zwischenfall am
wolf depository
Die Schiesserei begann mit einem Telegramm.
Inmitten einer lockeren Formation, umgeben von sechs anderen großen Schiffen, sauste die Lord Vanek auf die Heliopause zu, die Raumregion jenseits des Magnetfelds der Sonne, in der der solare Wind auf das harte Vakuum des interstellaren Raumes traf. Wolf Depository lag fünf Lichtjahre von ihnen entfernt, fast fünf Jahre in der Zukunft – denn der Plan sah vor, dass die Flotte einem teilweise geschlossenen zeitartigen Pfad folgen und dabei tief in die Zukunft eintauchen sollte. Dabei würde sie innerhalb eines Kausalitäts-Kegels[iv] bleiben, als dessen Scheitelpunkt man Neu-Prag zurzeit der ersten Angriffsmeldung bestimmt hatte. Danach sollten die mit den Antriebsmodulen verbundenen Black Boxes dazu benutzt werden, in einer Schleife in die Vergangenheit zurückzukehren. Ohne direkt gegen den Wortlaut des vom Eschaton verkündeten Gebotes zu verstoßen, das besagte: Du sollst keine globale Verletzung der Kausalität verursachen, würde die Flotte unmittelbar nach dem ersten Angriff des Festivals auf Rochards Welt in deren Orbit eintreffen. Dieses Manöver würde viel weniger Zeit in Anspruch nehmen, als eine solche Streitmacht normalerweise brauchte, um die acht Sprünge bis zur Kolonie hinter sich zu bringen. In einer Schleife würde die Flotte dabei alle Streitkräfte umgehen, die der Feind ausschicken mochte, um einen direkten Gegenschlag zu vereiteln. Außerdem würde das Geschwader unterwegs eine Zeitkapsel aufnehmen, die Analysen des Kampfverlaufs enthielt – erstellt von Historikern der Zukunft. Diese Dokumente würden dem Admiral bei der Planung helfen.
Zumindest sah das die Theorie so vor: Treffe unerklärlich schnell und mit mehr Feuerkraft, als irgendein Angreifer für möglich halten würde, am Zielort ein und stütze dich auf die Informationen, die du bereits im Vorfeld über die Schlachtordnung und die Verteidigungsabsichten des Gegners erhalten hast. Was sollte da schon schief gehen?!
Der Raum, in dem die Vorbereitungen für die taktischen Operationen zusammenliefen, summte vor konzentrierter Arbeit wie ein Bienenstock. Die Offiziere der »Goldenen Mannschaft« – der Schicht, die beim bevorstehenden ersten Sprung Dienst tun und die Flotte in die Zukunft und in den tiefen Raum katapultieren würde – waren gerade dabei, ihre Checklisten für die erforderlichen Schritte durchzugehen.
Währenddessen stand Kapitän Mirsky hinten im Raum neben der schweren, luftdichten Tür und beobachtete seine Offiziere auf ihren jeweiligen Posten. Der große Bildschirm an der Wand zeigte wechselnde Schaubilder ferngemessener Werte, die über die Systeme zur Gefechtsteuerung Auskunft gaben. Die Atmosphäre war so gespannt, dass man die Luft hätte schneiden können. Zum ersten Mal ging ein Kriegsschiff der Neuen Republik gegen einen mit Hightech ausgerüsteten Gegner vor. Und soweit der Stab des Geschwaderführers Bauer wusste, hatte bislang noch niemand dieses taktische Vorgehen erprobt. Da draußen konnte alles Mögliche auf sie warten. Fünf Jahre in die Zukunft zu reisen war das Äußerste, was die Offiziere mit einem einzigen Sprung zu riskieren wagten. Theoretisch sollte dort ein Leitstrahl zur Unterstützung ihrer Navigation auf sie warten, aber falls irgendetwas schief ging, würde stattdessen vielleicht der Feind lauern. Mirsky verzog den Mund zu einem dünnen Lächeln. Umso wichtiger, dass wir es richtig machen, dachte er. Denn falls wir’s vermasseln, gibt es kein zweites Mal.
Der Militärattaché von der Erde hatte sich selbst dazu eingeladen, bei den Vorbereitungen herumzuschnüffeln, um den Auftraggebern vermutlich umgehend davon zu berichten. Nicht, dass es zu diesem Zeitpunkt irgendetwas ausgemacht hätte. Aber einen Touristen dabei zu haben, dazu noch einen, dessen Loyalität in Zweifel stand, störte Mirskys Ordnungssinn. Er beschloss, diese Person einfach nicht zu beachten. Und falls sich das als unmöglich erweisen sollte, würde er sie sofort hinauswerfen.
»Erster Breakpoint in fünf-null Sekunden«, rief der Flugingenieur. »Gekoppelt an die Ausgleichsregler für das neue Bezugsystem. Noch sechs-null Sekunden bis zum Sprung.« Es folgte weiterer Fachjargon, angesagt mit schneidiger, angespannter Stimme. Auf einem Kriegsschiff gehörte dieses Vokabular, in dem jeder Ausdruck einer Anweisung aus irgendeinem Betriebshandbuch entsprach, zum Alltag.
»Alles klar«, erwiderte Geschütz 1. »Halten uns bereit, das Lasernetzwerk hochzufahren.« Eine riesige Anzahl von Lasern – mehr als eine Million winziger Zellen, die über den Schild des Schiffes verteilt waren und wie eine einzige Phalanx zeitgleich operieren konnten – durchliefen die üblichen Modi, bis alle aktiviert waren, und meldeten ihren Status. Während sich das Schiff dem Zeitpunkt des ersten Sprunges näherte, zog es Energie aus dem aufgeladenen, instabilem Vakuum vor seinem Bug und speicherte sie, indem es den Antriebskern rotieren ließ – das winzige, elektrisch aufgeladene Schwarze Loch, das im Herzen des Kontrollbereichs vom Maschinenraum verborgen war.
»Schwungkraftanlasser des Hauptantriebs bei minus zwei Sekunden aktiviert. Noch drei-null Sekunden bis zum Sprung«, meldete der Maschinenraum.
Das Schiff trieb näher an den Punkt heran, an dem es die Lichtgeschwindigkeit überschreiten würde. Der leicht gekräuselte Raum vor dem Bug begann sich zu glätten und pumpte Energie in das darunter liegende Vakuum. Sechs weitere riesige Kriegsschiffe folgten im Abstand von jeweils fünf Minuten. Flottengeschwader 2, das leichte Aufklärungsgeschwader schnellerer Schiffe, das erst nach der Lord Vanek gestartet war, hatte sie am Vortag überholt und den Sprung schon vor sechs Stunden hinter sich gebracht.
»Telegramm von der Kommandozentrale, Sir«, meldete die Abteilung Kommunikation.
»Vorlesen«, rief Mirsky.
»Telegramm von Admiral Kurtz, alle zuhören. Beginnt: Vermuten feindliche Kriegsschiffe vor uns. Stopp. Werden bei Feindkontakt Feuer freigeben. Stopp. Zum Ruhm des Reiches. Ende. Via Kausalkanal an alle Schwesterschiffe geschickt.« Die Kausalverbindungen zwischen den Schiffen würden abbrechen und die Inhalte der Übermittlungen hoffnungslos verstümmelt werden, sobald die Schiffe ihren ersten Sprung zwischen gleichpotenzialen Punkten vollführten: Die Verschränkung von Quantenzuständen war ein fragiles Phänomen und konnte mit Überlichtgeschwindigkeit vollzogene Übergänge nicht verkraften.
Mirsky nickte. »Zur Kenntnis genommen. Erster Offizier, melden Sie uns die entsprechenden Gefechtspositionen.« Im ganzen Schiff heulten gleich darauf Alarmsirenen mit klagendem Ton auf.
»Ortung und Markierung des Bezugsystems abgeschlossen«, meldete die Abteilung Relativität. »Sprungfeld aktiviert. Wir haben eine White Box[v] in Gruppe B, wiederhole, White Box in B.« Das Festhalten des Bezugsystems bedeutete, dass das Schiff seine ursprüngliche Position in der Raumzeit präzise überprüft und aufgezeichnet hatte. Mithilfe der neu installierten Antriebskontrollen würde die Lord Vanek von irgendeinem Ort in der Zukunft aus zu diesem Punkt zurückkehren können, indem sie eine geschlossene zeitartige Schleife flog.
Mirsky räusperte sich. »Springen, sobald Sie so weit sind.«
Weder wurden die Lichter abgedimmt, noch spürte man irgendeine Bewegung. Es passierte buchstäblich nichts – außer dass innerhalb des Antriebsmoduls plötzlich jede Menge exotischer Teilchen in die Ergosphäre[vi] des Schwarzen Lochs befördert wurden. Das war keineswegs spektakulär, aber sofort änderten sich die Sternbilder jenseits des Schiffsrumpfs.
»Sprung bestätigt.« Fast alle stießen einen leisen Seufzer der Erleichterung aus.
»Messung. Wollen mal sehen, wo wir uns befinden.« Mirsky zeigte kein Zeichen von Stress, obwohl sein Schiff gerade fünf Jahre in die eigene Zukunft und 4,39 Lichtjahre ins Unbekannte gesprungen war.
»Ja, Sir: Lasernetz wird hochgefahren.« Rund zwei Gigawatt Energie – genügend, um eine Großstadt zu versorgen – strömten in die Laserzellen des Schiffsschildes. Wenn es eines gab, das ein Sternenschiff wie die Lord Vanek in Hülle und Fülle hatte, dann war es Energie. Das Schiff strahlte auf wie ein Pulsar und sandte dabei so viel kohärentes ultraviolettes Licht aus, dass es gereicht hätte, jeden in einem Umkreis von zwölf Kilometern zu verschmoren. Gleich darauf stabilisierte es sich und bündelte sich zu einem dichten Suchstrahl, der den Raum vor dem Schiffsbug abtastete. Nach einer Minute schaltete sich der Strahl wieder ab.
Radar meldete: »Keine Hindernisse. Wir haben freie Bahn.« Wie auch zu erwarten gewesen war. Hier draußen, fünfzehn bis fünfzig astronomische Einheiten vom Startpunkt des Sprunges entfernt, konnte man hundert Millionen von Kilometern in jede Richtung reisen, ohne auf irgendetwas zu stoßen, das mehr als Schneeballgröße hatte. Der intensive Lidar-Impuls[vii] würde sich erst minutenlang, dann stundenlang weiterverbreiten, ehe er irgendwann die schwache Spur eines anderen Schiffes melden würde.
»Sehr gut, Conn. Bringen Sie uns voran. Ein g Beschleunigung, volle Fahrt mit eins-null K.p.S.« Mirsky trat zurück und wartete ab, während der Offizier am Steuer das Manöver eingab. Zehn K.p.S. waren nicht besonders schnell, aber mit dieser Geschwindigkeit würde sich die Lord Vanek mühelos von dem Punkt entfernen können, an dem sie aufgetaucht war, ohne allzu viele Fahrtgeräusche zu verursachen. Außerdem würde sie auf diese Weise dem Rest der folgenden Flotte genügend Platz lassen. Ein Lidar-Impuls in den Tiefen des Halos konnte für andere nur bedeuten, dass ein Raumschiff auf der Pirsch war. Und falls sie zu nahe am Ursprungsort des eigenen Impulses blieben, konnte das ihrer Gesundheit nur abträglich sein. In der Oort-Wolke eines industrialisierten Systems konnten sich sogar Objekte von der Größe eines Schneeballs als äußerst gefährlich erweisen.
»Treffer bei neun-zwei-sechs-vier!«, krähte Radar zwei. »Abstand vier Komma neun M-Klicks, Peilung eins mal sieben-fünf mal drei-drei-zwei. Jede Menge heiße eins Komma vier MeV-Gammastrahlen[viii] – die kochen mit Antimaterie!«
»Beschleunigung?«, fragte Mirsky.
