springer

 

 

Der Admiral saß an seinem Schreibtisch und kniff die Augen zusammen.

Geschwaderführer Bauer räusperte sich. »Wenn ich um Ihre Aufmerksamkeit bitten dürfte, Sir.«

»Hä? Re… reden Sie schon, junger Mann.«

»Heute Abend erreichen wir die Position, in der wir das entscheidende Gefecht mit dem Feind austragen werden«, erwiderte Bauer geduldig. »Vorher müssen wir eine letzte Lagebesprechung durchführen, Sir, um die kommende taktische Situation zu erörtern. Wenn wir diese Schlacht durchführen sollen, müssen Sie meine Befehle unterzeichnen.«

»Also gut.« Admiral Kurtz versuchte sich in seinem Lehnsessel aufzusetzen. Der stets hilfreiche Robard stützte ihn, indem er ihm unter die zerbrechlichen Schultern griff. »Haben Sie die Befehle dabei?«

»Sir.« Bauer schob eine dünne Mappe über den glänzenden Eichentisch. »Wenn Sie sie sehen möchten…?«

»Nein, nein.« Der Admiral winkte mit seiner zarten Hand ab. »Sie sind ein vernünftiger Mann und werden den Eingeborenen schon die Hölle hei… heiß machen, nicht wahr?«

Bauer starrte seinen Vorgesetzten voller Verzweiflung und gleichzeitig mit Erleichterung an. »Ja, Sir, das werde ich«, versprach er. »Noch eine Stunde, dann sind wir so nahe an der Planetenoberfläche, dass wir Lidar-Impulse einsetzen können. Damit müssten wir die Schlachtordnung des Feindes einigermaßen exakt bestimmen können. Einsatztrupp vier wird das übernehmen und die ersten Ergebnisse sondieren, während sich die Artillerie noch zurückhält. Erst wenn wir so nah dran sind, dass wir denen Breitseite geben können, wird die Artillerie auf alles schießen, was uns vor die Flinte kommt. Meine Zerstörungsgeschwader sind darauf vorbereitet, alle Geschützstellungen anzugreifen, die wir im geostationären Orbit ausmachen können. Und die Torpedoboote sind für alles, was flüchtet, mit superschnellen Abfängern ausgestattet.«

»Gib den Eingeborenen Saures«, sagte Kurtz verträumt. »Errichte einen Schädelberg auf deren Marktplatz. Lass den Zug seine Geschosse abfeuern. Bombardiere diese Mistkerle.«

»Ja, Sir. Wenn Sie jetzt so gut wären, hier zu unterschreiben…«

Robard steckte dem Admiral den Füller zwischen die Finger, doch sie zitterten so heftig, dass ein riesiger roter Tintenfleck, der wie frisches Blut aussah, die Unterschrift fast unlesbar machte.

Bauer salutierte. »Sir, mit Ihrer Erlaubnis werde ich diese Befehle sofort umsetzen.«

Als Kurtz den Geschwaderführer von unten herauf ansah, funkelte in seinen eingesunkenen Augen für den Bruchteil einer Sekunde eine Spur des alten Kampfgeistes auf. »Tun Sie das! Der Sieg ist un… unser, denn unser Herr im Himmel wird nicht zulassen, dass denen, die ihm folgen, etwas…« Ein Ausdruck tiefster Verwirrung huschte über sein runzliges Gesicht, dann sackte er nach vorn.

»Sir! Sind Sie…« Der Geschwaderführer beugte sich vor, doch Robard hatte den Sessel des Admirals bereits vom Tisch weggezogen.

»Er ist schon seit Tagen erschöpft«, bemerkte Robard und brachte den Lehnstuhl seines Schützlings in Liegestellung. »Ich bringe ihn zurück in die Schlafkammer. Angesichts der Tatsache, dass wir uns jetzt dem Feind nähern…« Er straffte sich. »Entschuldigen Sie, Sir, aber könnten Sie den Schiffsarzt rufen?«

Eine halbe Stunde später, zehn Minuten zu spät für die Stabsbesprechung, die er selbst angesetzt hatte, eilte Geschwaderführer Bauer ins Konferenzzimmer. »Meine Herren, bitte setzen Sie sich.«

Die Offiziere, die zwei Reihen füllten, nahmen vor dem Podium Platz, von dem aus der befehlshabende Admiral zu seinen Stabs- und Linienoffizieren zu sprechen pflegte. Jetzt hatte Bauer diesen Platz eingenommen. »Ich habe eine sehr schwer wiegende Mitteilung zu machen«, begann er und hielt dabei die Mappe unter seinem rechten Arm so angespannt an sich gedrückt, dass sie einknickte. »Der Admiral…« Ein Meer von Gesichtern, von vertrauensvollen, wartenden Gesichtern, wandte sich ihm zu. »Der Admiral ist unpässlich«, sagte er schließlich. Unpässlich war er allerdings, wenn man es so nennen wollte… Und dabei berücksichtigte, dass der Schiffsarzt, der sich um den Admiral kümmerte, ihm nur eine zehnprozentige Überlebenschance eingeräumt hatte. Beim Unterzeichnen der letzten Befehle hatte der Alte plötzlich eine Gehirnblutung erlitten.

