der raumartige
ereignishorizont

 

 

Die Tür zum Arbeitszimmer öffnete sich, und ein Lakai in Livree kam herein. »Geschwaderführer Bauer zum Gespräch mit dem Admiral«, verkündete er.

Geschwaderführer Bauer betrat das Arbeitszimmer des Admirals und grüßte militärisch. Der Admiral, der hinter einem imposanten Holzschreibtisch in der Mitte des riesigen Zimmers saß – es war mit furchtbar teuren importierten Harthölzern getäfelt, mit Vorhängen aus Rohseide ausgestattet und an den Randleisten mit nicht gerade kleinen Goldblättern verziert –, wirkte vor diesem Hintergrund winzig: wie eine verschrumpelte Wasserschildkröte mit Walross-Schnauzer, die auf einem blausilbernen Meer aus Teppichboden dahintreibt. Dennoch war er heute in guter Verfassung, trug seine reichlich mit Ehrenzeichen und Ordensbändern dekorierte Uniform und saß auf einem echten Stuhl.

»Und wie geht es Ihrem Vater inzwischen? Es… es ist schon eine Weile her, dass ich ihn gesehen habe.«

»Es geht ihm sehr gut, Sir.« Zumindest so gut, wie es ihm in Anbetracht der Umstände gehen kann, schließlich ist er ja schon vier Jahre tot.

Traurig musterte Bauer seinen Vorgesetzten. Früher einmal der schärfste Haudegen im Waffenarsenal der Neuen Republik, verrostete der Konteradmiral Kurtz inzwischen mit beängstigender Geschwindigkeit. Er gehörte nun so eindeutig zum alten Eisen, dass man sicher schon sein Begräbnis vorbereitete. Immer noch hatte er Phasen geistiger Klarheit, manchmal sogar recht ausgedehnte. Aber dass man ihn zwang, sich auf eine solche Expedition zu begeben – und kein Offizier konnte, realistisch gesehen, einen Auftrag des Kaisers ablehnen, wenn er seinen Posten behalten wollte –, war einfach grausam. Seine Majestät musste doch sicher vom Gesundheitszustand des Admirals gewusst haben, oder nicht? »Darf ich fragen, warum Sie mich einbestellt haben, Sir?«

»Äh – äh – äh, ja.« Der Admiral zuckte so heftig zusammen, als hätte ihm jemand soeben einen Elektroschock verabreicht. Plötzlich spannte sich seine Miene. »Ich muss mich entschuldigen, Geschwaderführer. Allzu oft entgleitet mir alles. Ich wollte mit Ihnen die Staufelung… ich meine die Aufstellung der Flotte erörtern. Es liegt auf der Hand, dass Sie das tägliche Kommando über das Einsatzgeschwader übernehmen werden, wie auch die gesamte taktische Einsatzleitung, sobald wir in Rochards Welt angekommen sind. Was allerdings die Planung betrifft, so denke ich, dass ich etwas dazu beisteuern kann.« Ein schwaches Lächeln huschte über sein Gesicht. »Sind Sie damit einverstanden?«

»Ah, ja, Sir.« Bauer nickte leicht ermutigt. Der große alte Mann mochte in die Senilität abdriften, aber in seinen besseren Momenten dachte er immer noch so scharf wie ein Rasiermesser. Wenn er damit einverstanden war, sich zurückzulehnen und Bauer weitgehend das Steuer zu überlassen, würde es vielleicht funktionieren. (Solange der Admiral noch wusste, wen er vor sich hatte, wie sich der Geschwaderführer ins Gedächtnis rief.) Sie hatten auch früher schon zusammengearbeitet: Bauer hatte als junger Leutnant während des Einfalls auf Thermidor unter dem Kommandanten Kurtz gedient und empfand großen Respekt vor dessen Verstand, ganz zu schweigen von dessen Hartnäckigkeit. Auch angesichts des heftigen Widerstands hatte sich der Kommandant seinerzeit stur geweigert, den Rückzug anzutreten. »Ich habe mir schon gedacht, dass die Allgemeine Stabsleitung einige recht ungewöhnliche Pläne zur Aufhebung der Belagerung in petto hat, geht es darum?«

»Ja.« Admiral Kurtz deutete auf eine rote Ledermappe auf seinem Schreibtisch. »Der Fall Omega. Ich ha… habe vor zehn Jahren am ersten Entwurf mitgearbeitet, fürchte allerdings, dass jüngere Köpfe ihn so verfeinern müssen, dass ein regelrechter Angriffsplan daraus wird.«

»Der Fall Omega.« Bauer schwieg einen Augenblick. »Wurde er nicht zu den Akten gelegt, wegen… äh… rechtlicher Bedenken?«

»Ja.« Kurtz nickte. »Aber nur als A… Angriffsplan. Wir dürfen keine geschlossenen zeitartigen Kurven nehmen – schneller als das Licht reisen, um anzukommen, ehe der Krieg ausbricht. Führt zu allen… allen möglichen Arten von Problemen. Die Nachbarn sagen, dass Gott so etwas nicht gefällt. Verdammter Unsinn, wenn Sie mich fragen. Aber wir sind ja schon angegriffen worden, sie sind zu uns gekommen. Also dürfen wir auch in unserer eigenen Vergangenheit ankommen, allerdings erst, nachdem der Angriff bereits begonnen hat. Ich muss bekennen, dass diese Entschuldigung ein bisschen dürftig ist, aber so ist es nun mal. Der Fall Omega wird eintreten.«

»Oh.« Bauer griff zur roten Mappe. »Darf ich?«

»Ge… gewiss doch.«

Der Geschwaderführer vertiefte sich in den Text.

 

Bis zu Überlichtgeschwindigkeiten zu beschleunigen war natürlich unmöglich, das hatte die Allgemeine Relativitätstheorie bereits im zwanzigsten Jahrhundert deutlich genug bewiesen.

Allerdings waren seitdem zahlreiche Möglichkeiten aufgetaucht, die Geschwindigkeitsgrenze zu umgehen. Inzwischen waren bereits sechs verschiedene Methoden bekannt, Masse oder Information von A nach B zu bewegen, ohne dass sie C, die Lichtgeschwindigkeit, durchlaufen mussten.

Einige dieser Methoden beruhten auf Kniffen der Quantenmechanik, auf seltsamen Tricks, die auf der Grundlage des Bose-Einstein-Kondensats das Umklappen von Quantenbits über Lichtjahre hinweg bewirken konnten.[i] Genau wie beim Kausalkanal mussten die miteinander verschränkten Quantenbits mit Geschwindigkeiten, die langsamer als das Licht waren, wieder voneinander getrennt werden, sodass man diese Methode zwar zur Kommunikation nutzen konnte, nicht aber, um Körper von einem Punkt zum anderen zu befördern. Manche Methoden – wie die Wurmlöcher des Eschaton – waren unerklärlich, denn sie stützten sich auf Prinzipien, die kein menschlicher Physiker je entdeckt hatte. Aber zwei davon lieferten tragfähige Antriebssysteme für Raumschiffe: die reziproke Expansion nach Linde-Alcubierre und der Sprung-Antrieb.

Der Expansionsantrieb löste eine Welle aus, die sich hinter dem Raumschiff ausdehnte und am Bug zusammenzog. Das war zwar überaus elegant, aber keineswegs ungefährlich. Ein Raumschiff, das versuchte, durch das verdichtete Gemenge von Raumzeit zu navigieren, ging das Risiko ein, von einem umherstreunenden Staubkorn in Stücke gerissen zu werden.

Der Sprung-Antrieb war, um das Mindeste zu sagen, bis auf ein paar Macken verlässlicher. Ein Raumschiff, das damit ausgestattet war, beschleunigte von der Schwerkraftquelle des nächsten Sterns aus. Nachdem es einen Punkt von gleichpotenzieller flacher Raumzeit in der Umgebung des Zielsterns ausfindig gemacht hatte, zündete das Schiff den Antriebsgenerator. Danach konnte das ganze Raumschiff zwischen den beiden Punkten hin und her tunneln, ohne sich je tatsächlich zwischen ihnen zu befinden. (Natürlich stets vorausgesetzt, dass sich der Zielstern mehr oder weniger am selben Platz und im selben Zustand befand, wie er beim Zünden des Antriebs erschienen war; falls das nicht der Fall war, würde niemand das Schiff je wieder sehen.)

Dennoch stellte der Sprung-Antrieb die Armee vor riesige Probleme. Zum einen funktionierte er nur in flacher Raumzeit, weit außerhalb aller Sterne oder Planeten, was bedeutete, dass man zwangsläufig irgendwo weit draußen ankam. Das wiederum hieß, dass jeder, den man angreifen wollte, einen kommen sehen konnte. Zum anderen war dabei die Reichweite begrenzt. Je weiter man zu springen versuchte, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass die Bedingungen am Zielort anders waren als erwartet, sodass zusätzliche Arbeit auf die Ausgleichsregler zukam. Am heikelsten war, dass auf diese Weise ein Tunnel zwischen Punkten gleichen Potenzials in der Raumzeit entstand. Falls man einen Sprung falsch kalkulierte, konnte es passieren, dass man sich – bezogen auf den Startpunkt, aber auch aufs Ziel – in der absoluten Vergangenheit wiederfand. Vielleicht merkte man es gar nicht, bis man nach Hause zurückkehrte, doch man hatte eben die Kausalität verletzt. Und das Eschaton hatte ein ernsthaftes Problem mit Leuten, die so etwas taten.

Deshalb war der Fall Omega eines der heikelsten Dokumente im Archiv der Kriegspläne, über welches die Marine der Neuen Republik verfügte. Darin wurden mögliche Methoden und Mittel erörtert, wie man aus der Verletzung der Kausalität – durch Zeitreisen innerhalb eines gewählten Bezugsystems – strategische Vorteile ziehen konnte.

Rochards Welt war gut vierzig Lichtjahre von New Austria entfernt. Normalerweise bedeutete das fünf bis acht Sprünge, eine recht anstrengende Reise, die drei oder vier Wochen dauern würde. Jetzt, in Zeiten des Krieges, konnte man davon ausgehen, dass die direkten Anflugstrecken von New Austria zu Rochards Welt überwacht wurden. Jede Flotte, die angreifen wollte, würde mit einem Sprung den Queens Head-Nebel umgehen müssen, denn es gab praktisch kein Durchkommen durch diese Wolke aus Gas und Staub, in der sich gerade drei oder vier heiße, dichte Kerne herausbildeten, die sich nach einer Kernfusion irgendwann zu Sternen entwickeln mochten.

