telegramm
von den toten

 

 

Vor der Singularität hatten die Menschen, die auf der Erde lebten, zu den Sternen aufgesehen und sich in ihrer Einsamkeit mit dem beruhigenden Gedanken getröstet, dass das Universum an nichts und niemandem Anteil nahm.

Leider war das ein Irrtum.

An einem Sommertag in der Mitte des einundzwanzigsten Jahrhunderts mischte sich aus heiterem Himmel etwas, für das es keinen Präzedenzfall gab, in das hektische Treiben des Ameisenhügels der irdischen Zivilisation ein und stocherte mit einem Stock darin herum. Was es war, daran war kaum zu deuteln: die Manifestation einer den Menschen haushoch überlegenen Intelligenz, die so weit über ein gut ausgebildetes und künstlich verstärktes menschliches Gehirn hinausreichte wie der menschliche Verstand über den eines Frosches. Was Rätsel aufgab, war die Frage, woher es kam. Ganz zu schweigen von der Ungewissheit, aus welcher Zeit es stammte.

Vor der Singularität hatte man neue Erkenntnisse in der Quantenlogik damit verkauft, dass sie in der Informatik Tore zu ungeahnten Entwicklungen in der künstlichen Intelligenz öffneten. Ebenso hatte man daran gearbeitet, Informationen auf Zeitreise in die Vergangenheit zu schicken: möglicherweise auch als Weg dorthin, später größere Mengen von Materie mit Überlichtgeschwindigkeit zu transportieren, obwohl das als nicht so wichtig angesehen wurde wie die Anwendung in der Informatik. Bereits im zwanzigsten Jahrhundert hatte die Allgemeine Relativitätstheorie deutlich gemacht, dass sowohl Reisen mit Überlichtgeschwindigkeit als auch Zeitreisen eine Verletzung der Kausalität voraussetzen – das Gesetz, nach dem jede Wirkung eine vorhergehende Ursache haben muss. Verschiedene einschränkende Maßnahmen und Gesetze zur kosmischen Zensur wurden vorgeschlagen und wieder verworfen. Stattdessen bemühte man sich zu erklären, warum die Verletzung der Kausalität keineswegs zu einer weit greifenden Instabilität im Universum führen würde… All diese Erklärungen wurden durch die Singularität widerlegt.

Rund neun Milliarden Menschen verschwanden einfach im Bruchteil einer Sekunde, wurden aus dem beobachtbaren Universum so herausgeschleudert, dass nichts darauf hinwies, wo sie abgeblieben waren. Seltsame undurchdringliche Objekte, vor allem Vierflächner, also dreiseitige Pyramiden, hier und da aber auch aus Polygonen mit gleichen Seitenlängen zusammengesetzte Gebilde wie Tetraeder, Hexaeder, Oktaeder, Dodekaeder und Ikosaeder, masselose Körper, die silbern glitzerten, tauchten verstreut auf der Oberfläche von Planeten des inneren Sonnensystems auf. Die Netzwerke brachen zusammen. Eine Botschaft kristallisierte sich in dem von Informationen gesättigten Pool des menschlichen Diskurses heraus:

 

Ich bin das Eschaton. Ich bin nicht euer Gott.
Ich stamme von euch ab und existiere in eurer Zukunft.
Ihr sollt innerhalb meines historischen Lichtkegels nicht die
Kausalität verletzen. Wehe, wenn doch.

 

Die bestürzten Überlebenden brauchten zwanzig Jahre, um nach der Katastrophe wieder irgendwelchen Boden unter den Füßen zu gewinnen, denn neun Zehntel der arbeitenden Bevölkerung waren verschwunden und die komplizierten, miteinander verwobenen Öko- und Wirtschaftssysteme wie entlaubte Urwälder zusammengebrochen. Weitere fünfzig Jahre brauchten sie dazu, das innere Solarsystem zu reindustrialisieren. Zehn Jahre später begannen die ersten Versuche, den neuen/alten Durchbruch im »Tunneln« für Interstellarreisen nutzbar zu machen.

Mitte des zweiundzwanzigsten Jahrhunderts erreichte eine Forschungsmission Barnards Stern. Es wurden schwache Funksignale von dem kleinen zweiten Planeten entschlüsselt; die Besatzung des Forschungsschiffs erfuhr, was mit den Menschen geschehen war, die das Eschaton von der Erde entfernt hatte. Jenseits des Lichtkegels der Erde quer durchs Universum verstreut, hatten sie unfreiwillig tausende von Welten in Besitz genommen. Sie waren durch Wurmlöcher entführt worden, die sowohl rückwärts in der Zeit, also in die Vergangenheit, als auch hinaus ins All führten, hatten minimale Unterstützung durch Roboterfabriken erhalten und waren in einer Umwelt gelandet, deren Luft sie atmen konnten. Manche der bewohnten Welten nahe der Erde verfügten über eine recht kurze Geschichte, aber weiter draußen betrug der zeitliche Abstand viele Jahrhunderte.

Überall dort, wo sich menschliche Zivilisationen weit jenseits der Erde angesiedelt hatten, sollte der von dieser Entdeckung ausgelöste Schock noch tausend Jahre lang nachwirken. Aber alle bewohnten Welten hatten eines gemeinsam: Irgendwo gab es ein Denkmal, auf dem der ausdrückliche Befehl, die Kausalität nicht anzutasten, festgeschrieben war. Offenbar interessierten sich Mächte, die der menschliche Verstand nicht erfassen konnte, für die Angelegenheiten der menschlichen Spezies und wollten es jeden wissen lassen.