»Ähm… Der Admiral hat mir aufgetragen, unseren Einsatz wie geplant durchzuführen. Ich werde dabei als sein Bevollmächtigter agieren, er selbst jedoch wird auch weiterhin das Oberkommando innehaben. Außerdem bat er mich, Ihnen mitzuteilen, er wisse, dass jeder Mann seine Pflicht tun wird. Unsere Sache, so sagte er, wird siegen, weil Gott auf unserer Seite sei.«

Bauer machte sich an seinen Unterlagen zu schaffen, während er versuchte, das letzte Bild vom Admiral loszuwerden: Niedergestreckt und zusammengeschrumpft hatte der Alte auf seinem Bett gelegen, während der Arzt und ein Sanitäter sich leise beraten und auf die Ankunft des Bordpfarrers gewartet hatten.

»Als Erstes: Bestandsaufnahme. Fregattenkapitän Kurel, wie steht’s mit der Navigation?«

Kurel erhob sich von seinem Platz. Der Navigationsexperte des Stabs war ein kleiner, überaus pedantischer Mann, dessen Augen hinter der Hornbrille die Welt mit scharfsichtiger Intelligenz betrachteten. »Die Abweichung ist gravierend, aber nicht verhängnisvoll«, sagte er und raschelte mit den Dokumenten, die vor ihm lagen. »Offenbar war die von Seiner Lordschaft vorgesehene Zeitschleife doch schwieriger zu navigieren als erwartet. Trotz aller Verbesserungen, die wir an den Zeitkontrollen des Antriebs vorgenommen haben, hat sich während unserer Reise eine Diskrepanz von nicht weniger als sechzehn Millionen Sekunden eingeschlichen. Ich möchte hier anmerken, dass diese Verschiebung nicht ganz unerklärlich ist, wenn wir berücksichtigen, dass wir im Laufe von rund einhundertneununddreißig Tagen insgesamt achtundsechzig Sprünge durchgeführt haben. Dabei haben wir eine Strecke von etwas mehr als achttausenddreiundfünfzig Lichtjahren zurückgelegt. In der Geschichte der Marine ist das immerhin ein bahnbrechender Rekord.«

Er hielt kurz inne, um seine Brille zurechtzurücken. »Leider bedeuten diese sechzehn Megasekunden eine Abweichung in der ungünstigsten Richtung, denn zeitlich gesehen führen sie uns in die Domäne, in der unser Feind unser Territorium bereits besetzt hat. Praktisch hätten wir kaum schlechter abgeschnitten, wenn wir die Reise einfach auf normale Weise, mit fünf Sprüngen, hinter uns gebracht hätten. Die Entfernung hätte dann nur rund vierundvierzig Lichtjahre betragen. Wenn man eine vollständige Pulsarkarte mit dem Spin-down korreliert und zur Welt-Linie des Bestimmungsortes in Beziehung setzt, kommt man zu dem Ergebnis, dass die zeitliche Verschiebung uns rund drei Millionen Sekunden in die Zukunft unseres ursprünglichen Startpunkts trägt. Das wird auch durch die klassischen Gestirnberechnungstafeln bestätigt. Gemäß der örtlichen Geschichte hat sich der Feind – das Festival – schon seit dreißig Tagen auf Rochards Welt verschanzt.«

Alle im Raum Versammelten holten daraufhin erst einmal tief Luft, wobei Fassungslosigkeit und stille Wut sich mischten. Geschwaderführer Bauer registrierte es sehr genau. »Meine Herren!« Gleich darauf legte sich die Unruhe. »Zwar mag uns dieses nie zuvor gewagte Manöver nicht die erwarteten taktischen Vorteile eingebracht haben, dennoch sind wir nicht auf ganzer Linie gescheitert. Nach wie vor befinden wir uns nur zehn Tage in der Zukunft unseres Ausgangspunktes, und wenn wir einen konventionellen Weg gewählt hätten, wären wir auch erst in etwa zehn Tagen angekommen. Da unsere Aufklärung bislang nichts Auffälliges gemeldet hat, können wir davon ausgehen, dass der Feind, der sich dort verschanzt hat, nicht mit uns rechnet.« Er brachte ein verkrampftes Lächeln zustande. »Den Navigationsfehler werden wir nach der Siegesfeier untersuchen.« Diese Äußerung brachte ihm kurz das zustimmende Gemurmel der Versammlung ein. »Leutnant Kossov, der Bericht zur allgemeinen Lage, wenn ich bitten darf.«

»Äh, ja, Sir.« Kossov stand auf. »Alle Schiffe melden Gefechtsbereitschaft. Die Hauptprobleme sind derzeit technische Pannen auf der Kamchatka – allerdings melden sie von dort, dass der Druck auf fast allen Decks inzwischen wiederhergestellt ist – und die Explosion in den Wasserrohren unseres eigenen Schiffes. Meines Wissens läuft bei uns jetzt alles wieder normal, mal abgesehen davon, dass einige Kabinen auf dem grünen Deck zerstört sind und wir Wasserschäden in der Nähe der Gefängniszelle festgestellt haben. Allerdings werden mehrere Personen vermisst, und das schließt auch den Sicherheitsoffizier Sauer ein. Zum Zeitpunkt der Explosion hat er gerade in irgendeiner Sache ermittelt.«

»So ist es.« Bauer nickte Kapitän Mirsky zu. »Kapitän, gibt es irgendetwas zu berichten?«

