirals zu erfüllen hatte.
Währenddessen war die orientierungslose Schar vor dem Herzoglichen Palast zu einer großen Menge angewachsen. Ängstliche, bedrückte Gesichter starrten ihn an: die Gesichter von Menschen, die, ihres Platzes in der überlieferten Ordnung beraubt, nicht mehr wussten, wer sie eigentlich waren. Es waren verwirrte Menschen, die verzweifelt nach irgendeiner Form von Sicherheit suchten. Zweifellos waren viele darunter, die sich ursprünglich den Dissidenten im Untergrund angeschlossen hatten. Viele andere mochten die einzigartigen Bedingungen seit der Ankunft des Festivals dazu genutzt haben, ihre persönlichen Fähigkeiten bis ins Maßlose zu steigern. Selbst wenn das Festival morgen verschwinden sollte, würde dieser vormals rückständige Planet noch auf Jahre hinaus von Dämonen, Zauberern, sprechenden Tieren und weisen Frauen bevölkert sein.
Allerdings hatten sich manche dagegen gewehrt, die menschliche Existenz zugunsten erweiterter Fähigkeiten und Möglichkeiten aufzugeben. Was sie erstrebten, war ein Leben, in dem alles den gewohnten, sicheren Gang nimmt. Und genau dieses Leben hatte ihnen das Festival genommen.
War das ein Armeemantel, der hinten auf dem Platz hervorlugte? Sein Träger war ein bleicher, halb verhungerter Mann, den Robard unter anderen Umständen für einen Straßenräuber gehalten hätte. Doch in dieser Situation war es ebenso gut möglich, dass er das letzte loyale Relikt eines Regiments darstellte, das massenweise desertiert war. Vorschnelle Urteile waren hier fehl am Platz.
Als Robard den Blick in die Ferne wandte, fiel ihm auf, dass einige hundert Meter weiter Staub aufwirbelte. Hm.
Die große Eingangshalle führte bis zu der Haupttreppe, dem Ballsaal und mehreren kleineren, intimeren Zimmern. Normalerweise hätte ein Diener wie Robard den kleinen Seiteneingang genommen, doch heute schritt er durch die riesigen Türen, die sonst dem Empfang von ausländischen Botschaftern und Edelleuten des Reiches vorbehalten waren. Niemand bemerkte, wie er mit staubigen Schuhen den Raum durchquerte und Schmutz auf den zersprungenen Fliesen hinterließ, während über seinem Kopf der zerschlagene Kronleuchter wackelte. Ohne irgendwo stehen zu bleiben, steuerte er den Eingang zur Sternenkammer an.
»… und die andere Lammkeule. – Verdammt noch mal, können Sie nicht anklopfen, Mann?!«
Robard blieb im Eingang stehen. Der Admiral, der am Schreibtisch des Gouverneurs saß, war gerade damit beschäftigt, sich an einer kalten Platte gütlich zu tun – an einer tatsächlich überaus kalten Platte mit gut gekühltem Büchsenfleisch und eingelegten Gürkchen, sämtliche Vorräte, die Robard im Keller aufgestöbert hatte. Kommandeur Leonow und zwei Stabsoffiziere standen in militärischer Haltung neben ihm.
»Die revolutionären Truppen sind im Anmarsch, Sir. Uns bleiben rund fünf Minuten zu entscheiden, ob wir kämpfen oder verhandeln wollen. Darf ich vorschlagen, dass Sie Ihre Mahlzeit später fortsetzen, wenn wir uns mit den Truppen befasst haben?«
»Sie dahergelaufener Kerl!«, fuhr Leonow ihn an. »Wie können Sie es wagen, hier einfach so hereinzuschneien und den Admiral zu stören? Raus!«
Robard streckte die linke Hand hoch und drehte sie so, dass die Karte, die er hielt, zu erkennen war. »Kommt Ihnen das bekannt vor?«
Leonow wurde blass. »Ich… ich…«
»Ich hab keine Zeit für irgendwelche Mätzchen«, sagte Robard kurz angebunden. Und zum Admiral gewandt: »Also, Eure Lordschaft?«
Kurtz starrte ihn mit zusammengekniffenen Augen an. »Wie lange geht das schon?«
Robard zuckte die Achseln. »So lange, wie ich in Ihren Diensten stehe, Eure Lordschaft. Zu Ihrem eigenen Schutz. -Wie ich schon sagte, rückt vom Südufer her eine Menschenmasse zu uns vor. Sie überqueren gerade die alte Brücke. Wir haben etwa fünf Minuten zu entscheiden, was wir unternehmen wollen. Allerdings bezweifle ich, dass wir uns Freunde machen, wenn wir das Feuer eröffnen.«
Kurtz nickte. »Dann werde ich mit ihnen verhandeln.«
Jetzt war es an Robard, sein Gegenüber ungläubig anzustarren. »Ich glaube, Sie wären besser in einem Rollstuhl aufgehoben, Sir, und sollten sich nicht mit den Revolutionären herumstreiten. Sind Sie wirklich sicher, dass…«
»Hab mich seit… oh, seit mindestens acht Jahren nicht mehr so gut gefühlt, junger Mann. Die Bienen hier haben verdammt seltsame Stacheln.«
»Ja, das kann man wohl sagen, Sir. Ich nehme an, man hat Ihnen damit ein Angebot zur gütlichen Einigung machen wollen. Offenbar hat das Festival Zugang zu den vielfältigsten Anwendungen von Molekularbiologie, weit über das hinaus, was in ihrem Hirn Wunder gewirkt hat. Wenn die wollten…«
Kurtz hob abwehrend die Hand. »Ist mir durchaus klar. Aber wir sind denen sowieso auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Ich werde zu den Leuten hinuntergehen und mit ihnen reden. Gab es in der Menge auch alte Menschen?«