Natürlich bestand auch die Möglichkeit, die Omega-Strategie so anzuwenden, dass man die Ankunftszeit – sorgfältig austariert – in die Phase verlegte, in der das erste Notsignal von Rochards Welt eingegangen war. Auf diese Weise würde man die Gegner überrumpeln können, ohne eine absolute Verletzung der Kausalität verantworten zu müssen. Allerdings würde das sogar noch zusätzliche Sprünge erfordern und die Flotte viele Lichtjahre in die eigene Zukunft entführen, bis sie in einer Schleife innerhalb des raumähnlichen Ereignishorizonts in die eigene Vergangenheit zurückkehren konnte. Es würde, wie Bauer jetzt klar wurde, die weitestreichende militärische Operation in der Geschichte der Neuen Republik werden. Und an ihm, Gott sei ihm gnädig, würde es liegen, dafür zu sorgen, dass es tatsächlich klappte.

 

Burija Rubenstein schlug mit einem ausgelatschten Filzstiefel auf den aus groben Holzstämmen gezimmerten Tisch. »Ruhe!«, brüllte er. Als ihn niemand beachtete, zog er die kompakte Pistole heraus, die die eingehandelte Maschine für ihn angefertigt hatte, und feuerte auf die Saaldecke. Es war nur ein leichtes Summen zu hören, aber der Putz, der anschließend herunterrieselte, erregte allgemeine Aufmerksamkeit. Während alles würgte und hustete, bellte er: »Zurück zur Tagesordnung, Ausschussmitglieder!«

»Warum sollten wir?«, kam ein Zwischenruf aus dem hinteren Bereich der voll besetzten Bierhalle.

»Weil ihr es mit Politowski und seinen Dragonern zu tun bekommt, falls ihr nicht die Klappe haltet und mich ausreden lasst. Das Schlimmste, das ich euch antun würde, wäre, euch einfach abzuknallen. Aber wenn ihr dem Herzog in die Hände fallt, könnte es passieren, dass ihr für den Lebensunterhalt arbeiten müsst!« Gelächter. »Und zwar für seinen Lebensunterhalt. Wir haben jetzt die beispiellose Chance, die Ketten wirtschaftlicher Sklaverei abzuwerfen, die uns an Scholle und Fabrik binden, und ein Zeitalter aufgeklärter gesellschaftlicher Mobilität einzuläuten – ein Zeitalter, das uns die Möglichkeit gibt, zu besseren Menschen zu werden, zum Allgemeinwohl beizutragen und zu lernen, wie man seine Arbeitskraft klüger einsetzt und schneller lebt. Aber die reaktionären Kräfte sind skrupellos und auf der Hut, Genossen; in eben diesem Moment bringt ein Shuttle der Marine Soldaten nach Outer Chelm, das sie einnehmen und in einen gegen uns gerichteten Stützpunkt verwandeln sollen.«

Als Oleg Timoschewski aufstand, war ein eindrucksvolles Ächzen und Scheppern zu hören. »Keine Sorge! Wir werden sie zerschmettern!« Er schwenkte den linken Arm durch die Luft, während seine Faust die unverkennbare Form einer Flak nachzeichnete. Oleg, der sich mit dem Überschwang des geborenen Cyborgs in das Meer neu zugänglicher Methoden zur Verbesserung der Körperausstattung gestürzt hatte, hätte für ein Plakat der Transhumanistischen Front oder sogar der Freiheit-im-All-Partei posieren können.

»Das reicht, Oleg.« Burija warf ihm einen finsteren Blick zu und wandte sich wieder an sein Publikum. »Wir können es uns nicht leisten, diesen Kampf durch Anwendung von Gewalt zu gewinnen«, sagte er nachdrücklich. »Kurzfristig gesehen mag das verlockend erscheinen, aber es würde lediglich dazu dienen, uns bei den Massen zu diskreditieren. Und die Geschichte lehrt uns, dass es keine Revolution geben kann, wenn wir die Massen nicht auf unserer Seite haben. Wir müssen beweisen, dass die reaktionären Kräfte angesichts unserer friedensliebenden Macht, die für freies Unternehmertum und Fortschritt eintritt, verrotten werden, auch ohne dass wir sie unterdrücken. Sonst wird es uns letzten Endes nur gelingen, an ihre Stelle zu treten. Und wenn wir das tun, werden wir von ihnen nicht mehr zu unterscheiden sein. Ist es das, was ihr wollt?«

»Nein! Ja! NEIN!« Angesichts des Aufruhrs, der durch den großen Saal ging, zuckte Rubenstein zusammen. Aufgeladen vom eigenen Sendungsbewusstsein und allzu viel kostenlosem Weizenbier und Wodka (möglicherweise künstlich erzeugt, doch in der Wirkung nicht vom echten zu unterscheiden), gerieten die Delegierten allmählich außer Rand und Band.

»Genossen!« Ein Mann mittleren Alters mit blondem Haar und blassem Gesicht blieb im Haupteingang zum Saal stehen. »Ich bitte um eure Aufmerksamkeit. Reaktionäre Staffeln der imperialistischen Junta rücken gerade vor, um das Paradefeld im Norden zu umzingeln! Der freie Markt ist in Gefahr!«

»O Scheiße!«, murmelte Marcus Wolff vor sich hin.

»Kümmere dich darum, ja?«, sagte Burija. »Nimm Oleg mit, schaff ihn mir vom Hals, ich werde die Stellung hier schon halten. Und wenn du schon dabei bist, gib Jaroslaw irgendwas zu tun – er kann jonglieren, mit seiner Wasserpistole auf die Soldaten schießen oder sonst was unternehmen. Ich kann’s nicht brauchen, dass er mir ständig dazwischen fährt.«

»Mach ich, Chef. Ist es dir ernst damit, dass wir… äh… niemandem die Köpfe einschlagen sollen?«

»Ob’s mir ernst damit ist?« Rubenstein zuckte die Achseln. »Es wäre mir lieber, keine Atomwaffen einzusetzen, aber du hast freie Hand, alles Nötige zu veranlassen, damit wir die Oberhand gewinnen – solange wir die Moral hochhalten. Wenn möglich. Wir können einen Kampf jetzt gar nicht brauchen, es ist noch zu früh. Warten wir eine Woche damit, und die Wachen werden desertieren wie Ratten, die ein sinkendes Schiff verlassen. Versuch sie für den Augenblick abzulenken. Ich muss ein Kommunique herausbringen, das dafür sorgt, dass die Katze auf die Tauben losgelassen wird, die es mit den Lakaien der herrschenden Klasse halten.«

Wolff stand auf und ging zu Timoschewskis Tisch hinüber. »Oleg, komm mit, wir haben was zu erledigen.« Burija merkte es kaum. Er steckte die Nase in ein Handbuch für ein Textverarbeitungsprogramm, das das Füllhorn in seinen Schoß hatte fallen lassen, und war völlig in die Instruktionen vertieft. Nachdem er sein ganzes Leben damit verbracht hatte, alles handschriftlich zu verfassen oder es umständlich auf einer mechanischen Schreibmaschine zu tippen, ähnelte das hier, wie er fand, allzu sehr der schwarzen Magie. Er wäre schon glücklich gewesen, hätte er inzwischen herausgefunden, wie man den Computer dazu bringen konnte, die Wörter in einem Absatz zu zählen. Aber wenn er es nicht einmal schaffte, den Umfang eines Textes zu berechnen, wie sollte er dann wissen, wie viel Anschläge nötig waren, um eine Spalte angemessen zu füllen?

Der revolutionäre Kongress hielt sich schon seit drei Tagen in der alten Getreidebörse verschanzt. Bizarre Auswüchse, die wie schwarze Farne aus Metall aussahen, hatten das Dach in Beschlag genommen und verwandelten Sonnenlicht und den Schmutz der Umwelt zuerst in Elektrizität und anschließend in Essbesteck und Gedecke aus Kunststoff in fröhlichen Farben. Godunow, der sich um Speisen und Getränke kümmern sollte, hatte sich nämlich bitterlich über den Mangel an Tischgeschirr beklagt (als ob sich irgendein wahrer Revolutionär mit derart trivialen Dingen abgäbe). Schließlich hatte sich Mischa, der sich sogar noch intensiver als Oleg mit direkten Schnittstellen zwischen Computer und Hirnen befasste, an die Nase gegriffen und die Dinger auf dem Dach damit beauftragt, entsprechende Utensilien zu produzieren. Danach hatte Mischa irgendetwas erledigen müssen und war fortgegangen, ohne dass irgendjemand außer ihm wusste, wie man die speienden Dinger wieder abstellte. Glücklicherweise schien es an Essen, Munition oder sonstigen wichtigen Dingen noch nicht zu mangeln. Offenbar hatte Burijas Bluff den Herzog tatsächlich davon überzeugt, dass der demokratische Sowjet über Atomwaffen verfügte; jedenfalls hielten dessen Dragoner derzeit großen Abstand zu dem gelben Ziegelsteingebäude am Ende des Platzes der Freiheit.

»Burija, komm schnell! Probleme an den Toren!«

Rubenstein blickte vom Entwurf seiner Proklamation auf. »Was ist denn los?«, schnappte er. »Drück dich gefälligst deutlicher aus!«

Der Genosse (hieß er nicht Petrow?) stürmte vor und blieb vor Rubensteins Schreibtisch stehen. »Soldaten«, keuchte er.

»Aha.« Burija stand auf. »Schießen sie schon? Nein? Dann werde ich zu ihnen sprechen.« Er streckte sich, um die schmerzenden Muskeln zu lockern, und versuchte die Müdigkeit mit einem Blinzeln zu verscheuchen. »Führ mich zu ihnen.«

An den Toren zur Getreidebörse hatte sich eine kleine, aufgeregte Menschenmenge versammelt. Bauersfrauen mit Kopftüchern, Arbeiter der Eisenfabrik vom anderen Ende der Stadt (inzwischen machten sie blau, da eine wundersame, fast organische, von Robotern betriebene Anlage die Mechanik ersetzt hatte und immer noch wuchs und wuchs), selbst ein paar ausgemergelte, kahl geschorene Sträflinge aus dem Arbeits- und Umerziehungslager hinter dem Schloss: Sie alle hatten einen kleinen Haufen verängstigt wirkender Soldaten in die Zange genommen.

»Was geht hier vor?«, verlangte Rubenstein zu wissen.

»Diese Männer sagen…«

»Lasst sie für sich selbst sprechen.« Burija deutete auf den Soldaten, der dem Tor am nächsten stand. »Du! Du schießt nicht auf uns, warum bist du dann hier, Genosse?«

»Ich… äh«, der Landsknecht hielt inne, er wirkte verwirrt.