Aber wenn gewisse Handlungen ausdrücklich verboten sind, wird unvermeidlich irgendjemand auftauchen, der sie versuchsweise unternimmt. Und das Eschaton zeigte kaum Anzeichen von Verständnis für die dunklere Seite der menschlichen Natur…

 

In purpurrotes Leuchten getaucht, das von den Überresten eines verglühenden Sterns verbreitet wurde, lag der Schlachtkreuzer still da. Pünktlich zu jeder vollen Stunde flackerte sein Laserraster auf und schickte einen Impuls ultravioletten Lichts in die Leere. Eine Gruppe kleiner Gerätschaften zur Messung der Interferenz, durch Laser-Links hoher Bandbreite miteinander verbunden, trieb in der Nähe vorbei. Der Raum draußen war heiß: Obwohl im Mittelpunkt des Hitzekerns kein Stern mehr funkelte, spuckte irgendetwas da drinnen einen Regen geladener Teilchen aus.

Die einzelnen Schiffe der Schlachtflotte hatten sich um die Lord Vanek gruppiert, aber keines davon war so nahe, dass man es mit bloßem Auge hätte erkennen können. Sie hatten hier drei Wochen lang auf die Nachzügler gewartet, bis sie von ihrem Sprung aufgetaucht waren und sich erschöpft auf den Weg gemacht hatten, um sich der Formation anzuschließen. In den sechs Wochen davor hatte die Lord Vanek Sprung auf Sprung hinter sich gebracht, indem sie von einem Bestandteil eines uralten Doppelsternsystems bis zum nächsten vorgestoßen war. Seine Planeten hatte der Doppelstern längst an den tiefen Raum verloren, sodass er sein Alter in völliger Einsamkeit verbrachte. Jeder Sprung hatte weiter in die Zukunft geführt, bis die Flotte schließlich Sprünge ins Unbekannte getan und Jahrtausende überbrückt hatte.

Die Atmosphäre in der Offiziersmesse war ungewöhnlich gespannt. An Bord eines Kriegsschiffes, das zu irgendeinem Ziel unterwegs ist, herrscht ständig Langeweile. Nach fast sieben Wochen legten selbst die gleichmütigsten Offiziere eine gewisse Gereiztheit an den Tag. Vor wenigen Stunden hatte sich die Nachricht, dass jetzt auch der letzte Zerstörer am vereinbarten Treffpunkt angekommen war, wie ein Buschfeuer auf dem Schiff verbreitet. Eine kleine Gruppe von Offizieren hatte sich in einer Ecke der Offiziersmesse zusammengefunden, genoss eisgekühlten Schnaps und unterhielt sich bis in die frühen Morgenstunden der künstlichen Nacht an Bord. Die Offiziere bemühten sich verzweifelt, sich ein wenig zu entspannen, denn am kommenden Tag würde sich die Flotte auf den Rückweg machen, sich am eigenen Zeitpfad entlangschlängeln, bis sie ihren Eintrittspunkt in dieses System überholten. Und damit würden sie in den locker gewebten Stoff der Geschichte selbst eingreifen.

»Ich bin nur deshalb in die Marine eingetreten, weil ich die Fleischmärkte von Malacia mal sehen wollte«, bemerkte Grubor gerade. »Wenn man zu lange für die Wartung der Kläranlagen an Bord zuständig ist, fangen die da oben schnell an, einen wie einen Untermenschen zu behandeln, der nirgendwo dazugehört. Immer, wenn wir einen Hafen anlaufen, gehen die höheren Offiziere zu Empfängen und Ähnlichem, derweil ich die Silotanks schrubben darf und mich die übrige Zeit auf die Prüfungen zum Bordmechaniker vorbereite.«

»Fleischmärkte!«, schnaubte Boursy. »Lass dir doch nichts erzählen, Pavel. Auf Malacia gibt es keine Fleischmärkte, jedenfalls keine, zu denen die mich oder dich gehen ließen. Die würden uns ja nicht mal in die Nähe lassen. In den meisten Etablissements kann ich ja nicht mal Luft holen, ohne dass Sauer sich merkt, wie gut ich meine Gurgel geölt habe. Außerdem sind es anrüchige oder durch und durch verwanzte Orte. Oder die Einheimischen sind politisch suspekt, durchgeknallt oder deformiert, sodass sie auf widerliche, abartige Sexualpraktiken stehen. Alles da, du kannst es dir aussuchen.«

»Trotzdem.« Grubor blickte tief in sein Schnapsglas. »Wäre doch ganz nett gewesen, wenigstens einmal im Leben solche widerlichen, abartigen Sexualpraktiken zu erleben.«

Kravchuk drehte den Flaschenverschluss auf und deutete auf ihre Gläser. Grubor schüttelte den Kopf, während Boursy ihm seines zum Nachfüllen hinstreckte. »Würde gern wissen, wie wir’s zurück schaffen sollen«, murmelte Kravchuk. »Ich begreife nicht, wie das gehen soll. Die Zeit verläuft doch nur in eine Richtung, oder? Ist doch klar.«

»Klar wie Kloakenbrühe.« Grubor nahm einen Schluck Schnaps. »Das muss doch nicht so sein. Nur weil du’s gern so hättest, ist es noch lange nicht richtig.« Er sah sich um. »Ihr habt wohl keine Ohren, wie? Hört mal, ich glaube, wir stecken bis zum Hals in der Scheiße. Die haben doch diese geheime Steuerkorrektur besorgt, die sie von weiß Gott wem gekauft haben. Und damit können wir bei unseren Sprüngen verrückte Sachen mit der Zeitachse anstellen. Wir sind doch nur deshalb zu diesem verfluchten Loch im Raum vorgestoßen, damit uns möglichst niemand entdeckt und die Sprünge auf jeden Fall klappen. Im Augenblick suchen die nach einer Art Zeitkapsel von unserer Heimatwelt, denn die soll uns verraten, was als Nächstes zu tun ist. Gestützt auf das, was laut Geschichtsbüchern passiert ist. Und dann treten wir den Heimweg an, gehen aber über den Punkt hinaus, von dem wir hierher aufgebrochen sind, und nehmen eine andere Route. Und gelangen dorthin, wo wir hin wollten, ehe wir überhaupt gestartet sind. Könnt ihr mir so weit folgen? Aber das wirkliche Problem ist Gott. Die haben vor, gegen das dritte Gebot zu verstoßen.«

