der reparaturdienst
Während der primäre Knotenpunkt des Festivals in einer exotischen polaren Umlaufbahn residierte, fast sechzigtausend Kilometer oberhalb der Provinzgemeinde Plotsk, konnte er munter in einer wahren Informationsflut schwelgen und sich daran sättigen. Verglichen mit früheren Anlaufstellen war das, was dieses System zu bieten hatte, zwar recht kümmerlich, dennoch war Rochards Welt durchaus ungewöhnlich und interessant. Während seiner Reise hatte das Festival nur wenige primitive Welten aufgesucht, und diese hier wich nach allem, an das sich das Festival erinnerte, stark von den anderen rückständigen Welten ab.
Als jetzt die ersten Starwisps aufbrachen – zu neuen, noch nicht besuchten Welten, um auf dem Rückweg Station bei den pulsierenden Mittelpunkten der Zivilisation zu machen, die sie schon von früher her kannten –, zog das Festival Bilanz. Die Lage auf dem Planeten hatte sich nicht gänzlich zufrieden stellend entwickelt. Zwar hatte das Festival gute Einsichten in das Volkstum erlangt und nicht geringe Erkenntnisse über die sozialen Gebräuche in einer überaus starren, statischen Gesellschaft gewonnen, aber die Informationskanäle, die ihm zur Verfügung standen, waren lächerlich mager und der Mangel an Nachfrage nach seinen Angeboten erschreckend. Tatsächlich hatte die Hauptquelle der Informationen aus den unglückseligen Hirnen bestanden, die einige der eher zersetzenden, um nicht zu sagen amoralischen Randexistenzen unter Anwendung von Gewalt auf das Festival übertragen hatten. Die Kritiker, die instinktiv dauernd alles erklären und sezieren mussten, jammerten ständig darüber, dass sich die Kolonie einer katastrophalen wirtschaftlichen Singularität überließ, aber das war nicht das Problem des Festivals. Bald würde es an der Zeit sein, weiterzuziehen. Man hatte bereits die ersten Testübertragungen von Händlerstämmen registriert, die in der Oort-Wolke munter plapperten und tirilierten; für das Festival war die Aufgabe, Kommunikationskanäle zu dieser Zivilisation hin zu öffnen, so gut wie erledigt.
Jedes der mehreren hundert Starwisps, die von den Startrampen im hohen Orbit losgeschickt wurden, hatte das eine Ende eines Kausalkanals an Bord. Diese Black Box beherbergte Teilchen, die mit Antiteilchen des Festivals quantenverschränkt waren. (Indem man den bekannten Quantenzustand eines dritten Teilchens in eines der miteinander verschränkten Teilchen teleportierte, konnte man unendlich schnell Informationen von einem Ort zum anderen übertragen. Dabei brauchte man einen verschränkten Quantenpunkt für jedes einzelne Bit.) Sobald die Starwisps an ihrem Bestimmungsort ankamen, würden sich die Kanäle in das Kommunikationsraster einklinken, das zu schaffen sich die Schöpfer des Festivals zum Ziel gesetzt hatten. Nicht mehr an den beschränkten Knotenpunkt gebunden, der die Verbindung zum letzten Standort des Festivals hergestellt hatte, würde die Bevölkerung von Rochards Welt dem vollen Informationsfluss des Gemeinwesens ausgesetzt sein, zu dem es jetzt gehörte.
Weit draußen, in Richtung des Sputnik, registrierte das Festival irgendwelche Aktivitäten der Springer. Offenbar bereinigten sie gerade eine kleinere Störung. Eine Hand voll langsamer, untüchtiger Schiffe hatte sich ohne Warnung genähert und mit primitiven Energiewaffen das Feuer eröffnet. Die Springer reagierten stets mit tödlicher Geduld: Alles, was sie bedrohte, war dem Tode geweiht. Irgendein kleines Raumschiff glitt vorbei; offenbar war es nicht in den Angriff verwickelt. Ein Teil der zweiten Angriffswelle brach aus und ergriff die Flucht, auch deren Schiffe würden verschont werden.
Nicht, dass sich das Festival sonderlich dafür interessiert hätte. Wer so hirnverbrannt feindselig war, das Festival anzugreifen, würde kaum eine gute Informationsquelle abgeben. Und was die anderen betraf, würde es noch früh genug Gelegenheit haben, mit ihnen zu reden – sobald sie ankamen.
Die Luft im Rettungsboot roch modrig nach abgestandenem Schweiß und Fürzen. Rachel kauerte über ihrer Sicherungskonsole und starrte unentwegt auf die Monitore, die die kritischen Reaktionen überwachten, während die Rakete da unten heulte und rumpelte. Ein einziges Schwanken im Ausstoß konnte sie zwar alle im Bruchteil einer Sekunde umbringen, aber es gab ihr ein besseres Gefühl, wenn sie den ganzen Prozess rein mechanisch verfolgte. Außerdem war sie völlig erschöpft. Sobald sie gelandet wären, würde sie, wenn irgend möglich, drei Tage durchschlafen. Seit ihrer Flucht von der Lord Vanek waren jetzt vierzehn Stunden verstrichen – vierzehn Stunden, denen ein ausgefüllter Tag und eine schlaflose Nacht vorangegangen waren. Wenn sie nicht weiter darum kämpfte, wach zu bleiben…
»Löse diese Rätselfrage.« Das Geschöpf auf dem Bildschirm schnappte mit den Hauern, während hinter diesen Fangzähnen rotes Licht aufstrahlte, das wie Blut wirkte. »Warum ihr nicht Springer akzeptiert?«
»Ich könnte nicht tiefer in ihrer Schuld stehen«, erwiderte sie so glattzüngig sie konnte. Neutronenfluss stabil bei zehn Kilobecquerel pro Minute, warnten ihre Implantate. Mit anderen Worten: Ihr Brustkorb würde vier Stunden lang, während des Abstiegs, einer hundertfachen Dosis von Röntgenstrahlen ausgesetzt sein. Der Motor des Rettungsbootes bebte unter ihr, als wäre er lebendig. Hinter ihr schwang Wassilys Hängematte hin und her. Als sie ihn erst einmal davon überzeugt hatte, dass sie ihn nicht über Bord werfen würden, war er verblüffend schnell eingeschlafen. Die vier Stunden, in denen er voller Angst in Todeserwartung umhergetrieben war, hatten ihn erschöpft. Martin, der ähnlich müde war, schnarchte leise im gedämpften Rotlicht der Kommunikationskonsole. Nichts entspannt so sehr wie die Nachricht, dass man dem Tod noch einmal von der Schippe gesprungen ist, dachte sie. Was genau der Grund dafür war, dass sie noch keinen Schlaf finden konnte oder durfte…
»Keine Schuld abzuzahlen«, sagte die seltsame Kreatur. »Du trägst viel Verminderung von Entropie.«
»Dein Übersetzungsprogramm spinnt«, murmelte sie.