»Nein.« Robard war einen Moment lang irritiert. »Keine, soweit ich sehen konnte. Glauben Sie denn, dass…«
»Ein Mittel gegen das Altern wünschen sich viele«, bemerkte Kurtz. »Die verflixten Schürzenjäger lassen sich lieber von einem eifersüchtigen Ehemann erschießen als von einer gelangweilten Krankenschwester umsorgen, die ihnen die Bettpfanne leert. Falls das Festival ihnen Wünsche erfüllt hat, wie es unser Geheimdienst formulierte…« Er stand auf. »Holen Sie mir meine Ausgehuniform, Rob… äh… ja, Sie, Kossov. Ab sofort sind Sie mein Leibbursche, denn Robard nimmt ja einen höheren Rang als Sie alle ein. – Und meine Ehrenabzeichen!«
Leonow war immer noch leichenblass und völlig mitgenommen. »Ist schon in Ordnung«, sagte Robard mit düsterer Stimme. »Normalerweise lasse ich Leute, die mir gegenüber unhöflich sind, nicht gleich hinrichten.«
»Sir! Äh… ja, Sir! Ähm, wenn ich etwas fragen dürfte…«
»Fragen Sie ruhig.«
»Seit wann muss sich ein Oberaufseher des Kuratorenbüros als Diener tarnen?«
»Seit…«, Robard zog seine Taschenuhr heraus und musterte sie kurz, »… seit etwa sieben Jahren und sechs Monaten, auf Ersuchen des Erzherzogs. Das ist wirklich so gewesen. Einen Diener bemerkt nämlich niemand, wissen Sie. Und Seine Exzellenz…« Beladen mit der Ausgehuniform und den Ehrenzeichen des Admirals, kehrte Kossov zurück. Während sich der Admiral ankleidete, begleitete Leonow Robard bis zum Treppenabsatz.
»Und Seine Exzellenz gehört nicht unmittelbar zur königlichen Familie. Wenn Sie verstehen, was ich damit sagen will.« Leonow verstand. Die Tatsache, dass er tief Luft holte, und die Stress-Diagnostiker, die in Robards Gehör implantiert waren, verrieten dem Chefkurator alles, was er wissen musste. »Nein, Seine Majestät hat keineswegs mit einem Putsch gerechnet, die Loyalität des Admirals ist über jeden Zweifel erhaben. Aber sein persönliches Charisma, sein Ruhm als Held der Republik und seine große Popularität ließen es ratsam erscheinen, seiner persönlichen Sicherheit besonderes Gewicht zuzumessen. Wir können ihn hier gut brauchen.«
»Oh.« Leonow dachte ein Weilchen nach. »Und die Revolutionäre?«
»Wenn er ihnen einen Schlag versetzt, werden sie auseinander fallen«, sagte Robard nachdrücklich. »Ihre stärksten Vorkämpfer sind längst geflohen; das bringt eine Singularität nun mal mit sich. Falls sie nicht klein beigeben«, er klopfte auf seine Tasche, »bin ich ermächtigt, außerordentliche Maßnahmen zur Verteidigung der Republik zu ergreifen. Und das schließt auch den Einsatz geächteter Technologien ein.«
Leonow tupfte sich mit einem Taschentuch über die Stirn. »Dann ist ja alles ausgestanden. Sie werden den Widerstand der Revolutionäre entweder gewaltsam oder durch politische Mittel brechen, Seine Exzellenz zum Gouverneur auf Zeit ernennen, und in sechs Monaten wird bis auf das Geschwätz alles vorüber sein.«
»Das würde ich nicht sagen. Selbst wenn die Frau von der Erde mit ihrer Einschätzung des Festivals richtig liegen sollte, haben wir hier doch zwei Drittel unserer Bevölkerung verloren. Und ich glaube, es stimmt, was sie sagt: An einer Eroberung des Planeten in dem Sinne, wie wir es verstehen, war und ist das Festival gar nicht interessiert. Und das heißt, dass diese ganze Expedition ein ungeheuer kostspieliger Fehler war. Aber das bösartige Bandbreitenvirus, mit dem das Festival den Planeten infiziert hat, werden wir nicht mehr los. Vielleicht müssen wir die Kolonie ganz aufgeben oder zumindest unter Quarantäne stellen. In dieser Hinsicht haben die Revolutionäre tatsächlich gewonnen, denn der Dschinn ist jetzt aus der Flasche. All das, wofür unsere Vorfahren gekämpft haben, liegt in Scherben oder ist in alle Winde zerstreut! Die Bienen übertragen das Virus ewiger Jugend, und die Straßen sind mit Gold gepflastert. Das macht all unsere Werte zunichte!« Es ärgerte ihn selbst, dass er sich so in Rage geredet hatte, deshalb schwieg er kurz und holte tief Luft. »Natürlich können wir in den ländlichen Gebieten nach Lust und Laune Säuberungen durchführen, falls es uns gelingt, die revolutionären Kader in Nowyj Petrograd zurückzuschlagen…«
Die Tür der Sternenkammer öffnete sich und gab den Blick auf Admiral Kurtz frei, der in voller Pracht dastand. Er trug eine von Goldtressen gesäumte karmesinrote Schärpe, und auf seiner Brust prangten die Ehrenzeichen, wie es sein Rang gebot. Jetzt sah er nicht mehr zwanzig Jahre älter, sondern zehn Jahre jünger aus, als er tatsächlich war. Der weißhaarige Aristokrat wirkte wie der Inbegriff eines vornehmen Diktators, der auf beruhigende Weise Autorität ausstrahlt. »Also gut, meine Herren. Sollen wir uns zur Inspektion begeben?« Zwar machte er keine großen Schritte – daran hinderten ihn die ausgezehrten Beinmuskeln –, aber er ging ohne jede fremde Hilfe.