»Wir ham’s satt, von diesen Aristokraten herumgeschubst zu werden, deshalb«, sagte sein Nachbar, ein Mann mit auffällig blasser Haut und der Figur einer Bohnenstange. Sein großer Pelzhut gehörte ganz sicher nicht zur Standardausrüstung der Uniform. »Diese Mistkerle und Schmarotzer von Royalisten ham sich in ihrem Schloss verschanzt, saufen Champagner und erwarten von uns, dass wir zu ihrer Verteidigung unser Leben lassen. Und hier draußen lassen sich’s alle gut gehen, als würden sie schon das Ende des Regimes feiern. Ich meine, was is hier überhaupt los? Is denn schon der wahre Geist der Freiheit ausgebrochen?«

»Willkommen, Genossen!« Burija breitete die Arme aus. »Ja, es stimmt! Mithilfe unserer Verbündeten vom Festival können wir der reaktionären Junta die eiserne Hand bald für alle Zeiten abschlagen! Eine neue Wirtschaftsordnung erblickt das Licht der Welt; die Produktion kostet uns nichts mehr. Von jetzt an kann alles, was einmal erzeugt ist, unendlich oft reproduziert werden. Jeder nach seinen Vorstellungen, jeder nach seinen Bedürfnissen, heißt jetzt die Devise. Schließt euch uns an! Oder, besser noch, bringt eure Waffenbrüder und Arbeiter dazu, sich uns anzuschließen!«

Er war gerade zum Höhepunkt seiner spontanen Ansprache gekommen, als vom Dach der Getreidebörse ein scharfer Knall ertönte, woraufhin alle besorgt die Köpfe drehten. Irgendetwas war in der Fabrik, die Gedecke und Besteck erzeugte, kaputtgegangen, sodass eine wahre Fontäne von Plastikutensilien in allen Regenbogenfarben zum Himmel aufschoss, um sich gleich darauf – wie ein Vorbote der künftigen postindustriellen Gesellschaft – über das Kopfsteinpflaster zu ergießen. Arbeiter wie Bauern begafften mit offenen Mündern die verblüffende Demonstration von Produktivität und bückten sich gleich darauf, um die grell farbigen Errungenschaften der Revolution aus dem Dreck zu fischen. Als Gewehrsalven abgefeuert wurden, streckte Burija mit wildem Grinsen die Hände hoch, um den Salut der Garnisonssoldaten vom Schädelberg entgegenzunehmen.

 

»Es folgen die Abendnachrichten. Nun zu den wichtigsten Meldungen des Tages: Die Krise, die durch den Einfall des so genannten Festivals in Rochards Welt ausgelöst wurde, hält an. Nachdem alle Versuche einer diplomatischen Schlichtung gescheitert sind, scheint ein militärisches Eingreifen unvermeidlich. Zwar sind kaum Informationen aus dem besetzten Gebiet zu erhalten, aber, soweit bekannt, kämpft die Garnison unter Führung des Herzogs Politowski immer noch heldenhaft, um das Reichsbanner zu verteidigen. Der Botschafter Turkus, Al-Haq, hat heute in einer früheren Sendung erklärt, auch die Regierung von Turku sehe in der Expansionspolitik des so genannten Festivals eine Friedensbedrohung, die so nicht hinzunehmen sei.

Die Frau, die sich gestern selbst an ein Geländer des Kaiserlichen Palastes festgekettet hat und das Wahlrecht und Recht auf Eigentum für Frauen forderte, leidet, wie mittlerweile bekannt wurde, seit geraumer Zeit an psychischen Störungen, genauer gesagt an Hysterie in Verbindung mit Verfolgungswahn. Führerinnen der Vereinigung der Mütter erklärten heute, sie hätten von dieser Aktion nichts gewusst, und distanzierten sich davon als einer unweiblichen Tat. Die Frau soll noch in dieser Woche wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses unter Anklage gestellt werden.

Bislang unbegründete Gerüchte, die auf der alten Erde verbreitet wurden und sich an der von der Admiralität geplanten Aufrüstung der Marine festmachen, haben mehrere außerplanetarische Investoren zu kurzfristigen Aktienverkäufen veranlasst. In der Folge brachen die Wechselkurse ein. Zudem zogen sich mehrere Versicherungsgesellschaften vom Markt der Neuen Republik zurück. Der Leiter der Königlichen Bank hat sich bislang noch nicht dazu geäußert, aber offizielle Vertreter der Handelskammer planen, juristisch gegen die an der Panikmache beteiligten Unternehmen vorzugehen. Sie beschuldigen sie der üblen Nachrede und eines Komplotts, das darauf abziele, die erhöhte Verteidigungsbereitschaft der Neuen Republik als Vorwand zur Errichtung eines eigenen Handelskartells zu benutzen.

Vier Anarchisten wurden heute im Gefängnis von Krummhopf gehängt. In Anwesenheit von…«

Klick.

»Ich hasse diesen verdammten Planeten«, flüsterte Martin und ließ sich noch tiefer in die Badewanne aus Keramik sinken. Diese Wanne war die einzige Annehmlichkeit der engen, kleinen Zweizimmerwohnung an der Werft, in die sie ihn verfrachtet hatten. (Zu den Nachteilen dieser Wohnung zählte natürlich, dass hier vermutlich Abhörgeräte installiert waren.) Er starrte auf die Zimmerdecke zwei Meter über seinem Kopf und bemühte sich, nicht weiter auf die Radiomeldungen zu achten.

Als das Telefon läutete, stemmte er sich fluchend aus der Wanne und hüpfte klatschnass ins Wohnzimmer hinüber. »Ja?«

»Hatten Sie einen schönen Tag?«, fragte eine weibliche Stimme. Er brauchte einen Augenblick, bis er sie erkannte.

»Einen grässlichen Tag«, sagte er aus vollem Herzen. Und von dir zu hören, macht die Sache auch nicht besser, dachte er. Der Gedanke, in irgendein diplomatisches Ränkespiel hineingezogen zu werden, war nicht gerade verlockend. Aber der Drang, seinem Unmut Luft zu machen, war stärker als der leichte Ärger über den Anruf. »Auf der Liste technischer Errungenschaften, über die sie die Handelssperre verhängt haben, stehen auch Schädelimplantate zur Direktvernetzung. Die benutzen immer noch diese Scheißhandschuhe und Tastaturen, um in die virtuelle Realität einzutauchen. Ich sehe nur noch purpurrote vierdimensionale Würfel vor mir, außerdem tun mir die Finger weh.«

»Nun ja, klingt ganz so, als hätten Sie im Unterschied zu mir einen wirklich schönen Tag gehabt. Haben Sie schon was gegessen?«

»Noch nicht.« Plötzlich merkte Martin, wie ausgehungert er war. Ganz zu schweigen davon, wie sehr er sich langweilte. »Warum?«

»Es wird Ihnen gefallen«, sagte sie locker. »Ich kenne ein recht annehmbares Restaurant auf dem C-Deck, zwei Stockwerke und fünf Korridore oberhalb des Tors fünf der Sicherheitszone. Darf ich Sie zum Abendessen einladen?«

Martin dachte kurz nach. Normalerweise hätte er abgelehnt und irgendeinen Weg gesucht, den Kontakt mit einem Spitzel des Diplomatischen Dienstes der Vereinten Nationen zu vermeiden. Aber er hatte Hunger – und nicht nur nach Essen. Die lockere Einladung erinnerte ihn an zu Hause, an einen Ort, an dem die Menschen frei reden konnten. Die Aussicht auf Gesellschaft trieb ihn hinaus, sodass er sich, nachdem er sich angezogen hatte, auf den Weg machte, den sie ihm beschrieben hatte. Er versuchte, nicht allzu gründlich an die Folgen zu denken.

Die Quartiere der Gastoffiziere befanden sich außerhalb der Sicherheitszone des Stützpunktes, aber er musste trotzdem einen Kontrollpunkt passieren, ehe er in die Luftschleuse zum nicht-militärischen Bereich der Raumstation gelangen konnte. Nach der Kontrolle betrat er einen der Hauptkorridore, der in einer sanften Linkskurve um das Innere der Raumstation herumführte. Vom Hauptkorridor zweigten weitere Passagen und zahlreiche Eingänge ab. Als er um eine Ecke bog und auf die Straße trat, hörte er jemanden »Martin!« rufen. Sie nahm seinen Arm. »Wie ich mich freue, Sie zu sehen!«

Sie hatte sich umgezogen und trug jetzt ein grünes Kleid mit eng anliegendem Oberteil und lange schwarze Handschuhe. Ihre Schultern und Oberarme waren – bis auf ein Halsband – nackt, was ihm merkwürdig vorkam. Irgendetwas, das man ihm über die Landessitten beigebracht hatte, nagte an seinem Gedächtnis. »Tun Sie so, als freuten Sie sich, mich zu sehen«, zischte sie ihm zu. »Wegen der Kameras. Sie führen mich zum Abendessen aus. Und nennen Sie mich Ludmilla, wenn andere dabei sind.«

»Gewiss doch.« Er zwang sich zu einem Lächeln. »Meine Liebe! Wie schön, Sie zu sehen!« Er hakte sie unter und bemühte sich, ihrem Beispiel zu folgen. »Wo geht’s lang?«, murmelte er.

»Für einen Amateur halten Sie sich wacker. Dritter Eingang rechts. Es ist ein Tisch auf Ihren Namen reserviert. Ich bin die Begleiterin, die Sie sich für diesen Abend ausgesucht haben. Tut mir Leid wegen dieser Mantel-und-Degen-Szene, aber der Sicherheitsdienst des Stützpunkts überwacht Sie. Und wenn ich hier offiziell und in eigener Person auftreten würde, könnten die anfangen, Ihnen Fragen zu stellen. Es ist viel einfacher, wenn ich eine Frau von zweifelhafter Tugend darstelle.«

Martin wurde rot. »Verstehe.« Schließlich fiel bei ihm der Groschen: In dieser puritanischen Gesellschaft galt eine Frau, die unterhalb des Kinns nackte Haut zeigte, vorsichtig ausgedrückt als halbseiden. Jetzt, da er näher darüber nachdachte, bedeutete das auch, dass das Hotel voller…

»Sie haben die Annehmlichkeiten des Hotels seit Ihrer Ankunft also noch gar nicht genutzt?«, fragte sie und zog eine Augenbraue hoch.

Martin schüttelte den Kopf. »Ich halte nicht viel davon, in Ländern mit anderer Rechtsprechung verhaftet zu werden«, murmelte er, um seine Verlegenheit zu überspielen. »Und die örtlichen Sitten sind recht verwirrend. Was halten Sie denn davon?«

Sie drückte seinen Arm. »Kein Kommentar«, sagte sie leichthin. »Schließlich erwartet man hier von Damen, dass sie nicht fluchen.« Als er ihr die Tür aufhielt, raffte sie die Röcke. »Aber ich glaube nicht, dass sich diese Gesellschaftsordnung noch lange hält. Die haben viel Energie investieren müssen, um den Status quo überhaupt so lange bewahren zu können.«

»Das klingt ja so, als freuten Sie sich auf den Zusammenbruch.« Er streckte einem Kellner in Livree seine Karte hin, worauf der sich verbeugte und ins Restaurant eilte.