»Geht so Befragung? Nehme an. Wir wiederholen und. Formulieren Frage neu: Warum ihr greift Springer nicht an wie andere Schiffe?«
Rachel spannte sich an. »Weil wir nicht zu deren Expedition gehören«, sagte sie, jedes Wort betonend. »Wir haben andere Absichten. Wir kommen in Frieden. Tauschen Informationen aus. Wir werden euch unterhalten. Verstehst du?«
»Ähm, Skriiii…« Das Ding auf dem Schirm wandte den Kopf nach rechts, um sich selbst über die Schulter zu spähen. »Wir verstehen dich. Werden Springer über friedliche Absicht benachrichtigen. Ihr gehört nicht zu der nicht-alten territorialen Verwaltungseinrichtung des Planeten?«
»Nein, wir sind von der Erde.« Martin hörte auf zu schnarchen. Als sie einen Blick zur Seite warf, merkte sie, dass er ein Auge geöffnet hatte und sie müde beobachtete. »Von der Ursprungswelt der Menschen«, setzte sie nach.
»Wissen über Sand Bescheid. Wissen auch über Mann-schen Bescheid. Information wertvoll, uns erzählen!«
»Alles zu seiner Zeit«, erwiderte Rachel vorsichtig. Sie war sich deutlich der immer dicker werdenden Luft in der Kapsel bewusst. »Sind wir vor den Springern sicher?«
»Verstehe nicht«, erwiderte das Ding sanftmütig. »Wir werden wollen Springer von eurer Absicht benachrichtigen. Ist das nicht Sicherheit?«
»Nicht ganz.« Rachel warf Martin einen Blick zu. Er erwiderte ihn mit gerunzelter Stirn und schüttelte leicht den Kopf. »Wenn ihr die Springer darüber informiert, dass wir sie nicht angreifen, werden sie dann davon absehen, uns zu fressen?«
»Ähm!« Das Geschöpf blinzelte ihr zu. »Kann sein, kann nicht sein.«
»Also gut, was wird dann die Springer davon abhalten, uns anzugreifen?«
»Skriii – warum dir Sorgen machen? Einfach reden.«
»Ich mache mir keine Sorgen. Nur erzähle ich dir nicht all das, was du von mir wissen willst, solange mich die Springer bedrohen. Verstehst du das?«
»Ha – frampf! Willst uns nicht unterhalten. Hampf! Ah… okay, Springer werden dich nicht fressen. Wir haben Vetorecht zu Ernährungsplan von Springern. Jetzt alles erzählen?«
»Klar doch. Aber zuerst…« Sie blickte auf den Monitor des Autopiloten. »Allmählich geht uns die Luft zum Atmen aus. Müssen dieses Schiff landen. Ist das möglich? Kannst du mir sagen, welche Bedingungen am Boden herrschen?«
»Klar.« Das Geschöpf stieß ruckartig mit dem Kopf von oben nach unten, was wie die Parodie eines Nickens aussah. »Du kein Problem, landen. Magst Dinge verändert finden. Am besten erst hier andocken. Wir Kritiker.«
»Ich suche einen Mann«, fügte Rachel auf gut Glück hinzu. »Habt ihr ein Kommunikationsnetz installiert? Könnt ihr ihn für uns orten?«
»Kann sein. Name?«
»Rubenstein, Burija Rubenstein.« Hinter ihr war ein Geräusch zu hören: Wassily wälzte sich in seiner Hängematte herum.
»Entschuldigung.« Das Geschöpf beugte sich vor. »Name Rubenstein? Revolutionär?«
»Ja.« Martin sah sie mit gerunzelter Stirn forschend an, aber Rachel wandte den Blick zur Seite. Ich werde es später erklären.
»Schwester kennt Burija. Siebente Schwester der Kriegslisten. Hast du mit extropianischem Untergrund zu tun?«
»Richtig.« Rachel nickte. »Kannst du mir sagen, wo er sich aufhält?«
»Noch besser.« Das Ding auf dem Schirm grinste breit. »Du jetzt entgegennimmst orbitale Elemente für Rendezvous. Wir bringen dich hin.«
Hinter ihr setzte sich Wassily mit großen Augen auf.
Der Admiral wollte nicht an Bord des Rettungsbootes gehen. »D-d-d-d«, sabberte er, während sein linkes Auge funkelte. Das rechte Auge war schlaff und leblos.
»Bitte machen Sie kein Theater, Sir. Wir müssen jetzt an Bord gehen.« Robard blickte nervös über die Schulter, als rechnete er halb damit, dass ihn ein geiferndes Ungeheuer mit roten Klauen durch die Luftschleuse verfolgte.
»Nie… niemals ergeb…« Kurtz empfand die Anstrengung als viel zu mühevoll. Sein Kopf sank auf die Brust.
Robard hob seinen Rollstuhl an und schob ihn in das voll gestopfte, enge Rettungsboot. »Wird er es schaffen?«, fragte Leutnant Kossov pikiert.
»Wer weiß? Zeigen Sie mir nur irgendeinen Ort, wo ich seinen Stuhl festbinden kann, dann können wir los. Unten finden wir eher jemanden, der ihm helfen mag…«
Draußen auf dem Gang schrillten Sirenen los, es klang jämmerlich. Als sich Robards Ohren schlossen, zuckte er zusammen. An einem Offizier vorbei, den die Tressen als Korvettenkapitän auswiesen, griff Kossov nach dem Griff des Notausstiegs und zerrte daran. Gleich darauf glitt die äußere Luke des Rettungsboots zischend zu. »Was ist los?«, rief jemand vom Cockpit.
»Druckabfall in diesem Abschnitt! Luken versiegeln!«
»Zu Befehl, Luken versiegeln. Ist der Admiral an Bord?«
»Kann ich bejahen. Starten wir jetzt?«
Als Antwort darauf hob sich das Deck, und das Rettungsboot begann zu schlingern. Robard griff nach einem Pfosten und hielt sich mit einer Hand daran fest, während er mit der anderen den Rollstuhl des Admirals umklammerte. Als sich die Verriegelungen lösten und die Nabelschnur zum schwer lädierten Mutterschiff gekappt wurde, erschütterte ein Knall das ganze Boot. Gleich darauf sackte es ab – und fiel durch eine absichtlich geöffnete Schlucht im gekrümmten Raumfeld der Lord Vanek, das andernfalls das kleine Boot einfach überrollt und zerfetzt hätte. Die Offiziere und eine Hand voll ausgewählter Mannschaftsmitglieder kämpften um irgendeinen Halt, denn wer immer hier das Ruder führte, spielte wie verrückt mit den Feineinstellungen herum, während das Boot, sich ständig drehend, hinter dem Kriegsschiff emportauchte. Gleich darauf setzte der Antrieb unten mit sanftem Summen und Zischen ein, sodass ein Mindestmaß an Schwerkraft wiederhergestellt wurde, das sie in Normallage brachte.