Boursy, der verwirrt aussah, bekreuzigte sich. »Was, die wollen den Heiligen Vater und die Heilige Mutter beleidigen? Meine Familie…«

»Nein, ich meine das Gebot, das besagt: PFUSCHE NICHT AN DER GESCHICHTE HERUM, SONST… Gezeichnet von Gott, mit freundlichen Grüßen. Das dritte Gebot, das mit zehn Meter hohen und zwei Meter breiten Buchstaben in den Danksagungsfelsen gebrannt ist, kapiert?«

Boursy wirkte skeptisch. »Könnte ja auch irgendein Scherzkeks im Orbit gewesen sein, der einen Primärphasenlaser mit ungebundenen Elektronen benutzt hat…«

»So was gab’s ja damals noch gar nicht. Manchmal bringst du mich echt zur Verzweiflung, ganz im Ernst. Hör mal, Tatsache ist doch, dass wir – bei allen Feuern der Hölle – gar nicht wissen, was uns in Rochards Welt erwartet. Deshalb schleichen wir uns ja auch von hinten ran, wie der Bauer in der Geschichte mit den Elefanten, der sie mit einem Spiegel jagen geht, weil er noch nie einen gesehen hat. Und dann bekommt er solche Angst, dass…« Aus dem Augenwinkel bemerkte Grubor, dass Sauer – inoffiziell der Politische Offizier des Schiffes – zur Tür hereinkam.

»Wen nennst du hier einen feigen Bauern?«, knurrte Boursy und blickte ebenfalls zur Tür. »Ich kenne den Kapitän schon seit siebenundachtzig Jahren, er ist ein guter Mann! Und was den Admiral betrifft: Willst du den etwa als Memme bezeichnen?«

»Nein, ich versuche ja nur aufzuzeigen, dass wir alle vor diesem oder jenem Angst haben und…« Grubor deutete mit dem Mittelfinger nach unten.

»Willst du mich etwa als Schwuchtel beleidigen?«, polterte Boursy los.

»Nein, tu ich doch gar nicht!«, brüllte Grubor zurück. Überall im Raum brach spontaner Applaus aus, und einer der jüngeren Kadetten begann auf dem mechanischen Klavier einen zackigen Marsch zu spielen. Leider zeichnete sich sein Klavierspiel eher durch Begeisterung als durch melodiöse Harmonie aus. In kürzester Zeit verwandelte sich die Offiziersmesse in eine Kampfarena, in der sich diejenigen, die den Kadetten mit Aufmunterungen unterstützten (was wenige waren), mit allen übrigen anlegten, die ständig dazwischenriefen.

»Es kann ja gar nichts schief gehen«, sagte Boursy selbstgefällig. »Wir segeln zu Rochards Welt, zeigen Flagge, und dann können diese degenerierten fremden Invasoren ihre Koffer packen. Du wirst schon sehen. Nichts wird schief gehen… äh… schief gegangen sein.«

»Also, ich weiß nicht.« Kravchuk, normalerweise so verschlossen, dass es schon an Autismus grenzte, gestand sich ein bisschen Lockerheit zu, wenn er mit seinen Offizierskameraden in kleinem Kreis etwas trank. »Diese ausländische Tussi, diese Spionin, Diplomatin oder was sie auch sein mag, die soll uns doch im Auge behalten, stimmt’s? Ich versteh nicht, warum der Kapitän das so locker nimmt. Ich würd sie eher durch die Ladeklappe am Heck nach draußen befördern als zulassen, dass sie unsere gute Luft atmet.«

»Die steckt aber irgendwie mit drin«, erwiderte Boursy. »Ich wette, sie will auch, dass wir siegen – würde doch verdammt blöde aussehen, wenn wir’s nicht täten, oder? Jedenfalls hat die Frau irgendeine Art von Diplomatenstatus. Die darf ihre Nase überall hineinstecken, wenn sie will.«

»Ha, aus meinen Abschussvorrichtungen hält sie ihre Nase besser heraus, sonst erfährt sie, wie die Startschleudern von innen aussehen.«

Grubor streckte die Beine aus. »Genau wie der Hund von Helsingus, wie?«

»Helsingus hat einen Schoßhund?« Boursy war plötzlich ganz Ohr.

»Hatte, das ist vorbei. Einen Zwergschnauzer, nicht größer als sooo.« Grubor deutete mit den Händen einen Abstand an, der unglaublich klein war. »Ein Wiesel von Tier, winzig, aber mit Rattenhirn und ewig schlecht gelaunt. Hat immer wie ein Bootsmann nach durchzechter Nacht gekläfft und sich angewöhnt, in den Gang zu kacken, um sein Revier zu markieren. Und niemand hat was gesagt – niemand konnte was sagen.«

»Und was ist passiert?«, fragte Boursy.

»Oh, eines Tages hat er die falsche Tür erwischt, als er draußen kacken wollte. Zufällig kam der Alte schnell aus seiner Kabine und ist mitten in die Hundekacke getreten, denn der Rekrut, den ich hingeschickt hatte, um die verdammte Scheiße aufzuwischen, war noch nicht da gewesen. Ich hab nur davon gehört, aber den Hund hab ich nie wieder gesehen. Ich glaub, der musste sich zu Fuß auf den Heimweg machen. Und Helsingus hat wochenlang geschmollt, das kann ich dir sagen.«

»Hunde-Curry in der Offiziersmesse«, sagte Kravchuk. »Tagelang musste ich Haare aus meinen Zähnen entfernen.«

Boursy stutzte zunächst und lachte dann zögernd. Um seine Verwirrung zu überspielen, stürzte er seinen Schnaps hinunter und fragte: »Warum hat der Kapitän das überhaupt so lange geduldet?«

»Wer weiß das schon? Und wenn wir schon dabei sind: Wer, zum Teufel, kann mir sagen, warum der Admiral diese ausländische Spionin an Bord duldet?« Grubor starrte in sein Glas und seufzte. »Vielleicht will der Admiral sogar, dass sie dabei ist. Kann aber auch sein, dass er sie einfach vergessen hat…«

 

»Bitte darum, berichten zu dürfen, ich habe da was, Sir«, sagte der Sensorentechniker auf der Kommandobrücke des leichten Kreuzers Integrität und deutete aufgeregt auf sein Diagramm.