»Stimmt. Sie etwa nicht?«

Martin seufzte leise. »Da Sie’s erwähnen: Ich würde dem Status quo kein Träne nachweinen. Ich will nichts anderes, als diese Arbeit hinter mich bringen und dann zurück nach Hause.«

»Ich wünschte, mein Leben wäre so einfach. Ich kann mir Wut nicht leisten. Schließlich soll ich dazu beitragen, diese Gesellschaft vor den Folgen ihrer eigenen Dummheit zu bewahren. Ist schon schwer, soziales Unrecht zu beseitigen, wenn alle Leute, denen man helfen will, tot sind.«

»Ihr Tisch, Sir.« Der Kellner war wieder da und verbeugte sich tief. Sofort kicherte Rachel albern los. Während sie ihm ins Restaurant folgten, in einer abgeteilten Nische Platz nahmen und das Tagesmenü bestellten, spielte sie auch weiterhin das Dummchen, hörte aber sofort damit auf, als der Kellner verschwunden war. »Sicher wollen Sie wissen, was hier los ist, wer ich bin und um was es überhaupt geht«, sagte sie leise. »Außerdem möchten Sie auch in Erfahrung bringen, ob eine Zusammenarbeit mit mir ratsam ist und was für Sie selbst dabei herausspringt, stimmt’s?«

Da er keine Lust hatte, den Mund aufzumachen, nickte er nur und fragte sich dabei, wie viel sie über seinen wahren Auftrag wissen mochte.

»Gut.« Sie sah ihn mit nüchternem Blick an. »Ich setze voraus, dass Sie mich jedenfalls nicht an den Sicherheitsdienst des Stützpunkts verpfeifen werden. Das wäre auch ein schlimmer Fehler. Wenn nicht für Sie, dann zumindest für viele andere Menschen.«

Er senkte den Blick und starrte auf das Tischgedeck – silbernes Besteck, eine Leinenserviette, eine gestärkte Tischdecke, die in Kaskaden zu Boden fiel. Und auf Rachels Brüste. Ihr Kleid machte es unmöglich, sie nicht zu beachten, auch wenn er sich bemühte, nicht hinzusehen. Sie wirkte tatsächlich wie eine Frau von zweifelhafter Tugend. Schließlich verlegte er sich darauf, ihr Gesicht zu mustern. »Hier geht irgendetwas vor sich, das ich nicht begreife«, bemerkte er. »Was ist es?«

»Wird sich alles klären lassen. Aber als Erstes möchte ich Ihnen Folgendes sagen: Nachdem Sie sich mein Angebot angehört haben, können Sie gehen, es sei denn, Sie beschließen, sich an dieser Sache zu beteiligen. Das ist mein Ernst. Ich habe letztes Mal dicker aufgetragen, aber ich möchte Sie wirklich nicht dabei haben, wenn Sie nicht freiwillig mitmachen. Derzeit halten diese Leute Sie lediglich für einen großmäuligen Ingenieur. Aber wenn die mich allzu genau unter die Lupe nehmen…« Sie schwieg kurz und presste die Lippen leicht zusammen. »Ich bin eine Frau, aber das wird mir auch nicht viel Nachsicht einbringen, falls die zufällig über mich stolpern. Allerdings fehlt denen wohl die Fantasie, sich Frauen als selbstständig handelnde Wesen vorzustellen, geschweige denn als Abwehrexpertinnen des Geheimdienstes. Und morgen um diese Zeit müsste ich eigentlich alle Beglaubigungen des Diplomatischen Dienstes beisammen haben, sodass ich hier ganz offiziell agieren kann. Egal – kommen wir zu dem, was hier vor sich geht. Möchten Sie jetzt aufstehen und gehen oder mit hineingezogen werden?«

Martin dachte einen Augenblick nach. Wie soll ich mich entscheiden? Die Lösung schien auf der Hand zu liegen. »Ich habe mich dafür entschieden, einige Antworten einzuholen. Und für das Abendessen. Alles ist besser, als in diesem ekelhaften Loch von Marinestützpunkt festzusitzen.«

»In Ordnung.« Sie lehnte sich zurück und machte es sich bequem. »Zum Ersten«, sie streckte den behandschuhten Zeigefinger hoch, »was geht hier vor? Das ist tatsächlich gar nicht so leicht zu beantworten. Die Vereinten Nationen haben hier keine Jurisdiktion, aber genügend Einfluss, um die Handelsverträge der Neuen Republik bei der Hälfte ihrer Nachbarn zum Platzen zu bringen – vorausgesetzt, wir stellen fest, dass diese Republik die Konventionen zur Kriegführung verletzt oder geächtete Technologien anwendet.«

Martin schnaubte. »Geächtete Technologien? Ausgerechnet diese Leute?«

»Glauben Sie wirklich, die würden sich irgendeine Chance entgehen lassen, wenn sie ihnen zum Vorteil gereicht? Ich meine die königliche Familie.«

»Hm.« Martin strich sich nachdenklich übers Kinn. »Okay, also sind diese Leute zwar Technikgegner, aber durchaus pragmatisch – wollten Sie das damit ausdrücken?«

»Kurz gesagt, ja.« Sie zuckte die Achseln.

Wider bessere Vernunft ertappte sich Martin dabei, dass er auf irgendeine Stelle unterhalb ihres Kinns starrte. Er zwang sich aufzublicken. »Unsere Waffensperrverträge sind hier nicht verbindlich, aber näher an unserem Heimatplaneten sieht die Sache schon ganz anders aus, und der Handelsverkehr der Neuen Republik fließt zum guten Teil in diese Richtung. Es gibt allerdings eine bestimmte Verpflichtung der Neuen Republik gegenüber den Vereinten Nationen: Sobald ich offiziell akkreditiert bin, besitze ich für den Fall, dass die mich erwischen, diplomatische Immunität. Vorausgesetzt, ich lebe danach noch lange genug, um sie geltend zu machen. Zum Zweiten«, sie streckte einen weiteren Finger hoch, »dienen die Waffeninspektionen im Rahmen der Sperrverträge auch dazu, die Menschen davon abzuhalten, eine Einmischung des Eschatons zu provozieren. Und das liegt in beiderseitigem Interesse. Solange sich die Leute auf langweilige kleine Sachen beschränken, etwa Flugkörper mit begrenzter Reichweite, die Planeten explodieren lassen, oder Nervengas und solche Dinge, mischt sich das große E nicht ein. Aber sobald jemand damit anfängt, im Trüben zu fischen… Zu ihrer Debütantinnen-Feier hat Daddy ihr soooo einen großen Smaragd geschenkt.« Sie lächelte einfältig, während Martin sie verwirrt anstarrte. Gleich darauf schaltete er und grinste verkrampft, denn der Kellner war wieder aufgetaucht und stellte ihm einen Suppenteller hin.

Nachdem das erledigt war, der Kellner ihre Gläser mit Wein gefüllt und sich danach entfernt hatte, verzog Rachel das Gesicht. »Ha, wo war ich stehen geblieben? Sie würden nicht glauben, wie schnell einem dieses blöde mädchenhafte Getue auf den Geist geht. Wenn man sich die ganze Zeit über wie eine zurückgebliebene Zehnjährige verhalten muss… Ach ja, das große E. Das große E hat ganz entschieden etwas gegen Leute, die autonome, sich selbst reproduzierende Waffen entwickeln oder Gerätschaften, die die raumzeitliche Kausalität verletzen. Und auch gegen eine ganze Menge anderer Mittel der Massenvernichtung, die unter die Waffensperre fallen. Bakterielle Kriegführung: weg damit. Gray Goo, die Substanz, die sich mithilfe der Nanotechnologie endlos selbst reproduzieren kann: weg damit. Alles, was nach einer Software riecht, die in der Lage ist, sich selbst zu verändern oder weiterzuentwickeln: weg damit. Das alles fällt in die zweite Kategorie verbotener Waffen. Wenn eine planetarische Zivilisation anfängt, damit herumzuspielen, kommt früher oder später das große E und sieht es sich an – und dann ist es aus mit der Zivilisation auf diesem Planeten.«

Martin nickte und versuchte so auszusehen, als wäre ihm das alles neu. Er biss sich auf die Zunge, um nicht der Versuchung nachzugeben, ihre letzte Behauptung zu berichtigen. Dass sie sich auf dieses Thema eingelassen hatte, wirkte so ansteckend, dass er am liebsten auch sein eigenes Wissen beigesteuert hätte.

Rachel nahm einen Löffel Suppe. »Das große E kann außerordentlich brutal sein. Wir haben eindeutige Beweise für wenigstens eine atypische Supernova, die etwa fünfhundert Lichtjahre außerhalb unseres – des irdischen – Kausalitäts-Kegels aufgetaucht ist. Wenn man versucht, eine Bedrohung, die sich mit Höchstgeschwindigkeit verbreitet, ein für alle Mal aus der Welt zu schaffen, ergibt das durchaus Sinn. Deshalb nehmen wir an, dass das Eschaton dahinter steckt. Wie auch immer – es wäre jedenfalls eine schlechte Politik, die zulässt, dass das kleine Nachbarskind mit strategischen Kernwaffen herumspielt, meinen Sie nicht auch?«

»Tja.« Martin nickte und nahm ebenfalls einen Löffel Suppe. »Etwas dieser Art könnte tatsächlich verhindern, dass man die Zusatzvergütung für den pünktlichen Abschluss der Arbeit auch einkassieren kann.«

Ihre Augen verengten sich zu Schlitzen, dann nickte sie ihm zu. »Immer noch sarkastisch. Wie haben Sie sich bislang denn aus Schwierigkeiten heraushalten können?«

»Gar nicht.« Er legte den Löffel nieder. »Deshalb hat mich Ihr Annäherungsversuch, wenn ich so sagen darf, ja auch ein bisschen aus der Fassung gebracht. Ich halte nicht viel davon, mich in einem Gefängnis aufknüpfen zu lassen.«

Rachel holte Luft. »Es tut mir Leid«, sagte sie. »Ich weiß zwar nicht, ob Ihnen besonders viel daran liegt, aber… es ist mein Ernst. Trotzdem würde ich Ihnen gern den größeren Zusammenhang erklären. Die Neue Republik liegt nur zweihundertundfünfzig Lichtjahre von der Erde entfernt. Sollte das große E beschließen, den Hauptplaneten hier in die Luft zu jagen, müssten wir fünfzig Sternsysteme evakuieren.« Der Gedanke schien ihr zu schaffen zu machen. »Darum geht es hier. Deshalb musste ich Sie in diese Sache hineinziehen.«

Sie senkte den Blick und widmete sich entschlossen ihrer Suppe, während Martin sie unverwandt betrachtete. Ihm war der Appetit vergangen. Sie hatte gründliche Arbeit dabei geleistet, ihm jede Lust aufs Essen zu nehmen, indem sie ihm den wahren Grund seiner Anwesenheit erneut ins Gedächtnis rief.