Robard beugte sich hinunter und machte sich mit einem Kabelende am Rollstuhl zu schaffen. »Kann mir mal jemand mit dem Admiral helfen?«, fragte er.
»Was benötigen Sie?« Leutnant Kossov sah ihn aus seinen vom Kneifer umrahmten Eulenaugen an.
»Muss seinen Rollstuhl irgendwo festmachen. Und dann… Wo werden wir landen? Ist hier ein Arzt an Bord? Mein Herr muss wirklich so schnell wie möglich in eine Klinik, er ist sehr krank.«
»Allerdings.« Der Leutnant bedachte ihn mit einem mitfühlenden Blick und sah danach zu dem schläfrig wirkenden Admiral hinüber. »Reichen Sie mir das mal herüber.«
Nachdem Robard ihm das andere Kabelende gegeben hatte, sicherten sie den Rollstuhl, indem sie ihn an den überall verteilten Verschraubungen der Bullaugen festbanden. Ringsum bemühten sich derweil die anderen überlebenden Offiziere um eine Einschätzung der Lage, entfalteten sorgfältig die Hängematten, die für den Notfall in Oberschränken aufbewahrt wurden, und unterhielten sich leise miteinander. Die Atmosphäre an Bord des Rettungsbootes war gedämpft und nüchtern. Die Leute waren zwar froh, noch am Leben zu sein, schämten sich jedoch, das sinkende Schlachtschiff verlassen zu haben. Keinem war entgangen, dass die meisten Überlebenden Offiziere waren, die dem Admiralstab angehörten. Die wirklichen Kämpfer waren auf ihren Posten verblieben und bemühten sich heldenhaft darum, die Pest aufzuhalten, die das Schiff rings um sie herum auffraß. Umgeben von einem Kreis, der verlegen schwieg, hatte sich ein von untröstlichem Kummer geplagter Unteroffizier schluchzend in eine Ecke zurückgezogen.
Als der Admiral, der nichts von all dem mitbekam, verdrossen vor sich hin murmelte und gleich darauf hustete, beugte sich Kossov aufmerksam vor. »Kann ich irgendetwas für Sie tun, Sir?«
»Ich fürchte, wir können nichts mehr für ihn tun«, sagte Robard traurig und ließ seine Hand sanft auf der Schulter von Kurtz ruhen, um ihn zu stützen. »Es sei denn, er bekommt irgendwelche ärztliche Hilfe…«
»Er versucht aber, etwas zu sagen«, gab Kossov barsch zurück. »Lassen Sie mich zuhören.« Er beugte sich nahe über das Gesicht des alten Haudegens. »Können Sie mich hören, Sir?«
»A-a…«, gurgelte der Admiral.
»Regen Sie ihn nicht auf, ich flehe Sie an! Er braucht Ruhe!«
Kossov bedachte den Offiziersburschen mit einem hasserfüllten Blick. »Halten Sie mal eine Minute den Mund!«
»Bre… brechen wir auf?«
Robard zuckte zusammen. »Melde gehorsamst, dass wir uns auf dem Weg zum Planeten befinden, Sir«, sagte der Leutnant. »Wir müssten bald in der Hauptstadt ankommen.« Bewusst vermied er es, das Schicksal der übrigen Flotte oder die Gesamtlage zu erwähnen, nach der es kaum so aussah, als ob sie die Hauptstadt der Kolonie je erreichen würden.
»…uut.« Das Gesicht des Admirals entspannte sich, und er schloss die Augen. »…amprey… ich zeig’s denen.« Von der Anstrengung zu sprechen offensichtlich erschöpft, sackte er im Rollstuhl zusammen.
Robard richtete sich auf und suchte den Blick des Leutnants. »Er gibt niemals auf«, erklärte er gelassen. »Selbst wenn es ratsam wäre. Das wird irgendwann sein Tod sein…«
Während ihn eine Hütte auf Hühnerkrallen durch eine Einöde beförderte, die jüngst – und ohne jedes Zwischenstadium – den Übergang vom bukolischen Feudalismus zum transzendenten Post-Humanismus erlebt hatte, träumte Burija Rubenstein von zerbröckelnden Machtgefügen.
In ideologischer Hinsicht waren die Revolutionäre Anhänger einer Transzendenz, die sie selbst nie ganz verstanden hatten – bis sich ihnen eben diese Transzendenz auf einen Schlag und in reinster Form offenbart hatte. Und dennoch war die Transzendenz nicht recht zu fassen, sie war wie ein aus seltsamen Informationen bestehender Eisberg, der durch die Oberfläche eines erstarrten Meeres der Entropie bricht. Darauf waren die Revolutionäre nicht vorbereitet gewesen, niemand hatte sie vorgewarnt. An wem oder was sollten sie sich orientieren? Sie verfügten lediglich über vage, in der Tradition ihres Volkes verankerte Erinnerungen, Erinnerungen an das Internet und an Füllhörner, die alles Mögliche produzieren konnten. Ihre Vorstellungen vom Wert der Technologie grenzten an den Cargo-Kult.[xxx] Doch an handgreiflichen Erfahrungen mangelte es, sodass ihnen jedes Verständnis für die Formen fehlte, die diese neuen Phänomene annahmen. Dennoch bewirkten sie durch ihre Wünsche, dass sich innerhalb des Gestaltungsspielraums, über den das Festival mit seiner Maschinerie verfügte, neue Mutationen herausbildeten.
Man stelle sich vor, ohne Errungenschaften wie Telefon, Fax, Videokonferenzen, Online-Übersetzungen, Einsicht in die Körpersprache oder Lichtschalter aufzuwachsen. Die Überlieferung besagte, dass es möglich sei, Nachrichten blitzschnell um den ganzen Globus zu versenden und dass die Mittel dazu E-Mails genannt würden. Zwar behauptete die Überlieferung keineswegs, dass eine E-Mail aus einem Mund bestünde, der sich aus dem erstbesten Objekt herausbildete und dann mit den Lippen eines Freundes spräche, aber diese Vorstellung lag den Revolutionären allemal näher als der Gedanke an Textverarbeitungsprogramme und ein weltweites Datennetz. Seinerseits hatte das Festival keine Erfahrung mit post-terranen menschlichen Gesellschaften und konnte daher nur zu erraten versuchen, welche Wunder von ihm verlangt wurden. Und oft tippte es völlig daneben.