»Kommt gleich… Eins Komma drei g, bestätigt. Keine Veränderung. Ah, warten Sie…«
»Hier Kommunikation. Nachricht von der Kamchatka, Sir.«
»Sofort durchgeben.«
»Botschaft lautet wie folgt: Werden von feindlichen Raketenträgern angegriffen. Stopp. Situation ernst. Stopp. Wo bleiben die großen Brüder. Stopp. An alle Einheiten: Bitte antworten. Ende.«
Mirsky zwinkerte ungläubig. Feindliche Kriegsschiffe? So schnell? Wolf Depository lag direkt vor der Haustür der Neuen Republik, war ein Bergwerk, das die reiche, hoch industrialisierte Septagon-Zentrale besaß und ausbeutete. Was, um alles in der Welt, sollte sie veranlasst haben, fremden Kriegsschiffen zu gestatten…
»Zweite Strahlenemission bei neun-zwei-sechs-vier«, meldete Radar eins. »Dasselbe Emissionsprofil. Sieht so aus, als hätten wir einen Schwarm aufgescheucht.«
»Abwarten«, knirschte Mirsky. Sichtlich verblüfft von dieser neuen Entwicklung schüttelte er sich. »Abwarten, verdammt noch mal. Ich will erst sehen, was sonst noch da draußen ist. Abteilung Kommunikation, reagieren Sie auf keinen Fall auf irgendwelche Signale von der Kamchatka oder sonst einem Schiff, das vor uns hier angekommen ist, ohne es vorher mit mir abzuklären. Falls da draußen feindliche Schiffe sind, können wir nicht wissen, ob sie unsere Signale aufgefangen haben.«
»Zu Befehl, Sir. Signalpause bei allen Aufklärern.«
»Also«, er neigte den Kopf und blickte sinnend auf den Schirm vor sich, »falls es wirklich ein Hinterhalt ist…«
Die Spuren der Gammastrahlen leuchteten auf dem größten Schirm auf, wobei beschriftete Icons deren Position und den Vektor innerhalb des vor ihnen liegenden Systems anzeigten. 1,3 g war nicht sonderlich schnell, aber es reichte, um Mirsky kalte Schauer über den Rücken zu jagen. Denn es wies auf ernst zu nehmende Hochgeschwindigkeitsantriebe hin, gespeist von Fusionsreaktoren, Antimaterie oder auch von der quantenmechanischen Induktion von Schwerkraft. Ganz bestimmt hatten sie es hier nicht mit dem schwachen Ionenantrieb eines von Robotern bemannten Schleppers zu tun. Und das konnte vielerlei bedeuten: Bomber, die mit Unterlichtgeschwindigkeit unterwegs waren, Geschützträger, Abfangjäger oder was auch immer. Die Lord Vanek würde an ihnen vorbeilavieren müssen, um zur nächsten Sprungzone zu gelangen. Was denen Gelegenheit geben würde, ein Geschütz auf sie abzufeuern, während sie tausend K.p.S. machten… Ein Tempo, bei dem es nicht viel brauchte – vielleicht nur ein Sandkorn –, um ein Schiff zu vernichten. Falls es wirklich ein Hinterhalt war, hatte es vermutlich schon die ganze Vorhut ihrer Flotte erwischt.
»Radar«, sagte er, »gebt mir einen zweiten Lidar-Impuls, in drei-null Sekunden. Und dann nehmt diese Buhmänner mit einem Vektorenkreuz ins Visier, löst eins-null Kilo-Klicks bei größter Annäherung aus, Beschleunigung bei eins-null g, Salvenfeuer von zwei SEM-20 bei eins-null-null Kilo-Klicks.«
»Zu Befehl, Käpt’n.«
»Raketen sind bestückt, startbereit bei minus eins-null Sekunden«, meldete Kommandeur Helsingus von Geschütz 1.
»Die sollen genau sehen, wie wir ausgerüstet sind«, murmelte der Kapitän. »Aus nächster Nähe.« Ilja Murametz warf ihm einen schrägen Blick zu. »Damit die Jungs gewarnt sind«, fügte Mirsky hinzu und erwiderte seinen Blick. Ilja nickte.
»Emission von Gammastrahlen«, rief Radar zwei. »Bei eins-vier-sieben-eins. Abstand eins-eins-Komma-zwei M-Klicks, Peilung eins mal sieben-fünf mal drei-drei-zwei. Sieht nach einer Schießerei aus, Sir!«
»Verstanden.« Mirsky faltete die Hände und ließ die Knöchel dabei so knacken, dass Murametz zusammenzuckte. »Abwarten und Tee trinken. Steuer: Wie lautet der Angriffskurs?«
»Bestimmen wir gerade, Sir.«
»Löst den Lidar-Impuls aus. Sieht so aus, als wären wir mitten in ein Scharmützel geraten. Und inzwischen wissen die, dass wir da sind. Also wollen wir sie uns mal aus der Nähe ansehen.«
»Sir, eine neue Nachricht, angeblich von der Kamchatka«, meldete die Kommunikation. »Außerdem eine Botschaft von der Aurora.«
»Vorlesen.«
Mirsky nickte den Funkern zu. Der Dienst habende Maat beschäftigte sich gerade mit einem Papierstreifen, der aus der Messingschnauze eines Hundekopfes hervorquoll. »Kamchatka meldet: Werden von feindlichen Raketenträgern angegriffen. Stopp. Wir schießen zurück. Stopp. Feindliche Kriegsschiffe achtern haben uns im Zielradar. Stopp. Verzweifelte Situation wo seid ihr. Ende. Aurora meldet: Kein Feindkontakt. Stopp. Kamchatka ab vom Kurs. Stopp. Bleiben hier warten auf Kurskorrektur. Warum die Schießerei. Ende.«
»Verdammter Mist.« Murametz lief rot an.
»Allerdings«, erwiderte Mirsky trocken. »Fragt sich nur, wer ihn verzapft hat. Taktische Operationen: Wie ist unser Status?«
»Wir haben die im Visier, Sir. Abstand verringert auf vier Komma acht M-Klicks, Fluggeschwindigkeit bei eins-null-null K.p.S. Feindberührung voraussichtlich in zwei Komma vier Kilosekunden.«
»Uns bleibt ein Spielraum von… drei-null-null Sekunden«, sagte Mirsky und blickte auf das Zifferblatt der Uhr. »Müsste locker reichen. Wir können einen Blick auf das Ding werfen, das uns am nächsten ist, ohne denen so nahe zu kommen, dass ihr Raketenwerfer auf uns feuern kann, falls es ein Geschossträger ist. Sind alle so weit? Geschütze: Ich will ein Realzeit-Protokoll von diesen Vögeln. Wollen mal sehen, was die so drauf haben. Radar: Könnt ihr ein Spektroskop[ix] auf das Ziel richten?«
»Bei drei K-Klicks pro Sekunde, aus einem Abstand von eins-null K-Klicks? Ich glaube schon, Sir, aber wir werden einen dicken fetten Leitstrahl als Hintergrund brauchen.«
»Den bekommt ihr.« Murametz grinste breit. »Geschütze: Holt diese Vögel auf null Komma eins einer Kilotonne runter, ehe ihr auf sie feuert. Standard MP-3-Sprengköpfe bereit?«
»Ja, Sir.«
»Gut. Lasst sie auch so.«
Rachel, die hinten an der Brücke stand, bemühte sich, nicht zusammenzuzucken. Als Waffeninspektorin – ihr Barett wies sie als solche aus – war sie mit der Wirkung von Americium-Bomben[x] nur allzu gut vertraut. Es waren Nuklearwaffen, verdichtet mit Isotopen, spaltbarer als Plutonium, stabiler als Californium.
Ganz einfach gute alte Atombomben, ummantelt mit einer hochexplosiven, speziell geformten Ladung, ausgestattet mit einem Aufsatz aus präparierten, zersplitterten Kupfernadeln – einem Schrapnell, das sich beim Einsatz im Vakuum mit einem zielgerichteten Kegel aus dem Feuerball lösen und in unzähligen Splittern verteilen würde, mit einer Geschwindigkeit, die einen guten Teil von Lichtgeschwindigkeit erreichen würde.
Die nächsten dreißig Minuten verstrichen in angespanntem Schweigen, das nur von knappen Bemerkungen von Radar eins und zwei gebrochen wurde. Es tauchten keine weiteren Gegner aus dem Verborgenen auf. Zwar mochten sich sehr wohl noch andere im Kuiper-Asteroidengürtel befinden, aber keiner war so nahe, dass man ihn sehen konnte oder er von den starken Lidar-Impulsen des Kriegsschiffs erfasst wurde. Im selben Zeitraum registrierten zwei passive Sensoren zwei nukleare Detonationen im Umkreis von dreißig Lichtminuten. Irgendjemand feuerte eindeutig. Und hinter ihnen gab es einen verräterischen Tumult, als die sechs großen Schiffe nach ihrem Sprung auftauchten. Sofort schalteten sie ihre Gefechtslaser ein und verteilten sich.
»Start in sechs-null Sekunden«, rief Helsingus. »Zwei heiße SEM-20 in Bereitschaft.«
»Abfeuern wie geplant«, sagte Mirsky, richtete sich auf und blickte direkt auf den Schirm. Der grüne Pfeil, der den Vektor der Lord Vanek anzeigte, war immer größer geworden, bis er rund um die empfindliche Extrapolationsspitze nach und nach das Rot relativistischer Verzerrung angenommen hatte: Das Schiff näherte sich einem halben Prozent der Lichtgeschwindigkeit, was ein gefährliches Tempo bedeutete. Wenn es zu schnell war, würde es seine Angriffsziele vielleicht nicht richtig erfassen können oder, noch schlimmer, es nicht schaffen, schnell auszuweichen, seinen Vektor zu verändern oder den nächsten Sprung sicher hinter sich zu bringen.
»Dreinull Sekunden. Machen die Vögel jetzt scharf, Vögel zeigen grün, Sir.«
»Ich bekomme Emissionen vom Angriffsziel herein«, rief Radar zwei. »Jede Menge von… Sieht wie eine Störpeilung aus, Sir.«
»Lasernetz. Angriffsziel ausleuchten«, sagte Mirsky. »Geschütze im passiven Modus halten.«
»Zu Befehl, Sir.« Im passiven Zielmodus würden sich die Geschosse auf das Objekt konzentrieren, das durch die Laserbatterie der Lord Vanek angestrahlt wurde, und die Reflexion automatisch ansteuern.
»Zielobjekt beschleunigt immer noch leicht«, meldete Radar eins. »Sieht wie ein Raketenträger aus.«
»Eins-null Sekunden. Startschienen hochgefahren.«
»Sie haben die Erlaubnis zu feuern, wenn Sie so weit sind, Kommandeur«, sagte der Kapitän.
»Jawohl, Sir. Noch acht Sekunden. Navigation auf neuesten Stand gebracht. Trägheitsplattformen eingerastet. Vögel scharf gemacht, Gefechtsköpfe… grün. Noch fünf Sekunden. Start beginnt. Vogel eins ab.« Das Deck bebte kurz: Den Kräften einer Spulenkanone ausgesetzt, rasten zehn Tonnen von Geschossen die ganze Länge des Schiffes entlang und traten mit einer Geschwindigkeit von mehr als einem Kilometer pro Sekunde vor dem Bug des Sternenschiffs in den Raum ein. »Lidar arretieren. Antrieb hat volle Kraft. Zündung des Hauptantriebs von Vogel eins bestätigt. Vogel zwei ist jetzt scharf und grün… Start. Und ab. Antrieb hat volle Kraft.«
»Bingo«, sagte Ilja leise.
Auf dem vorderen Schirm tauchten rote Pfeile auf, die den Fortschritt der Raketen entlang der Zielstrecke anzeigten. Diese Raketen verfügten nicht über eigene Energie. Niemand, der bei klarem Verstand war, würde es riskieren, mittels eines Schwarzen Lochs und dessen Antriebskern selbstmörderische Roboter mit Energie auszurüsten. Es war viel besser, wenn die phasengleiche Laserbatterie des Schiffes sie in ein Meer von Energie tauchte, wobei sie die Reaktionsmasse, die diese Robotermaschinen beförderten, erst zum Kochen brachte und danach so überhitzte, bis sie viel schneller als das Sternenschiff selbst vorwärtsrasten. Als Waffen mit äußerst begrenzter Reichweite waren Raketen weitgehend überholt; ihre einzige Aufgabe bestand darin, den nuklearen Sprengkopf in den richtigen Zielvektor zu transportieren, so wie beim »Bus«, dem Beförderungsmittel einer uralten MIRV[xi] des zwanzigsten Jahrhunderts. Sie würden nach dreißig Sekunden ausbrennen, aber bis dahin würden die Sprengköpfe die Kluft zwischen dem von der Lord Vanek projektierten Kurs und dem feindlichen Schiff überwinden. Kurz nachdem das Sternenschiff den Fehdehandschuh aufgegriffen hatte, würden seine Geschosse eintreffen – und den tödlichen Schlag bewirken.
»Radar eins, wo sind die Gegner jetzt?«, fragte Mirsky leise.
»Halten immer noch dieselbe Spur«, rief der Offizier. »Behalten Kurs und Vektor immer noch bei. Und lassen jede Menge Spam los.«
»Vogel eins, MECO[xii] in eins-null Sekunden«, sagte Helsingus. »Die versuchen zu blockieren. Tut sich aber nichts.« Er sagte es mit großer innerer Befriedigung, als gäbe ihm die Tatsache, dass die anonymen Opfer symbolischen Widerstand leisteten, die Sicherheit, dass er sie nicht grundlos vernichtete. Selbst hundertprozentig engagierten Offizieren gingen die Kampfmethoden, die sich in drei Jahrhunderten atomarer Kriegführung herausgebildet hatten, zuweilen heftig an die Nieren.