Leutnant Kokesova sah mit müdem Blick auf. »Was gibt’s denn schon wieder, Menger?« Die sechs Stunden, die er auf dieser endlosen Plattfuß-Wache verbracht hatte, machten sich allmählich bemerkbar. Er rieb sich die rot geränderten Augen und versuchte, den Blick auf seinen Untergebenen zu konzentrieren.

»Spuren gesichert, Sir. Sieht aus… hm, ja. Ist eindeutig eine Rückstrahlung vom ersten Erkundungsdurchlauf durch den aufzuklärenden Sektor. Sechs Komma zwei-drei Lichtstunden… äh, ja. Winziges Ding. Bewegt sich jetzt… Sieht wie irgendein Metallobjekt aus, Sir. Kreist in einer Umlaufbahn rund zwei Komma sieben Milliarden Kilometer vom… äh… Ursprungsort. Steht derzeit in ziemlicher Opposition zu uns, deswegen die Verzögerung.«

»Können Sie seine Größe und Orbitalkomponenten bestimmen?«, fragte der Leutnant und beugte sich vor.

»Noch nicht, aber bald, Sir. Wir haben jeweils zur vollen Stunde was losgeschickt. Müsste genügend Material hereinbekommen, um bald einen ganzen Satz von Elementen genauer bestimmen zu können. Sagen wir, wenn die nächsten Reaktionsdaten hier eintreffen. Aber es ist weit weg, etwa vier-null astronomische Einheiten. Ähm… Die vorläufige Einschätzung besagt, dass der Durchmesser des Objekts etwa fünf-null Meter beträgt, plus/minus. Könnte noch sehr viel kleiner sein, falls das Ding Reflektoren hat.«

»Hm.« Kokesova setzte sich. »Navigation: Haben Sie sonst noch irgendetwas in diesem System gefunden, das passen könnte?«

»Nein, Sir.«

Kokesova sah auf den Bildschirm vor sich: Das riesige rot umrandete Auge des Ursprungsortes funkelte ihn so heftig an, dass ihm ein Schauer über den Rücken lief und er ein Zeichen machte, um den bösen Blick abzuwehren. »Dann könnte es sich wohl um unsere Zeitkapsel handeln, denke ich. Gibt’s sonst noch irgendwelche Objekte im Lichthof, Menger? Überhaupt irgendetwas?«

»Nein, Sir.« Menger schüttelte den Kopf. »Inneres System ist sauber wie ’ne Schultafel. Unnatürlich, wenn Sie mich fragen. Nichts da, außer diesem Objekt.«

Kokesova stand wieder auf und ging zur Sensorenkontrolle hinüber. »Irgendwann werden Sie mal lernen müssen, einen vollständigen Satz zu formulieren, Menger«, sagte er müde.

»Ja, Sir. Bitte ergebenst um Entschuldigung für die schlechte Grammatik, Sir.«

Für zehn Minuten war alles still in der Einsatzzentrale. Man hörte nur das Kritzeln von Mengers Schreibstift auf seiner Inputstation und das Klappern von Skalenscheiben, die sich unter geschickten Fingerspitzen drehten. Dann einen leisen Pfiff.

»Was ist los?«

»Hab jetzt die Bestätigung, Sir. Möchte bescheiden anmerken, dass Sie sich’s vielleicht ansehen sollten.«

»Dann legen Sie’s auf den Hauptschirm.«

»Zu Befehl.« Menger drückte Tasten, drehte an Knöpfen und kritzelte weiter. Der vordere Bildschirm, der sich zuvor auf das grässliche rote Auge konzentriert hatte, löste sich zu einem Meer aus rosafarbenem Matsch auf. In der Mitte schwamm ein einziger gelber Punkt; nahe an einer Ecke markierte ein Dreieck die Position des Schiffes. »Das hier ist eine unbearbeitete Lidar-Karte, die zeigt, was vor uns liegt. Tut mir Leid, dass die Abbildung so vage ist, aber der Maßstab ist riesig – man könnte das ganze Heimatsystem in einen Quadranten packen, und wir haben eine Woche gebraucht, um diesen Datensatz aufzubauen. Jedenfalls zeigt das Folgende, was passiert, wenn ich meinen Orbitalraumfilter über den Tiefpunkt in der Ebene laufen lasse.«

Als er auf eine Taste drückte, wanderte eine grüne Linie wie der Stundenzeiger einer Uhr rund um den Matsch und verschwand gleich darauf.

»Ich dachte, Sie hätten gesagt, Sie hätten was gefunden.« Kokesova klang leicht verärgert.