Burija jedoch kannte sich mit Kommunikationsmitteln hervorragend aus. Wenn sein Großvater ihn auf den Knien gewiegt hatte, hatte er die Legenden weitergegeben, die sein eigener Großvater ihm erzählt hatte. Manche handelten von Management-Informationssystemen, die dem Führungspersonal alles mitteilen konnten, was es über die Welt da draußen zu wissen gab, und noch mehr. Es gab auch Legenden über die genialen Geistesgaben der Spezies Mensch, die nach Belieben jede benötigte Fähigkeit hervorbringen konnte.
Einige der schlaueren Dissidenten in Nowyj Petrograd hatten etwas zusammengeschustert, das sie ihrerseits ein Management-Informationssystem nannten: Kameras mit geschützten Riesenobjektiven, die an Mansarden und auf den Dächern der Stadt angebracht waren, Bilder einfingen und sie ins digitale Nervensystem der Revolution einspeisten.
Ehe Burija Plotsk verlassen hatte, war er eine Zeit lang mit Oleg Timoschewski zusammen gewesen. Oleg hatte Burijas Größenwahn empfindliche Schläge versetzt, indem er ihn daran erinnert hatte, dass er nur ein höherer Kader innerhalb des Sowjets von Nowyj Petrograd war. Dieser Sowjet, hatte Oleg betont, sei aber selbst lediglich ein Parasit, der vom freien Markt profitiere – eine ausgleichende Instanz, die man abschaffen werde, sobald sich alles erst einmal wunderbar eingespielt habe. Oleg hatte ihn auch mit den »Würmern« ausgestattet, die fürchterlich juckten (und gelegentlich brannten), als sie Kontakt mit Burijas Nervensystem aufnahmen. Er hatte gezielt nach der Quelle von Burijas merkwürdiger bourgeoiser Selbstüberschätzung bohren müssen, um seinen früheren Kollegen dazu zu bewegen, das Upgrade zu akzeptieren. Doch schließlich hatte Rubenstein keine Alternative mehr gesehen. Angesichts der Tatsache, dass er derzeit nichts anderes tat, als durch die Gegend zu streifen, würde das Zentralkomitee ihn demnächst aufs Abstellgleis verfrachten, wenn er nicht bald Verbindung aufnahm. Und deshalb plagten ihn auch seltsame Visionen, die sich mit heftigem Juckreiz im Kopf paarten. Die »Würmer« des Ausschusses für Staatliche Kommunikation waren nämlich gerade dabei, eine produktive Beziehung zu seinem Hirn herzustellen.
Wenn Burija schlief, durchzogen Rasterbilder in künstlichen Farben seine Träume, Bilder, die die Kameras auf den Dächern der Hauptstadt eingefangen hatten. Die Revolution, stets auf der Hut, verlangte vieles gleichzeitig von seinem stets mit ihr verbundenen Körper, weckte schlummernde Synapsen, damit sie verdächtige Verhaltensmuster erkannten. Burija fand es einerseits verwirrend, andererseits aber auch merkwürdig beruhigend zu sehen, dass die Stadt trotz aller durch die Revolution bewirkter Veränderungen weiterexistierte. Hier eilte ein Jugendlicher von einem dunklen Winkel zum nächsten, offenbar hatte er eine mitternächtliche Verabredung mit seiner Liebsten. Dort braute sich etwas eher Düsteres zusammen: Mit Mordlust im Blick war ein Blockwart einem unliebsamen Hauseigentümer auf den Fersen – Hunde, die sich um die Vorherrschaft im Revier balgten, die ohnehin nicht von Bestand sein würde. Wie in Zeitlupe entstanden Häuser und fielen wieder auseinander, riesige, nirgendwo verankerte Ungetüme, die durch ihre inneren Organe, die nach Symbiose verlangten, hierhin und dorthin getrieben wurden. Das alles war ihm so fremd, dass er kaum Worte dafür fand. Es schien ihm, als wäre die einst vertraute Stadt weder tot noch lebendig, ein schauriger Ort, der ihn an das Leben erinnerte, das er jahrelang als Scheintoter geführt hatte, der sich nicht hatte rühren können. Selbst das grelle Licht einer nächtlichen Raumfähre, die auf der Rollbahn am Stadtrand landete, trug nichts dazu bei, das alte städtische Leben wieder auferstehen zu lassen.
Burija träumte auch von seiner Familie: von seiner Ehefrau, die er seit vierzehn Jahren nicht mehr gesehen hatte, und von seinem damals fünfjährigen Sohn. Es war so viel Zeit vergangen, dass er sich an dessen pausbäckiges Gesicht kaum noch erinnern konnte. Zwar bedeutete inneres Exil nicht unbedingt die Trennung von der eigenen Familie, aber seine Frau, die aus gutbürgerlichen Verhältnissen stammte, hatte sich nach seiner Verurteilung von ihm losgesagt, und man hatte ihr die Scheidung zugestanden. Gefühle von Ohnmacht, Schwäche und Einsamkeit bestimmten diese Träume – Empfindungen, die er sich im Wachzustand verbot. Letztendlich hatte die revolutionäre Junta den Gang der Dinge kaum beeinflusst. Sie war lediglich der harte Kern gewesen, um den sich die kühneren Zeitgenossen hatten scharen können, ein Brennglas, mit dem man die allgemeine Empörung gezielt auf die Überreste des Ancien Régime hatte lenken können. Doch an und für sich hatte die Junta nur wenig erreicht. Die Menschen, die plötzlich mit unermesslichem Reichtum und Wissen bedacht wurden, begriffen schnell, dass sie eigentlich gar keine Regierung brauchten. Und das galt sowohl für die Untergrundkämpfer als auch für die Arbeiter und Bauern, die sie mobilisieren wollten. Vielleicht war das die Botschaft, die ihm die Kritikerin seit seiner Entführung aus dem revolutionären Hauptquartier einzubläuen versucht hatte: Die Revolution, für die er gekämpft hatte, brauchte ihn gar nicht.
Am zweiten Morgen der Suche nach Felix erwachte Burija erschöpft, mit wunden, schmerzenden Gliedern und halb erfrorenen Füßen in einem Winkel der wandelnden Hütte. Siebente Schwester schnüffelte und wuselte derweil irgendwo im Unterholz neben dem Weg herum. Helle Jurten aus Kunststoff säumten die Lichtung, in der sie ihr Lager aufgeschlagen hatten. Ringsum trotzte eine Baumgruppe den riesigen bunten Schelfschwämmen, die sie zu überwuchern drohten. Überall wuchsen gigantische Farne und von roten Adern durchzogene Cycadophicae – Siedler von anderen Sternen, welche die unsichtbaren Gärtner des Festivals hier angepflanzt hatten. Kleine Geschöpfe, die Mäusen ähnelten, pflegten die Farne, brachten ihnen Stückchen verfaulender Stoffe und steckten sie ihnen in die Saugmünder, die wie bei Sonnentaupflanzen aus ihren Stämmen sprossen.