Kommunikation 2 meldete mit vor Anspannung verzerrter Stimme: »Störpeiler senden nicht mehr, Sir! Ich bekomme gerade ein Notsignal herein. Zwei… nein, drei Signale! Ich wiederhole: drei Notsignale. So als wollten sie aussteigen, ehe wir sie überhaupt getroffen haben.«
»Zu spät«, sagte Helsingus. »In zweiunddreißig Sekunden werden wir sie haben. Sie befinden sich im Explosionsradius.«
Rachel lief ein Schauer über den Rücken. Plötzlich nahm eine schreckliche Möglichkeit in ihrem Kopf Gestalt an.
Mirsky knetete seine Hände und ließ die Knöchel erneut knacken. »Geschütze: Ich möchte, dass ein letztes Ausweichprogramm geladen wird, das bei größter Annäherung minus eins-null Sekunden aktiviert wird, wenn wir dann noch hier sind.«
»Ja, Sir«, erwiderte Helsingus mit schwerer Stimme. »Unterstützung durch das Lasernetz?«
»Alles, was Sie möchten.« Mirsky schwenkte großmütig die Hand. »Falls wir dann noch hier sind, um das Lichtspiel zu genießen.«
Helsingus hantierte wie besessen an den Schaltern herum. Auf dem Bildschirm war zu sehen, wie die vorwärts sausenden »Vögel« die Sicherungsstufen des Hauptantriebs hinter sich ließen und sich in ferngesteuerte Raketengeschosse verwandelten. Weitere feindliche Geschosse begannen sich wie drohende blaue Finger vom gegnerischen Ziel aus auszustrecken.
»Kapitän…«, sagte Rachel langsam.
»… noch eins-null Sekunden. Sie versuchen mit aller Kraft zu blockieren, aber die Vögel halten immer noch auf Kurs.«
»Was, wenn die Kamchatka sich irrt? Was, wenn das zivile Grubenschiffe sind?«
Kapitän Mirsky schenkte ihr keine Beachtung.
»Noch fünf Sekunden. Vogel eins ist bereit – Abstand verringert auf eins-null K. Noch drei Sekunden. EMP[xiii] aktiviert. Magnetzünder sechs für die Sensoren aktiviert. Optische Sucher abgeschirmt – getroffen, Sir. Ich bestätige hiermit, dass Vogel eins detoniert ist. Weiterer Treffer von Vogel zwei.«
»Radar: Was sehen Sie?«, fragte Mirsky.
»Warte noch, dass der Nebel aufklart – ah, hab die Sensoren wieder, Sir. Geschosse treffen immer noch ins Ziel. Die Rückstände vom Feuerball trüben den Radar, Lidar ist besser. Ah, das Spektroskop hat sich zur Messung des Einschlags eingeschaltet, Sir, Einschlag auf Angriffsziel Alpha bestätigt. Emissionen von Sauerstoff, Stickstoff, Kohlentrioxid vom Rumpf her. Ich glaube, wir haben das Ding zerlöchert, Sir.«
»Zerlöchert…« Mirsky hielt inne und drehte sich zu Rachel um. »Was haben Sie gesagt?«
»Was, wenn es zivile Schiffe sind? Wir haben nur das Wort der Kamchatka dafür, dass ein Angriff vorliegt, keinen weiteren unmittelbaren Beweis – außer, dass irgendwelche Bomben hochgegangen sind, die aber auch die der Kamchatka gewesen sein könnten.«
»Unsinn«, schnaubte Mirsky. »Keines unserer Schiffe würde einen solchen Fehler machen.«
»Tatsächlich feuert niemand richtige Raketen auf uns ab. Die Instruktion vor dem Sprung hat uns alle ermahnt, nach feindlichen Raketenschiffen Ausschau zu halten. Ist es nicht vorstellbar, dass die Kamchatka aus Versehen ein ziviles Grubenschiff zur Strecke gebracht hat und mit der Hand ein bisschen zu schnell am Abzug war? Und dass das, was Sie für einen Angriff gehalten haben, in Wirklichkeit nur die Aufklärung des Schlachtkreuzers ist, die im Dunkeln auf alles schießt, was sich bewegt?«
Tödliche Stille. Rekruten wie Offiziere starrten Rachel missbilligend an: Niemand sprach in diesem Ton mit dem Kapitän! Gleich darauf meldete eine Stimme in ihrem Rücken: »Trümmersplitter auf dem Radar, Sir. Das Angriffsziel bricht auseinander. Äh, melde gehorsamst, Kapitän, dass wir Notsignale empfangen. Von zivilen Schiffen…«
Die Lord Vanek war schon viel zu schnell, um noch abbremsen zu können, und durfte es als Flagg- und Führungsschiff des Geschwaders auch gar nicht. Immerhin gab sie der nachfolgenden Flotte Signale, sodass hinter ihr eines der älteren Schlachtschiffe ausscherte, um mögliche Überlebende des katastrophalen Angriffs zu bergen.
Das Gesamtbild, das sich schließlich nach mehr als acht Stunden ergab, war in der Tat schlimm. Die »Geschützträger« waren in Wirklichkeit Schlepper der Raffinerie, die sich um die mobilen Roboterfabriken kümmerten. Diese Fabriken fischten die Himmelskörper des Kuiper-Asteroidengürtels nach Schneebällen ab, denen sie Helium 3 entzogen. Für ihre plötzliche Beschleunigung fand sich eine einfache Erklärung: Als sie die fremden Kriegsschiffe gesichtet hatten, waren sie in Panik geraten und hatten ihre Frachtcontainer abgeworfen, damit sie das Gebiet mit maximaler Geschwindigkeit verlassen konnten. Eine der fernen Explosionen war von der Kamchatka ausgelöst worden, die eines der »feindlichen Kriegsschiffe« – den Kreuzer India – mit ihrem Geschoss nur knapp verfehlt hatte. (Die Folge war ein unbedeutender Schaden am Schiffsrumpf der India gewesen, worauf man zwei Schotts hatte räumen müssen. Leider hatte sich zum Zeitpunkt des Einschlags der Schiffskaplan in einem der Schotts aufgehalten; er hatte sich unverzüglich auf den Weg gemacht, um seinem Schöpfer gegenüberzutreten.)
»Ge… geschieht denen ganz recht, wenn sie einem derart in die Quere kommen, verdammt noch mal«, stammelte Admiral Kurtz, als Geschwaderführer Bauer ihm die Nachricht persönlich überbrachte. »Für wa… was halten die uns hier denn?« Er rappelte sich halb auf und vergaß seine Glasknochenbeine für den Augenblick. »Solche Dummheit ist schlicht widerwärtig.«
»Äh… Ich glaube, wir haben trotzdem ein Problem, Sir«, bemerkte Bauer, während Robard versuchte, seinen Herrn und Meister wieder zum Hinsetzen zu bewegen. »Septagon erhebt Anspruch auf dieses System und… äh… wir haben vor einer halben Stunde Signale erhalten, die darauf hinweisen, dass ein Kriegsschiff in dieser Region stationiert ist. Es verfolgt uns und will uns den Weg abschneiden.«
Der Admiral schnaubte. »Was kann ein einzelnes Kriegsschiff schon au… ausrichten?«
Rachel, die sich auf der Grundlage ihres Status Zutritt zur Stabsbesprechung verschafft hatte, sah mit brennendem Interesse zu, wie Bauer herumstotterte. Kann er wirklich so dumm sein?, fragte sie sich mit Blick auf den Admiral, der wie ein kahler Papagei auf seinem Sessel kauerte, während seine Augen vor manischem Starrsinn funkelten.
»Sir, das Kriegsschiff, das uns Signale gibt, ist… äh… gemäß unserer jüngsten Informationen eines, das zu den Geschützträgern ihrer Apollo-Flotte gehört. Die Leute von der Radarüberwachung sagen, sie hätten zusätzlich Spuren ausgemacht, die auf ein ganzes Kampfgeschwader hinweisen. Wir sind ihnen zahlenmäßig überlegen, aber…«
Rachel räusperte sich. »Die werden Sie zum Frühstück verspeisen.«
Bauers Kopf fuhr herum. »Was haben Sie gesagt?«
Sie tippte auf ihr Notebook, das auf dem Tisch vor ihr lag. »Nach Einschätzung des Nachrichtendienstes der UN-Abwehr sieht es so aus, dass Septagon Ihnen in seiner Fähigkeit, ein ganzes System abzudecken, einiges voraus hat. Und zwar deswegen, weil Septagon auf den Bau von Flugzeugträgern setzt, anstatt sich auf die Standard-Abschussrampen für Laser und Raketen zu beschränken, auf die sich Ihre Marine spezialisiert hat. Einfach ausgedrückt: Es mangelt Septagon zwar an Kurzstreckenwaffen, aber sie sind in der Lage, einen Schwarm von Abfangjägern loszuschicken, die Sie von weit außerhalb Ihres eigenen Einsatzradius schwer unter Beschuss nehmen könnten. Deutlicher gesagt: Sie sind erschreckend gut. Und wenn ich mich nicht sehr irre, hat dieser Träger an sich schon mehr Masse als Ihre gesamte Flotte. Ich möchte nicht, dass Sie den Eindruck gewinnen, ich wollte Sie gegenüber der Marine Septagons herabsetzen, aber falls Sie vorhaben, den Kampf mit ihr aufzunehmen, wären Sie dann wohl so nett, mich vorab zu warnen? Ich hätte nämlich gern die Chance, mir vorher eine Notausstiegskapsel zu besorgen.«
»Nun ja, wir können die Einschätzungen der Abwehr der Erdregierung wohl kaum in Zweifel ziehen, nicht wahr, Kommandeur?« Bauer nickte seinem Ersten Offizier viel sagend zu.
»Äh, nein, Sir. Der Oberst hat weitgehend Recht.« Der junge und irgendwie nervöse Leutnant vermied es, Rachel anzusehen. Mittlerweile gewöhnte sie sich daran, solche kleinen Kränkungen einfach zu ignorieren.
»Verdammte neumodische Erfindungen«, murmelte Kurtz fast unhörbar. »Diese aufgeblasenen, hinterhältigen Leute wollen sowieso nicht, dass wir Erfolg haben – per… perfide Technophile!« Und lauter: »Wir müssen vorwärts drängen!«
»Ganz richtig.« Geschwaderführer Bauer nickte weise. »Indem wir uns zum Punkt zwei unseres Plans vorkämpfen und die diplomatischen Feinheiten der Botschaft überlassen. Da wir gerade beim Thema sind: Leutnant Kossov, wie steht’s mit dem Update? Und wie mit weiteren Informationen über das Festival, seine Schlachtordnung und seine Motive? Was konnten wir in Erfahrung bringen?«
»Ah.« Leutnant Kossov zog den Kneifer von der Nase und putzte ihn nervös. »Nun ja, es gibt da ein gewisses Problem. Das Protokoll von der Admiralität ist offenbar nicht angekommen. Wir hätten eigentlich eine Feuerbake sichten müssen, aber wir konnten nichts finden, obwohl wir die vorgesehene Umlaufbahn gründlich abgesucht haben. Entweder haben die sich verspätet oder aber die Bake nie abgeschickt.«
»Diese Bake in der Umlaufbahn«, Rachel beugte sich vor, »ist eine ganz normale Zielboje, stimmt’s? Ausgerüstet mit einem Päckchen vom Diplomatischen Dienst, das alles enthält, was die Nachrichtendienste der Republik in den fünf Jahren seit unserem Sprung über das Festival in Erfahrung gebracht haben?«
Kossov blickte vorsichtig zum Geschwaderführer hinüber, der nickte. »Ja, Oberst. Was ist damit?«
»Nun ja, falls es nicht dort ist, gibt es drei Möglichkeiten, nicht wahr? Entweder war es da, aber irgendjemand hat es gestohlen oder unbrauchbar gemacht. Oder…«
»Diese heimtückischen Septagonen!« Robard beugte sich hastig über sein Mündel, blickte danach auf und zuckte viel sagend mit den Schultern.
»Allerdings, Admiral. Oder es gibt, wie schon gesagt, noch die zweite Möglichkeit, dass man es noch nicht abgeschickt hat – irgendeine Fehlkalkulation. Vielleicht haben sie auch keine nützliche Information über den Feind bekommen können. Oder aber sie haben uns schlichtweg vergessen.«
Kurtzs Schnarchen platzte laut in ihre Ausführungen hinein. Alle Augen wandten sich dem Admiral zu; Robard richtete sich auf. »Ich muss leider sagen, dass die Beine den Admiral in letzter Zeit arg plagen. Und das, was er an Mitteln dagegen schluckt, befördert nicht gerade die geistige Klarheit. Durchaus möglich, dass er jetzt ein paar Stunden schläft.«
»Also dann…« Bauer sah einen nach dem anderen am Besprechungstisch an. »Wenn Sie so gut wären, Seine Exzellenz zurück in seine Kabine zu bringen? Ich glaube, es ist am besten, wenn ich als sein Bevollmächtigter weitermache und ein ausführliches Protokoll dieser Sitzung anfertige, das er später durchgehen kann, wenn er sich besser fühlt. Es sei denn, jemand will irgendwelche Dinge loswerden, die speziell für das Ohr des Admirals bestimmt sind?« Niemand erhob Einwände. »Also gut, wir unterbrechen für fünf Minuten.«
Robard und ein Rekrut schoben den Rollstuhl des Admirals vorsichtig vom Tisch weg und verschwanden mit ihm zum Fahrstuhl direkt vor dem Besprechungszimmer, der ihn zu seinem Quartier bringen würde. Während der schnarchende Offizier aus der Sitzung gekarrt wurde, erhoben sich alle von ihren Plätzen und salutierten. Rachel behielt eine ausdruckslose Miene bei und versuchte, den Ekel und das Mitleid zu verbergen, die dieser Anblick bei ihr auslöste. Er ist noch so jung, dass er mein Enkel sein könnte. Wie können sie sich selbst so etwas antun?