»Das halte ich für eine sehr gute Idee«, erwiderte Robard.
»Allerdings.« Leonow und der Chefkurator folgten dem Admiral im Gleichschritt, als er auf die Freitreppe zuging.
»Die Sonne geht über Anarchie und Chaos unter, meine Herren. Hoffen wir nur, dass ich die richtigen Worte finde, denn dann wird das Morgen wieder uns gehören.« Gemeinsam traten sie in den Hof, um zu den verlorenen Schafen zu sprechen, die, ohne es zu wissen, bereits zur Herde zurückgekehrt waren.
Eine bernsteinfarbene Träne, so groß wie eine Kutsche, hing am Rande eines Hügels, der von ausgedörrten Baumgerippen übersät war. Von Asche und einer feinen Rußschicht überzogene Telegrafenmasten ragten in den Himmel. Unter den Stiefeln von Burija Rubenstein, der einem Kaninchen von menschlicher Größe folgte, knirschten winzige Skelette.
»Herr hier drinnen«, erklärte Mr Rabbit und deutete auf die merkwürdig geformte Erhebung.
Die Hände auf dem Rücken verschränkt, trat Rubenstein vorsichtig näher. Ja, es war eindeutig Bernstein – oder etwas, das sehr ähnlich aussah. Die äußeren Schichten umschlossen viele Fliegen und Blasen, während das Innere in Dunkel gehüllt war. »Das ist ein Klumpen aus dem Stoff versteinerter Pflanzen. Dein Herr ist tot, Kaninchen. Warum hast du mich hierher geführt?«
Das Kaninchen war wie vor den Kopf geschlagen. Seine langen Ohren klappten nach hinten und legten sich flach an den Schädel. »Herr ist hier drinnen.« Es trat von einem Bein aufs andere. »Als Possenreißer angreifen, ruft Herr nach Hilfe.«
Burija beschloss, das aufgeregte Geschöpf zu beschwichtigen. »Verstehe…« Er hielt inne. Da war tatsächlich etwas in dem Geröllblock, etwas Geheimnisvolles, das nicht genau zu erkennen war. Und ebenso merkwürdig war, dass die Bäume ringsum abgestorben waren, von innen heraus durch eine schreckliche Energie verzehrt.
Die Revolutionsgardisten, durch den Lysenko-Wald sowieso schon verschreckt, hatten sich geweigert, diese Todeszone zu betreten. Sie liefen unterhalb des Hügels herum, debattierten über die ideologische Notwendigkeit, die nicht-menschlichen Arten in den Stand der Weisheit zu erheben – einer hatte sich gerade heftig gegen den Vorschlag gewehrt, Katzen die Sprachfähigkeit und das Recht auf Widerspruch zu verleihen –, und verglichen ihre Implantate miteinander. Ihre Extraausstattungen hatten von Tag zu Tag bizarrere Formen angenommen.
Als Burija näher hinsah, merkte er, wie sein Blick verschwamm und sich verdoppelte, denn die Würmer des Ausschusses für Staatliche Kommunikation gaben ihm ihre eigene Sicht der Dinge ein. Es befand sich tatsächlich etwas in dem Geröllblock. Und dieses Etwas beschäftigte sich mit noch längst nicht ausgereiften Ideen, die so heftig am zellularen Kommunikationsnetz des Festivals zerrten wie ein Kleinkind am Rockzipfel seiner Mutter.
Er holte tief Luft und lehnte sich gegen den Block, der wie Bernstein aussah und doch kein Bernstein war. »Wer bist du?«, fragte er lautlos und spürte dabei die glatte warme Oberfläche unter seinen Händen. Die Antennen unter seiner Haut strahlten Informationen in die gebündelte Substanz aus, die in kalten Wellen durch den Wald flutete, und warteten auf Antwort.
»Ich-Identität: Felix. Deine???«
»Kommen Sie mit erhobenen Händen heraus und bereiten Sie sich darauf vor, Ihr Schicksal der Avantgarde der Revolutionsjustiz zu überantworten!« Burija schluckte. Eigentlich hatte er etwas ganz anderes sagen wollen, etwa: »Können Sie herauskommen, damit wir miteinander reden?« Doch seine revolutionären Implantate umfassten offenbar auch ein semiotisches Umwandlungssystem. Und dieses neue, im Cyberspace angesiedelte Medium übersetzte alles, was er sagte, in die Phraseologie des Zentralkomitees. Erbost über die innere Zensur, beschloss er, sich beim nächsten Mal darüber hinwegzusetzen.
»Schlimm verletzt. Keine Verbindung zur früheren Inkarnation. Möchte/brauche Hilfe bei der Metamorphose.«
Burija wandte sich um und lehnte sich mit dem Rücken gegen den Block. »He, Kaninchen, bekommst du irgendetwas davon mit?«
Das Kaninchen setzte sich auf und schluckte ein Büschel Gras hinunter. »Wovon?«
»Ich habe eben mit deinem… äh… Herrn gesprochen. Kannst du uns hören?«
Ein Ohr zuckte. »Nein.«
»Gut.« Burija schloss die Augen, ließ sich wieder auf die Doppelsicht ein und versuchte zu kommunizieren. Aber sein Implantat spielte immer noch verrückt. »Wie sind Sie hierher gekommen? Was möchten Sie erreichen? Ich dachte, Sie steckten in einer Klemme«, kam heraus als: »Gestehen Sie dem Tribunal Ihre konterrevolutionären Verbrechen! Welche Aufgabe wollen Sie in dem unermüdlichen Kampf gegen die reaktionäre Mittelmäßigkeit und die bourgeoise Wachstumsideologie übernehmen? Ich dachte, Sie hätten sich des vorsätzlichen Rowdytums schuldig gemacht!«
»Verdammt noch mal«, murmelte er laut. »Es muss doch eine Möglichkeit geben, das abzustellen.« – Ah. »Tut mir Leid, mein Interface ist ideologisch voreingenommen. Wie sind Sie hierher gekommen? Was möchten Sie erreichen? Ich dachte, Sie steckten in einer Klemme.«
Nach und nach sprudelte eine Antwort heraus und drang aus dem Geröllblock bis zu Burija vor. Gleich darauf setzten bei ihm visuelle Wahrnehmungen ein, sodass er einige Minuten lang hautnah die Flucht eines verängstigten Knaben vor dem Fringe miterlebte.