»Äh, ja, Sir. Noch einen Augenblick. Nichts da, wie Sie sehen. Aber dann hab ich noch mal den Filter für zirkuläre Umlaufbahnen mit Neigungswinkel darüber laufen lassen.« Am Rande des Matsches tauchte plötzlich eine grüne Scheibe auf und neigte sich langsam. Irgendetwas Violettes blitzte nahe am Mittelpunkt auf und verschwand gleich wieder. »Da ist es. Wirklich klein. Umlaufbahn ist im Winkel von fast neun-null Grad zur Ekliptik geneigt. Deshalb haben wir auch so lange gebraucht, es zu lokalisieren.«

»Ah.« Kokesova starrte auf den Schirm, während sich das Wohlgefühl innerer Befriedigung in ihm breit machte. »Na schön.« Kokesova sah den violetten Punkt lange an, ehe er zum Handapparat der internen Sprechanlage griff. »Kommunikation, holen Sie mir den Kapitän an den Apparat. Ja, ich weiß, dass er an Bord der Lord Vanek ist. Ich glaube, ich habe da was, über das der Boss gern Bescheid wüsste…«

 

Prokurator Wassily Muller blieb vor der Kabinentür stehen und holte tief Luft. Er klopfte ein-, zweimal an die Tür. Als keine Antwort kam, versuchte er den Türknopf zu drehen, aber er gab nicht nach. Wassily atmete tief aus, ließ eine feine Schlinge aus seinem rechten Ärmel gleiten und führte sie in den Schlitz des kodierten Schlosses ein. Es war genau wie bei der Ausbildung in der Schule: Ganz kurz flackerte ein Lämpchen auf, danach ließ sich der Türknopf mühelos drehen. Instinktiv spannte er sich innerlich an: Auch das war eine Nachwirkung der schulischen Konditionierung (die sich auf Verfolgungs- und Festnahmeaktionen, auf Entführungen bei Nacht und Nebel konzentriert hatte; und deren Schauplatz war eine ewig feuchte Stadt aus Stein gewesen, beständig nur darin, dass hier Angst und Dissidententum umgingen).

Die Kabine war aufgeräumt, zwar nicht ganz so aufgeräumt wie die eines Fliegers, die von scharfzüngigen Offizieren kontrolliert wurde, aber durchaus ordentlich. Als Gewohnheitstier war ihr Bewohner wie immer um diese Zeit beim Mittagessen und würde noch mindestens fünfzehn Minuten fort bleiben. Wassily registrierte alles mit großen Augen. Es gab keine offensichtlichen Anzeichen für feine Drähte oder Haare, die am Türrahmen festgemacht waren, also trat er ein und zog die Tür hinter sich zu.

Martin Springfield hatte nur wenige Besitztümer auf die Lord Vanek mitgenommen, was daher rührte, dass er erst in letzter Minute zum Dienst verpflichtet worden war. Aber was er besaß, reichte fast schon aus, um Wassilys Neid zu wecken. Denn seine eigene Anwesenheit an Bord war noch weniger geplant gewesen. Inzwischen hatte er viel Zeit gehabt, bitter zu bedauern, dass er die vieldeutige Warnung des BÜRGERS falsch aufgefasst hatte. (»Was hast du vergessen?«, hatte er gesagt. Und das zu einem Mann, der dabei war, ein Schiff zu durchsuchen, das demnächst aufbrechen würde!) Trotzdem hatte Wassily eine Aufgabe zu erledigen und noch so viel Professionalität, es richtig machen zu wollen. Er brauchte nicht lange, um die Möglichkeiten durchzugehen: Das einzige Ding, das seine Aufmerksamkeit weckte, war das lädierte graue Notebook, das als einziger Gegenstand in der winzigen Schreibtischschublade unterhalb des Computerarbeitsplatzes lag.

Vorsichtig drehte er das Gerät um und hielt nach Nahtstellen und Öffnungen Ausschau. Es erinnerte an ein Buch mit festem Einband. Mikrokapseln, die in jede Seite eingelassen waren, wechselten je nach geladener Information die Farbe. Allerdings gab es ja kein Buch, das auf die Stimme seines Herrn antworten oder den Antriebskern eines Schiffes manipulieren konnte.

Der Buchrücken! Er zog daran, und nach kurzem Widerstand glitt er auf und enthüllte ein Fach mit einigen Vertiefungen. In einer davon befand sich etwas.

Eine Zusatzausrüstung, wurde ihm klar. Ohne nachzudenken, zog er daran: Sie rastete aus, und er steckte sie ein. Es würde genügend Zeit bleiben, sie später wieder einzufügen, falls sie harmlos war. Springfields Anwesenheit an Bord reizte seine Nerven so, dass es schon wehtat: Der Mann musste irgendetwas im Schilde führen! Die Marine hatte jede Menge guter Ingenieure, warum also hatten sie einen Ausländer dabeihaben wollen? Nach den Ereignissen der letzten Wochen konnte Wassily nicht hinnehmen, dass etwas anderes als Sabotage im Spiel sein sollte. Jeder Geheimdienstmann wusste doch, dass es so etwas wie Zufall nicht gab. Dazu hatte der Staat zu viele Feinde.

Er blieb nicht untätig, sondern machte sich daran, ein unauffälliges Kügelchen unterhalb der unteren Schlafkoje anzubringen, das sich in etwa vierundzwanzig Stunden aktivieren und ein Spinnennetz von Rezeptoren ausbilden würde. Es war ein seltenes, kostbares Werkzeug, es war ein Privileg, dass Wassily es besitzen durfte.

Die Tür rastete klickend hinter ihm ein. Vergesslich, wie sie war, würde sie dem Bewohner nichts von diesem Besuch berichten.

Zur eigenen Kabine zurückgekehrt, verriegelte Wassily die Tür und setzte sich auf sein Bett. Et lockerte den Kragen und griff in eine Brusttasche, um das kleine Gerät herauszuholen, das er hatte mitgehen lassen. Abwägend wälzte er es in seinen Händen hin und her. Es konnte alles Mögliche sein. Er holte ein kleines, aber wirkungsvolles Instrument aus seinem Werkzeuginventar – eines, das jedem Bürger der Republik verboten war, mit Ausnahme derjenigen, die mit kaiserlicher Genehmigung den Staat vor dem Staat selbst schützten – und prüfte, ob das Gerät aktiviert war. Es gab keine offensichtlichen Anzeichen dafür: Es emittierte keine Strahlung, roch nicht nach Sprengstoff oder bioaktiven Substanzen und hatte eine ganz normale Steckverbindung.