Irgendwann schlug Bauer, der den Platz des Admirals am Kopfende des Tisches eingenommen hatte, auf die Messingglocke. »Die Sitzung wird fortgesetzt. Der Attache von der Erde hat das Wort. Was hatten Sie gerade gesagt?«
»Die dritte Möglichkeit besteht darin, dass die Neue Republik nicht mehr existiert«, sagte Rachel frei heraus. Sie ignorierte das empörte Aufstöhnen rings um den Tisch und fuhr fort: »Sie haben es mit einem Feind zu tun, über dessen Fähigkeiten Sie so gut wie gar nichts wissen. Leider muss ich sagen, dass auch die Vereinten Nationen kaum mehr als Sie in Erfahrung gebracht haben. Wie bereits erwähnt, kann es drei Gründe dafür geben, dass die Neue Republik Sie nicht kontaktiert hat, und ihre vollständige Niederlage in den Zukunftsjahren ist nur eine Möglichkeit, allerdings eine, die zu ignorieren gefährlich sein könnte. Inzwischen befinden wir uns ganz außen in einer geschlossenen Zeitkurve, die sich irgendwann selbst aus der Welt schaffen wird, falls es Ihnen gelingt, in dieser Schleife in unsere relative Vergangenheit zurückzukehren, die – absolut gesehen – die unmittelbare Zukunft der Neuen Republik darstellt, und die Invasoren zu überraschen. Das hat einige merkwürdige Konsequenzen. Zum einen ist es möglich, dass die Geschichte, die uns innerhalb dieser Schleife erreicht, überhaupt nichts mit dem von uns erhofften Entwicklungsverlauf zu tun hat. Zum anderen…« Sie zuckte die Achseln. »Hätte man mich vor dieser Expedition konsultiert, hätte ich dringend davon abgeraten. Wenn sie, genau genommen, auch keinen Verstoß gegen den Wortlaut der Klausel neunzehn darstellt, reicht sie doch gefährlich nahe an die Art von Aktivität heran, die in der Vergangenheit zur Einmischung des Eschaton geführt hat. Das Eschaton hält ganz und gar nichts von Zeitreisen, vermutlich deswegen nicht, weil dadurch seine eigene Existenz vernichtet werden könnte, falls die Dinge außer Kontrolle geraten. Deshalb ist es denkbar, dass Sie es hier nicht nur mit dem Festival, sondern auch mit einer höheren Gewalt zu tun bekommen.«
»Danke, Oberst.« Bauer nickte höflich, aber sein Gesicht war zu einer Maske der Missbilligung verzerrt. »Meiner Meinung nach sollten wir dieser Möglichkeit für den Augenblick keine Beachtung schenken. Wenn das Eschaton beschließen sollte, sich einzumischen, können wir sowieso nichts daran ändern. Also müssen wir von der Annahme ausgehen, dass es nicht geschehen wird. Und in diesem Fall haben wir es nur mit dem Festival zu tun. Kossov, was wussten wir vor unserem Aufbruch über unseren Gegner?«
»Äh, ähm, nun ja, sozusagen…« Kossov blickte wild um sich, hantierte mit den Papieren auf seiner Schreibunterlage herum und seufzte. »Äh, gut, ja. Das Festival…«
»Ich weiß, wie es heißt, Leutnant«, tadelte ihn der Geschwaderführer. »Was ist es, und was will es?«
»Das weiß niemand.« Wie ein Kaninchen, das vom blendenden Schweinwerferlicht eines sich nähernden Eilzugs wie gelähmt ist, starrte Kossov den Stellvertreter seines höchsten Vorgesetzten an.
»Also, Beauftragter der Erde«, Bauer legte den Kopf schräg und sah Rachel so prüfend wie ein Raubvogel an, der nur ein einziges Ziel kennt, »was kann mir die hoch geschätzte regierungsverbindende Körperschaft der Erde über das Festival erzählen?« Seine Frage klang fast höhnisch.
»Ah.« Rachel schüttelte den Kopf. Natürlich hatte der arme Junge sein Bestes versucht. Keiner dieser Menschen konnte viel über das Festival wissen, selbst sie wusste fast nichts. Dort gähnte eine einzige große Lücke.
»Nun?«, drängte Bauer.
Rachel seufzte. »Es sind alles nur vorläufige Annahmen. Niemand von der Erde hat bis jetzt direkten Kontakt mit der Organisation gehabt, die als Festival bekannt ist. Deshalb verfügen wir auch nur über nicht verifizierte Informationen aus zweiter Hand, die, offen gesagt, kaum glaubhaft sind. Demnach scheint das Festival keine Regierung oder Organisation in dem Sinne darzustellen, wie wir sie kennen. Es ist sogar möglich, dass keine Menschen dahinterstecken. Wir wissen lediglich, dass irgendetwas namens Festival in fernen besiedelten Systemen aufzutauchen pflegt – bis jetzt nie näher als tausend Lichtjahre an der Erde dran – und dann… Nun ja, zur Beschreibung dessen, was als Nächstes geschieht, haben wir immer wieder den Ausdruck Jubel gehört, falls das für Sie irgendeinen Sinn ergibt. Alles… hört einfach auf. Und solange das Festival vor Ort ist, lenkt es das alltägliche Geschehen innerhalb der betroffenen Gesellschaft.« Sie sah Bauer an. »Habe ich Ihre Frage damit beantwortet?«
Bauer, der verärgert wirkte, schüttelte den Kopf. »Nein«, erwiderte er, »eigentlich wollte ich wissen, wozu das Festival fähig ist.«
Rachel zuckte die Achseln. »Das wissen wir nicht«, erklärte sie schroff. »Wie schon gesagt, haben wir es nie aus nächster Nähe gesehen.«
Bauer runzelte die Stirn. »Dann ist das auch für Sie eine Premiere, nicht wahr? Was uns zum nächsten Punkt der Tagesordnung bringt: neuester Stand des Navigationsplans Delta…«
Einige Stunden später lag Rachel, den Kopf in die Kissen vergraben, in ihrer Schlafkoje und versuchte all das, was um sie herum geschah, vorübergehend zu verdrängen – was nicht einfach war. Zu vieles von dem, was in der Welt vor sich ging, hatte sie im Laufe der Jahre bis nach Hause verfolgt und verlangte lautstark nach Beachtung.
Sie war immer noch am Leben. Irgendwie war ihr durchaus klar, dass sie dabei Erleichterung hätte empfinden müssen. Aber das Bild, das sie im Besprechungszimmer gewonnen hatte, war ihr stärker an die Nieren gegangen, als sie sich selbst eingestehen wollte. Was den Mittelpunkt der ganzen Unternehmung hätte bilden müssen, war ein großes Nichts, ein seniler Admiral. Und der Führungsstab hatte zwar die besten Absichten, aber nicht die geringste Ahnung: Die Leute waren so wenig flexibel, dass sie ihre Aufgaben schlichtweg nicht angemessen ausführen konnten. Bis zur eigenen Erschöpfung hatte sie zu erläutern versucht, wie fortschrittliche Gesellschaften in solchen Situationen vorgingen – ohne dass sie irgendetwas kapiert hätten! Da sie eine Dame war – wenn auch eine leicht anrüchige, ein weiblicher Diplomat –, hatten sie höflich dazu genickt und ihren Rat sofort wieder in den Wind geschrieben.
In einem Krieg der Informationen kann man den Angriff nicht mit Raketen und Lasern abwehren, genauso wenig wie man eine Lokomotive durch Speere oder Steinäxte aufhalten kann. Und man kann einen Angriff von Replikatoren nicht dadurch parieren, dass man die Maschinen mit Energie und Materie bombardiert, denn beides wird ihnen nur als neues Futter dienen. Auf diese Ausführungen hin hatten sie beifällig genickt, um gleich darauf dazu überzugehen, die Stärken aktiver Gegenmaßnahmen gegenüber Systemen herauszustellen, die nur schwer auszuloten waren. Und immer noch hatten sie nicht das Geringste begriffen. Es war so, als ob allein schon die Vorstellung von einem Phänomen, wie es das Festival oder auch nur das Septagon-System darstellte, weit über den geistigen Horizont der Bürger der Neuen Republik hinausginge. Weit eher konnten sie sich mit einer Frau in Hosen, selbst in der Uniform eines Obersten abfinden, als geistig etwas technologisch Einzigartiges zu erfassen.
Vor Jahren hatte sie auf der Erde an einem einwöchigen Seminar von Experten teilgenommen. Dort waren Fachleute der systemimmanenten Analyse versammelt gewesen, die das Studium der von der Singularität zurückgelassenen rätselhaften Trümmer schier in den Wahnsinn getrieben hatte, außerdem Demographen, die sich immer noch bemühten, die Kriterien zu entschlüsseln, nach denen die Menschen kolonialen Welten zugewiesen worden waren, und neben zwei zugeknöpften Kommandeuren von Söldnertruppen auch freiberufliche Berater von Nachrichtendiensten, völlig in Anspruch genommen von der Ausarbeitung langfristiger Rückversicherungsstrategien, um eine Wiederkehr des Eschaton zu verhindern. Diesen bunt zusammengewürfelten Haufen hatte man mit einem exklusiven Zirkel gemischt, der aus Experten einer speziellen Einsatzgruppe der Abwehr und aus Diplomaten der Vereinten Nationen bestanden hatte. Gastgeber waren die Vereinten Nationen gewesen, die als einzig verbliebene Insel unerschütterlicher Stabilität in einem Meer von Gemeinwesen im Westentaschenformat auch die einzige Körperschaft dargestellt hatten, die eine solch globale Veranstaltung ausrichten konnte.
Während des Seminars hatte sie an einer Cocktailparty auf einer weißen Terrasse teilgenommen, die zu einem riesigen Hotel am Rande von Genf – dem Sitz der Vereinten Nationen – gehörte. Damals war sie Mitglied in einem Prüfungsausschuss zur atomaren Abrüstung gewesen und hatte Uniform getragen: einen schwarzen Anzug, weiße Handschuhe und eine verspiegelte Brille, deren Impulse ihr die neuesten Informationen und Strahlungsmessungen in die entzündeten, übermüdeten Augen gejagt hatten. Aufgedreht von einem Cocktail, der dem Alkohol entgegenwirkende Substanzen enthalten hatte, hatte sie mit einem höflichen belgischen Kosmologen einen bitteren (und völlig wirkungslosen) Gin getrunken. Die Tatsache, dass sie beide vieles überhaupt nicht begriffen hatten, wenn sie auch einiges hatten erfassen können, hatte zu einem irgendwie peinlichen Gespräch geführt, in dem sie sich gegenseitig die Bälle zugespielt hatten. »Es gibt so vieles am Eschaton, das wir nicht verstehen«, hatte der Kosmologe nachdrücklich behauptet, »besonders das, was seine Wechselwirkung mit der Geburt des Universums, mit dem Urknall, betrifft.« Dabei hatte er die Augenbrauen viel sagend hochgezogen.
»Der Urknall. Der war wohl nicht zufällig die ungeplante kritische Abweichung bei einer atomaren Spaltung, oder?«, hatte sie mit todernster Miene gewitzelt und versucht, ihn mit Humor vom eigentlichen Thema wegzubringen.