»Derzeit noch nicht, Sir. Die Rettungsmannschaften versuchen gegenwärtig, die Leute zu bergen, die während des Druckabfalls über Bord gegangen sind. Unsere Gefechtsbereitschaft wird das aber kaum beeinträchtigen. Sobald wie möglich werde ich Ihnen einen vollständigen, ausführlichen Bericht geben.« Mirsky sah wütend aus und er hatte auch guten Grund dazu: Vom Flaggschiff erwartete man nicht, dass es der Flotte Schande machte. Und noch weniger, dass es durch irgendeine technische Panne in den sanitären Anlagen Offiziere und Besatzungsmitglieder einbüßte. Falls es sich wirklich um eine technische Panne gehandelt haben sollte… »Ich muss noch hinzufügen, Sir, dass sich die Diplomatin von der Erde unter den Personen befindet, die nach dem Zwischenfall als vermisst gemeldet wurden. Normalerweise würde ich eine gründliche Suche nach den Überlebenden einleiten, aber in der gegenwärtigen Situation…« Sein Achselzucken war beredt.

»Sie haben mein Mitgefühl, Kapitän. Leutnant Sauer war ein guter Offizier. Und jetzt zum bevorstehenden Einsatz. Ich habe beschlossen, nach Angriffsplan F vorzugehen. Sie haben ihn zweimal versuchsweise durchgespielt. Jetzt erhalten Sie Gelegenheit, die Taktik im Ernstfall anzuwenden, und zwar gegen einen real existierenden, aber völlig unbekannten Feind…«

 

Ein heftiger Schlag gegen die Außenhülle brachte Martin zu sich.

Er blinzelte, da sich Haare vor seine Augen geschoben hatten, und starrte nach vorn, auf die Wand. Sie war ihm aus dem Blickfeld geraten, als die Kaltgasantriebe ihn zur Decke zu zerren versucht hatten, und hatte inzwischen statt des soliden Grautons ein sattes Schwarz angenommen, das hier und da mit glänzendem Sternenstaub getüpfelt war. Die Strömungen auf der Lord Vanek hätten ihm fast Arme und Beine abgerissen. Schwerkraft war nur noch eine schmerzliche Erinnerung. Rachel, die neben ihm lag, bewegte die Lippen: Sie war vollauf damit beschäftigt, mit dem primitiven Gehirn der Rettungskapsel zu kommunizieren. Riesige graue Wolken verhinderten, dass er über sich viel erkennen konnte. Abwasser vom Speigatt. Während er nach oben blickte, blitzten gelbliche Strahlen auf, offenbar suchten Rettungsmannschaften auf dem Schiff nach irgendetwas.

»Alles in Ordnung mit dir?«, krächzte er.

»Eine Minute.« Rachel schloss wieder die Augen und ließ die Arme nach oben schweben, bis sie fast den gläsernen Schirm über ihrem Kopf berührten – der viel, viel näher war, als Martin ursprünglich angenommen hatte. Die Kapsel bestand aus einem flachen Zylinder, dessen Durchmesser unten vier Meter und oben drei betragen mochte, aber sie war nicht einmal zwei Meter hoch. Während die eigentliche Kabine nicht mehr Platz bot als das Innere einer Droschke, nahmen die unten angebrachten Treibstofftanks und der Motor sehr viel mehr Raum ein. Im Rhythmus der Versorgungsleitungen summte und brummte die Kapsel leise, während sie sich überaus langsam um die eigene Längsachse drehte.

»Wir machen zwölf Meter pro Sekunde, was gut ist«, meldete Rachel. »Das heißt, dass wir gleich einen Kilometer vom Schiff entfernt sind… Verdammt, was ist da hinten los?«

»Ist da jemand außerhalb des Raumschiffs unterwegs? Die suchen nach uns.«

»Scheint mehr als einer zu sein. Da hinten sieht’s fast nach Raumtrümmern aus.« Während Martin zu ihr hinübersah, weiteten sich ihre Augen vor Entsetzen.

»Was auch passiert sein mag, es ereignete sich erst nach unserem Aufbruch. Wenn du eine regelrechte Explosion ausgelöst hättest, wären wir überall von Raumtrümmern umgeben, stimmt’s?«

Sie schüttelte den Kopf. »Wir sollten zurückkehren und helfen. Wir haben ein…«

»Quatsch. Wenn die ins Gefecht ziehen, haben die ständig Leute in Schutzanzügen draußen, die außerhalb des Schiffes operieren, das weißt du so gut wie ich. Es ist nicht dein Problem. Lass mich raten: Irgendjemand hat nach unserem Aufbruch versucht, in deine Kabine einzudringen. Hat sich ein bisschen zu heftig bemüht, wie’s aussieht.«

Sie starrte auf die fernen Flecken, die am Heck des Kriegsschiffes trieben. Aus diesem Abstand wirkte das Schiff wie ein kurzer, dicker Zylinder. »Aber wenn ich nicht…«