»Aha. Also hat das Festival dich mumifiziert, während du auf die Behebung deiner Schäden gewartet hast. Und jetzt bist du bereit, irgendwo anders hinzugehen – wohin? Was ist das?«
Ein weiteres Bild. Sterne, endlose Weiten, winzige dichte und sehr heiße Körper, die traumlos die Lichtjahre durchschlafen, bis sie zu einem Wüstensturm explodieren, auf einer neuen Welt Blätter und Blüten treiben, absterben und wieder schlafen – bis sich alles wiederholt.
»Ich hoffe, ich habe das richtig verstanden. Ursprünglich warst du also der Gouverneur. Und danach wurdest du zu einem achtjährigen Jungen und hattest zur Gesellschaft ein paar freundliche Tiere, die sprechen konnten, denn du hattest dir irgendwie gewünscht, ›ein interessantes Leben zu führen‹ und viele Abenteuer zu erleben. Und jetzt möchtest du ein Sternenschiff sein? Und du möchtest, dass ich dir als nächster greifbarer Delegierter des Revolutionären Zentralkomitees helfe?«
Nicht ganz. Eine weitere Vision, diesmal lang und komplex, die jede Menge politischer Vorschläge beinhaltete. Zu Burijas Ärger bemühte sich sein Implantat, diese Vorschläge in grafische Darstellungen von Pflanzenerträgen umzusetzen, die die Fortschritte bei der Erfüllung eines Fünfjahresplans für die Landwirtschaft zeigten. Burija zuckte zusammen. »Du möchtest, dass ich das in die Tat umsetze? Wofür hältst du mich, für einen freien Menschen, der nach Belieben handeln kann? Erstens würde mich das Kuratorenbüro, sobald ich auftauche, erschießen. Schon gar nicht würden die Leute auf etwas hören, das man dort als Landesverrat ansieht. Zweitens bist du nicht mehr Gouverneur. Und selbst wenn du’s wärst, würden die dich bei einem solchen Vorschlag schneller abservieren, als du mit den Fingern schnippen kannst. Falls dir dieses Feuerwerk gestern nicht aufgefallen ist: Das war die kaiserliche Flotte – oder was davon noch übrig ist –, die ihr Gefecht mit dem Festival ausgetragen hat. Drittens würden auch die Mitglieder des Revolutionsausschusses Schlange stehen, um mich zu erschießen, sollte ich dergleichen vorschlagen. Man darf nie unterschätzen, dass Ideen, auch der revolutionären Idee, trotz ihres ideologischen Anspruchs, etwas Konservatives innewohnt, sobald die Ereignisse eine gewisse Eigendynamik entwickeln. Nein, das ist nicht durchführbar. Ich verstehe wirklich nicht, warum du mir mit einem derart blöden Vorschlag die Zeit stiehlst. Überhaupt…«
Er brach ab. Irgendetwas am Fuß des Hügels machte gewaltigen Lärm, als es durch die Todeszone brach, die die Laserbatterien mit ihren Röntgenstrahlen geschaffen hatten. »Wer ist da?«, fragte er, aber Mr Rabbit war schon verschwunden – so panisch geflüchtet, dass nur noch sein buschiger weißer Schwanz zu sehen war.
Was den Krach ausgelöst hatte, war ein Telefonmast, der beim Durchbruch des seltsamen Gefährts langsam umgestürzt war. Jetzt schwankte das Ding ins Blickfeld: eine auf Hühnerfüßen thronende Hütte, in deren Eingang Siebente Schwester saß.
»Burija Rubenstein!«, brüllte sie, während ihre Augen Funken sprühten. »Komm her! Lösung erreicht! Fracht geborgen! Du hast Besucher!«
In Erwartung einer folgenschweren Begegnung wandte Rachel den Blick zum Hügel und ließ ihn gleich darauf zum Himmel gleiten, um durch Insektenaugen die Gegend auf Gefahren hin zu sondieren. Die Bäume hier waren tot, aufgrund irgendeiner schrecklichen Gewalt verkohlt.
Martin sah nervös zu, wie sie in dem dickleibigen Schiffskoffer herumkramte. »Was ist denn das?«, fragte er.
»Füllhornsamen.« Sie warf ihm das faustgroße Objekt zu, das er auffing und neugierig inspizierte.