»Wohl kaum. Seinerzeit gab es ja noch gar keine Masse, die so etwas ermöglicht hätte. Es war der Anfang der Raumzeit, noch vor der Phase der Expansion und dem ersten Auftauchen von Masse und Energie, der Bruchteil von Abermilliarden einer millionsten Sekunde im Leben des Universums.«
»Sicher kann man nicht das Eschaton dafür verantwortlich machen. Es ist doch eine moderne Erscheinung, nicht wahr?«
»Vielleicht nicht verantwortlich«, hatte er mit sorgsam gewählten Worten erwidert. »Aber es könnte sein, dass die Bedingungen, die damals entstanden, eine notwendige Voraussetzung für das Entstehen des Eschaton gebildet haben – oder für die Existenz von etwas, das mit dem Eschaton zu tun hat, allerdings darüber hinausreicht. Es gibt eine ganze Schule der Kosmologie, die auf dem schwachen anthropischen Prinzip[xiv] basiert. Danach ist das ganze Universum, wie es sich uns darstellt, deswegen so und nicht anders beschaffen, weil wir andernfalls nicht existieren würden, um es zu beobachten. Außerdem gibt es auch noch einen… weniger populären Wissenschaftsbereich, der sich auf das starke anthropische Prinzip[xv] stützt, wonach das Universum dazu existiert, dass es unterschiedlichen Arten von Wesenheiten zur Existenz verhilft. Ich glaube nicht, dass wir das Eschaton je verstehen werden, bis wir begreifen, warum das Universum existiert.«
Sie hatte ihn breit angegrinst und es einem preußischen Diplomaten überlassen, sie mit einer höflichen Verbeugung und dem Angebot, ihr den Fall von Warschau während der letzten unerfreulichen Zwischenfälle im Baltikum zu erläutern, loszueisen. Etwa ein Jahr danach war der höfliche Kosmologe von religiösen Fundamentalisten in Algerien ermordet worden. Sie hatten seine Beschreibung des Universums als Blasphemie gegen die auf zwei Goldtafeln festgehaltenen Worte des Propheten Yussuf Smith betrachtet. Und das war typisch für das halb entvölkerte Europa, das zur Beute dessen geworden war, zu dem sich die frühere islamische Welt entwickelt hatte.
Irgendwann hatte auch sie sich im Laufe der Jahre verändert. Sie hatte Jahrzehnte damit verbracht – und zwar den größten Teil ihres zweiten Lebensabschnitts im frühen vierundzwanzigsten Jahrhundert –, die Übel zu bekämpfen, die mit der Verbreitung von Atomwaffen einhergingen.
Angefangen hatte sie als eine Vertreterin der direkten Aktion, die Dreadlocks trug und sich selbst an Zäune kettete. In ihrer jugendlichen Naivität war sie überzeugt gewesen, ihr könne nichts passieren. Später hatte sie gemerkt, dass sie weitaus mehr erreichte, wenn sie ein schickes Kostüm trug und angeheuerte Soldaten sowie die Drohung, man werde den Kredithahn sperren, ihre ruhigen Ausführungen unterstützten.
Immer noch aufsässig und direkt, aber längst nicht mehr die Nonkonformistin, die auf Teufel komm raus vorgegangen war, hatte sie gelernt, sich das System mit größtmöglicher Wirkung zu Nutze zu machen. Die vielköpfige Schlange schien halbwegs unter Kontrolle – eine Bombardierung kam nur noch alle paar Jahre vor –, als Bertil sie nach Genf bestellt und ihr einen neuen Job angeboten hatte. Damals hatte sie bereut, dem Kosmologen nicht besser zugehört zu haben, denn die algerischen Heiligen der Letzten Tage waren sehr gründlich dabei vorgegangen, die Häresie der Tipleriten[xvi] zu unterdrücken. Aber diese Chance war vertan, und die Untersuchungsprotokolle des Ständigen Ausschusses, der sich mit der Geschichte und der zu erwartenden künftigen Entwicklung von Kriegen befasste, hätten sie in jedem Fall zur Zusage bewogen.
Irgendwann im Laufe der Jahre hatte sich die Idealistin in ihr mit der Pragmatikerin angelegt, und die Pragmatikerin hatte den Sieg davongetragen. Vielleicht war der Samen dazu schon in ihrer ersten Ehe gelegt worden, vielleicht war es auch erst später geschehen. Ein Schuss in den Rücken und die sechs Monate, die sie anschließend zur Genesung in einem Krankenhaus in Kalkutta verbracht hatte, hatten sie verändert. Auch sie selbst hatte ihren Anteil an Schießereien gehabt, zumindest hatte sie die Maschinerie von Präventivschlägen gelenkt und mehr als eine Zelle von Fanatikern, die über Atomwaffen verfügten, liquidiert – ob es Unabhängigkeitskämpfer in Mittelasien gewesen waren oder Fremdenlegionäre, die eine Bombe zu viel im Keller gebunkert hatten. Sie hatte auch einen denkwürdigen Einsatz gegen radikale Abtreibungsgegner geleitet, denen jede militante Maßnahme recht gewesen war, um das ungeborene Leben zu schützen. Der eigene Idealismus vertrug sich nicht mit den Idealen so vieler anderer Menschen, deren Wahl der Mittel alle hehren Absichten Lügen strafte.
Drei Tage nach dem verheerenden Anschlag auf das InterCity-Gebäude war sie durch Manchester gewandert, ehe der Regen die traurigen Schlackenberge und Knochen aus den Straßen, die in Schutt und Asche lagen, hatte fortschwemmen können. Inzwischen war sie so zynisch geworden, dass ihr nur noch ein völliger Wechsel der Perspektive, ein distanzierter Blick auf die Aussichten der Menschheit dabei hatte helfen können, die Selbstachtung zu bewahren. Also war sie zur Neuen Republik aufgebrochen. Schlimmstes kulturelles Notstandsgebiet, offen gesagt ein Scheißort, der es dringend nötig hatte, sich in jeder Hinsicht zu erneuern, damit er nicht noch seine aufgeklärteren Nachbarn wie die Fürstentümer Malacia oder Turku verseuchte. Aber immerhin waren die Einheimischen Menschen. Und wenn sie noch so wild mit den Maschinerien der Massenvernichtung herumhantierten, offenbar ohne deren Wirkung abschätzen zu können, hatten sie Besseres verdient, als sie von einem alarmierten, aufgebrachten Eschaton empfangen würden. Auch durfte man nicht zulassen, dass sie sich blutige Köpfe bei einem unbegreiflichen Phänomen wie dem Festival holten – was immer es auch sein mochte, denn auch das hatten sie nicht verdient. Wenn das Ganze über ihren geistigen Horizont hinausging, musste sie es wohl übernehmen, das Undenkbare an ihrer Stelle zu denken, und sie dabei unterstützen, irgendein Arrangement mit dem Festival zu treffen, falls das überhaupt möglich war. Bei dem Wenigen, was die Vereinten Nationen über das Festival wussten, war das Alarmierende (und das Einzige, das sie Bauer nicht mitgeteilt hatte), dass die vom Festival kontaktierten technikfeindlichen Kolonien schlichtweg verschwanden: Wenn das Festival wieder fortzog, blieben nur Trümmer zurück. Warum das so war, wusste sie nicht, aber es ließ nichts Gutes für die Zukunft hoffen.
Kaum etwas kann einen Menschen so sehr beschäftigen wie das Wissen, dass er in vier Wochen gehängt werden soll. Es sei denn das Wissen, dass er das Schiff, das ihn befördert, sabotiert hat und – gemeinsam mit allen anderen an Bord – in drei Monaten sein Ende finden wird. Denn die Exekution mag zwar länger auf sich warten lassen, aber die Chancen zur Begnadigung stehen dabei ungleich schlechter.
Ein Glas Tee in der Hand, saß Martin Springfield in der fast leeren Offiziersmesse und starrte geistesabwesend auf die Deckenbalken. Der Raum war ganz im nautischen Stil eingerichtet: Er war mit alten Eichenpaneelen eingefasst, und der Fußboden aus Holzbohlen war mit weichem Sandstein so lange poliert worden, bis er glänzte. Auf einer von den Jahren angeschwärzten Seemannskiste stand ein fein ziselierter silberner Samowar, der schwach vor sich hin dampfte. Darüber hing ein riesiges, in Gold gerahmtes Ölgemälde an der Wand, das den Namenspatron des Schiffes in Aktion zeigte: Lord Vanek, wie er vor hundertsechzig Jahren den Angriff der Kavallerie geleitet hatte, um die Rebellion der Roboter niederzuschlagen. Damit hatte er auch die Hoffnungen all jener zerstört, die von einem Leben ohne die Plackerei im Dienste der Aristokraten geträumt hatten. Martin zitterte leicht, als er versuchte, seine persönlichen Dämonen im Zaum zu halten.
Es ist alles meine Schuld, dachte er. Und es gibt niemanden, mit dem ich diese Last teilen könnte.
Trostloses Schicksal. Er nippte an seinem Glas und spürte durch den bitteren Tee hindurch den scharfen, süßen Geschmack des Rums. Inzwischen fühlten sich seine Lippen taub an. Wie dumm von mir, dachte er. Es war zu spät, die Dinge ungeschehen zu machen. Zu spät, ein Geständnis abzulegen; selbst Rachel gegenüber, um sie, wenn irgend möglich, aus dieser Falle zu retten, war das unmöglich. Er hätte es ihr gleich am Anfang sagen sollen, ehe sie an Bord gekommen war. Hätte dafür sorgen sollen, dass sie nicht dabei war, wenn das Eschaton Rache übte. Selbst wenn er jetzt alles beichtete oder es getan hätte, ehe sie die Aufrüstungen zur Steuerung des Antriebskerns aktiviert hatten, konnte es ihn nur auf einen Weg ohne Wiederkehr führen, hin zum elektrischen Stuhl. Und immerhin war der Sabotageakt überaus wichtig und würde niemanden direkt umbringen…
Martin lief ein Schauer über den Rücken. Er trank das Glas aus und stellte es neben seinem Stuhl ab. Unbewusst beugte er sich vor und zog unter der Last seines schlechten Gewissens den Kopf ein. Wenigstens habe ich das Richtige getan, versuchte er sich selbst einzureden. Keiner von uns wird nach Hause zurückkehren, aber wenigstens wird das Zuhause, das wir besaßen, noch da sein, wenn wir selbst auch fort sind. Einschließlich der Wohnung, die Rachel so gut wie nie benutzte. Er zuckte zusammen. Es war fast unmöglich, wegen einer ganzen Flotte Schuldgefühle zu entwickeln, aber allein das Wissen, dass Rachel an Bord war, hatte ihn die ganze Nacht über wach gehalten.
Das jämmerliche Pfeifen der Alarmsirenen hatte vor fast einer Stunde alle an die Gefechtsstände gerufen. Es hatte damit zu tun, dass sich derzeit eine Gruppe von Geschützträgern Septagons näherte, die als Reaktion auf das Fiasko mit den Grubenschleppern so aufgestachelt war wie ein Nest wütender Hornissen. Martin war das gleichgültig. Irgendwo im Netzwerk der Antriebskontrolle tickte ganz langsam – langsamer als vorgesehen – ein atomares Uhrwerk, fein eingestellt auf eine bestimmte Krümmung der Raumzeit durch Manipulation des Antriebskerns. Natürlich war es nur eine leichte Abweichung, aber diese winzige Änderung im Steuerungsprogramm würde unverhältnismäßig schwer wiegende Konsequenzen haben, sobald sich die Flotte auf den Rückweg durch die Raumzeit machte. Er hatte diesen Fehler ganz bewusst eingebaut, um ein katastrophales, unwiderrufliches Unglück zu verhindern. Die Marine der Neuen Republik mochte eine geschlossene zeitartige Schleife nur für ein unbedeutendes taktisches Manöver halten, aber es war der erste kleine Schritt zu weiteren Entwicklungen. Wehret den Anfängen!, hatte Hermann gesagt. Martin hatte einen Pakt mit einer Macht geschlossen, die unheimlicher und auch rätselhafter war als jene, der Rachel diente. Aus seiner Sicht äfften die Leute der speziellen UN-Einsatzgruppe die Aktionen seiner Auftraggeber nur in kleinerem Maßstab nach – in der Hoffnung, ihnen zuvorzukommen.
Adieu, Belinda, dachte er und verabschiedete sich innerlich von seiner Schwester. Adieu, London. Der Staub von Jahrhunderten fraß die Metropole inzwischen auf und ließ ihre Türme zerbröckeln. Hallo, Hermann, sagte er zu der ständig tickenden Pendeluhr an der Wand. Als Flaggschiff gab die Lord Vanek die Zeit für die anderen Schiffe der Flotte per Signal vor. Und nicht nur das: Sie verfügte auch über das Bezugsystem, das an die Raum-Zeit-Koordinaten des ersten Sprunges gekoppelt war. Indem er das Laufwerk der Uhr etwas langsamer eingestellt hatte, hatte er sichergestellt, dass sich der Rückwärtslauf in der Zeit während ihres Manövers ganz leicht verändern würde.
Die Flotte würde innerhalb des Kausalitäts-Kegels vorwärts reisen, vielleicht sogar viertausend Jahre in die Zukunft. Dann würde sie in der Zeit »zurückspulen« und fast die ganze Strecke hinter sich bringen, auf der sie gekommen war, allerdings nicht ganz bis zum Ausgangspunkt zurückkehren. Ihre Ankunft in Rochards Welt würde sich um fast zwei Wochen verzögern; das war die Zeitspanne, die sie auch für einen schnellen Flug dorthin gebraucht hätten – ohne den faulen Trick mit der geschlossenen zeitartigen Schleife, den die Admiralität ausgeheckt hatte. Und dann würde das Festival… Nun ja, was das Festival der Flotte antun würde, war dessen ureigene Angelegenheit. Er wusste nur, dass er und alle anderen den Preis dafür zahlen würden.