»… wäre ich jetzt auf dem Weg zur Luftschleuse, und sie hätten mir die Hände auf dem Rücken zusammengebunden«, sagte er nachdrücklich. Entnervt, kühl, rational. Ihm tat der Kopf weh. In dieser Kapsel musste der Druck wohl niedriger sein als im Schiff. Seine Hände zitterten und waren kalt – eine Reaktion auf die Ereignisse der letzten fünf Minuten. »Du hast mir das Leben gerettet, Rachel. Wenn du mal eine Minute aufhören könntest, dir selbst dafür in den Hintern zu treten, würde ich mich gern bei dir bedanken.«

»Wenn irgendjemand da draußen ist und wir ihn im Stich lassen…«

»Die Rettungsmannschaften werden ihn bergen. Vertrau mir in dieser Sache. Ich schätze, die haben die Tür aufgesprengt, um in deine Kabine zu gelangen. Haben das Loch erst nicht bemerkt und wurden dann ein bisschen weiter als erwartet hinausgezogen. Für solche Fälle haben Kriegsschiffe Trupps, die außerhalb operieren können, und Jollen. Wir sollten uns jetzt eher über etwas anderes Sorgen machen. Hoffen wir, dass uns niemand vor dem Entscheidungskampf bemerkt.«

»Mhm.« Rachel schüttelte den Kopf, aber ihre Miene entspannte sich leicht, und ihre düstere Stimmung schien sich ein wenig zu heben. »Trotzdem sind wir nach meinem Geschmack immer noch zu nah dran. Wir haben noch einen Kaltgastank in Reserve, der uns zusätzliche zehn Meter pro Sekunde bescheren könnte. Wenn ich ihn jetzt benutze, bedeutet das, dass wir etwa zweihundertundfünfzig Kilometer vom Schiff wegtreiben können, ehe wir in Planetennähe geraten. Aber eigentlich müssten sie schon vorher mit ihren Manövern beginnen und den Abstand beträchtlich vergrößern. Wir haben genügend Wasser und Luft für eine Woche. Ich hab schon überlegt, ob wir alle Kraft voraus legen sollen, damit wir schneller nach unten kommen, während sie damit beschäftigt sind, auf die feindliche Verteidigung zu achten, worin sie auch bestehen mag. Falls es überhaupt eine gibt.«

»Ich tippe auf Waffen, die ihre Form verändern und sie einfach schlucken können.« Martin nickte kurz, hielt den Kopf aber gleich darauf ruhig, da sich die Welt ringsum zu drehen schien. Das war doch nicht etwa die Raumkrankheit? Der Gedanke, eine Woche lang in diesem Kabuff eingepfercht zu sein, womöglich noch mit schlimmem Durchfall, war zu ekelhaft, um ihn weiterzuverfolgen. »Vielleicht Antikörper. Jedenfalls nichts, was die Neue Republik begreifen könnte. Wahrscheinlich haben wir gar nicht viel Mühe, denen auszuweichen, aber falls du irgendetwas zündest…«

»Tja.« Rachel gähnte.

»Du siehst erschöpft aus«, stellte er besorgt fest. »Wie, zum Teufel, hast du das nur angestellt? Ich meine das auf dem Schiff. Sicher rächt sich das jetzt und raubt dir die letzte Kraft…«

»Stimmt.« Sie beugte sich vor und fummelte an einem blauen Fischernetz herum, das sich an der Stelle befand, die man als den »Boden« der Kabine bezeichnen konnte. Verblüffend vertraute Saftbehälter, die ihn an die Heimat erinnerten, schwebten heraus und überschlugen sich im freien Fall. Sie griff sich einen und saugte gierig an der Tülle. »Bedien dich.«

»Nicht, dass ich irgendwie undankbar erscheinen möchte«, fuhr Martin fort, während er sich einen vorbeischwebenden Vitaminsaft mit Mango und anderen asiatischen Früchten aus dem Gesicht schlug. »Aber… warum?«

Sie sah ihn lange an. »Oh«, sagte er.

Sie ließ die leere Saftpackung los, sodass sie davonschwebte, und wandte sich ihm zu. »Ich würde dir ja lieber irgendeinen Mist über Vertrauen und Pflicht und so weiter erzählen, aber…« Sie zuckte verlegen mit den Achseln, die von Gurten festgezurrt waren. »Ist ja auch egal.« Als sie die Hand ausstreckte, griff Martin danach und drückte sie wortlos.

»Du hast deine Mission nicht vermasselt«, sagte er mit Nachdruck. »Da draußen hattest du gar keine Mission. Jedenfalls nicht, wenn man es realistisch betrachtet. Es war keineswegs so, wie dein Chef… wie heißt er doch gleich…«

»George. George Cho.«

»… wie George Cho angenommen hat. Unzureichende Informationen, stimmt’s? Was hätte er denn getan, wenn er über das Festival genauer Bescheid gewusst hätte?«

»Möglicherweise nichts anderes.« Sie lächelte, sah dabei mit leerem Blick auf die entschwebende Saftpackung und griff sich eine weitere aus der Luft. »Du liegst völlig falsch. Ich hab immer noch etwas zu erledigen, wenn und falls wir ankommen. Und die Chancen dafür haben sich wegen dieser Eskapade gerade um… oh… runde fünfzig Prozent verringert.«

»Ha! Sag mir Bescheid, wenn ich irgendwie helfen kann, ja?« Martin streckte sich und zuckte gleich darauf zusammen, weil ihm eine schmerzliche Sache eingefallen war. »Du hast wohl nicht zufällig mein Notebook gesehen, oder? Nachdem…«

»Es ist unter deinem Sitz verstaut, zusammen mit einer Zahnbürste und Unterwäsche zum Wechseln. Ich hab deine Kabine gefilzt, nachdem sie dich eingesperrt hatten.«

»Du bist ein Goldschatz«, rief er glücklich. Er beugte sich vor und fischte in dem beengten Raum unter der Steuerkonsole herum. »Ach, du meine Güte…« Während er sich aufrichtete, schlug er das lädierte graue Buch auf. Wörter und Abbildungen huschten über das Display. Als er eine imaginäre Tastatur bediente, waberten neue Bilder über den Schirm. »Kann ich dir irgendwie helfen, dieses Boot zu lenken?«, fragte er.