»Darin ist die ganze Technologie enthalten?!«, staunte er. »En miniature.« Abermilliarden molekularer Assembler, ein Kilowatt hauchdünner Solarzellen, die ihnen Energie lieferten, thermodynamische Filtermembranen, um Rohstoffe aus der Umgebung zu ziehen, weit mehr Rechenkapazität als das ganze planetare Internet vor der Singularität besessen hatte. Er steckte den Samen ein und sah sie an. »Du hattest doch bestimmt einen Grund…?«
»Ja. Das Original werden wir nicht mehr lange haben. Lass das nicht den Jungen sehen, sonst errät er womöglich, was es ist, und rastet aus.« Sie ging weiter. Am Kamm des Hügels war eine Art Geröllblock zu sehen, gegen den ein Mann lehnte. Die Hütte der Kritikerin schlitterte mit lautem Krachen vorwärts, auf den Block zu. »Falls es das ist, was ich hoffe…«
Sie machten sich an den Aufstieg. Auch hier waren alle Bäume abgestorben. Martin stolperte über einen ovalen Stein und trat fluchend dagegen. Als der Stein sich als menschlicher Schädel entpuppte, der von Metallfasern überzogen war, blieb er stehen. »Hier ist irgendetwas Schlimmes passiert.«
»Was du nicht sagst. Hilf mir, das Ding hier zu lenken.« Der Schiffskoffer, der jetzt von Brennstoffzellen angetrieben wurde, erwies sich als sperrig und war auf dem grasbewachsenen Hang schwer zu steuern. Die halbe Zeit mussten sie ihn über Hindernisse hinwegziehen. »Hast du noch irgendwelche Asse im Ärmel, falls es hart auf hart kommt?«
Martin zuckte die Achseln. »Sehe ich wie ein Soldat aus?«
Sie musterte ihn einen Augenblick mit zusammengekniffenen Augen. »Du hast genügend verborgene Tiefen, mein Lieber. Okay, falls die Situation hässlich wird, übernehme ich.«
»Wer ist dieser Typ überhaupt, den du treffen sollst?«
»Burija Rubenstein. Ein radikaler Journalist des Untergrunds, der dort viel bewegt hat. Hat vor einigen Jahren während eines großen Streiks einen Arbeiterrat organisiert. Wurde für seine Mühen mit dem Exil belohnt und hat Glück gehabt, dass er nicht erschossen wurde.«
»Und du hast vor, ihm…« Martin hielt kurz inne. »Also das hattest du die ganze Zeit vor. Auf diese Weise wolltest du hier eine Revolution anzetteln – ehe das Festival auftauchte und dafür sorgte, dass das jetzt alles Schnee von gestern ist.« Er warf einen Blick hinter sich, aber Wassily war nirgendwo zu sehen.
»Nicht ganz. Ich wollte ihnen nur die Mittel dafür in die Hand geben, das Anzetteln sollten sie schon selbst übernehmen.« Sie wischte sich mit der Hand über die Stirn.
»Eigentlich besteht dieser Plan für den Fall der Fälle schon seit Jahren. Nur haben wir nie einen wirklich überzeugenden Grund dafür gesehen, ihn auch umzusetzen. So ein Grund wäre beispielsweise der Beginn gewaltsamer Auseinandersetzungen gewesen. Na ja, und mittlerweile hat sich das Blatt gewendet. Meines Wissens hat Rubensteins Gruppe den Übergang von der Mangelwirtschaft zur Überflussgesellschaft recht gut überstanden. In dieser Zwei-Bit-Kolonie von Hinterwäldlern erfüllen sie derzeit vermutlich noch am ehesten die Aufgaben einer zivilen Verwaltung. Aber wenn das Festival sich zu langweilen beginnt und weiterzieht, schaffen sie es vielleicht nicht, ohne Füllhorn zu überleben. Vorausgesetzt natürlich, dass sie das Festival nicht sofort um eines gebeten haben.«
Da der Koffer nach vorn gerutscht war und sich am Boden verhakt hatte, schwieg sie einen Moment, um sich auf dessen Lenkung zu konzentrieren.
»Und was war deine Strategie zur Ausreise?«
»Strategie zur Ausreise? Wozu brauchen wir denn so was?! Liefer das Ding einfach ab und mach dich danach im allgemeinen Chaos unsichtbar. Such dir irgendeinen Ort, an dem du leben kannst. Lass dich dort nieder, bis der Handel wieder in Gang kommt. Dann nimm das nächste Schiff. Und was ist mit dir?«
»Ist ganz ähnlich wie bei dir. Hermann hat die Angewohnheit, stets ein bisschen Zeit verstreichen zu lassen, bis er sich wieder bei mir meldet. Hm… Hattest du einen bestimmten Ort im Sinn, an dem du…«
»Eine kleine Stadt namens Plotsk.« Sie warf den Kopf scharf herum. »Aber eines nach dem anderen. Ich muss erst das Paket abliefern. Und danach müssen wir das muntere Kerlchen an irgendeinem sicheren Ort abladen, von dem aus es uns nicht folgen kann, stimmt’s? Abgesehen davon habe ich mich gefragt, ob… Na ja, was mit uns ist.«
Martin griff nach ihrer freien Hand. »Hast du dich gefragt, ob du mich irgendwie loswerden kannst?«
Sie starrte ihn an. »Mhm, warum? Sollte ich das?«
Martin holte tief Luft. »Willst dumich loswerden?«
Sie schüttelte den Kopf.
Martin zog sie sanft an sich, bis sie an ihm lehnte. »Ich dich auch nicht«, murmelte er ihr ins Ohr.
»Zu zweit haben wir sowieso eine bessere Chance als jeder für sich allein«, erklärte sie, um Nüchternheit bemüht. »Wir können aufeinander aufpassen. Eine Zeit lang wird es nämlich ganz schön haarig werden. Außerdem ist es durchaus möglich, dass wir hier eine Weile festhängen, vielleicht sogar Jahre.«
»Rachel, hör auf, nach Ausflüchten zu suchen.«
Sie seufzte. »Bin ich so leicht zu durchschauen?«
»Dein Pflichtbewusstsein ist schlimmer als…« Als sie sich leicht zurückzog, brach er ab, denn er hatte das warnende Funkeln in ihren Augen bemerkt. Gleich darauf fing sie leise an zu lachen, und er fiel nach kurzem Zögern ein.