Aus seinen Eltern machte er sich nicht viel, aber er hatte auf dem Mars eine Schwester, an der er sehr hing. Und zu viele Freunde und Erinnerungen, als dass er noch mehr über diese Sache hätte hören wollen. Einfacher war es, ihr beim Essen zuzusehen und das makellose Rosa ihrer Haut an Armen und Dekollete zu bewundern; er blinzelte, griff nach seinem Weinglas und trank es auf einen Zug aus. Als sie aufblickte, ertappte sie ihn dabei, wie er sie beobachtete. Sie grinste breit – sogar theatralisch – und leckte sich langsam über die Lippen. Das war ihm ein wenig zu dick aufgetragen, sodass er sich wegdrehte.

»Verrucht soll das aussehen. Scheiße noch mal, Mann, wir müssen doch so wirken, als wäre Ihre Einladung zum Abendessen nur das Vorspiel. Anschließend wollen Sie mich natürlich mit nach Hause nehmen und bis zur Besinnungslosigkeit durchvögeln«, sagte sie leise. »Können Sie nicht wenigstens ein kleines bisschen Interesse heucheln?«

»Tut mir Leid«, erwiderte er schockiert. »Ich bin kein Schauspieler. So sollen wir also dabei aussehen?«

Sie streckte ihr leeres Weinglas hoch. »Schenken Sie mir bitte nach.« Während sie ihn mit einem seltsamen Blick bedachte, setzte er sich aufrecht hin, griff nach der Weinflasche und füllte ihr Glas. »Ich wollte Ihnen keineswegs den Appetit verderben. Zumal Sie auf tausende von Meilen der einzige zivilisierte Mensch sind, der mir Gesellschaft leisten kann.«

»Ich bin Ingenieur und für die Antriebe von Raumschiffen zuständig«, erwiderte er und kramte in seinem Hirn nach irgendeiner anderen Antwort. Auf was lasse ich mich da ein?, fragte er sich verzweifelt. Noch vor zwei Stunden wäre er vor Langeweile und Einsamkeit fast verrückt geworden. Jetzt hatte ihn eine intelligente, attraktive Frau – die zufällig auch noch Spionin war – aus seinem Loch gezerrt und zum Abendessen eingeladen. Irgendein Haken musste ja wohl daran sein, oder?

»Ich arbeite gern mit Maschinen und mag Raumschiffe. Im…«, er räusperte sich, »im Umgang mit Menschen bin ich nicht so gut.«

»Und ist das ein Problem?«

»Tja.« Er nickte und taxierte sie. Ihre Miene drückte Anteilnahme aus. »Mit den Einheimischen gibt es ständig Missverständnisse. Das ist gar nicht gut. Deshalb habe ich mich in mein Zimmer verkrochen und versucht, keinem in die Quere zu kommen.«

»Und jetzt – lassen Sie mich raten – entwickeln Sie langsam so was wie eine Knastneurose?«

»Nachdem ich vier Monate auf diese Weise verbracht habe, könnte man es so nennen.« Er nahm einen Schluck Wein. »Und wie sieht’s bei Ihnen aus?«

Sie atmete tief durch. »Nicht ganz so schlimm, aber fast. Schließlich habe ich hier etwas zu erledigen und soll mich aus Schwierigkeiten heraushalten. Bei mir gehört es zur Arbeit, mich anzupassen, aber nach kurzer Zeit treibt es einen in den Wahnsinn. Wirklich, dieses persönliche Gespräch vor Ort wird in den Vorschriften nicht gerade empfohlen, wie Sie wissen müssen. Es wäre sicher viel einfacher, eine wechselseitige Abhöranlage zu installieren, um Ihnen eine Nachricht zukommen zu lassen.«

»Aber Sie hatten«, er lächelte schwach, »eine Knastneurose.«

»Genau.« Sie grinste. »Wie Sie auch.«

»Wartet zu Hause jemand auf Sie?«, fragte er. »Entschuldigung, ich meine: Gibt es jemanden, zu dem Sie so bald wie möglich zurückkehren möchten? Oder jemanden, bei dem Sie abladen können? Zum Beispiel, indem Sie Briefe schreiben?«

»Pah!« Sie runzelte die Stirn und sah ihn gleich darauf an. »Das hier ist kein Beruf für jemanden, der mit mehr als seiner Arbeit verheiratet ist, Martin. Und das gilt ja auch für Ihren Job. Falls Sie verheiratet wären, würden Sie Ihre Familie dann an einen solchen Ort wie die Neue Republik verschleppen?«

»Nein, aber so habe ich es auch gar nicht gemeint…«

»Ich weiß.« Ihre finstere Miene wich Nachdenklichkeit. »Allerdings tut es hin und wieder gut, wenn man frei reden kann.«

Martin spielte mit seinem Weinglas. »Stimmt«, sagte er nachdrücklich. »Letzte Woche hat mich das auch gepackt.« Er redete nicht weiter, da sie ihn seltsam ansah. Ihr Gesicht verzog sich zu einer Miene, die als Lächeln hätte durchgehen können, hätte er nicht die Augen gesehen. Und die blickten beunruhigt.

»Lächeln Sie mich an, ja, gut so. Machen Sie so weiter, hören Sie nicht auf damit. Wir werden gerade beobachtet. Machen Sie sich keine Sorgen wegen des Mikros – darum habe ich mich gekümmert –, aber von ganz hinten beobachtet uns jemand aus Fleisch und Blut, ein Spitzel. Versuchen Sie so zu wirken, als wollten Sie mich mit nach Hause nehmen und ins Bett zerren, sonst wundert der sich, was wir hier treiben.« Sie himmelte ihn mit breitem Lächeln an. »Finden Sie mich hübsch?« Hinter der Maske ihres dümmlichen Grinsens musterte sie ihn.

»Ja…« Er starrte sie an und hoffte dabei, dass er wirklich wie vernarrt wirkte. »Ich finde Sie sehr hübsch.« Hübsch auf eine Art, die nur eine gute Diät und die bestmögliche ärztliche Versorgung bewirken konnten. Er bemühte sich, noch breiter zu grinsen. »Ach, eigentlich eher schön und resolut.« Ihr Lächeln nahm einen leicht starren Zug an. Mitten in diesem grinsend ausgetragenen Duell tauchte der Kellner auf, um die Suppenteller abzuräumen und den Hauptgang zu servieren.

»Oh, das sieht aber gut aus.« Während sie nach Messer und Gabel griff, lockerte sie sich ein wenig. »Hm. Sehen Sie sich nicht um, aber der Mann, der uns beschattet, blickt gerade in eine andere Richtung. Wissen Sie was? Sie sind ein größerer Kavalier, als Ihnen gut tut. Die meisten Männer in dieser Spelunke hätten längst versucht, mich anzugrapschen. Das bringt dieser Ort mit sich.«

»Bei den meisten Männern macht es nach fünfzig, sechzig Jahren klick. Und dann sorgen sie sich nicht weiter darum, ob sich alles in Luft auflöst, wenn man nicht mit beiden Händen danach grapscht. Das Problem ist, dass hier keine Verjüngungskuren erlaubt sind…« Verlegen brach er ab.

»Ja, und Ersteres weiß ich auch zu schätzen.« Sie erwiderte sein Lächeln.

»Hat Ihnen mal jemand gesagt, wie süß Sie aussehen, wenn Sie lächeln? Ich hab so viel Zeit an diesem Dreckort verbracht, dass ich schon gar nicht mehr weiß, wie ein ehrliches Lächeln aussieht. Und schon gar nicht, wie gut es tut, mit einem reifen, erwachsenen Menschen zu reden. Jedenfalls…«, begann er, brach aber ab, da ihr Zeh gerade innen an seinem linken Bein entlangstrich.

»Ich glaube, ich mag Sie«, sagte sie leise.

Martin schwieg ein Weilchen, dann nickte er sachlich. »Ich bin entzückt, das können Sie mir abnehmen.«

»Wirklich?« Sie grinste und ließ ihren Zeh höher gleiten.

Ihm stockte der Atem. »Tun Sie das nicht! Sie werden noch einen Skandal auslösen!« In gespieltem Entsetzen sah er sich um. »Ich hoffe, niemand sieht zu.«

»Keine Chance, schließlich ist die Tischdecke ja genau für diese Zwecke da.« Sie lachte leise und steckte ihn damit an. »Am besten wir bringen das Geschäftliche hinter uns, sodass wir das Essen genießen können«, fuhr sie leise fort. »Morgen werden Sie wieder an Bord der Lord Vanek gehen. Vermutlich wird man Sie fragen, ob Sie sich durch Verlängerung Ihres Vertrags ein zusätzliches Honorar verdienen möchten. Falls Sie Ihren Geldbeutel sanieren und vielleicht auch dazu beitragen möchten, Millionen von Menschenleben zu retten, sagen Sie ja. Zufällig weiß ich, dass der Admiralsstab die Lord Vanek als Flaggschiff einsetzen will. Und ich werde auch an Bord sein…«

»Sie werden was? Wie wollen Sie das anstellen?«

»Als Beobachterin des Diplomatischen Korps. Meine Aufgabe besteht darin sicherzustellen, dass das Festival – ich wünschte, ich wüsste mehr darüber – nicht sechs verschiedene Verträge bricht. Inoffiziell will ich natürlich auch ein Auge auf die Neue Republik halten. Es geht ein bisschen mehr vor sich, als irgendjemand zugeben will – sogar sehr viel mehr. Aber wir wollen uns ja nicht das Essen vermiesen lassen, nicht wahr? Falls Sie einverstanden sind, bringen Sie mich nach Hause. Dort ist es abhörsicher, und ich weihe Sie dann in den Rest ein. Und die örtliche Stasi wird einfach annehmen, dass Sie so herumhuren, wie man es von allein stehenden Gastingenieuren erwarten darf. – Also werden Sie mit einem netten dicken Scheck Ihres Auftraggebers nach Hause zurückkehren. Und dazu kommt noch ein fettes Honorar, das Ihnen DefIntelSIG zahlt, die spezielle Nachrichtendienstgruppe der UN-Abwehr. Alles wird gut. Wie wär’s, wenn wir jetzt das Geschäftliche vergessen und uns dem Essen widmen, ehe es kalt wird?«

»Klingt gut.« Martin beugte sich vor. »Was diese Tarnungsgeschichte für die örtliche Stasi betrifft…«

»Ja?« Sie griff nach ihrer Gabel.

»Gehört dazu auch, dass wir auf dem Heimweg noch eine Flasche Wein besorgen? Und später gemeinsam wieder nüchtern werden?«

»Na ja, ich denke schon…« Als sie ihn ansah, fiel ihm auf, dass ihre Pupillen geweitet waren.

»Sie brauchen jemanden, mit dem Sie reden können«, sagte er bedächtig.

»Genau das wär’s doch, oder?« Sie legte die Gabel ab und strich unter dem Tisch, sodass es niemand sehen konnte, erneut über seinen Knöchel. Martin spürte seinen Puls und merkte, wie er rot wurde. Sie war völlig auf ihn konzentriert und beobachtete ihn gespannt.

»Wie lange ist es bei Ihnen her?«, fragte er leise.

»Mehr als vier Monate.« Plötzlich zog sie ihren Fuß zurück.