»Wenn du möchtest.« Rachel trank die zweite Saftpackung aus und warf die beiden geleerten Behälter in den Abfallbeutel. »Ja, kannst du, wenn du möchtest. Bist du schon mal selbst geflogen?«

»Hab zwölf Jahre bei L 5 verbracht. Die grundlegende Navigation ist kein Problem für mich. Falls ein normales Versorgungsmodul vorhanden ist, kann ich auch die Kombüse programmieren. In Yorkshire lernt man aus alter Tradition, wie man Black Pudding in der Schwerelosigkeit zubereitet. Der Trick liegt dabei darin, dass sich das Schiff um die Kombüse drehen muss, damit die Blutwurst ruhig liegen bleibt, während der Grill rotiert.«

Sie kicherte, als ein Päckchen Preiselbeersaft von seinem Kopf abprallte. »Jetzt reicht’s aber!«

»Alles klar.« Er beugte sich zu dem Notebook vor, das vor ihm trieb. Die offenen Seiten zeigten die vom Gehirn des Rettungsbootes übermittelten Realzeit-Daten. In einer Ecke lief der Countdown der Sekunden bis zur Bremszündung, die Rachel als Erstes einprogrammiert hatte: noch zweitausend Sekunden, bis sie in Planetennähe gelangen würden. Mit gerunzelter Stirn kritzelte er irgendwelche Hieroglyphen. »Eigentlich müssten wir es schaffen. Vorausgesetzt, die schießen nicht auf uns.«

»Wir haben einen Rote-Kreuz-Transponder. Sie müssten ihr IFF, das Radarsystem, das uns als neutrale Macht identifiziert und den Abschuss blockiert, schon von Hand umprogrammieren.«

»Was sie nicht tun werden, wenn sie nicht unbedingt müssen. Gut.« Martin gab einen letzten Passus auf der Seite ein. »Allerdings wäre mir wohler, wenn ich wüsste, in was wir da hineinfliegen. Ich meine, wenn das Festival in der Umlaufbahn für eine Tabula rasa gesorgt hat…« Bei dieser Vorstellung erstarrten beide.

Irgendetwas kratzte oben an der Rettungskapsel. Es klang so, als ob hohle Knochen aus Stahl über Käfiggestänge rasselten.

 

Das Kaninchen knurrte böse und schulterte wütend sein Maschinengewehr. Mit zurückgelegten Ohren und gebleckten Zähnen zischte es den Cyborg an.

Siebente Schwester setzte sich auf und beobachtete diese Begegnung der feindseligen Art. Bis auf Burija, der in die Mitte der Lichtung vortrat, duckten sich alle anderen. »Sofort aufhören!«

Eine Weile stand das Kaninchen wie angewurzelt da. Dann lockerte sich seine steife Haltung, und es senkte das Gewehr. »Er hat angefangen.«

»Mir ist völlig egal, wer angefangen hat. Wir haben was zu erledigen, und es bringt überhaupt nichts, aufeinander zu schießen.« Burija drehte sich zu dem Cyborg um, den das Kaninchen gestellt hatte. »Was hast du gesagt?«

Der weibliche Cyborg, eine Revolutionärin, sah so aus, als schämte sie sich. Langsam zog sie ihre voll ausgefahrenen Klauen wieder ein. »Ist kein guter Extropianer. Dieses Geschöpf…«, sie deutete auf das Kaninchen, das sofort wieder die Zähne bleckte, »… ist Anhänger von Personenkult. Ist konterrevolutionärer Dissident. Müssen Upload von Gehirn veranlassen, sofort!«

Burija kniff die Augen zusammen. Inzwischen waren viele der früheren Revolutionäre aufgrund der persönlichen Zusatzausrüstungen, die das Festival ihnen gewährt hatte, völlig neben der Spur. Ihnen war nicht klar, dass sich ihr zentrales Nervensystem erst einmal auf die Aufrüstungen einstellen musste, was zu einem gewissen Grad von Desorientierung führte. »Aber Genossin, du selbst bist doch auch eine Persönlichkeit«, sagte Burija. »Ein Gespür für die eigene Identität ist eine notwendige Voraussetzung dafür, Bewusstsein zu entwickeln. Und das wiederum ist, wie die großen Führer und Lehrer aufgezeigt haben, das Fundament, auf dem das Potenzial zur Transzendenz beruht.«

Der Cyborg wirkte verwirrt. Mit Spiegeln überzogene Häutchen legten sich kurz über die Augäpfel und reflektierten die innersten Gedanken. »Aber innerhalb Gesellschaft des Geistes existiert einzelne Persönlichkeit nicht. Gesellschaft entwickelt Persönlichkeit, Individuum kann kein…«