»Wenn man mitten in der tiefsten Provinz strandet, dazu noch in einer Provinz, die sich gerade vom Schock einer Revolution erholt, kann ich mir eine sehr viel schlechtere Gesellschaft als dich vorstellen, Martin, glaub mir…«
»Okay, ich glaube dir, ich glaube dir!« Sie beugte sich vor, küsste ihn heftig und ließ ihn dann lächelnd los.
Der Koffer rollte jetzt reibungslos dahin, da der Boden hier flacher wurde. Der Geröllblock über ihnen leuchtete gelblich in der Nachmittagssonne. Der Mann, der daran gelehnt hatte, war jetzt in ein Gespräch mit der riesigen Kritikerin vertieft und gestikulierte lebhaft. Als sie näher kamen, wandte er sich ihnen zu: ein drahtiger kleiner Mann mit buschigem Haar und Ziegenbart, den ein altmodischer Kneifer zierte. »Wer sind Sie?«, fragte er aggressiv.
»Burija Rubenstein?«, fragte Rachel erschöpft.
»Ja?« Er musterte sie argwöhnisch. »Sie haben Hilfsmittel für den Widerstand mitgebracht!«
»Ein Paket für Burija Rubenstein, zu Händen der Partei der Demokratischen Revolution, Rochards Welt. Sie würden nicht glauben, wie weit es gereist ist oder durch wie viele Reifen ich hüpfen musste, um zu Ihnen zu gelangen.«
»Äh…« Er starrte zwischen Rachel und dem Koffer hin und her. »Wer, sagten Sie, sind Sie?«
»Freunde von der alten Erde«, knurrte Martin. »Außerdem Schiffbrüchige, die dreckig sind und Hunger haben.«
»Nun ja, hier können Sie kaum mit einem gastlichen Empfang rechnen.« Rubenstein wies auf den Umkreis der Lichtung. »Von der alten Erde, sagen Sie? Also, das ist wirklich ein langer Weg für einen Paketdienst! Was ist denn eigentlich da drin?«
»Ein Füllhorn. Eine selbst-replizierende Produktionsanlage, vollständig programmierbar – und sie gehört Ihnen. Ein Geschenk von der Erde. Alle Produktionsmittel in einem einzigen handlichen Paket mit Selbstantrieb. Wir haben gehofft, Sie hätten vielleicht Lust, eine industrielle Revolution in Gang zu setzen. Zumindest haben wir darauf gesetzt, bis uns die Sache mit dem Festival zu Ohren kam.«
Bei diesen Worten warf Rubenstein den Kopf zurück und lachte hemmungslos, was Rachel mit Unverständnis quittierte.
»Was soll das jetzt bedeuten?«, fragte sie verärgert. »Ich habe vierzig Lichtjahre zurückgelegt und ein nicht unbeträchtliches Risiko auf mich genommen, um etwas abzuliefern, für das Sie vor sechs Monaten jeden Mord begangen hätten. Finden Sie nicht, dass Sie mir eine Erklärung schuldig sind?«
»Verzeihen Sie mir bitte, gnädige Frau. Ich tue Ihnen wirklich Unrecht. Wenn Sie das hier früher abgeliefert hätten, auch nur vier Wochen früher, hätten Sie der Geschichte einen anderen Verlauf gegeben, da bin ich sicher. Aber Sie müssen wissen«, er richtete sich auf, und seine Miene wurde wieder nüchtern, »dass wir solche Produktionsanlagen schon am ersten Tag nach Ankunft des Festivals erhalten haben. Und bei allem Guten, das die Dinger uns erwiesen haben, wäre es mir mittlerweile lieber, ich hätte sie nie erblickt.«
Sie erwiderte Rubensteins Blick. »Nun ja, das bestätigt meine Befürchtungen. Sie haben hoffentlich so viel Zeit, mir zu berichten, was hier los gewesen ist, während ich diesen völlig unnützen Auftrag ausgeführt habe?«
»Wir haben vor… äh… drei Wochen Revolution gemacht.« Burija umkreiste den Schiffskoffer und inspizierte ihn. »Allerdings haben sich die Dinge nicht wie geplant entwickelt. Ich bin sicher, unsere Freundin hier, die Kritikerin, wird es Ihnen erklären.« Er nahm auf dem Schiffskoffer Platz. »Nur das Eschaton weiß, was die Kritiker oder auch das Festival hier überhaupt suchen. Wir… keiner von uns war auf das, was geschah, irgendwie vorbereitet. – Meine Träume werden mir inzwischen vom Revolutionsausschuss zugewiesen, können Sie sich das vorstellen? – Zwei Wochen lang nahm die Revolution ihren Gang: So lange haben wir gebraucht, bis uns klar wurde, dass uns hier kein Mensch braucht. Die Situation organisierte sich selbst und wurde aus sich heraus kritisch. Die Schwester hier hat mir die Konsequenzen vor Augen geführt, schlimme Konsequenzen.« Er ließ den Kopf hängen. »Wie ich erfahren habe, sind jetzt Überlebende der kaiserlichen Flotte in der Hauptstadt gelandet, und die Menschen strömen in Scharen zu ihnen. Sie sehnen sich nach Sicherheit, wer wollte ihnen das verübeln?«
»Damit ich Sie richtig verstehe«, Rachel lehnte sich gegen den riesigen Bernsteinblock, »Sie haben also Ihre Meinung geändert und wollen das System gar nicht mehr verändern?«
»O nein!« Burija stand erregt auf. »Aber das System existiert nicht mehr. Und nicht revolutionäre Ausschüsse, Räte oder Arbeiterkader haben es zerstört. Es wurde dadurch vernichtet, dass die Wünsche der Menschen wahr wurden. Aber lassen wir das für den Augenblick. Sie sehen aus, als hätten Sie eine Schlacht hinter sich! Überall sind Flüchtlinge unterwegs, wissen Sie. Sobald ich meine Angelegenheiten hier geregelt habe, werde ich nach Plotsk zurückkehren und sehen, was ich tun kann, um Stabilität herzustellen. Vielleicht möchten Sie mich begleiten?«
»Stabilität«, wiederholte Martin. »Äh… welche Angelegenheiten? Ich meine, warum sind Sie überhaupt hier? Wir scheinen uns ziemlich weit weg von jeder Zivilisation zu befinden.« Das war noch gewaltig untertrieben, soweit es Rachel beurteilen konnte. Sie lehnte sich zurück und blickte mutlos auf den Wald. Den ganzen weiten Weg hierher zu machen, nur um festzustellen, dass sie drei Wochen zu spät dran war, um die Geschichte zum Besseren zu wenden… Festzustellen, dass das Festival die ganze Gesellschaft eines Planeten gleichsam in einen Informationsmixer gestopft und die Mühle auf Höchstgeschwindigkeit eingestellt hatte – das war alles ein bisschen zu viel, um es richtig einschätzen zu können. Außerdem war sie müde, todmüde. Genau wie Martin hatte sie ihr Bestes gegeben, drei Wochen lang. Wenn Martin versagt hätte…
»Es befindet sich jemand in diesem Block«, erklärte Rubenstein.