Nach den Landkarten aus der Zeit vor der Singularität hätten sie schon vor zwei Kilometern auf ein Dorf stoßen müssen, aber sie hatten keine Spur davon entdecken können. Stattdessen waren sie an einer riesigen geodätischen Kugel vorbeigekommen, die hoch oben in der Luft trieb und den Sonnenuntergang als Flammenmeer widerspiegelte. Das hatte einen Cyborg der Miliz dazu veranlasst, loszubrüllen und wild in die Luft zu ballern, bis Feldwebel Lukcas ihn angeschrien und ihm die Waffe abgenommen hatte. »Es ist ein Bauernhof, Schweinsgesicht«, hatte er mit plumpem Spott erklärt, »wie der, auf dem du aufgewachsen bist. Nur hat er die Form einer Kugel und fliegt am Himmel herum. Und wenn du nicht aufhörst, auf diese Kugel zu ballern, werden wir deinen Kopf wie diese Kugel behandeln.« Manche der Wachsoldaten hatten herumgenörgelt und Zeichen gemacht, um den »bösen Blick« abzuwenden – einer hatte dazu sogar die nagelneuen Kieferzangen benutzt –, und das Kaninchen war die nächsten fünfhundert Meter mit angelegten Ohren marschiert, bis sie schließlich ihr Lager aufgeschlagen hatten. Doch ansonsten war bis zum Ende ihres Marsches nichts Unangenehmes mehr vorgefallen. Nur hörte jeder Weg hier eindeutig auf.
Bislang war der Tross auf den gepflasterten Reichsstraßen gut vorangekommen, doch vor ihnen lag eine Strecke, auf der sich der wild wuchernde Wald den Weg mehr oder weniger einverleibt hatte. Kleine, augenlose Nagetiere mit feinen Pelzen knabberten ohne Sinn und Verstand an dem Asphaltbelag und schieden schwarze Kügelchen aus, auf die sich ameisenähnliche Kreaturen so groß wie Grashüpfer stürzten. Die freien Flächen zwischen den Farnen waren mit hohen Lehmgebilden übersät, die an Termitenbauten erinnerten. Aus diesen Bauten drangen leise Geräusche, als summten dort unzählige kleine Gasturbinen.
Das Lagerfeuer dampfte und prasselte Unheil verkündend, als Mr Rabbit es mit abgestorbenen, vom Schwamm durchsetzten Holzstücken fütterte. Burija gähnte, streckte sich in der kalten Luft und machte sich gleich darauf auf die Suche nach einem Baum, hinter dem er pinkeln konnte. Die Männer der Miliz rollten Schlafsäcke aus, murrten vor sich hin und riefen vergeblich nach einem Koch, der ihnen Kaffee und etwas zu essen machen sollte; außerdem waren sie geil. Als eine Stichflamme emporschoss, machte das Kaninchen einen Satz nach hinten, wobei es fast mit einem fluchenden Soldaten zusammengestoßen wäre. Der Straßenbelag fing sehr leicht Feuer.
Nachdem Burija gepinkelt hatte, hockte er sich zu größeren Geschäften hin. In dieser unwürdigen Körperhaltung fand ihn Siebente Schwester, die in ungewöhnlich gönnerhafter Stimmung war.
»Grüße des Morgens und guten Stuhlgang! Bringe außerordentliche, wunderbare Neuigkeiten.«
»Harramf.« Burija, dessen Ohren von der Anstrengung der Entleerung mittlerweile rot angelaufen waren, bedachte das riesige Nagetier mit einem finsteren Blick. »Hat dir schon mal jemand gesagt, dass hinzustarren unhöflich ist?«
»Hinzustarren? Auf was?« Siebente Schwester schien verwirrt.
»Egal«, murmelte er. »Was gibt’s Neues?«
»Ach, nichts Wichtiges.« Die Kritikerin wandte sich mit unschuldiger Miene ab. »Nur eine erfreulich symmetrische Entwicklung…«
Burija knirschte mit den Zähnen und tastete gleich darauf nach irgendwelchen Blättern. (Das war eine Sache, ging ihm flüchtig durch den Kopf, die in den Biografien der berühmten Revolutionäre nie erwähnt wurde; dass sie von Bären angegriffen und von Banditen oder berittenen Truppen des Königs verfolgt worden waren, mochte ja alles sehr aufregend und bemerkenswert gewesen sein, doch niemals wurde in den Büchern erwähnt, dass es im Busch an Klopapier mangelte und keine weichen Blätter zur Hand waren, wenn man sie brauchte.) »Gib mir nur die Fakten«, sagte er.
»Besucher! Im Nest meiner Geschwister überstürzen sich Informationen.«
»Besucher? Aber…« Burija stutzte. »Du meinst doch nicht etwa deine Geschwister im Orbit?!«
»Doch!« Siebente Schwester wälzte sich erst vorwärts, dann herum, wackelte mit ihren Stummelbeinen kurz in der Luft und fiel dann mit einem lauten Schlag vornüber. »Besucher aus dem All.«
»Von wo?« Burija beugte sich wissbegierig vor.
»Aus der Neuen Republik.« Siebente Schwester grinste amüsiert und bleckte dabei die riesigen gelblichen Hauer. »Haben Flotte geschickt. Sind auf Springer gestoßen. Gab Überlebende.«
»Wer ist es, verdammt noch mal?« Erneut knirschte er mit den Zähnen, während er die Hosen hochzog.
»Botschafterin von Ursprungserde. Noch ein anderer, gehört von Bauteilen her zu ihrem Bienenstock. Und ein unklarer Fall. Haben sich speziell nach dir erkundigt. Willst du sie treffen?«
Burija glotzte sie ungläubig an. »Sie kommen hierher?«
»Sie landen hier. Bald schon.«
Im Rettungsboot war es heiß und dunkel, außerdem stank es nach Gas. Der Abgasfilter hatte mittlerweile ein asthmatisches Keuchen entwickelt. Schätzungsweise würde das Versorgungssystem nur noch etwa einen Tag lang für Luft sorgen, die sie atmen konnten. Danach würden sie sich in ihre Raumanzüge flüchten müssen. Allerdings würden sie sich schon viel früher den Gefahren des Wiedereintritts in die Atmosphäre aussetzen müssen.
»Glauben Sie wirklich, dass die Sache sicher ist?«, fragte Wassily.