»Dann essen Sie jetzt lieber schnell auf«, sagte er. »Wenn Sie möchten, dass unsere Tarnungsgeschichte Hand und Fuß haben soll.«

 

»Notebook, stell die Verbindung zu Hermann her.«

»Schon dabei… Verbunden. Hallo, Martin, was kann ich für dich tun?«

»Ich hab ein Problem.«

»Ein großes?«

»So groß wie eine Frau normaler menschlicher Größe. Deutlicher ausgedrückt: Sie kommt von der Erde, sieht toll aus und… äh… arbeitet verdeckt für eine spezielle Nachrichtendienstgruppe der UN-Abwehr. Spezialisiert auf Waffen, die die Kausalität verletzen, außerdem auf Verstöße gegen Waffensperrverträge, Dinge dieser Art.«

»Interessant. Erzähl mir mehr.«

»Sie heißt Rachel Mansour. Hat eine Karte, die sie als Waffeninspektorin der Vereinten Nationen ausweist, dem Anschein nach echt. Jedenfalls ist sie keine Einheimische oder ein Agent provocateur – es sei denn, die schicken ihre weiblichen Agenten inzwischen zur Ausbildung weg. Sie behauptet, Neu-Prag plane irgendeine Marineexpedition zur Befreiung der belagerten Kolonie. Sie nimmt an, dass die mich morgen anzuwerben versuchen, damit ich in dieser Kriegszeit kritische Arbeiten auf den Schiffen übernehme. Was sie von mir will, ist… na ja, hauptsächlich, dass ich Ausschau nach allem halte, das faul oder illegal sein könnte. Es geht wohl um die Verletzung der Abkommen über strategische Waffen, nehme ich an. Das ist jedenfalls ein Ansatzpunkt. Die Frage…«

»Keine voreiligen Schlüsse, bitte. Hast du irgendwelche anderen UN-Inspektoren in der Umgebung bemerkt?«

»Nicht direkt, aber sie hat erwähnt, dass irgendjemand vor Ort sie unterstützt und sie Beglaubigungen des Diplomatischen Korps erhält. Wie sie sagt, nimmt sie an der Expedition teil. Ich gehe davon aus, dass eine ganze verdeckt arbeitende Einsatzgruppe der Vereinten Nationen hinter ihr steht, wahrscheinlich sind die auf Destabilisierung aus, aber durch ganz unauffällige Aktionen. Natürlich hat die Neue Republik so etwas regelrecht herausgefordert, seit sie jetzt mit der Aufrüstung der Marine begonnen hat. Ich bin ziemlich sicher, dass sie mir die Wahrheit gesagt hat, was die Ziele ihrer Mission betrifft, wenn auch nicht die ganze Wahrheit.«

»Richtig. Wie bist du mit ihr verblieben?«

»Ich habe mich einverstanden erklärt, das zu tun, was sie von mir verlangt.« Martin schwieg kurz, weil er seinen Bericht unbewusst zensierte. »Falls du es für ratsam hältst«, fuhr er fort, »werde ich jedes Angebot, die Arbeit während der Kriegszeit fortzusetzen, gegen Zahlung einer Gefahrenzulage annehmen. Und dann werde ich das tun, was sie von mir erwartet: Ausschau nach illegalen Aktivitäten halten. Hast du irgendwelche Einwände? Für wie schlimm hältst du die Lage?«

»Sie ist viel schlimmer als du denkst.«

Martin stutzte. »Was?«

»Ich kenne Rachel Mansour. Warte bitte.« Während sein Notebook für fast sechzig Sekunden verstummte, blieb Martin in der dunklen Mietwohnung sitzen und wartete voller Sorge ab. Das Schweigen war völlig untypisch für Hermann, das war noch nie vorgekommen. Wie eine reibungslos laufende Maschine hatte er Martin mit seinen Fragen stets zum Reden gebracht, und zwar so, dass es wie ein Selbstgespräch war. Manchmal hatte Hermann Lösungen parat gehabt, manchmal auch nicht, aber nie hatte es ihm die Sprache verschlagen…

»Martin, bitte hör zu. Mir ist von unabhängiger Seite bestätigt worden, dass tatsächlich ein verdeckter UN-Einsatz in der Neuen Republik stattfindet. Die Sonderagentin, die ihn leitet, ist Rachel Mansour. Und das bedeutet, dass sie mit ernsthaften Problemen rechnen. Sie ist ein großes Tier und seit fast einem Jahr nirgendwo mehr aufgetaucht, was darauf hindeutet, dass sie den Großteil der Zeit in der Neuen Republik verbracht hat. Mittlerweile hat sich die UN-Vertretung auf Luna deine Personalakten kommen lassen und gegenüber dem Management von MiG angedeutet, dass sie dich unter Vertrag nehmen wollen. Außerdem ist deren Analyse der Situation im Wesentlichen richtig: Die Neue Republik bereitet sich darauf vor, die ganze Heimatflotte nach Rochards Welt zu entsenden, und zwar auf einem großen Umweg und mit der Absicht, das Festival anzugreifen. Das ist eine überaus schlechte Idee – offensichtlich begreifen die nicht, wen sie mit dem Festival vor sich haben –, aber anscheinend sind die Vorbereitungen schon so weit fortgeschritten, dass ein Angriff jetzt nicht mehr abzuwenden ist.

Darüber hinaus ist es durchaus möglich, dass du dich persönlich in Gefahr bringst, falls die den Eindruck haben, du würdest in Panik geraten. So wie du gegenwärtig überwacht wirst, würde ein Versuch, das Vertragsverhältnis zu beenden und zu einem zivilen Linienschiff zu wechseln, mit Sicherheit als Verrat aufgefasst werden und vom Geheimdienstapparat des Kurators sofort bestraft werden. Und Mansour wird dich wohl kaum schützen können, selbst wenn sie wollte. Ich möchte nochmals betonen, dass sich die Neue Republik bereits im heimlichen Kriegszustand befindet. Wolltest du dich jetzt abseilen, gäbe es mit Sicherheit Probleme.«

»O Scheiße.«

»Es ist noch nicht alles verloren. Ich möchte, dass du in jeder Hinsicht mit Mansour zusammenarbeitest. Tu deine Arbeit und zieh dich dann unauffällig zurück. Ich werde mich bemühen, dafür zu sorgen, dass du ohne Risiko von Bord gehen kannst, sobald die Flotte angekommen ist. Denk daran, dass du in größerer Gefahr bist, wenn du jetzt abhaust. Zieh dich lieber zu einem späteren Zeitpunkt unauffällig zurück.«

Martin spürte erneut, wie er sich innerlich anspannte, auch wenn er kaum gemerkt hatte, dass es vorübergehend nachgelassen hatte. »Okay. Hast du irgendwelche Rückversicherungen für mich, falls die Vereinten Nationen die Sache vermasseln? Irgendwelche Ideen, wie ich mit heiler Haut davonkommen kann? Irgendwelche Informationen über dieses Festival, was immer das sein mag?«

Hermann schwieg einen Augenblick. »Du musst dir darüber klar sein, dass wir jetzt eindeutig eine Situation haben, in der direktes Eingreifen gefordert ist.« Martin schnappte nach Luft und setzte sich kerzengerade hin. »Im Fall, dass die Dinge, wie du es gern ausdrückst, aus dem Ruder laufen, möchte ich dich an Ort und Stelle haben. Millionen von Menschenleben stehen auf dem Spiel. Auch umfassendere politische Fragen schälen sich jetzt heraus. Falls die Neue Republik auf das Festival trifft, kann es passieren, dass die daraus resultierenden Erschütterungen des Status quo eine Revolution vor Ort vorantreiben. Die Körperschaften, die sich an die Vereinten Nationen gebunden haben, sowohl die staatlichen als auch die staatsähnlichen, haben aus Gründen, die auf der Hand liegen, ein maßgebliches Interesse daran. Ich kann dir im Augenblick nicht mehr über das Festival sagen, denn sonst würdest du dich nur selbst belasten, wenn dir irgendwelche Informationen entschlüpfen. Aber man kann mit Recht behaupten, dass die Republik eher eine Gefahr für sich selbst darstellt als für das Festival. Allerdings bin ich angesichts dieser außergewöhnlichen Situation bereit, dir eine Gefahrenzulage in doppelter Höhe dessen zu zahlen, was dir die UN-Waffeninspektion zugesagt hat, wenn du nach Erledigung deines jetzigen Auftrags an Ort und Stelle bleibst und meine Anweisungen befolgst.«

Martins Kehle war wie ausgedörrt. »Einverstanden. Aber wenn eine so große Wahrscheinlichkeit besteht, dass es kritisch wird, will ich das Dreifache des UN-Honorars. Und falls ich dabei draufgehe, soll es meinen nächsten Verwandten ausgezahlt werden.«

Stille. Und dann: »Einverstanden. Ende der Verbindung mit Hermann.«

 

Rachel lag im Bett, starrte an die Decke und versuchte, ihre Gefühle zu sortieren. Es war früher Morgen, Martin war vor einiger Zeit gegangen. Sie hatte beim Gedanken an ihre geschäftliche Abmachung ein ungutes Gefühl, obwohl offenbar alles bestens lief. Irgendetwas nagte an ihr, ohne dass sie bewusst den Finger darauf legen konnte. Sie rollte sich zur Seite, legte ihren Kopf auf das allzu üppig gepolsterte Kopfkissen neben sich und zog die Knie an, ohne Schlaf zu finden.

Es hätte ein simples Anwerbungsgespräch werden sollen: Sichere dir einen nützlichen Kontakt und instruiere ihn für eine einzelne Aufgabe. Nett und neutral. Stattdessen hatte sie sich dazu hinreißen lassen, ihr Abendessen mit einem ruhigen, aber durch und durch anständigen Mann einzunehmen, der nicht versucht hatte, sie anzubaggern, und sie auch nicht wie ein Möbelstück behandelt, sondern mit ernsthafter Miene zugehört und interessante Dinge zu sagen gehabt hatte. Die Art von Mann, mit dem sie unter normalen Umständen gern ausgegangen wäre.

Sie hatte sich leicht verrückt verhalten, eine Gratwanderung am Rand des Unverantwortlichen vollführt, und auch er war aufgrund der langen Isolation leicht neben der Spur gewesen. Und jetzt machte sie sich Sorgen um ihn – was im Plan nicht vorgesehen war.