Wen glaubten die denn mit ihrem Manöver hinters Licht führen zu können? Dreist zu behaupten, sie wollten es nur dazu nutzen, den Transit zu verkürzen, also wirklich! Selbst ein Kleinkind konnte durch ein derart durchsichtiges Lügengespinst die versiegelten Befehle sehen, die im Safe des Admirals warteten. Man kann das Eschaton nicht dadurch verarschen, dass man sich selbst belügt. Vielleicht würde Hermann, besser gesagt das Wesen, das sich hinter diesem Codename verbarg, tatsächlich auf ihn warten. Vielleicht würde Martin es tatsächlich schaffen, von diesem zum Untergang bestimmten Schiff zu fliehen, vielleicht auch Rachel. Oder die Marine der Neuen Republik würde das Festival aufgrund einer seltsamen Wendung des Schicksals in einem Kopf-an-Kopf-Rennen schlagen. Und vielleicht würde er Schweine zum Fliegen bringen…
Leicht schwankend stand er auf und stellte sein Glas unter den Samowar. Er füllte es halb und goss so viel aus der geschliffenen Glaskaraffe nach, bis über dem dampfenden Tee der Geruch nach Rum auszumachen war, der ihm in die Nase stach. Ein bisschen zu abrupt plumpste er wieder auf den Lehnstuhl. Inzwischen waren seine Fingerspitzen und Lippen so taub, dass sie ihre Dienste zu versagen drohten. Da er nichts anderes zu tun hatte, als seine Schuldgefühle zu verdrängen, war er drauf und dran, sich bis zur Besinnungslosigkeit vollaufen zu lassen – der leichteste Ausweg.
Er ließ seine Gedanken zu Erinnerungen zurückschweifen, die leichter zu ertragen waren. Vor achtzehn Jahren – er hatte gerade geheiratet und war als Außendiensttechniker mit einer fliegenden Einheit umhergereist – hatte er in einer Bar irgendwo im Orbit über Wollstonecrafts Welt eine denkwürdige Begegnung gehabt. Ein völlig unauffälliger Mann in Grau hatte ihn dort angesprochen. »Darf ich Sie zu einem Drink einladen?«, hatte der Mann gefragt, dessen Kleidung auf einen Buchhalter oder Rechtsanwalt hatte schließen lassen. Martin hatte genickt. »Sie sind Martin Springfield«, hatte der Mann festgestellt. »Gegenwärtig arbeiten Sie für Nakamichi Nuclear, wo Sie verhältnismäßig wenig Geld verdienen und unverhältnismäßig viele Überstunden ableisten. Meine Geldgeber haben mich beauftragt, wegen eines Job-Angebots Kontakt mit Ihnen aufzunehmen.«
»Die Antwort lautet nein«, hatte Martin automatisch erwidert. Er war schon vor einiger Zeit zu dem Schluss gekommen, dass die Erfahrungen, die er bei NN sammeln konnte, nützlicher waren als zusätzliche tausend Euro pro Jahr. Außerdem waren seine Auftraggeber – ein Verbund – so paranoid, was gewisse Verträge betraf, dass ihnen durchaus ein Vorgehen zuzutrauen war, bei dem sie die Loyalität eines Auftragnehmers durch getürkte Job-Angebote auf die Probe stellten.
»Es gibt keinen Interessenkonflikt mit Ihrem derzeitigen Auftraggeber, Mr Springfield«, hatte der Mann versichert. »Der Job bedeutet nicht, dass Sie ausschließlich für uns arbeiten müssten. Und akut wird das Angebot sowieso erst, wenn Sie sich selbstständig machen oder einem anderen Kombinat anschließen.«
»Um welche Arbeit geht es überhaupt?«, hatte Martin mit hochgezogener Augenbraue nachgehakt.
»Haben Sie sich je gefragt, warum Sie existieren?«
»Kommen Sie mir nicht mit…« Mitten im Satz hatte Martin abgebrochen. »Ist das hier irgendein Missionierungsgespräch?«
»Nein.« Der Mann in Grau hatte ihm direkt in die Augen gesehen. »Es ist das genaue Gegenteil. In diesem Universum existiert noch gar kein Gott. Mein Arbeitgeber möchte jedoch die notwendigen Voraussetzungen für die Emergenz Gottes sichern. Und dazu braucht er menschliche Arme und Beine. Denn er selbst ist nicht damit ausgestattet, wenn man es so ausdrücken will.«
Als sein Glas krachend auf dem Boden aufgeschlagen und zersplittert war, hatte Martin wieder klar denken können. »Ihr Arbeitgeber…«
»… glaubt, Sie könnten vielleicht etwas dazu beitragen, die Sicherheit des Kosmos zu verteidigen, Martin. Ich will hier keine Namen nennen«, der Mann beugte sich näher zu ihm, »jedenfalls ist es eine lange Geschichte. Möchten Sie diese Geschichte hören?«
Martin hatte genickt, weil es ihm in dieser völlig verrückten, im wahrsten Sinne surrealen Situation als das einzig Vernünftige vorgekommen war. Und sein Nicken hatte den ersten Schritt auf einem Weg bedeutet, der ihn achtzehn Jahre später hierher geführt hatte: zu einem einsamen Besäufnis in der Offiziersmesse eines zum Untergang verdammten Sternenschiffes, dem nur noch Wochen blieben, bis seine Rolle in der Marine der Neuen Republik ausgespielt war. Schlimmstenfalls auch nur Minuten.
Irgendwann würde man ihn wie die gesamte Besatzung der Lord Vanek als vermisst melden und die Verwandten benachrichtigen. Vor dem größeren Hintergrund eines tragischen und unnötigen Krieges würde man Tränen um sie vergießen, aber das würde ihn nicht mehr kümmern. Sobald er sein Glas geleert hatte, würde er aufstehen, zu seiner Kabine wanken, sich hinlegen und auf das gefasst machen, was im Laufe der nächsten drei Monate auf ihn zukam – egal, was es sein mochte. Bis die Falle endgültig zuschnappte.
Trotz der summenden, rauschenden Ventilation und des gelegentlichen Tröpfelns eines Überlaufrohrs, das neben ihrem Kopf hinter der Wandvertäfelung verlief, war es in Rachels Kabine heiß und irgendwie stickig. An Schlaf war nicht zu denken, nicht einmal an Entspannung. Plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie sich gern mit jemandem unterhalten hätte, mit einem Menschen, der ahnte, was hier vor sich ging. Sie wälzte sich auf den Rücken. »Notebook«, sagte sie laut und gab einem Drang nach, den sie schon einige Zeit unterdrückt hatte. »Wo ist Martin Springfield?«
»Wird geortet. In der Offiziersmesse des Schiffs, Deck D.«
»Ist jemand bei ihm?«
»Negativ.«
Sie setzte sich auf. Die Besatzung war auf den Gefechtsposten. Was, in aller Welt, tat Martin dort ganz allein?
»Ich gehe in die Offiziersmesse. Geheime Rückversicherung: Soweit es das Schiff betrifft, bin ich immer noch in meiner Kabine. Ausführung bestätigen.«
»Positiv. Hinwegsetzen über Suchsystem des Schiffs bestätigt, Rückversicherung gilt.«
Sie mochten die Abschussrampen und Antriebssysteme des Schiffes erneuert haben, aber das alte Kontroll- und Suchraster, in dem die persönlichen Kennzeichen der Besatzung gespeichert waren, hatten sie nicht angetastet. Vermutlich wurde es auch kaum benutzt, schließlich hätte es die persönliche Tyrannei der Unteroffiziere in wesentlichen Punkten überflüssig gemacht. Rachel zog ihre Stiefel an, stand auf und griff nach dem Jackett, das auf der oberen Koje lag. Sie würde sich eine Minute Zeit nehmen, um sich zurechtzumachen, und dann Martin suchen gehen. Es war unverantwortlich von ihr, ihre luftdichte Kabine zu verlassen, während sich das Schiff zum Gefecht bereitmachte, aber Martin handelte ebenso unverantwortlich. Was dachte er sich dabei?
Hastig machte sie sich auf den Weg zur Offiziersmesse. Auf den Korridoren des Kriegsschiffes herrschte unheimliche Stille.
Die ganze Besatzung hatte sich entweder in den luftdichten Kabinen eingeigelt oder befand sich auf den Posten zur Schadenkontrolle. Nur das Summen der Ventilatoren durchbrach die Stille; das Summen – und das Ticken der Uhr in der Offiziersmesse, als sie die Tür aufmachte.
Martin war ganz allein in der Messe und sah irgendwie mitgenommen aus, wie er da in einem dick gepolsterten Lehnstuhl hing: wie eine Flickenpuppe, die ihre Füllung verloren hatte. Auf dem Tisch vor ihm stand ein in Silber gefasstes Teeglas, halb mit einer braunen Flüssigkeit gefüllt, die ganz bestimmt kein Tee war, wenn Rachel nicht alles täuschte. Als sie eintrat, schlug er die Augen auf und sah sie an, sagte jedoch nichts.
»Du solltest in deiner Kabine sein«, bemerkte Rachel. »Die Offiziersmesse ist im Vakuum kein sicherer Ort, weißt du.«
»Wen kümmert’s?« Er rollte leicht mit der Schulter, als sei ein Achselzucken schon zu viel der Mühe. »Ich weiß wirklich nicht, warum das wichtig sein sollte.«
»Ich schon.« Sie marschierte zu ihm hinüber und baute sich vor ihm auf. »Du kannst in deine Kabine gehen oder auch mit zu meiner kommen. Jedenfalls wirst du in fünf Minuten in irgendeiner Kabine sein!«
»Kann mich nicht daran erinnern, dass ich einen… Arbeitsvertrag mit dir abgeschlossen hätte«, murmelte er.
»Nein, hast du auch nicht«, erwiderte sie munter. »Ich sag dir das ja auch nicht in meiner Eigenschaft als Auftraggeberin, sondern als Vertreterin deiner Regierung.«
»Hüah«, Rachel zerrte ihn hoch. »Aber ich hab doch gar keine Re-gie-rung.« Mit gequälter Miene stand Martin vom Lehnstuhl auf und geriet ins Schwanken.
»Die Neue Republik scheint das aber anzunehmen, und ich bin die beste Regierung, die du in dieser Gegend finden wirst. Es sei denn, du bevorzugst das alternative Angebot?!«
Martin verzog das Gesicht. »Wohl kaum.« Er taumelte. »Hab noch ein paar Vier-Drei-Eins in der linken Tasche. Glaub, ich brauch sie.« Während er umherstolperte, fischte er das kleine Päckchen mit Klebepflastern heraus, die dem Alkohol entgegenwirkende Substanzen enthielten. »Kein Grund, gehässig zu werden.«
»Ich bin keineswegs gehässig geworden, sondern hab dich lediglich mit einem Bezugsrahmen versorgt, damit du den Ausgangspunkt besser einschätzen kannst. Zu deinem eigenen Besten. Außerdem bin ich davon ausgegangen, dass wir zwei ja aufeinander aufpassen wollten. Und ich würde meinen Job verfehlen, wenn ich dich nicht herausholen und in eine Kabine schaffen würde, ehe dich jemand bemerkt. Trunkenheit wird hier mit Prügel bestraft, ist dir das klar?« Rachel fasste ihn am Ellbogen und lenkte ihn behutsam zur Tür. Martin war so wackelig auf den Beinen, dass sich dieser Versuch als interessante Erfahrung entpuppte. Zwar war Rachel groß und hatte für eben solche Gelegenheiten Muskelverstärker implantiert, aber er hatte drei Vorteile auf seiner Seite: Körpermasse, Schwungkraft und einen niedrig liegenden Schwerpunkt. Gemeinsam torkelten sie wie Betrunkene auf die Tür zu, bis Martin es schaffte, das Drogenpflaster auf einer Handfläche anzubringen, und Rachel sie beide zum Korridor steuerte.
Als sie endlich Rachels Kabine erreicht hatten, atmete er heftig und sah blass um die Nase aus. »Hinein!«, befahl sie.
»Ich fühl mich wie Scheiße«, murmelte er. »Hast du Trinkwasser da?«
»Jawoll.« Sie schloss die Luke hinter ihnen und drehte das Sicherungsrad herum. »Das Waschbecken ist da drüben, du hast ja sicher schon mal eins gesehen.«
»Ich muss dir wohl danken.« Er drehte die Hähne auf, spritzte sich Wasser ins Gesicht und füllte den Zahnputzbecher, um einen Schluck Wasser nach dem anderen hinunterzustürzen. »Verdammte Dehydration durch den Alkohol.« Er richtete sich auf. »Sicher denkst du, ich hätte mehr Grips haben sollen, als mich zu besaufen, stimmt’s?«
»Der Gedanke kam mir kurz«, erwiderte sie trocken, verschränkte die Arme und beobachtete ihn.