Rachel verdrehte die Augen. »Er fragt, ob’s sicher ist«, murmelte Martin. »Junge, hättest du auf Nummer Sicher gehen wollen, wärst du beim Aufbruch der Flotte besser zu Hause geblieben.«
»Aber ich verstehe das nicht. Sie haben mit den Fremden gesprochen, obwohl es unsere Feinde sind! Die haben gerade unsere halbe Flotte vernichtet! Aber Sie lassen sich von denen Navigationsdaten und Ratschläge zur Kurskorrektur geben. Warum sind Sie so vertrauensselig? Woher wollen Sie denn wissen, dass die uns nicht gleichfalls umbringen?«
»Sie sind nicht unsere Feinde«, erwiderte Rachel, die geduldig die Tastatur an der Konsole des Autopiloten bediente. »Das waren sie auch nie – jedenfalls nicht die Sorte von Gegnern, mit denen der Admiral und sein fröhlicher Haufen gerechnet haben.«
»Aber wenn das nicht Ihre Gegner sind, müssen Sie auf deren Seite stehen!« Wassily, mittlerweile völlig entgeistert, sah von einem zum anderen.
»Nein«, sagte Rachel und fuhr fort, den Autopiloten mit Informationen zu futtern. »Vorher war ich mir nicht ganz sicher, aber inzwischen bin ich es: Das Festival ist völlig anders, als du annimmst. Ihr Jungs habt hier draußen mit dem Angriff einer fremden Macht gerechnet, die mit Schiffen und Soldaten vorgeht, stimmt’s? Aber im Universum gibt es noch mehr als Menschen, Nationen und multinationale Organisationen. Ihr habt gegen einen Schatten gekämpft.«
»Aber dieser Schatten hat doch all diese Schiffe vernichtet. Er ist uns feindselig gesonnen! Er…«
»Reg dich ab.« Martin beobachtete ihn argwöhnisch. Undankbarer kleiner Scheißer. Oder ist er nur hoffnungslos verwirrt? Rachels lockeres Gespräch mit den Kritikern hatte Martin stärker beunruhigt, als er zugeben mochte, beinahe ebenso sehr wie ihr überraschend erfolgreicher Rettungsversuch. Das Spiel, das Rachel trieb, war schwer zu durchschauen, viel schwerer als er angenommen hatte.
»Es gibt hier keine Seiten«, sagte er schließlich. »Die Kritiker sind keine Gegner, sie gehören nicht einmal zum Festival. Wir haben deinen Leuten klar zu machen versucht, dass sie mit etwas völlig Fremdem würden rechnen müssen, aber sie wollten nicht hören.«
»Was meinen Sie damit?«
»Das Festival besteht nicht aus Menschen, hat nicht einmal entfernt mit der Menschheit zu tun. Du und deine Leute, ihr denkt in menschlichen Maßstäben, stellt euch Menschen mit typisch menschlichen Motivationen vor. Aber mit solchen Vorstellungen liegt ihr völlig falsch und das war von Anfang an klar. Man kann dem Festival nicht den Krieg erklären, genauso wenig wie man dem Schlaf den Krieg erklären kann. Das Festival ist ein selbst-replikatives Informationsnetz. Wenn die Sonde in irgendein System eintritt, baut sie ein Netzwerk der Kommunikation auf, das sich von selbst weiter ausdehnt und alle bewohnten Welten dieses Systems integriert. Sie zieht alle Informationen, die sie bekommen kann, aus der Zivilisation, die sie ins Visier genommen hat, und produziert weitere Sonden. Diese Sonden führen einige Parasiten mit sich, gespeicherte Lebensformen, die Körper herausbilden und sich darauf herunterladen, sobald sie einen Bestimmungsort erreichen – aber das ist nicht der Lebenszweck dieses Systems.«
Wassily hielt Maulaffen feil. »Aber es hat uns doch angegriffen!«
»Nein, hat es nicht«, entgegnete Martin geduldig. »Es ist nicht intelligent. Es ist ein Fehler, das Verhalten dieses Systems dadurch analysieren zu wollen, dass man ihm eine bewusste Intention unterstellt. Es hat lediglich einen bewohnten Planeten entdeckt, in dessen Umkreis – einem Umkreis von mehreren Lichtjahren – kein Telefonnetz existierte. Und dann hat es seine Instruktionen befolgt.«
»Aber diese Instruktionen bedeuten doch Krieg!«
»Nein, sie bedeuten lediglich, dass ein Mangel behoben wird. Letztendlich entpuppt sich das Festival einfach als… Reparaturdienst, der für die Behebung von Störungen im Telefonnetz zuständig ist. Das erfolgt ganz automatisch. Nur geht es dabei nicht um ein simples Telefonnetz, sondern um Löcher im galaktischen Informationsfluss.« Martin warf einen Blick zur Seite, auf Rachel, die immer noch mit dem Autopiloten kämpfte und die Befehle zur Zündung der Landungsrakete eingab. Es war sicher keine gute Idee, sie zu diesem Zeitpunkt irgendwie abzulenken. Am besten sorgte er dafür, dass dieser junge Nervheimer anderweitig beschäftigt war.
»Zivilisationen bilden sich von Zeit zu Zeit heraus und verschwinden auch wieder von der Bildfläche. Vermutlich hat irgendeine interstellare Kultur das Festival schon vor ewigen Zeiten erschaffen. Hat den Mechanismus vor tausenden von Jahren in Gang gesetzt, damit man Verbindung miteinander halten kann. Als das Festival in dem Netz, das es wartet und pflegt, ein Loch entdeckte, beschloss es, dieses Loch zu stopfen. Deshalb hat es sich im Orbit um Rochards Welt an die Arbeit gemacht, denn dieser Planet ist so isoliert und von allem übrigen abgeschnitten, wie es schlimmer nicht sein könnte.«
»Aber wir haben nicht darum gebeten«, bemerkte Wassily verunsichert.
»Na ja, natürlich nicht. Eigentlich glaube ich, dass das Festival mittlerweile außerhalb seines Zuständigkeitsbereiches herumstreunert. Deshalb stellt es bei jedem System, das es in diesem Bereich entdeckt, Schäden fest, die repariert werden müssen. Allerdings ist es durchaus möglich, dass noch mehr an der Sache dran ist. Zur Reparatur gehört auch der schnelle Austausch von Informationen mit dem übrigen Netz, mit dem es verbunden ist. Der Fluss verläuft dabei in beide Richtungen. Mit der Zeit hat sich das Festival zu mehr entwickelt als einem reinen Reparaturdienst: Es ist zu einer selbstständigen Zivilisation geworden, die wie eine Wüstenblume erblühen kann. In geeigneter Umgebung blüht das Festival kurz auf, zieht sich danach zu einem Samenkorn zusammen und schläft, während es den wüsten Abgrund von Lichtjahren zwischen den Oasen überquert. Telefonschaltungen und -Verbindungen zählen zu den kompliziertesten informationsverarbeitenden Systemen, die je erfunden wurden. Woraus hat sich denn deiner Meinung nach das Eschaton entwickelt?