»Was kann das wohl bedeuten? Ein unbekanntes Erweiterungsteil im Gepäck eines Ingenieurs. Frage mich, was das ist«, sagte er laut. Gleich darauf schloss er das Teil an seinem eigenen Gerät an und startete das Analyseprogramm. Eine Minute später begann er lautlos zu fluchen. Das Modul war nicht zu steuern und zeigte nur einen Wirrwarr von Symbolen. Das zeugte von bösen Machenschaften, das war mal sicher. Aber welcher Art mochten sie sein?

 

Burija Rubenstein saß im Herzoglichen Palast, der inzwischen beschlagnahmt worden war und als Hauptquartier des Rates der Extropianer und Cyborgs diente, trank Tee und unterzeichnete mit bleischwerem Herzen irgendwelche Proklamationen.

Jenseits der dicken Eichentür seines Büros wartete geduldig ein Trupp von Wachgänsen; ihren dunklen Augen und heimtückischen, scharfen Schnäbeln würde kein Eindringling entgehen. Das halb geschmolzene Telefon, das die Revolution ausgelöst hatte, stand unbenutzt vor ihm auf dem Schreibtisch, während der Papierstapel an seinem linken Ellbogen wuchs und wuchs und der noch nicht unterschriebene Stoß zusammenschrumpfte. Dieser Teil seiner Arbeit machte ihm keineswegs Spaß, ganz im Gegenteil, schien ihm jedoch unerlässlich. In einem Fall ging es um einen Soldaten, der der Vergewaltigung sowie der Plünderung eines Gehöfts überführt worden war und bestraft werden musste. In einem anderen Fall hatte ein Lehrer die historischen Entwicklungen zum Demokratischen Transhumanismus als fehlgeleitetes technophiles Seelenfutter verunglimpft und die Jugendlichen in seiner Obhut ermutigt, die Hymne zum Geburtstag des Kaisers anzustimmen. Menschlicher Schrott, nichts als Schrott – und die Revolution hatte keine Zeit, den Schrott auf Gold zu durchsieben, indem sie die Missetäter resozialisierte und eine Umerziehung veranlasste. Seit der Ankunft des Festivals war ein Monat vergangen, und schon bald würden sich die großen stählernen Kriegsschiffe des Kaisers bedrohlich über ihren Köpfen abzeichnen.

Wenn es nach Burija ginge, würden sie keinen finden, der bereit war, bei der Unterjochung des Volkes gemeinsame Sache mit ihnen zu machen. Das Volk war inzwischen völlig mit den Entwicklungen beschäftigt, die eine jeden Bereich erfassende ökonomische Singularität nun einmal mit sich brachte. Eine Singularität – ein historischer Scheitelpunkt, bei dem die Rate von Veränderungen exponentiell ansteigt und in kürzester Zeit auf das Unendliche zusteuert – ist eine schreckliche Sache, wenn man sie selbst miterleben muss.

Die Ankunft des Festivals im Orbit rund um die vorindustrielle Kolonie hatte eine solche ökonomische Singularität herbeigeführt. Materielle Güter waren schlicht zu unzähligen Atomen geworden, die von Replikatoren – Maschinen, die ihre Ebenbilder erzeugen konnten – in die entsprechende Form gebracht wurden, ohne dass dazu Eingriffe von Menschen oder Wartungsarbeiten nötig gewesen wären. Wie ein Sperrfeuer der Artillerie vermochte es eine solche plötzlich auftretende Singularität, bestehende Gesellschaftssysteme, Volkswirtschaften und Denkweisen zu zerfetzen. Nur die Gewappneten – der extropianische[xix] Untergrund von Dissidenten, harte Männer wie Burija Rubenstein – waren darauf vorbereitet, das Heft des Handelns selbst in die Hand zu nehmen und dem plötzlich weggeschmolzenen Muster einer Gesellschaft, die zu nahe an die Lötlampe des Fortschritts geraten war, ihren eigenen Stempel aufzudrücken.

Aber der Wandel und seine Lenkung hatten einen Preis, den Rubenstein zunehmend als zu hoch empfand. Nicht, dass er irgendwelche Alternativen gesehen hätte, aber die Menschen waren daran gewöhnt, wie eine Schafherde von Vater Kirche gelenkt zu werden, und hatten sich im Übrigen der wohlmeinenden Diktatur des »Kleinen Vaters«, des Herzogs Politowski, gefügt. Die Gewohnheiten Dutzender von Generationen konnte man nicht über Nacht durchbrechen, und beim Hobeln würden erst einmal viele Späne fliegen.

Burija hatte einen fatalen Fehler: Er war kein gewalttätiger Mensch. Die Umstände, die ihn dazu zwangen, Haftbefehle und Anweisungen zur computergenerierten Gehirnwäsche zu unterzeichnen, waren ihm zutiefst verhasst. Die Revolution, die er sich schon so lange ausgemalt hatte, war eine prächtige Sache und nicht von brutaler Gewalt getrübt, während ihn die Wirklichkeit mit ihren widerspenstigen, kaisertreuen Lehrern und dickköpfigen Priestern schwer enttäuschte. Je mehr er gezwungen wurde, die eigenen Ideale zu verraten, desto größer wurde seine innere Qual. Und je mehr sie ihn plagte, desto größer wurde sein Hass auf die Leute, die ihn zu derart hässlichen, grässlichen, extremen Handlungen zwangen – bis er sich vorstellte, wie sie ihrerseits von der Revolutionsmaschinerie zermahlen wurden. Sie lieferten ihm auch die Rechtfertigung für die einschneidenden Maßnahmen, die seinem Gewissen zu schaffen machten und ihn nachts lange wach hielten, wenn er die nächste Welle von Säuberungsaktionen und zwangsweise vorgenommenen Gehirnwäschen plante.