Nachdem er sich wie eine durchnässte Wasserratte geschüttelt hatte, ließ er sich schwer auf Rachels ordentlich gemachtes Bett fallen. »Ich musste einige Dinge unbedingt vergessen«, sagte er ärgerlich. »Vielleicht lag es mir allzu sehr auf der Seele. So etwas passiert mir nicht allzu oft, aber, na ja, wenn ich eingesperrt bin und nur mein eigener Kopf mir Gesellschaft leistet, tut mir das nicht gut. Alles, was ich hier derzeit zu sehen bekomme, sind Kabelführungen und Änderungspläne. Plus ein paar naive junge Offiziersanwärter beim Mittagessen. Und dieser Spitzel vom Büro des Kurators hängt die ganze Zeit herum, behält mich im Auge und belauscht alles, was ich sage. Ich komm mir vor wie in irgendeinem widerwärtigen Knast.«
Rachel zog den Klappstuhl heran und setzte sich. »Dann bist du sicher noch nie in einem Knast gewesen. Sei froh.«
Seine Lippen zuckten. »Aber du schon, wie? Madame Regierungsvertreterin.«
»Ja. Ich hab einmal acht Monate im Gefängnis verbracht. Ein Agrarkartell hat mich wegen angeblicher Industriespionage rangekriegt. Amnesty Multinational hat den Fall aufgegriffen, meine Inhaftierung als Geiselnahme in wirtschaftlichen Auseinandersetzungen publik gemacht und dafür gesorgt, dass ein Handelsembargo gegen das Kartell verhängt wurde: Das hat mich relativ schnell wieder herausgebracht.« Zwar waren die Erinnerungen verblasst und ihr ursprünglich heftiger Zorn über die Inhaftierung schon fast verraucht, dennoch zuckte sie beim Gedanken daran zusammen. Es war nicht die längste Gefängnisstrafe gewesen, die sie abgesessen hatte, aber sie hatte nicht vor, dieses Thema ausgerechnet jetzt auszuweiten.
Er schüttelte den Kopf und lächelte schwach. »Aber die Neue Republik ist ja für alle wie ein Gefängnis, meinst du nicht?«
»Hm.« Sie starrte durch ihn hindurch auf die hintere Wand. »Wenn wir schon dabei sind: Ich glaube, du übertreibst vielleicht ein bisschen.«
»Na ja, zumindest musst du doch zugeben, dass sie alle Gefangene der eigenen Ideologie sind, oder nicht? Zweihundert Jahre gewaltsamer Unterdrückung haben ihnen nicht viel Spielraum gegeben, die eigene Gesellschaft mal aus der Entfernung zu betrachten und sich anderswo umzuschauen. Deshalb haben wir ja jetzt diesen Schlamassel.« Er lehnte sich zurück und stützte den Kopf gegen die Wand. »Entschuldigung, ich bin müde. Hab eine Doppelschicht mit der Feinkalibrierung des Antriebs zugebracht und danach war ich noch vier Stunden auf der Glorreich, hab Feuerwehr bei ihren Problemen mit oxidierenden Schaltern gespielt, es ging um Schaltungen im RCP, im Revisionskontrollsystem.«
»Du bist entschuldigt.« Rachel knöpfte ihr Jackett auf und beugte sich danach hinunter, um die Stiefel abzustreifen. »Autsch!«
»Wunde Füße?«
»Verdammte Marine, immer auf den Beinen. Außerdem sieht’s dumm aus, wenn ich so herumhumpele.«
Er gähnte. »Um das Thema zu wechseln: Was werden die Streitkräfte des Septagon deiner Meinung nach unternehmen?«
Sie zuckte die Achseln. »Vermutlich werden sie uns die Hölle heiß machen und mit vorgehaltener Waffe dazu zwingen, schnellstens von hier zu verschwinden. Außerdem werden sie die Neue Republik zu Kompensationszahlungen drängen. Das sind Pragmatiker, die halten nicht viel von Geschwätz über nationale Ehre oder so hehre Tugenden wie Mut, heroisches Mannestum und dergleichen.«
Martin setzte sich auf. »Falls du deine Stiefel ausziehst, werde ich, wenn es dir nichts ausmacht…«
Sie winkte ab. »Fühl dich als mein Gast.«
»Ich dachte, ich sollte mich wie dein loyaler Untertan fühlen?«
Sie kicherte. »Komm bloß nicht auf Ideen, die über deinen Horizont gehen! Also wirklich, diese verdammten Monarchisten! Ich verstehe sie, rein theoretisch betrachtet, aber wie halten die das nur aus? Ich würde wahnsinnig werden, das kann ich dir schwören. Innerhalb von zehn Jahren.«
»Hm.« Mit seinen Schuhen beschäftigt, beugte er sich vor. »Betrachte es mal aus anderer Perspektive. Die meisten Menschen bei uns zu Hause sitzen mit ihren Familien und Freunden herum, führen ein gemütliches Leben und tun nicht mehr als drei, vier Dinge gleichzeitig: Sie machen Gartenarbeit, entwerfen irgendwelche Verkaufsschlager, malen Landschaften und ziehen ihre Kinder groß – etwas in dieser Art jedenfalls. Sie ähneln Insektenkundlern, drehen die kleinen Dinge des Lebens um und sehen nach, was darunter ist und mit den Beinchen zuckt. Warum, zum Teufel, tun wir das nicht auch?«
»Ich hab’s früher getan.« Er blickte neugierig zu ihr hoch, aber sie war in Gedanken ganz wo anders, in ihre Erinnerungen vertieft. »Hab dreißig Jahre als Hausfrau verbracht, kannst du’s glauben? Wir waren gute, gottesfürchtige Leute. Mein Ehemann hat die Familie versorgt, wir hatten zwei entzückende Kinder, die wir abgöttisch liebten, und Haus und Garten in der Vorstadt. Jeden Sonntag sind wir zur Kirche gegangen. Und nichts – absolut nichts – hat uns erlaubt, mit dieser zur Schau getragenen Konformität zu brechen.«
»Aha. Hab mir schon gedacht, dass du älter sein musst als du aussiehst. Ende sechzig, aber verjüngt?«
»Welche sechzig meinst du?« Sie schüttelte den Kopf, um gleich darauf die eigene rhetorische Frage zu beantworten. »Mach eine eins vor die sechzig, dann hast du’s in etwa. Ich bin neunundvierzig geboren und in einer Familie von Baptisten, einer Stadt von Baptisten aufgewachsen. Es ist eine stille Religion, nach dem Eschaton hat sie sich ganz nach innen gekehrt. Wahrscheinlich deshalb, weil wir alle so verzweifelte Angst hatten. Es ist so lange her, dass ich Mühe habe, mich daran zu erinnern. Eines Tages war ich achtundvierzig Jahre alt, die Kinder waren aus dem Haus und gingen zur Universität, und da merkte ich, dass ich kein Wort dieser Religion glaubte. Damals hatten sich die Behandlungen zur Verlängerung des Lebens schon durchgesetzt, und der Pastor hatte aufgehört, sie als Teufelswerk zu verdammen – nachdem sein eigener Großvater ihn im Squash geschlagen hatte. Und plötzlich wurde mir klar, dass mein Tag völlig inhaltslos gewesen war und vielleicht noch eine Million solcher Tage folgen würden. Dabei gab es so viele Dinge, die ich noch nie getan hatte und niemals tun würde, wenn ich die Alte blieb. Und ich hatte ja eigentlich gar keinen richtigen Glauben. Religion war die Sache meines Mannes gewesen, ich hatte nur mitgemacht. Deshalb bin ich dann ausgezogen und hab mich behandeln lassen. In sechs Monaten hab ich zwanzig Jahre abgeschüttelt. Hab die übliche Sterling-Fugue[xvii] durchgemacht, meinen Namen geändert, mein Leben geändert, fast alles an mir geändert. Hab mich einer anarchistischen Kommune angeschlossen, zu jonglieren gelernt, an radikalen Aktionen gegen Gewalt teilgenommen. Harry – nein, Harold – ist damit nicht klar gekommen.«
»Zweite Kindheit. So ähnlich wie die Teenagerphase im zwanzigsten Jahrhundert.«
»Ja, genau…« Sie starrte Martin an. »Und wie steht’s mit dir?«
Er zuckte die Achseln. »Ich bin jünger als du. Aber älter als fast alle an Bord dieses idiotischen Kinderkreuzzugs. Abgesehen vielleicht vom Admiral.« Eine Sekunde lang, nur ganz kurz, wirkte er gequält. »Du solltest nicht hier sein. Und ich auch nicht.«
Sie sah ihn an. »Dich hat’s wirklich schlimm erwischt, wie?«
»Wir sind…« Er biss sich auf die Zunge, warf ihr einen merkwürdig wachsamen Blick zu und setzte zu einem neuen Satz an. »Diese Reise ist verflucht. Ich nehme an, das weißt du.«
»Ja.« Sie blickte zu Boden. »Ich weiß es«, sagte sie gelassen. »Falls ich nicht irgendeine Art von Waffenstillstand vermitteln oder sie dazu überreden kann, die Hände von Waffen zu lassen, die die Kausalität verletzen, wird das Eschaton einschreiten. Wahrscheinlich einen Kometen aus Antimaterie auf sie werfen oder so.« Sie sah ihn an. »Was meinst du?«
»Ich meine…« Wieder hielt er inne und wandte den Blick ab, als wollte er ihr irgendwie ausweichen. »Falls das Eschaton einschreitet, befinden wir uns beide am falschen Ort.«
»Ha, wie schön, das zu wissen.« Sie zwang sich zu einem Grinsen. »Also, woher stammst du? Mach schon, ich hab dir auch erzählt…«
Martin streckte die Arme und lehnte sich zurück. »Ich bin in einem Bauerndorf in den Bergen von Yorkshire aufgewachsen. In einem Dorf voller Ziegen, Proleten und düsterer, teuflischer Fabriken, in denen weiß Gott was hergestellt wurde. O ja, nicht zu vergessen der obligatorische Frettchentanz im Pub an Dienstagabenden, für den Tourismus, der sich auskannte.«
»Frettchentanz?« Rachel sah ihn ungläubig an.
»Jawoll. Man bindet sich den Kilt mit Isolierband am Knie zusammen – wie du vermutlich weißt, würde sich ein Mann aus Yorkshire nie und nimmer dazu hergeben, irgendetwas unter seiner Felltasche zu tragen – und packt ein Frettchen beim Genick. Ein Frettchen ist, äh, ein bisschen wie ein Nerz. Nur nicht so freundlich. Der Frettchentanz ist eine Art Initiationsritus für junge Männer. Man steckt sich das Frettchen da hin, wo die Sonne nie hinkommt, und tanzt den Pelztanz zu den Klängen einer Balalaika. Und dann geht’s darum, wer am längsten durchhält und so weiter, ein bisschen wie bei den alten Buren, nur wollten die wissen, wer am längsten küssen kann.« Martin schüttelte sich theatralisch. »Ich hasse Frettchen. Die verdammten Biester sind so scharf wie ein fassvergorener Single Malt Whisky, nur haben sie nicht die angenehmen Nebenwirkungen.«
»So also hast du die Dienstage verbracht.« Allmählich verzog sich Rachels Miene zu einem Lächeln. »Erzähl mir mehr. Was hast du mittwochs getan?«
»Oh, mittwochs sind wir zu Hause geblieben und haben uns Wiederholungen von Coronation Road[xviii] angesehen. Damals gab es ein Remix der alten Videos, sodass sie eine fast hundertprozentige Auflösung hatten, außerdem wurden sie mit Untertiteln versehen, damit wir die Dialoge verstehen konnten. Und danach haben wir alle unsere Teetassen erhoben und auf den Niedergang des Hauses von Lancaster angestoßen. Sehr traditionsbewusst, wir Leute aus Yorkshire. Ich erinnere mich noch an die Feierlichkeiten zum tausendsten Jahrestag unseres Sieges – aber genug von mir geredet. Was hast du mittwochs getan?«
Rachel blinzelte. »Nichts Besonderes. Terroristische A-Bomben entschärft, mich von einem Schuss algerischer Mormonen erwischen lassen, die sich abspalten wollten. Ah… das war, nachdem ich mein Leben zum ersten Mal umgekrempelt hatte. Ich glaube, davor habe ich die Kinder zum Fußballtraining gefahren, allerdings bin ich nicht sicher, ob das wirklich mittwochs war.« Sie wandte sich einen Augenblick zur Seite und kramte in dem Schiffskoffer unter ihrem Bett herum. »Ah, da ist sie ja.« Sie zog eine schmale Schachtel heraus und machte sie auf. »Weißt du was? Vielleicht hättest du dir das Ausnüchterungspflaster gar nicht aufkleben sollen.« Im sterilen Licht der Kabinenlampen funkelte die Flasche in verführerischem Goldton.