»Was?« Ein komplexes dreidimensionales Modell des Hügels tauchte vor Rachels Augen auf, ein Modell, das von den Informationen der umherschwebenden Spionageroboter gespeist wurde. Da war Wassily, der sich auf der anderen Seite den Hügel hinaufkämpfte. Hier stand Martin. Und der Block…
Burija nickte. »Der Bewohner ist noch am Leben. Eigentlich möchte er sich dem Festival als Passagier anschließen. Ich verstehe seine Gründe. Von seinem Standpunkt aus ist das durchaus sinnvoll. Allerdings glaube ich, dass der Revolutionäre Krisenausschuss etwas dagegen haben könnte, denn dort würde man ihn lieber tot sehen. Und die reaktionären Kräfte in der Hauptstadt wären aus anderen Gründen dagegen: Sie möchten ihn wiederhaben. Er war früher der Gouverneur dieses Planeten, müssen Sie wissen. Bis allzu viele seiner privaten, persönlichen Wünsche wahr wurden. Jetzt will er seinen Pflichten nicht mehr nachkommen.« Rubenstein blinzelte. »Ich hätte es auch nicht für möglich gehalten, aber…«
»Aha. Und warum kann er sich dem Festival nicht einfach anschließen? Worin besteht das eigentliche Problem?«
»Die Aufmerksamkeit des Festivals auf sich zu ziehen. Das Festival bietet seine Dienste nur gegen Informationen an, aber er hat ihm schon alles berichtet, was er weiß, genau wie ich selbst. Was sollen wir tun?«
»Das ist ja grotesk«, bemerkte Martin. »Wollen Sie damit sagen, dass das Festival nur Passagiere mitnimmt, die einen Fahrpreis entrichten?«
»So seltsam das auch scheinen mag, auch das Fringe und die Kritiker mussten zuerst ihren Preis entrichten, ehe sie an Bord gehen durften. Die Kritiker zahlen immer noch für die Beförderung, indem sie hochgeistige Kommentare zu allem abgeben, was sie entdecken.« Burija nahm wieder Platz.
»He, Kritikerin!«, brüllte Martin.
Siebente Schwester, die sich auf dem flacheren Hügelabschnitt niedergelassen hatte, setzte sich auf. »Frage?«, rief sie mit dröhnender Stimme.
»Wie kommst du wieder nach Hause?«
»Schließe Kritik ab! Bekomme im Austausch Luftbrücke.«
»Kannst du einen Passagier mitnehmen?«
»Ho!« Siebente Schwester machte sich gemächlich auf den Weg nach oben. »Identität?«
»Wer immer sich unter dieser Glasglocke befindet. Wie ich höre, war er früher der Gouverneur des Planeten.«
Die Kritikerin watschelte auf sie zu. Rachel bemühte sich, vor dem feuchtkalten Geschöpf mit dem Atem, der nach vergorenem Gemüse stank, nicht zurückzuweichen. »Kann Fracht mitnehmen«, polterte Siebente Schwester los. »Gib Grund an.«
»Hm.« Martin sah Rachel an. »Das Festival assimiliert Informationen, stimmt’s? Wir sind mit der Flotte gekommen. Ich habe Interessantes zu berichten.«
Siebente Schwester nickte. »Information. Nützlich, ja, niedriger Grad von Entropie. Ist Passagier…«
»Der sitzt unter dieser Glasglocke«, fiel ihr Burija ins Wort.
»Offenbar hat das Festival ihn in diesen Zustand versetzt. Die ganze Sache bitte diskret behandeln. Einige meiner Kollegen wären dagegen. Und was die Reaktionäre betrifft…«
Ein sechster Sinn veranlasste Rachel dazu, sich umzudrehen. Wassily! Aus irgendeinem Grund hatte er von der anderen Seite des Hügels aus einen Bogen zu ihnen geschlagen. Und jetzt fiel ihr auf, dass er etwas umklammerte, das wie ein Schaft ohne Klinge aussah. Sein Gesicht war zu einer wilden Grimasse verzerrt. »Burija Rubenstein?«, keuchte er.