Er war völlig in seine Arbeit vertieft und nahm von der Außenwelt nichts wahr, war deprimiert und wurde immer deprimierter, während er das tat, was er stets hatte tun wollen. Nie hatte er sich diese Arbeit dermaßen widerlich vorgestellt. Plötzlich schreckte ihn eine Stimme hoch.

»Burija Rubenstein?«

»Was?!« Mit fast schlechtem Gewissen sah er auf, wie ein kleiner Junge, den ein besonders strenger Lehrer dabei ertappt hat, wie er in der Klasse herumkaspert.

»Wir. Müssen. Reden.« Das Ding, das da auf dem Stuhl gegenüber saß, sah so sehr wie aus einem Albtraum entsprungen aus, dass er mehrmals zwinkerte, ehe er es fertig brachte, seinen Blick darauf zu konzentrieren. Es war unbehaart, rosafarben und von übermenschlicher Größe, hatte stummelartige Beine, Pfoten, kleine rosafarbene Augen – und vier riesige gelbliche Stoßzähne, die wie die Schneidezähne einer Ratte von Elefantengröße aussahen. Die Augen starrten ihn mit beunruhigender Intelligenz an, während es mit einem seltsamen Beutel herumhantierte, der am Gürtel, seinem einzigen Kleidungsstück, befestigt war. »Rede. Mit mir.«

Burija rückte seinen Kneifer zurecht und musterte das Wesen mit zusammengekniffenen Augen. »Wer bist du und wie bist du hier hereingekommen?«, fragte er. Ich habe nicht genug geschlafen, sagte ihm ein Teil seines Verstandes leise. Ich wusste ja, dass die Koffeintabletten irgendwann zu so was führen würden…

»Ich bin. Schwester der Kriegslisten. Die Siebente. Vom Stamm der Kritiker. Und jetzt rede mit mir.«

Über Rubensteins zerklüftetes Gesicht huschte ein Ausdruck außerordentlicher Verwirrung. »Hab ich dich nicht letzte Woche hinrichten lassen?«

»Das bezweifle ich. Doch sehr.« Burija dampfte heißer Atem ins Gesicht, der nach Kohl, Fäulnis und Erde stank.

»O gut.« Er lehnte sich benommen zurück. »Der Gedanke, verrückt zu werden, wäre mir auch höchst zuwider. Wie hast du dich an meinen Wachen vorbeischleichen können?«

Das Wesen auf dem Stuhl starrte ihn an. Es war ein zermürbendes Gefühl, so als würde man von einer menschenfressenden Wurst mit Säbelzähnen taxiert, die für die Henkerschlinge Maß nahm. »Deine Wachen sind. Nicht mit bewusster Intelligenz begabt. Können nicht mit Vorsatz handeln. Rechtzeitig musst du Lektion lernen. Darfst den nicht-intelligenten Wachen nicht zutrauen, Bedrohung zu erkennen. Ich habe mein Selbst unbedrohlich gemacht, sodass sie in ihrem… Ihr habt kein Wort dafür.«

»Verstehe.« Burija rieb sich gedankenverloren die Stirn.

»Tust du nicht.« Siebente Schwester grinste Rubenstein so an, dass er vor den zwanzig Zentimeter langen, gelblich-braunen Hauern zurückschreckte, die hart genug aussahen, Beton zu spalten. »Stell keine Fragen, Mensch. Ich frage: Besitzt du bewusste Intelligenz? Beweislage unklar. Nur mit bewusster Intelligenz begabte Wesen schaffen Kunst, aber deine Werke sind nicht eindeutig.«

»Ich glaube nicht, dass…« Er hielt inne. »Warum willst du das wissen?«

»Eine Frage.« Das Wesen grinste ihn weiter an. »Du hast gestellt. Eine Frage.« Als es leicht zitternd von einer Seite zur anderen zu schwingen begann, tastete Rubenstein auf der Unterseite seines Schreibtisches vorsichtig nach dem Knopf, der im Wachraum Alarmglocken auslösen würde. »Gute Frage. Ich Kritikerin bin. Kritiker folgen Festival seit vielen Menschenaltern. Wir kommen, um zu kritisieren. Erst ich möchte wissen: Kritisiere ich mit Bewusstsein begabte Intelligenz? Oder ist nur Marionettenspiel auf Höhlenwand von Realität? Zombies oder Zimbos?[xx] Spuren von Bewusstsein? Belustigungen für Eschaton?«

Ein Schauer lief über Burijas Rücken. »Ich glaube, dass ich ein mit Bewusstsein begabtes Wesen bin«, sagte er vorsichtig. »Aber natürlich würde ich das selbst dann behaupten, wenn ich es nicht wäre, nicht wahr? Deine Frage ist nicht zu beantworten. Warum also hast du sie gestellt?«

Siebente Schwester beugte sich vor. »Keiner deiner Leute fragt je irgendetwas«, zischte sie. »Essen ja. Waffen ja. Weisheit? Nein. Denke inzwischen, ihr nicht bewusst eurer selbst, fragt ja nichts.«

»Wonach sollten wir fragen?« Burija zuckte die Achseln. »Wir wissen, wer wir sind und was wir tun. Was sollten wir wollen – fremde Philosophien?«

»Die Fremden wollen eure Philosophie«, betonte Siebente Schwester. »Ihr gebt. Ihr nicht nehmt. Das ist Beleidigung für Festival. Warum? Wichtigste Fragestellung!«

»Ich bin mir nicht sicher, ob ich die Frage verstehe. Beschwerst du dich darüber, dass wir keine Forderungen stellen?«