»Ich glaube, du hast die großen Philosophen falsch verstanden«, erwiderte Rubenstein bedächtig. »Ist nicht als Kritik gemeint, Genossin. Die Philosophen sind von ihrem Wesen her brillante Denker, und man kann ihnen nur schwer folgen. Aber mit Gesellschaft des Geistes haben sie die Entwicklung von Bewusstsein innerhalb des einzelnen Menschen gemeint, der sich aus niedrigeren, vorbewussten Stufen entwickelt hat, nicht etwa die Gesellschaft, die diese Person umgibt. Daraus folgt, dass man keinem Persönlichkeitskult anhängt, wenn man mit dem eigenen Bewusstsein kommuniziert. Und das heißt auch, dass man, wenn man einem anderen…« Er brach ab und sah das Kaninchen scharf an. »Ich glaube nicht, dass wir dieses Thema weiterverfolgen sollten«, bemerkte er schroff. »Zeit weiterzugehen.«

Der Cyborg nickte ruckartig, während seine Genossen aufstanden (einer musste sich dazu entrollen) und ihr Marschgepäck schulterten. Burija ging zur Hütte der Siebenten Schwester hinüber und kletterte hinein. Gleich darauf zog der Tross weiter.

»Verstehe revolutionäre Haltung nicht«, bemerkte die Kritikerin und kaute auf einer Süßkartoffel herum, während die Hütte den Sandweg entlanghüpfte und der Abordnung des Revolutionären Rates von Plotsk folgte. »Wird Gespür für eigene Identität missbilligt? Wird Hase wegen Nähe zum Selbst kritisiert? Unsinn! Wie soll man ohne Ich-Bewusstsein Kunst schätzen?«

Burija zuckte die Achseln. »Die nehmen alles zu wörtlich«, sagte er leise. »Geht immer nur um das Handeln, nicht um innovatives Denken. Metaphern begreifen sie nicht richtig. Die Hälfte von denen hält dich für die zurückgekehrte Hexe und Menschenfresserin Baba Jaga, wusstest du das? Wir sind allzu lange eine… äh… stabile Gesellschaft gewesen, in der sich nichts bewegte. Da wurzeln sich bestimmte Anschauungen und Haltungen tief ein. Und wenn sich etwas verändert, sind sie nicht fähig, darauf angemessen zu reagieren. Versuchen alles in ihre vorgefertigten Dogmen zu pressen.« Er lehnte sich gegen die wacklige Hüttenwand. »Ich hab’s so satt, ständig zu versuchen, sie aufzurütteln.«

Siebente Schwester rümpfte die Nase. »Und wie nennst du das da?« Sie deutete durch die Tür auf den Trupp, der vor ihnen marschierte: eine wilde Ansammlung von Cyborgs unterschiedlicher Machart, technisch aufgerüstete Revolutionäre, die ihr beschränktes früheres Leben hinter sich gelassen hatten und irgendwo im Niemandsland gestrandet waren. An der Spitze das Kaninchen, das sie in einen Wald führte, in dessen Wildnis hier und da auch überweltliche Phänomene anzutreffen waren.

Burija spähte zum Kaninchen hinüber. »Ich würd’s so nennen, wie es selbst genannt werden möchte. Schließlich hat es eine Waffe, nicht wahr?«

Gegen Mittag hatte sich der Wald so verändert, dass er kaum noch wiederzuerkennen war. Irgendein seltsames biologisches Experiment hatte die Pflanzenwelt völlig entstellt. Bäume und Gräser hatten das Blattwerk miteinander getauscht, sodass sie jetzt auf einer Schicht stacheliger Kiefernadeln vorwärts marschierten, während über ihren Köpfen Grashalme schaukelten. Die Halme waren schwarz-grün gescheckt, wobei sich das glänzende Schwarz immer weiter ausbreitete. Aber am meisten beunruhigte Burija das gänzlich unnatürliche Unterholz, das an den Rändern zu verschwimmen schien und mit anderen Arten hemmungslos phänotypische Merkmale ausgetauscht hatte. »Was hat das hier verursacht?«, fragte er Siebente Schwester während einer ihrer stündlichen Pausen.

Die Kritikerin zuckte die Achseln. »Bedeutet gar nichts. Ein Kunstwerk der Rekombination, Waldzone von Anhängern Lysenkos, des russischen Biologen und Genetikers. Hüte dich vor solchem Unsinn, mein Sohn. Befinden sich in dieser Vegetation nur Abkömmlinge von der Erde?«

»Das fragst du mich?«, schnaubte Rubenstein. »Ich bin doch kein Gärtner.«

»Annahme auch wenig plausibel«, erwiderte Siebente Schwester schelmisch. »Jedenfalls sind einige Arbeiten von Bringe Rekombinationen. Manipulationen von Genom, nicht menschenzentriert. Elegante Strukturen, modifiziert ohne bestimmten Zweck. Dieser Wald an französischem Naturforscher Lamarck orientiert. Knötchen tauschen Merkmale aus, die Phänotyp bestimmen, nehmen nützliche an.«

»Wer entscheidet, ob sie nützlich sind?«

»Die Blumenschau. Teil von Fringe.«

»Welche Überraschung«, murmelte Burija.