Die Lage hatte sich zugespitzt, als sie, einander am Küchentisch gegenübersitzend, mit der Diskussion der beruflichen Dinge aufgehört hatten. Rachel erinnerte sich, wie seltsam erwartungsvoll er sie ansah. Als sie die Beine so übereinander schlug, dass ein Fuß unter ihren Röcken hervorschaute, musterte er sie eingehend und fragte dann: »Ist das alles? Sie möchten also, dass ich nach Instruktionen zur Rückreise in der Zeit Ausschau halte, mich um den Schaltplan kümmere und Sie benachrichtige, wenn mir irgendetwas auffällt, das nach einer Verletzung der Kausalität riecht – sonst nichts?«

»Genau.« Sie starrte ihn an. »Das ist im Grunde genommen alles.«

»Es ist… äh…« Er sah sie scharf von der Seite an. »Ich dachte, es sei noch mehr im Spiel.«

»Kann sein.« Sie faltete die Hände im Schoß. »Aber nur, wenn Sie wollen.«

»Oh, na ja«, sagte er, weil er das erst einmal verdauen musste. »Was gehört sonst noch zu der Arbeit?«

»Nichts.« Sie legte den Kopf schräg, erwiderte seinen Blick und wappnete sich für das Kommende. »Das Geschäftliche ist erledigt. Wissen Sie noch, was ich vorhin im Restaurant gesagt habe?«

»Über…«, er nickte und wandte den Blick ab.

»Was ist denn los?«, fragte sie.

»Oh, gar nichts.« Er seufzte leise.

»Unsinn.« Sie stand auf. »Kommen Sie, lassen Sie uns reden.« Sie griff nach seiner Hand und zerrte leicht daran.

»Was?« Er schüttelte den Kopf. »Ich bin nur…«

»Kommen Sie«, sie zog fester. »Kommen Sie mit ins Wohnzimmer.«

»Okay.« Als er aufstand, fiel ihr auf, dass er nicht größer war als sie selbst. Er schien ihrem Blick auszuweichen. Die Situation machte ihn tatsächlich verlegen.

»Was ist los?«, fragte sie noch einmal.

Er lachte kurz und humorlos auf. »Sie sind der erste vernünftige Mensch, den ich in den letzten vier Monaten getroffen habe«, sagte er leise. »Ich hab mich gerade erst daran gewöhnt, mit Ihnen zu reden.«

Sie sah ihn unverwandt an. »Sie müssen ja auch nicht damit aufhören.«

»Ich…«, er nahm wieder die alte, starre Haltung an. Warum tut er das?, fragte sie sich. »Sagen Sie etwas!«

»Ich…«, er schwieg kurz, sodass sie schon Angst hatte, er werde überhaupt nicht mehr weiterreden. Doch dann platzte es aus ihm heraus: »Ich will ja auch gar nicht damit aufhören. An diesem Ort bin ich die ganze Zeit über in meinem eigenen Kopf eingesperrt, so als steckte ich in einem Schraubstock, der mich zusammenquetscht. Das Einzige, das irgendjemand von mir will, ist meine Arbeit…«

Rachel lehnte sich gegen ihn. »Halt den Mund«, sagte sie leise. Er brach ab. »Besser so.« Sie fand, dass er wirklich eine gute Stütze abgab, an die man sich anlehnen konnte. Als sie ihn umschlang, brauchte er einen Moment, bis er die Umarmung erwiderte. »Vergiss die Arbeit. Tja, du hast richtig gehört. Vergiss die Neue Republik. Glaubst du, das schaffst du für einige Stunden?«

»Ich…«, sie spürte seinen bebenden Atem, »ich werd’s versuchen.«

»Gut«, sagte sie nachdrücklich. Und sie fühlte sich auch wirklich gut dabei: Hier war ein Mensch, den sie für verlässlich halten konnte. Jemand, dem diese ganze verkümmerte, klaustrophobische Zustände erzeugende Kultur offenbar ähnlich zu schaffen machte wie ihr selbst. Inzwischen hielt er sie fest in den Armen. Sie spürte, wie seine Hände an ihrem Rücken hinauf und hinunter wanderten und ihre schmale Taille erforschten. »Komm mit ins Wohnzimmer, es ist gleich nebenan.«

Martin hatte sich mit einem Blick rückversichert. »Willst du es auch wirklich?«, fragte er jetzt. Die vorsichtige Zurückhaltung machte einen Teil seines Charmes aus.

»Was könnte es da noch an Zweifeln geben?« Während sie ihn heftig küsste und ihre Zunge seine Lippen entdeckte, hatte sie das Gefühl, sie werde gleich explodieren und die Fesseln ihrer Kleidung sprengen. Sanft zog er sie näher an sich heran, sodass sie ihr Kinn in seiner Halsgrube bergen konnte. Sie spürte die Bartstoppeln auf seiner Wange. »Es ist so verdammt lange her«, flüsterte sie.

»Danke gleichfalls.« Seine Arme nahmen ihr einiges von der Bürde, die auf ihr lastete. »Hast du dich einsam gefühlt?«, fragte er.

Sie lachte heiser auf. »Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie einsam. Ich bin eine kleine Ewigkeit hier; so lange, dass ich mir selbst schon wie ein schwarzes Schaf vorkomme, wenn ich mit fremden Männern rede und etwas anderes aus meinem Leben mache, als Kinder großzuziehen. Deren Lebensphilosophie setzt mir inzwischen arg zu.«

»Wie bitte? Eine große, starke UN-Agentin wie du lässt sich von solchen Dingen beeindrucken?«, bemerkte er mit sanftem Spott.

»Da hast du verdammt Recht«, murmelte sie an seiner Schulter, während sie spürte, wie seine Hand sich vorsichtig unterhalb ihrer Taille vortastete.

»Tut mir Leid. Hätte ich sechs Monate allein auf diesem grässlichen Planeten verbringen und mitspielen müssen, wäre ich längst ausgerastet«, sagte er nachdenklich.

»Es waren mehr als sechs Monate«, erwiderte sie und blickte an seinem Kopf vorbei. Er hat hübsche Ohrläppchen, fiel ihr beiläufig auf, als sie sich näher an ihn drückte.

»Suchen wir nach der Weinflasche«, schlug er sanft vor. »Du bist mir ein bisschen zu schnell.«

»Tut mir Leid«, sagte sie automatisch. »Tut mir wirklich Leid.« Sie verkrampfte sich leicht. »Nein, du kannst deine Hände ruhig da lassen, wo sie sind. Komm, wir gehen rüber.«

Irgendwie schafften sie es, ohne einander loszulassen ins Wohnzimmer zu gelangen, das mit allzu üppig gepolsterten Lehnstühlen und einer Vitrine voller Nippes ausgestattet war.

»Anfangs hab ich dich für eine Art Agent provocateur gehalten«, bekannte er, »aber stattdessen hast du dich als der erste richtige Mensch auf diesem Planeten entpuppt.« Er ließ die Bemerkung im Raum stehen.

»Wenn ich nur körperlichen Kontakt brauchte… Hier im Hafen gibt’s jede Menge Matrosen«, sagte sie und lehnte sich wieder gegen ihn. »Aber das ist nicht das, was mich juckt.«

»Bist du sicher, dass das hier die richtige Arbeit für dich ist? Wo du doch so…«

»… verletzlich bist? Wolltest du das sagen?«

»Vielleicht, aber das trifft es nicht ganz.«

Sie führte ihn zum Sofa. »Mir ging es um Gesellschaft, nicht um einen schnellen Fick«, erklärte sie in dem Versuch, sich vor sich selbst zu rechtfertigen.

»Mir geht es ja nicht anders.« Während er sie weiter umarmte, drehte er sie sanft herum, sodass sie ihm in die Augen sehen konnte. »Also, was soll das hier deiner Meinung nach werden?«

»Hör auf zu reden.« Sie beugte sich vor, schloss die Augen und suchte seinen Mund. Und dann gerieten die Dinge außer Kontrolle.

Bei diesem ersten Mal trieb sie ein verzweifeltes Verlangen, als sie miteinander schliefen. Rachel lag mit hochgeschobenen Röcken auf dem Wohnzimmerboden, und Martin schlackerten die Hosen um die Knöchel. Danach gelangten sie irgendwie ins Schlafzimmer und kämpften sich aus den Klamotten, ehe sie erneut miteinander schliefen, diesmal ohne jede Hast und sanft. Martin war dabei rücksichtsvoll und ging auf ihre Wünsche ein. Als sie später miteinander redeten, erwähnte er, dass er vor einigen Jahren geschieden worden war. Stundenlang unterhielten sie sich miteinander, fast bis zur künstlichen Morgendämmerung, die zeitlich auf den Sonnenaufgang über dem Planeten abgestimmt war, der unter ihnen lag. Und sie liebten sich, bis sie wund waren und beiden alles wehtat.

Jetzt, nachdem er gegangen war und sie allein im Bett lag, drehte sich alles in ihrem Kopf. Sie versuchte sich das Ganze rational zu erklären. Isolation und überreizte Nerven konnten jeden Menschen dazu bringen, irgendwann auszurasten. Dennoch war sie beunruhigt: Martin war kein Mann, den sie beiläufig aufgegabelt hatte, und es war auch kein beiläufiger Fick gewesen. Schon der Gedanke an ein Wiedersehen mit ihm versetzte sie in einen nervösen Erregungszustand voller Vorfreude. Allerdings wurde dieses Kribbeln im Bauch durch bitteren Selbstekel gedämpft, wenn sie daran dachte, wie dumm es von ihr war, Arbeit und Vergnügen auf diese Weise miteinander zu vermischen.

Sie wälzte sich herum und blinzelte: Die Uhr im Inneren ihres linken Augenlids besagte, dass es gerade sieben Uhr morgens vorbei war. Noch zwei Stunden, dann musste sie sich um die Bestätigung ihres Diplomatenstatus kümmern, sich ankleiden, hinausgehen und irgendeinem Vertreter der Neuen Republik in den Hintern treten. Zwei Stunden später würde Martin an Bord der Lord Vanek sein. Um 22.00 Uhr würde alles ausgestanden sein. Rachel seufzte und versuchte, sich noch eine Mütze Schlaf zu holen, wenigstens für eine Stunde, aber es wollte einfach nicht klappen.

Sie ertappte sich dabei, dass sie ihre Gedanken ziellos umherschweifen ließ und nach angenehmen Erinnerungen suchte. Viel mehr konnte sie angesichts der realen Situation auch gar nicht tun: Vieles sprach dafür, dass sie sterben würde, falls sie die Absichten der Neuen Republik falsch gedeutet hatte. Wirklich ein großartiges Ende für ein Leben von hundertundfünfzig Jahren, nicht wahr?

Körperlich so jung wie eine Mittzwanzigerin, aufgrund modernster medizinischer Behandlungen auf dem Mutterplaneten schon ewig in diesem Zustand konserviert, spürte sie das Gewicht der Jahrzehnte kaum. Angst beschlich sie nur, wenn sie daran dachte, wie wenige der Menschen, die sie gekannt oder geliebt hatte, noch am Leben waren. In diesem Augenblick fiel Rachel ihre Tochter ein, wie sie als Kind gewesen war; damals hatte sie diesen besonderen Duft an sich gehabt. Was hatte ihr ausgerechnet diese Erinnerung ins Gedächtnis gerufen – und nicht die an spätere Zeiten, in denen ihre Tochter zur Matriarchin und zum Kopf einer politischen Dynastie aufgestiegen war… Und sie hatte zunächst auch nicht an die Beerdigung der Achtzigjährigen nach dem Unfall mit dem Segelgleiter gedacht. Fünfzehn Jahre lang war sie mit Johann verheiratet gewesen, aber sie konnte sich nicht einmal mehr an sein Gesicht erinnern. Sobald sie versuchte, es sich vor Augen zu rufen, schien sich Martins Gesicht darüberzulegen, obwohl sie ihn doch gerade erst kennen gelernt hatte. Sie blinzelte wütend und setzte sich auf.