Als das Festival in Rochards Welt ankam, musste es ein Kommunikationsdefizit von zweihundertfünfzig Jahren beheben. Diese Reparatur – die das Ende der Isolation und das Auftauchen von Gütern und Ideen bewirkte, die in der Neuen Republik verboten waren – führte zu einer örtlich begrenzten Singularität. In unserer Branche nennt man das, was darauf folgte, einen allgemeinen Realitätsverlust. Die Menschen sind einfach ein bisschen ausgerastet. Durchgedreht wegen einer plötzlichen Überdosis des Wandels, der Unsterblichkeit, Biotechnologie, den Menschen in mancher Hinsicht überlegene, mit künstlicher Intelligenz ausgestattete Roboter, Nanotechnologie und ähnliche Dinge mit sich brachte. Doch ein Angriff war das nicht.«
»Aber dann… Wollen Sie damit sagen, dass das Festival unbegrenzte Möglichkeiten der Kommunikation mit sich brachte?«
»Genau.« Rachel blickte von ihrem Steuerpult auf. »Seit Jahren haben wir euren Führern so nett wie nur möglich beizubringen versucht, dass Information nach Freiheit verlangt. Aber sie wollten nicht hören. Wir haben’s vierzig Jahre lang versucht. Und dann taucht das Festival auf, das Zensur als Fehlfunktion behandelt und die Kommunikation ringsum vorantreibt. Das Festival akzeptiert kein NEIN als Antwort, weil es selbst überhaupt keine Meinungen verficht, es existiert ganz einfach.«
»Aber unbeschränkte Information gibt es doch gar nicht, kann es doch gar nicht geben. Ich meine, gewisse Dinge… Wenn jeder alles, was er möchte, lesen dürfte, würde er vielleicht zu Dingen greifen, die ihn letztendlich verderben könnten, oder nicht? Es könnte ja passieren, dass die Menschen gotteslästerlicher Pornografie genauso viel Beachtung schenken würden wie der Bibel! Sie könnten sich gegen den Staat oder auch gegeneinander verschwören, und die Polizei hätte keine Möglichkeit, sie abzuhören und davon abzuhalten!«
Martin seufzte. »Du machst immer noch alles am Staat fest, wie? Kannst du mir nicht einfach abnehmen, dass es auch noch andere Möglichkeiten der gesellschaftlichen Organisation gibt?«
»Na ja…« Wassily sah in verständnislos und leicht verwirrt an. »Wollen Sie etwa behaupten, dass es dort, wo Sie herkommen, keine Beschränkungen der Informationsfreiheit gibt?«
»Das ist keine Frage von Genehmigungen oder Verboten«, bemerkte Rachel. »Wir mussten uns schlichtweg eingestehen, dass die Entwicklung nicht aufzuhalten ist. Und der Versuch, sie aufzuhalten, ist schlimmer als die Krankheit selbst.«
»Aber… aber Wahnsinnige könnten dann ja biologische Waffen in ihren Küchen zusammenbrauen und ganze Städte vernichten. Anarchisten hätten die Macht, die Regierung zu stürzen. Und niemand könnte mehr sagen, wer er ist oder wo er hingehört. Der schlimmste Unsinn würde sich verbreiten, und niemand könnte dagegen einschreiten…« Wassily schwieg einen Augenblick. »Sie glauben mir nicht«, sagte er schließlich traurig.
»O doch, wir glauben dir durchaus«, erwiderte Martin bitter. »Nur… ist Veränderung nicht immer etwas Schlechtes, weißt du. Manchmal ist die Redefreiheit ein Ventil für gesellschaftliche Spannungen, die ansonsten zu einer Revolution führen würden. Und was die anderen Dinge betrifft… Na ja, wenn du dich gegen diese Dinge wehrst, bedeutet das letztendlich, dass du alles ablehnst, das den Status quo gefährdet. Du betrachtest deine Regierung als Sicherheitsgarantie, als warme, flauschige Decke, die jeden Bürger einhüllt und auf Dauer vor allem Schlimmen beschützt. Solche Vorstellungen sind in der Neuen Republik weit verbreitet, wie auch der Gedanke, dass Menschen sich zwangsläufig schlecht verhalten, wenn man ihnen ihren Platz in der Gesellschaft nicht mit strenger Hand zuweist. Aber dort, wo ich herkomme, haben die meisten Leute genügend gesunden Menschenverstand, um solchen Dingen, die ihnen selbst schaden würden, aus dem Weg zu gehen. Und den anderen muss es beigebracht werden. Zensur führt nur dazu, dass die Probleme im Untergrund weitergären.«
»Aber es gibt doch auch Terroristen!«
»Ja«, mischte sich Rachel ein, »die Terroristen. Es gibt immer Menschen, die glauben, das Richtige zu tun, indem sie Elend über ihre Feinde bringen, Junge. Und du hast völlig Recht, was die Entwicklung biologischer Waffen und das Verbreiten von schlimmen Gerüchten betrifft. Aber…«, sie zuckte die Achseln, »wir können besser mit vereinzelten Erscheinungen dieser Art leben als mit der totalen und ständigen Zensur und Überwachung jedes Bürgers.« Sie wirkte erregt. »Du magst es schlimm finden, wenn ein Wahnsinniger eine Atomwaffe in einer Stadt deponiert, aber du hast noch nie erlebt, was passiert, wenn ein Planet das Ziel allgegenwärtiger Überwachung und Zensur bis zur letzten Konsequenz in die Tat umsetzt. Es gibt Orte, wo…«
Sie zitterte so, dass Martin sie musterte. »Du meinst einen ganz bestimmten Ort…«
»Ich will nicht darüber reden«, unterbrach sie ihn schroff. »Und du solltest dich schämen, den Jungen derart aufzuregen. Hat einer von euch beiden überhaupt bemerkt, dass es hier drinnen stinkt?«
»Ja.« Martin gähnte tief. »Werden wir gleich…«
»Ich bin kein…«, von draußen war eine Salve kleinerer Explosionen zu hören, »kleiner Junge mehr!«, brachte Wassily den Satz mit quäkender Stimme zu Ende.