Beim nächsten Halt ging er zum Kaninchen hinüber. »Wie weit noch?«

Das große Langohr schnüffelte im Wind. »Fünfzig Kilometer? Vielleicht mehr?« Es sah leicht verwirrt aus, als wäre die Vorstellung von Entfernung etwas sehr Schwieriges und Abstraktes.

»Heute Morgen hast du sechzig Kilometer gesagt«, wandte Burija ein. »Und jetzt haben wir schon zwanzig Kilometer hinter uns. Bist du sicher? Die Miliz traut dir nicht. Und wenn du ständig etwas anderes behauptest, kann ich sie vielleicht nicht davon abhalten, etwas Dummes zu tun.«

»Bin nur ein Kaninchen.« Die Ohren zuckten nach hinten und lauschten nach jeder Seite auf mögliche Bedrohungen. »Weiß, wo Herr ist, wo Herr war, beim Angriff der Possenreißer. Hab seitdem nicht viel von ihm gehört, das kannst du mir glauben. Weiß immer, wo er ist, weiß auch nicht wie – aber kann nicht sagen, wie weit er entfernt ist. Als hätte ich verdammten Kompass im Kopf, verstehst du, Kamerad?«

»Wie lange bist du schon ein Kaninchen?« Rubenstein kam ein schrecklicher Verdacht.

»Weiß nicht recht«, erwiderte das Kaninchen verwirrt. »Glaube, war früher mal…« Es ließ den Satz in der Luft hängen und machte die Schotten dicht. »Nicht mehr reden, müssen Herrn finden, ihn retten!«

»Wer ist dein Herr?«

»Felix.«

»Felix… Politowski?«

»Weiß nicht. Kann sein.« Das Kaninchen legte die Ohren zurück und bleckte die Zähne. »Will nicht reden. Morgen wir da. Retten Herrn. Töten Possenreißer.«

 

Wassily sah auf die Sterne hinunter, die unter seinen Füßen herumwirbelten. Ich werde sterben, dachte er und würgte bittere Galle. Als er die Augen schloss, legte sich die Übelkeit ein wenig. Sein Kopf schmerzte immer noch an der Stelle, an der er sich auf dem Weg nach draußen an der Kabinenwand gestoßen hatte. Eine Weile war alles vor seinen Augen verschwommen, und er war desorientiert auf einer Wolke von Schmerzen dahingetrieben. Jetzt, da er Zeit zum Nachdenken hatte, kam ihm der Schmerz wie eine Ironie des Schicksals vor. Leichen hatten doch keine Schmerzen, oder? Der Schmerz verriet ihm, dass er noch am Leben war. Wenn dieser Schmerz aufhörte…

Er durchlebte die Katastrophe wieder und wieder. Erinnerte sich daran, wie Sauer überprüft hatte, ob alle Schutzanzüge trugen. »Nur ein winziges Loch«, hatte jemand gesagt, und es war ihm so plausibel vorgekommen. Sicher hatte die Frau nur ein wenig Luft aus der Kabine entweichen lassen, um die Sperren auszulösen, die bei Druckabfall zur Sicherheit niedergingen. Und dann hatte der grelle Blitz der Sprengung ihm die Wahrheit verraten. Der brüllende Mahlstrom hatte nach ihnen gegriffen und den Leutnant und den Obermaat regelrecht aus dem Schiff gezerrt, hinein in den dunklen Tunnel voller Sterne. Wassily hatte noch versucht, den Griff einer Schutztür zu packen, aber die unbeholfenen Hände, die in Fäustlingen steckten, hatten nicht richtig greifen können. Und so war er, sich ständig überschlagend, ins Nichts getaumelt – wie eine im Strudel gefangene Spinne, die im abfließenden Badewasser untergeht.

Ringsum wirbelten Sterne, die kalten Lichter der Nacht da draußen stachen wie Dolche in seine Lider. Ich bin geliefert. Ich werde tatsächlich sterben. Die Spionin nicht verhaften können. Niemals meinem Vater begegnen. Ihm nie sagen können, was ich wirklich von ihm halte. Was wird der BÜRGER von mir denken?

Als Wassily die Augen aufschlug, wirbelte er immer noch um die eigene Achse. Er nahm an, dass er sich fünf- oder sechsmal pro Minute drehte. Der Schutzanzug war nicht mit Schubkraft ausgestattet und sein Funkgerät armselig, es reichte nur ein paar hundert Meter weit – mehr als genug für die Nutzung an Bord, vielleicht auch ausreichend, um jemanden auf sich aufmerksam zu machen, falls ein Suchtrupp unterwegs war. Aber bisher war niemand aufgetaucht. Er kam sich wie ein Kreisel vor. Alle paar Minuten trieb das Schiff kurz in sein Blickfeld, ein kleiner Splitter, der sich dunkel vom himmlischen Sternenstaub abhob. Kein Anzeichen dafür, dass jemand ihn suchte. Rings um das Schiff nur goldener Nebel: das Abwasser. Das Schiff war schon mehr als einen Kilometer entfernt gewesen, als er es überhaupt gesichtet hatte. Es sah wie ein Spielzeug aus, ein ungeheuer begehrenswertes Spielzeug, eines, an dem er all seine Hoffnungen auf Leben, Liebe, Kameradschaft, Wärme und Glück festmachen konnte. Ein Spielzeug, das immer und ewig außerhalb seiner Reichweite bleiben würde, weil es in der eiskalten Leere trieb, die er nicht überbrücken konnte.