Dummes Ding, sagte sie sich voller Selbstironie. So wie du dich Hals über Kopf in einen knackigen Hintern verlieben kannst, würde jeder vermuten, dass du dein erstes Jahrhundert noch längst nicht hinter dir hast. Und dennoch musste sie sich eingestehen, dass sie dem Wiedersehen mit Martin am kommenden Abend entgegenfieberte. Die Schmetterlinge im Bauch siegten über Alter und Zynismus, auch wenn sie aus langjähriger Erfahrung wusste, was das bedeutete: Komplikationen…

 

Die Interorbitfähre löste sich von der Andockbrücke des Marinestützpunktes und schob sich langsam am Fahrstuhl zum All vorbei. Die Kaltgasantriebe sorgten dafür, dass sie die anderen Beförderungsmittel, die hier herumschwärmten, bald hinter sich ließ. Zehn Minuten, nachdem sich die Fähre in den freien Raum manövriert hatte, erhielt der Pilot von der Flugkontrolle die Erlaubnis, den Hauptantrieb zu zünden. Ein grell orangefarbener Schweif glühender Quecksilberionen schoss aus drei großen, rechteckigen Kästen, die rings um die Luken zum Frachtraum am Heck angebracht waren, und die Fähre beschleunigte. Bekanntlich waren Ionenantriebe langsam, dafür aber zuverlässig. Nach tausend Sekunden bewegte sich die Fähre mit fast zweihundert Stundenkilometern von der Raumstation fort, und es wurde schon wieder Zeit, das Tempo zu drosseln, um am Raumschiff anzudocken, das inzwischen fast sechzig Kilometer von der Raumstation entfernt zum Stillstand gekommen war.

Gemessen an den Entfernungen innerhalb des Orbits, waren sechzig Kilometer gar nichts; die Lord Vanek lag unmittelbar vor der Haustür des Fahrstuhls zum All. Aber diese Position hatte einen entscheidenden Vorteil: Das Schiff war startklar und konnte seine Reise von hier aus sofort mit hoher Geschwindigkeit antreten. Sobald der Bordingenieur mit der Aufrüstung der Ausgleichsregler des Antriebskerns fertig war, konnte es losgehen.

Flugkapitän Mirsky verfolgte auf einem der Videoschirme an seinem Arbeitspatz, wie die Fähre im Steilflug zu den Andockbrücken am Bug der Lord Vanek emporstieg. Er war allein auf seinem Posten und ackerte stur die Memoranden und Anweisungen durch, die sich mit der gegenwärtigen Lage befassten; seit dem Zeitpunkt, zu dem er die Instruktionen erhalten hatte, war ein ziemliches Chaos entstanden, und ihm war deutlich bewusst, dass die Vorbereitungen noch längst nicht abgeschlossen waren.

Mirsky, ein Mann mittleren Alters mit kräftigem Brustkorb und gepflegtem angegrautem Bart, dessen Farbton zum Kopfhaar passte, entsprach genau dem, was man sich in der Neuen Republik unter einem Marinekapitän vorstellte. Allerdings verbarg die Maske des Selbstvertrauens ein hohes Maß an Unsicherheit. Schon seit einer Woche hatte er beobachtet, was sich hier zusammenbraute. Und so sehr er sich auch bemühte, vernünftige Erklärungen für die gegenwärtige Situation zu finden, wurde er das Gefühl nicht los, dass zwischen dem Außenministerium und der Kaiserlichen Residenz irgendetwas völlig falsch gelaufen war.

Mürrisch betrachtete er die jüngste Anweisung, die auf seinem Schreibtisch gelandet war. Die Sicherheitsbestimmungen sahen weitere Verschärfungen vor. Sobald die letzten Werftarbeiter und Ingenieure von Bord gegangen und die Luken dicht waren, sollte er die Vorschriften so scharf handhaben, wie es ein Kriegszustand erforderte. In der Zwischenzeit hatte er auf ganzer Linie mit Prokurator Muller vom Büro des Kurators zusammenzuarbeiten. Mullers Aufgabe an Bord bestehe in der gründlichen Überwachung ausländischer Vertragsingenieure, die derzeit mit Reparaturen am Hauptantriebssystem der Lord Vanek beschäftigt seien, hieß es.

Er bedachte er die Aktennotiz, die er als persönliche Beleidigung empfand, mit einem finsteren Blick. Gleich darauf griff er nach dem Mikrofon der Sprechanlage: »Ilja soll sofort zu mir kommen.«

»Kommandeur Murametz, Sir? Sofort, Sir.«

Als es leise an die Tür klopfte, brüllte Mirsky: »Ist offen!« Gleich darauf trat Kommandeur Murametz ein, der Erste Offizier, der für die Ausführung seiner Befehle zuständig war, und salutierte. »Kommen Sie herein, Ilja, treten Sie näher.«

»Danke, Sir. Was kann ich für Sie tun?«

»Geht um das hier.« Wortlos deutete Mirsky auf den Bildschirm. »Irgendein aufgeblasener BÜRGER vom Büro des Kurators möchte, dass mir sein Speichellecker das Schiff auf den Kopf stellt. Wissen Sie irgendetwas davon?«

Murametz beugte sich näher zum Bildschirm hinüber. »Ja, wenn ich das in aller Bescheidenheit melden darf.« Sein Schnauzbart zuckte. Mirsky hätte nicht sagen können, welche Gefühle dies ausdrückte.

»Ha! Dann erklären Sie’s mir bitte.«

»Irgendein Wirbel um den Vertragsingenieur von der Erde, der unseren Block-B-Antrieb aufrüstet. Man kann ihn unmöglich ersetzen, wenn man nicht drei Monate zuwarten will, aber er ist ein bisschen großmäulig und durch irgendeine Sache bei einem der Leute im Basilisken angeeckt. Die leiden ja schon berufsbedingt unter Verfolgungswahn. Also haben sie uns einen Geheimpolizisten geschickt, damit er sich um den Mann kümmert. Den Geheimdienstler hab ich Leutnant Sauer anvertraut und ihm Anweisung gegeben, darauf zu achten, dass er uns nicht in die Quere kommt.«

»Und was sagt Sauer dazu?«

Murametz schnaubte. »Der Schnüffler ist noch genauso feucht hinter den Ohren wie irgendeiner der neuen Rekruten. Stellt kein Problem dar.«

Der Flugkapitän seufzte. »Sorgen Sie dafür, dass auch keines daraus entsteht.«

»Zu Befehl, Sir. Sonst noch was?«

Mirsky deutete auf einen Stuhl. »Nehmen Sie Platz. Ist Ihnen bei dem, was hier vor sich geht, irgendetwas Ungewöhnliches aufgefallen?«

Murametz blickte zur Tür. »Die Gerüchte schwirren wie Kugeln durch die Luft, Kapitän. Ich tue, was ich kann, um den Buschfunk abzustellen, aber solange keine offizielle Richtlinie heraus ist…«

»Es wird auch keine geben, jedenfalls nicht innerhalb der nächsten sechzehn Stunden.«

»Und was passiert danach, wenn mir die Frage erlaubt ist?«

»Dann…« Der Kapitän schwieg kurz. »Man… hat mir mitgeteilt, dass ich entsprechende Informationen bekomme. Anschließend werden auch Sie selbst und alle anderen Offiziere erfahren, was los ist. Bis dahin halte ich es für ratsam, allen etwas zu tun zu geben. Und zwar so viel zu tun, dass ihnen zumindest keine Zeit bleibt, nervös zu werden oder Gerüchte zu verbreiten. Oh, und sorgen Sie dafür, dass die Kommandozentrale in einem Top-Zustand ist und wir eine komplette Stabsmannschaft an Bord nehmen können.«

»Aha.« Murametz nickte. »Sehr wohl, Sir. Die Leute beschäftigen, hm… Sicherheitsmaßnahmen verschärfen, weitere Inspektionen ansetzen, erhöhte Bereitschaft auf allen Posten anordnen, etwas in der Art? Zur Hebung der Moral Prügelstrafen verhängen? Diejenigen, die für die taktischen Waffen zuständig sind, ein paar Simulationen durchführen lassen?«

Kapitän Mirsky nickte. »Unbedingt. Aber sorgen Sie als Erstes dafür, dass die Kommandozentrale tipptopp ist, damit wir dort morgen eine offizielle Inspektion durchführen können. Das ist alles.«

»Ja, Sir.«

»Wegtreten!«

Nachdem Murametz gegangen war und Mirsky wieder seinen trüben Gedanken überlassen hatte, brütete er einsam und allein über den Anweisungen, die er in den kommenden sechzehn Stunden niemandem enthüllen durfte.

Einsam und allein saß er mit der eiskalten Gewissheit da, dass ein Krieg bevorstand.

Singularität
titlepage.xhtml
Singularitaet_split_000.html
Singularitaet_split_001.html
Singularitaet_split_002.html
Singularitaet_split_003.html
Singularitaet_split_004.html
Singularitaet_split_005.html
Singularitaet_split_006.html
Singularitaet_split_007.html
Singularitaet_split_008.html
Singularitaet_split_009.html
Singularitaet_split_010.html
Singularitaet_split_011.html
Singularitaet_split_012.html
Singularitaet_split_013.html
Singularitaet_split_014.html
Singularitaet_split_015.html
Singularitaet_split_016.html
Singularitaet_split_017.html
Singularitaet_split_018.html
Singularitaet_split_019.html
Singularitaet_split_020.html
Singularitaet_split_021.html
Singularitaet_split_022.html
Singularitaet_split_023.html
Singularitaet_split_024.html
Singularitaet_split_025.html
Singularitaet_split_026.html
Singularitaet_split_027.html
Singularitaet_split_028.html
Singularitaet_split_029.html
Singularitaet_split_030.html
Singularitaet_split_031.html
Singularitaet_split_032.html
Singularitaet_split_033.html
Singularitaet_split_034.html
Singularitaet_split_035.html
Singularitaet_split_036.html
Singularitaet_split_037.html
Singularitaet_split_038.html
Singularitaet_split_039.html
Singularitaet_split_040.html
Singularitaet_split_041.html
Singularitaet_split_042.html
Singularitaet_split_043.html
Singularitaet_split_044.html
Singularitaet_split_045.html
Singularitaet_split_046.html
Singularitaet_split_047.html
Singularitaet_split_048.html
Singularitaet_split_049.html
Singularitaet_split_050.html
Singularitaet_split_051.html
Singularitaet_split_052.html
Singularitaet_split_053.html