»Wenn ich’s nicht getan hätte, wäre ich dir ganz sicher auf den Geist gegangen. Ich war drauf und dran, mich völlig zu besaufen und, einsam und allein wie ich war, eine regelrechte Depression zu entwickeln. Da musstest du schon dazwischenfunken und mich zum Ausnüchtern zwingen.«
»Na ja, vielleicht hättest du einfach versuchen sollen, einen Saufkumpan zu finden, anstatt dich allein zu betrinken.« Sie zauberte zwei kleine Gläser hervor und beugte sich näher zu ihm. »Möchtest du den mit Wasser verdünnen?«
Kritisch beäugte Martin die Flasche: Es war die Abfüllung eines fünfzig Jahre alten Speyside Single Malt Whiskys, fassgegoren, so vollkommen, als wäre er echt. Falls es sich nicht um den nanoproduzierten Klon des Originals handelte, konnte man den Inhalt der Flasche in Platin aufwiegen. Was nicht bedeutete, dass er nicht genießbar war, ganz im Gegenteil. »Ich nehm ihn pur und melde mich morgen auf der Krankenstation, damit sie mir eine neue Gurgel verpassen.« Er pfiff anerkennend, als sie ihm großzügig einschenkte. »Woher wusstest du’s?«
»Dass du den mögen würdest?« Sie zuckte die Achseln. »Ich hab’s nicht gewusst. Ich selbst bin nur mit billigem Korn aufgewachsen. Hab das Wahre erst bei einem Job in Syrtis entdeckt…« Ihre Miene bewölkte sich. »Auf Glück und ein langes Leben.«
»Darauf trinke ich«, stimmte er nach einem Augenblick zu. Eine Minute lang saßen sie schweigend da und genossen den Nachgeschmack des Whiskys. »Allerdings wäre ich derzeit glücklicher, wenn ich wüsste, was vor sich geht.«
»Ich würde mir nicht allzu große Sorgen machen. Entweder gar nichts, oder wir werden so schnell tot sein, dass wir gar nichts merken. Der Flugzeugträger von Septagon wird wahrscheinlich nur ein kurzes Einschüchterungsmanöver durchführen, um sich davon zu überzeugen, dass wir keine weiteren Gemetzel vorbereiten, und uns dann zur nächsten Sprungzone eskortieren, während sich die Diplomaten darüber streiten, wer die Zahlungen übernimmt. Ich habe jetzt die Kommunikationszentrale dazu gebracht, auf jeden Fall mit meinem Namen zu pokern, was der auch wert sein mag. Das wird sie hoffentlich dazu bringen, erst mal nachzufragen, ehe sie auf uns ballern.«
»Mir wäre wohler, wenn ich wüsste, dass wir irgendeine Fluchtmöglichkeit haben.«
»Entspann dich. Trink deinen Whisky.« Sie schüttelte den Kopf. »Wir kommen hier nicht weg, also hör auf, dir deswegen Gedanken zu machen. Wie auch immer: Wenn sie uns tatsächlich unter Beschuss nehmen, würdest du dann nicht lieber glücklich sterben, beim Genuss eines guten Single Malt, als vor Angst herumzubrüllen?«
»Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du kaltblütig bist? Nein, ich nehm’s zurück. Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du eine Panzerhaut hast?«
»Oft genug.« Sie starrte nachdenklich in ihr Glas. »Die hab ich mir antrainiert. Bete darum, dass du es nie lernen musst.«
»Heißt das, dass du es lernen musstest?«
»Ja. Anders hätte ich meinen Job nicht tun können. Den letzten Job, meine ich.«
»Was hast du getan?«, fragte er leise.
»Das mit den A-Bomben der Terroristen war kein Scherz. Eigentlich war das mit den Bomben der leichteste Teil der Arbeit. Schwierig war’s, die Arschlöcher aufzuspüren, die sie gelegt hatten. Finde das Arschloch, finde die Gerätschaften, mache sie unbrauchbar, heb das Lager aus, wo sie das Plutonium abgesprengt haben. Normalerweise in dieser Reihenfolge. Es sei denn, wir hatten das Pech, uns mit einer unvorhergesehenen Bombensuche irgendwo in der Innenstadt befassen zu müssen, ohne dass jemand vorher eine Bombenwarnung geschickt hatte. Wenn wir das Arschloch dann fanden, bestand der schwierigste Teil unserer Arbeit darin, den Mob, der auf Lynchjustiz aus war, auf Abstand zu halten, bis wir herausfinden konnten, wo sie den Sprengstoff herhatten.«
»Hast du dabei je irgendwelche Leute verloren?«, fragte er noch leiser.
»Du meinst, ob ich’s je vermasselt und dadurch mehrere tausend Menschen auf dem Gewissen hab?«, fragte sie. »Ja…«
»Nein, das hab ich nicht gemeint.« Behutsam griff er nach ihrer freien Hand. »Ich weiß, was du durchgemacht hast. Bei jeder Arbeit, die ich erledige… Wenn’s nicht klappt, zahlt irgendjemand den Preis dafür. Möglicherweise hunderte oder tausende von Unbekannten. Das ist der Preis für gute Ingenieursarbeit: Niemand merkt es, wenn du deine Sache richtig gemacht hast.«
»Eigentlich versucht aber doch niemand, dich in deiner Arbeit zu behindern«, wandte sie ein.
»Oh, du würdest dich wundern.«
Ihre verspannten Schultern lockerten sich etwas. »Ich bin sicher, du könntest auch darüber einiges erzählen. Weißt du, für jemanden, der nicht gut mit Menschen kann, bist du als Schulter zum Ausheulen gar nicht schlecht.«
Er schnaubte. »Und für jemanden, der in seinem Job ein Versager ist, machst du dich bislang verblüffend gut.« Er ließ ihre Hand los und rieb ihr den Nacken. »Aber ich glaube, du könntest eine Massage gebrauchen. Du bist wirklich verspannt. Hast du schon Kopfweh?«
»Nein«, erwiderte sie mit leichtem Zögern und trank noch einen Schluck Whisky. Ihr Glas war schon fast leer. »Aber ich lasse mich gern zu einer Massage überreden.«
»Ich kenne drei Arten, glücklich zu sterben. Leider hab ich noch keine davon ausprobiert. Hättest du Lust mitzumachen?«
»Wo hast du davon gehört?«
»Bei einer Seance. Es war eine gute Seance. Aber, ganz im Ernst, Dr. Springfield verschreibt dir eine weitere Dosis vom Speyside-Lebenswasser, danach legst du dich hin und bekommst eine Nackenmassage. Und selbst wenn die Hinterhältigen beschließen sollten, zu intervenieren und auf uns zu ballern, werden wenigstens fünfzig Prozent von uns beiden glücklich sterben. Na, wie klingt das?«
»Wunderbar.« Sie lächelte müde und griff nach der Flasche, um ihm nachzuschenken. »Aber weißt du was? Du hast Recht mit dem, was du über dieses Gefühl von Ungewissheit gesagt hast. Man kann sich zwar daran gewöhnen, aber leichter wird es nicht dadurch. Ich wünschte, ich wüsste, was die sich gedacht haben…«
Bronzeglocken ertönten auf der Brücke des Flottenträgers Neon Lotus, Räucherstäbchen schwelten in Gefäßen oberhalb von Lufteinlassventilen. Jenseits der dekorativen, in Gold gefassten Stützpfeiler, die die Ecken der Kabine markierten, hoben sich die strahlend hellen Juwelen der suchenden Glyphen vom Hintergrund unendlicher Dunkelheit ab. Adriane Eldrich, die für die Koordination aller technischen und militärischen Systeme an Bord zuständig war, lehnte sich in ihrem Sessel zurück und sann über die Schwärze des Raums nach. Aufmerksam blickte sie auf die Gruppe von Glyphen, die den Vektor nahe beim Mittelpunkt der Wand durchschnitten. »Barbarische Idioten. Was haben die sich nur dabei gedacht?«
»Denken war dabei wohl kaum im Spiel«, bemerkte Marcus Bismarck, Befehlshaber der militärischen Abwehr, trocken. »Unsere republikanischen Nachbarn scheinen zu glauben, dass zu viel Gedankenarbeit das Gehirn zersetzt.«
Eldrich schnaubte. »Nur allzu wahr.« Eine kleinere Ansammlung von Diademen verfolgte eine konvergente Bahn, die hinter der Schlachtflotte der Neuen Republik durch die Leere führte: Spuren eines Geschwaders von Abfangjägern mit Antimaterieantrieben, die aufgrund greller Gammastrahlung eine Beschleunigung von nicht ganz tausend g erreichten, sechs Stunden vom Träger entfernt. Die Körper der Besatzungsmitglieder waren in künstlichen Schlaf versetzt, während ein Uploading ihrer Gehirne in die Computermatrices dafür sorgte, dass sie die Eindringlinge beobachten konnten. Ohne jede Gefühlsregung achteten sie auf jedes Anzeichen aktiver Gegenmaßnahmen, ein Vorspiel zum Angriff.
»Auf was haben die denn zu feuern geglaubt?« Eine neue Stimme ergriff das Wort. »Man weiß ja nicht, was man ihnen abnehmen darf, aber die behaupten, dass sie sich im Kriegszustand befinden.« Der weiche Sopran gehörte Chu Melinda, der Vertreterin der Staatssicherheit an Bord. »Die sagen, sie hätten die Grubenschlepper für feindliche Abfangjäger gehalten. Aber wer dieser Feind sein soll, mit dem sie ausgerechnet in unserem Hoheitsgebiet gerechnet haben…«
»Ich dachte, sie würden nicht direkt mit uns kommunizieren?«, fragte Bismarck.
»Das tun sie auch nicht, aber sie verfügen an Bord über ein halbwegs vernünftiges Spezialsystem der Diplomatie. Die behaupten, es handle sich um einen Beobachter der Vereinten Nationen, was… äh… gemäß der Authentizitätsprüfung auch zu stimmen scheint. Es bestätigt nur deren eigene Inkompetenz, also nehmen wir ihnen wohl besser ab, dass es der Wahrheit entspricht. Es sei denn, unser Kapitol hat vor, die Vereinten Nationen der Lüge zu bezichtigen. Jedenfalls liegt der Vertrauensfaktor bei über achtzig Prozent.«
»Warum sollten sie diesem System der Vereinten Nationen Zugang zu ihrem Kommunikationsnetz an Bord gestatten?«
»Wer außer dem Eschaton kann das schon wissen? Ich stelle lediglich mit Interesse fest, dass alle Schiffe der Flotte bis auf eines in einer Solarwerft gebaut worden sind.«
»Kann nicht sagen, dass mich das sonderlich befriedigt.« Eldrich starrte verstimmt auf den Schirm. Das Schiff spürte etwas von ihrer Grundstimmung: Zur Auswahl des Angriffsziels geisterte kurz ein Cursor über den Schirm und warf Markierungspunkte über die dort projizierten Lichtkegel der feindlichen Flotte. »Und dennoch… Solange wir sie davon abhalten können, noch mehr Unheil anzurichten… Gibt’s irgendeine Veränderung in ihrer Sprungbahn?«
»Noch nicht«, bemerkte Chu. »Die wollen immer noch nach SPD-47. Warum sollte da überhaupt jemand hin wollen? Es ist noch nicht einmal ein Pfad, der zu irgendeiner ihrer Kolonien führt.«
»Hm. Und sie sind wie aus dem Nichts aufgetaucht. Kommt euch dabei ein bestimmter Verdacht?«
»Entweder sind die verrückt, oder aber der Inspektor der Vereinten Nationen ist aus einem ganz bestimmten Grund an Bord«, überlegte Bismarck. »Falls sie versuchen, irgendeinen Feind in einer zeitartigen Schleife zu umgehen, und dieser Feind…« Seine Augen weiteten sich.
»Was ist los?«, fragte Ariadne scharf.
»Das Festival!«, rief er mit funkelnden Augen. »Erinnert ihr euch? An die Sache vor fünf Jahren? Sie haben vor, das Festival anzugreifen!«
»Sie wollen es angreifen?«, platzte Ariadne Eldrich heraus. »Das Festival? Warum denn nur, um Himmels willen?«
Einen Moment lang nahm Chus Blick einen glasigen Ausdruck an, denn sie loggte sich geistig in einen umfassenden Gedächtnisspeicher ein, der viel größer war und viel mehr Kapazität hatte als jedes Computernetzwerk der Erde vor der Singularität. »Er hat Recht«, sagte sie. »Die Technikfeinde wollen das Festival angreifen – als ob es irgendein imperialistischer Aggressor aus Fleisch und Blut wäre.«
Ariadne Eldrich, Koordinatorin aller technischen und militärischen Systeme an Bord, die mehr Waffenpotenzial zu befehligen hatte, als die Marine der Neuen Republik sich jemals erträumen könnte, gab schließlich ihrem Drang nach und kicherte wie eine Irre los. »Die müssen wirklich wahnsinnig sein!«