»Gurte dich fest, Junge. Hauptantrieb startet in fünf Sekunden.«
Martin spannte sich und zog den Sicherheitsgurt unbewusst fester an. »Wie verläuft unser Abstieg?«
»Markierungspunkt eins taucht gleich auf. Zehn Sekunden lang Kursanpassung bei eins-komma-zwei g. Wir harren etwa vier Minuten lang so aus, dann stoßen wir auf Markierungspunkt zwei und haben zwei Stunden lang eine Schubkraft von zwei-komma-zwei-fünf g. Das hört auf, wenn wir uns in einer Höhe von rund viertausend Klicks über der Oberfläche des Planeten befinden. Sechzehn Minuten später treten wir mit etwa vier Sekundenkilometern in die Atmosphäre ein. Wir werden dann noch über einen Rest von Reaktionsmasse verfügen, aber ich möchte wirklich nicht den Hauptantrieb ausreizen, wenn wir uns erst mal in der Luft befinden, die wir später atmen müssen. Also werden wir das Antriebsmodul abwerfen, sobald wir uns unterhalb des Orbits befinden. Es wird dann ganz von selbst mithilfe des letzten Treibstoffs in eine tote Umlaufbahn stoßen, in der es keinen Schaden anrichten kann.«
»Hmm…« Wassily schien verwirrt. »Sind vier Sekundenkilometer nicht ein bisschen zu schnell?«
»Nein, das sind…« Ein hohes Dröhnen schnitt Rachel das Wort ab. Die Erschütterung, die damit einherging, warf alles in der Kapsel gegen das hintere Schott. Zehn Sekunden verstrichen. »Das sind, auf den Abstieg bezogen, nur etwa zwölf Mach. Und die Maschinen haben wir bis dahin schon über Bord geworfen. Aber mach dir keine Sorgen. Wir werden ziemlich schnell abbremsen, wenn wir in die Atmosphäre eintreten. Während des Apollo-Programms haben sie es die ganze Zeit so gemacht.«
»Apollo-Programm? War das nicht zu einer Zeit, als man mit der Raumfahrt noch herumexperimentierte?« Wie Martin auffiel, umklammerte Wassily die Rückenlehne seines Sitzes so fest, dass seine Fingerknöchel weiß hervortraten. Wie interessant.
»Ja, stimmt«, sagte Rachel beiläufig. »Natürlich haben sie damals noch nicht über Nuklearantriebe verfügt – war es vor oder nach dem Kalten Krieg?«
»Vorher, glaube ich. Im Kalten Krieg ging’s doch ausschließlich darum, wer den größten Kühlschrank bauen konnte, nicht?«
»Kalter Krieg?«, piepste Wassily.
»War vor etwa vier-, fünfhundert Jahren, auf der Erde«, erklärte Rachel.
»Und sie taten solche Dinge, obwohl sie nicht einmal Dampfmaschinen bauen konnten?«
»Oh, Dampfmaschinen konnten sie sehr wohl bauen«, erwiderte Martin locker. »Nur speisten sie die Dampfkessel damals mit Erdöl. Reaktoren, die auf Kernspaltung basieren, waren damals noch selten und teuer.«
»Das klingt nicht gerade nach einer sicheren Sache«, bemerkte Wassily skeptisch. »Würde all das Öl denn nicht explodieren?«
»Ja, aber die Erde ist ein früh besiedelter Planet der Gruppe drei und recht alt; die Isotopen sind dort schlecht verteilt, es gibt zu wenig Uran-235.«
»Es gibt verdammt viel davon, allzu viel, wenn du mich fragst«, lautete Rachels düsterer Kommentar.
»Ich glaube, ihr versucht mich durcheinander zu bringen, und das gefällt mir ganz und gar nicht. Ihr Terraner haltet euch ja für so unglaublich schlau, aber ihr wisst auch nicht alles! Ihr könnt Terroristen immer noch nicht davon abhalten, eure Städte in die Luft zu jagen. Und trotz all eurer so genannten Kultiviertheit könnt ihr eure eigenen niedrigen Instinkte immer noch nicht steuern. Von der Politik her seid ihr Dummköpfe, die alles vermasseln, und von Natur aus Dummköpfe, die alles vermasseln!«
Der Hilfsantrieb zur Höhenkorrektur meldete sich erneut mit einem Geräusch, das wie ein Rülpsen klang. Rachel griff nach Martins Schulter. »Jetzt hat er uns am Schlafittchen.«
»Tja, ham unser Fett voll abgekriegt, jetzt sin’mer dran, Alte. Is ein fairer Bulle.«
Wassily starrte verblüfft von einem zum anderen, während seine Ohren knallrot wurden. Rachel lachte. »Wenn das ein Yorkshire-Dialekt sein soll, bin ich ein Waliser Frettchen, Martin!«
»Nun ja, es würde mir an jedem Tag der Woche Spaß machen, dich in meine Hosen zu stopfen, meine Liebe.« Martin schüttelte den Kopf. Aus dem Augenwinkel heraus merkte er, dass Wassilys Röte sich inzwischen von den Ohren bis zum Hals ausgebreitet hatte. »Du musst noch viel über die reale Welt lernen, Junge. Mich wundert nur, dass dein Chef dich ohne Aufsichtsperson hat ziehen lassen.«
»Hören Sie endlich auf, mich als Kind zu bezeichnen!«
Rachel, die auf ihrem Sitz kauerte, wandte sich um und sah ihn an. »Aber das bist du doch wirklich noch, weißt du. Und selbst wenn du sechzig Jahre alt wärest, würde ich dich immer noch als Kind betrachten. Solange du von einer anderen Person oder Instanz erwartest, dass sie die Verantwortung für dich übernimmt, bleibst du ein Kind. Du könntest dich durch alle Bordelle von Neu-Prag vögeln und wärst trotzdem nichts anderes als ein allzu schnell gewachsener Schuljunge.« Sie bedachte ihn mit einem traurigen Blick. »Wie würdest du Eltern nennen, die ihren Kindern einfach nicht erlauben, erwachsen zu werden? Denn genauso verhält sich eure Regierung unserer Meinung nach.«
»Aber ich bin doch aus einem ganz anderen Grund hier. Es ist genau andersherum: Ich bin hier, um die Republik zu schützen! Ich bin hier, weil…«
Der Hauptantrieb ging in kritischen Zustand über und drehte mit tiefem Bassgedröhn zu voller Kraft auf, sodass die Kapsel wie eine Konservendose in einem Wirbelsturm rasselte. Wassily, der in seine Hängematte gedrückt wurde, schnappte nach Luft. Auch Rachel und Martin sanken zurück in die Sitze, denn die massive Kraft von zwanzig Metern Beschleunigung pro Sekunde zerrte an ihnen. Das war zwar nicht der fünfhundert Kilo schwere Gorilla, der ihnen beim Wiedereintritt in die Atmosphäre die Brust zusammenquetschen würde, aber der Druck war immerhin so stark, dass sie sich zurücklehnen und auf die eigene Atmung konzentrieren mussten.
Der längere Zeit brennende Antrieb trug sie fort von den Schlachttrümmern, die ringsumher im Raum trieben – und einem Rendezvous mit ungewissem Ausgang entgegen.