»Ja, das bin ich. Wer bist du?« Rubenstein wandte sich dem Neuankömmling zu.
Wassily, der halb taumelnd zwei Schritte vorwärts tat, wirkte wie eine Marionette, deren Fäden ein Betrunkener zieht. »Ich bin dein Sohn, du Mistkerl! Erinnerst du dich noch an meine Mutter?« Er zog die Waffe, die sich als superraffiniertes Sägemesser entpuppte.
»O Scheiße.« Plötzlich fiel Rachel das statische Rauschen auf, das selbst in dieser Situation an ihren Implantaten zerrte und ihnen mitzuteilen versuchte, dass das hier in Wirklichkeit gar nicht geschah, dass niemand da war. Jetzt wurden die Dinge klarer, viel klarer. Sie war nicht die Einzige hier, die mit technologisch ausgefeilten Implantaten ausgestattet war.
»Mein Sohn?« Rubenstein war einen Augenblick verwirrt, dann hellte sich seine Miene auf. »Also hat man Milla erlaubt, dich zu behalten, nachdem ich verbannt wurde?« Er stand auf. »Mein Sohn…«
Wassily holte mit dem Messer nach Rubenstein aus, unbeholfen zwar, aber mit aller Kraft, die er aufbringen konnte. Doch Burija stand dort nicht mehr, als das Messer niedersauste. Martin hatte ihn von hinten gepackt und kopfüber zu Boden gezerrt.
Schrill aufkreischend fuhr das Supermesser in den Deckel des Füllhorns und durchtrennte Millionen empfindlicher Schaltkreise. Als Wassily mit aller Kraft versuchte, die Klinge herauszuziehen, flackerte ein seltsames Licht auf. Gleichzeitig drang aus dem Koffer der Geruch frischer Hefe.
Es gab fast nichts, das dieses Messer, ein einsträngiger Supraleiter, der durch ein ungeheuer kraftvolles Magnetfeld in Position blieb, nicht hätte durchtrennen können. Martin wälzte sich auf den Rücken und blickte genau in dem Moment auf, als Wassily, das Gesicht zur leblosen Maske verzerrt, auf ihn zukam und das Messer hob. Etwas summte kurz auf, dann verdrehte Wassily die Augen nach oben und sackte über dem Koffer zusammen.
Rachel, deren Arme und Brust brannten, senkte das Betäubungsgewehr und fiel wieder ins Tempo der realen Welt zurück. Wenn du das zu oft machst, bist du bald tot. »Teufel noch mal, hat denn jeder an Bord dieser Flotte einen geheimen Plan verfolgt?«
»Sieht ganz danach aus.« Martin versuchte sich aufzusetzen.
»Was ist geschehen?« Burija blickte sich benommen um.
»Ich nehme an…« Rachel warf einen Blick auf den Koffer, der unheilverkündend zischte: Das Supramesser hatte etliche Synthesezellen durchschnitten. Offenbar leckten jetzt einige der Brennstoffbehälter schneller, als die Reparaturprogramme mit der Dichtung nachkamen. »Könnte sich als schlechte Idee erweisen, noch länger hier zu bleiben. Sollen wir auf dem Weg nach Plotsk darüber reden?«
»Ja.« Burija wälzte Wassily vom Koffer herunter und zog ihn etwas weiter weg. »Ist er wirklich mein Sohn?«
»Wahrscheinlich schon.« Rachel hielt inne, um gähnend nach Luft zu schnappen. »Ich hab mich sowieso ein wenig gewundert und mich gefragt, warum er an Bord war. Konnte ja kein Zufall sein. Und dann die Art, wie er auf Sie losging. Programmiert, nehme ich an. Das Kuratorenbüro muss sich ausgerechnet haben, dass Sie im Fall einer Revolution eine zentrale Rolle spielen würden. Als vaterloses Kind einer Mutter, die in Schande gefallen war, muss er leicht zu rekrutieren gewesen sein. Klingt das plausibel?«
Siebente Schwester hatte sich hochgerappelt und schnüffelte an der gläsernen Zelle, in welcher der um ein Haar verschiedene Herzog Felix Politowski festsaß. »Hab Festival gesagt, Passagier muss jetzt bald hochgeladen werden«, erklärte sie mit polternder Stimme. »Du erzählst Geschichte? Ehrenschuld?«
»Später«, erwiderte Martin.
»Okay.« Siebente Schwester schnappte mit den Zähnen in der Luft herum. »Dein Konto bei Mythenbank jetzt nicht gedeckt. Ich regle das. Ihr nun baldig nach Plotsk geht?«
»Ehe der Koffer bäng-bäng macht«, bestätigte Martin und stand leicht schwankend auf. Als er das Gewicht auf ein Knie verlagerte, zuckte er zusammen. »Rachel?«
»Ich komme.« Die schwarzen Flecken in ihrem Blickfeld waren fast verschwunden. »Okay. Hm, wenn wir ihn fesseln und dann in eure wandelnde Hütte verfrachten, können wir uns später um seine Gehirnwäsche kümmern. Müssen doch nachsehen, ob mehr in ihm steckt als ein Mensch, der auf Mord programmiert ist.«
»Einverstanden.« Burija schwieg kurz. »Damit hab ich nicht gerechnet.«
»Wir auch nicht«, erwiderte sie kurz angebunden. »Kommen Sie, lassen Sie uns gehen, ehe dieses Ding explodiert.«
Sie ließen die tickende Bombe der Revolution hinter sich. Und auch das letzte Überbleibsel des Ancien Regime, das seine materielle Gestalt jetzt nie mehr verändern würde. Gemeinsam stolperten sie den Hügel hinab, auf die Straße zu, die nach Plotsk führte.