Er blickte auf das grobe Display auf dem linken Handgelenk: Es verriet ihm, für wie viele Stunden die Sauerstoffflasche noch reichen würde. Und sein Strahlungsmesser sagte ihm, dass diese Raumregion ein heißes Pflaster war. Es wimmelte nur so vor aufgeladenen Teilchen. Vielleicht würden sie sogar dazu ausreichen, seine mumifizierte Leiche vor dem Zerfall zu bewahren.

Wassily lief ein Schauer über den Rücken, er überließ sich der bitteren Verzweiflung. Warum kann ich nie etwas richtig machen?, fragte er sich. Er war überzeugt gewesen, das Richtige zu tun, als er sich zum Dienst im Büro des Kurators verpflichtet hatte. Aber als er seiner Mutter voller Stolz die Bestallungsurkunde hatte zeigen wollen, hatte sie den Fensterladen vor ihrem Gesicht heruntergelassen und den Blick von ihm abgewendet. Das machte sie immer, wenn er etwas Unrechtes getan hatte, sie ihn aber nicht dafür bestrafen wollte.

Auch als er erst das Gepäck des Ingenieurs und dann das der Diplomatin durchsucht hatte, war er überzeugt gewesen, das Richtige zu tun. Und wo hatte es ihn hingebracht?

Das Schiff, das unter ihm trieb, zeichnete sich nur noch als winziger Balken gegen die Dunkelheit ab, war mittlerweile mehrere Kilometer entfernt und geriet ständig weiter aus seiner Reichweite. Selbst seine Anwesenheit auf diesem Schiff: Wenn er ehrlich war, musste er sich eingestehen, dass er besser zu Hause geblieben wäre. Dort hätte er in aller Ruhe auf die Rückkehr des Schiffes (und des Ingenieurs) nach Neu-Prag warten können, um die Ermittlungen später wieder aufzunehmen. Aber die Nachrichten von Rochards Welt, wo sein Vater im Exil lebte, hatten ihn seltsam neugierig gemacht. Hätte er nicht darauf bestanden mitzufliegen, wäre er niemals in diese Situation geraten – eine Situation, in der er als zum Tode Verurteilter im Gefängnis seiner eigenen Erinnerungen rotierte.

Er versuchte, an glücklichere Zeiten zu denken, aber das war schwierig. Die Schule? Er war gnadenlos herumkommandiert worden, gehänselt wegen dem, was sein Vater darstellte oder nicht darstellte. Jeder Junge, der den Familiennamen der eigenen Mutter trug, war Zielscheibe des Spotts. Aber wenn der eigene Vater auch noch ein Krimineller, ein berüchtigter Krimineller, war, gab man ein allzu leichtes Ziel ab. Irgendwann hatte er das Gesicht eines Maulhelden an der Schule zu Brei geschlagen und war dafür mit dem Rohrstock gezüchtigt worden. Die anderen hatten gelernt, ihm aus dem Weg zu gehen, aber das heimliche Getuschel und Gekicher war dennoch nicht verstummt. Er hatte darauf gelauscht, um den Schwätzern nach der Schule aufzulauern und ihnen die grinsende Fresse zu polieren. Aber Freunde hatte er sich damit nicht gemacht.

Und die Grundausbildung? Ein Witz, die Fortsetzung der Schule, nur mit strengeren Zuchtmeistern. Danach die Ausbildung bei der Polizei und die Kadettenschule. Dann die Lehrzeit beim BÜRGER, dem er so gern imponiert hätte, weil er den unnachgiebigen Inspektor so heftig bewunderte. Ein Mann aus Blut und Eisen, fraglos loyal gegenüber der Republik und allem, wofür sie stand. Ein geistiger Ziehvater. Und inzwischen hatte er es geschafft, diesen Mann gleich auf doppelte Weise zu enttäuschen.

Er gähnte. Seine Blase schmerzte, aber zu pinkeln wagte er nicht, nicht in diesem Schutzanzug aus miteinander verbundenen Hüllen. Der Gedanke zu ertrinken war irgendwie noch erschreckender als die Vorstellung zu ersticken. Außerdem… wenn ihm die Luft ausging… War das nicht die Methode, mit der man meuternde Raumfahrer ins Jenseits katapultierte? Anstatt sie aufzuhängen?

In diesem Augenblick packte ihn ein seltsames Entsetzen. Seine Haut kribbelte, der Nacken kam ihm feucht und kalt vor. Ich kann noch nicht sterben, dachte er zitternd. Es ist nicht fair! Und die Leere schien ihm zu antworten: Fairness hat nichts damit zu tun. Deine Wünsche spielen keine Rolle, es wird einfach geschehen. Seine Augen brannten. Um sich vor den Dolchen der Nacht zu schützen, die auf ihn zu wirbelten, drückte er sie fest zu und versuchte, die Atmung wieder in den Griff zu bekommen.

Als er die Augen aufschlug, sah er, dass er in der Tiefe des Alls nicht allein war. So als hätte er eine Antwort auf seine Gebete erhalten.

Singularität
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