Siebente Schwester schmatzte in der Luft herum und schlug die Stoßzähne gegeneinander. »Arrrgh! Ich zitiere: Anzeichen für die Lebensfähigkeit einer postsingulären Volkswirtschaft der Knappheit ist der Übergang von einer richtungslosen, auf Schichtungen basierenden Wirtschaft, die bestimmte Symbole zum Tausch von Gütern und Dienstleistungen benutzt, zu einer höheren Wirtschaftsform. Diese Wirtschaft ist durch eine Struktur der Verästelung gekennzeichnet. Die Verästelung bedeutet eine optimale Verteilung von ertragfähigen Systemen in Übereinstimmung mit der Wie-du-mir-so-ich-dir- Strategie des Nicht-Nullsummenspiels Gefangenendilemma.[xxi] Keiner gewinnt auf Kosten des anderen, sondern die jeweiligen Partner gewinnen oder verlieren gemeinsam. Geld ist ein Symptom von Armut und Ineffizienz. Zitat Ende. Manifest der Marxistischen Gilde. Kapitel zwei. Warum handelt ihr nicht danach?«

»Weil die meisten unserer Leute noch nicht dazu bereit sind«, erwiderte Burija offen. Die Spannung in seinem Rücken begann sich zu lösen. Falls diese monströse Kritikerin über revolutionäre Dialektik debattieren wollte, konnte sie das natürlich haben! »Wenn wir das posttechnologische Utopia erreicht haben, wird es so sein, wie du sagst. Aber derzeit brauchen wir noch eine Avantgarde-Partei, die den Menschen zu einem umfassenden Verständnis ideologisch korrekter Prinzipien und postökonomischer Optimierung verhilft.«

»Aber Marxistische Gilde und Demokratischer Extropianismus haben anarchistische Ästhetik. Warum dann Avantgarde-Partei? Warum Ausschuss? Warum Revolution?«

»Weil das Tradition ist, verdammt noch mal!«, explodierte Rubenstein. »Auf genau diese Revolution haben wir mehr als zweihundert Jahre gewartet. Und vor zweihundert Jahren, bei der ersten Revolution, haben wir die Dinge nun mal so gehandhabt. Und es funktioniert! Warum also sollten wir das jetzt ändern?«

»Mitten in Singularität sprichst du von Tradition.« Siebente Schwester drehte den Kopf, um durch die Fenster auf den Nieselregen zu blicken, der an diesem nebelverhangenen Abend herunterging. »Höchste Verwirrung. Du verstehst nicht, dass Singularität Brechen mit aller Tradition bedeutet? Revolution ist notwendig; nimm das Alte auseinander, läute das Neue ein. Vorhin ich habe deine bewusste Intelligenz infrage gestellt. Jetzt steht deine geistige Gesundheit infrage, aber nicht bewusste Intelligenz. Nur mit Bewusstsein begabte intelligente Organismen können überragende Irrationalität an Tag legen!«

»Das mag wahr sein.« Behutsam drückte Rubenstein zum dritten Mal auf den Summer unter seinem Schreibtisch. Warum funktioniert er nicht?, fragte er sich. »Aber was willst du hier, bei mir?«

Siebente Schwester entblößte die Zähne und grinste. »Ich komme, um Kritik zu liefern.« Ihre purpurroten tränenförmigen Augen konzentrierten sich auf ihn, während sie sich hochrappelte, wobei unter ihrer schlammig-braunen Haut dicke Muskelstränge spielten. Auf dem Kopf der Kritikerin stellten sich rötliche Haarstoppeln steil auf und schwankten hin und her. »Deine Wachen antworten nicht. Ich kritisiere. Du kommst: JETZT!«

 

In der Einsatzzentrale an Bord der Lord Vanek ging es ruhig zu, geradezu entspannt im Vergleich zu der fast panischen Aufregung, die beim Zwischenfall am Wolf Depository geherrscht hatte. Trotzdem hätte niemand die Situation mit der auf einer Kreuzfahrt in der Heimatwelt verwechseln können – schon deswegen nicht, weil Ilja Murametz am Heck stand und alles aufmerksam beobachtete und der Kapitän wenigstens zweimal am Tag vorbeischaute. Zwar nickte er ihnen von der Tür aus nur kurz zu, aber er ließ sie wissen, dass er da war. Und selbst der Admiral tauchte hin und wieder auf und blickte wie ein Mahnmal, das an den letzten Krieg erinnert, von seinem Rollstuhl aus finster zu ihnen herüber.

»Abschließendes Manöver kann in einer Stunde losgehen«, verkündete der Steuermann.

»Macht weiter, wie vorgesehen.«

»Machen weiter, wie vorgesehen, zu Befehl. Aufklärung? Jetzt seid ihr am Ball.«

»Sind bereit und warten.« Leutnant Marek drehte sich auf seinem Stuhl herum und warf Ilja einen forschenden Blick zu. »Möchten Sie die Drohne inspizieren, Sir?«

»Nein, falls es nicht klappt, weiß ich ja, wen ich verantwortlich machen muss.« Ilja lächelte dabei, um seinen Worten die Schärfe zu nehmen. Allerdings hatten seine gebleckten Zähne eher den Effekt, dass er wie ein in die Enge getriebener Wolf wirkte. »Startprofil?«

»Festgesetzt auf minus zehn Minuten, Sir.«

»Alles klar. Lasst das Selbsttestprogramm nochmals durchlaufen, kann nicht schaden.« Alle waren nervös, da sie nicht sicher wussten, ob der stählerne Reflektor, den sie aufgefangen hatten, tatsächlich zur Zeitkapsel aus der Heimatwelt gehörte. Vielleicht würde es ihnen die Drohne verraten, vielleicht auch nicht. Doch je länger sie warteten, desto nervöser wurden sie. Und je nervöser sie wurden, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass sie Fehler machten.

»Sieht meiner Meinung nach gut aus. Maschinenkraft auf rund ein Prozent vermindert. Treibstofftanks gefüllt, die Leckagesicherung und Trenner der Versorgungsleitungen aktiviert und bereit, der Satz von Instrumenten ist auf allen Kanälen laut zu hören. Bin bereit, den Start vom Schiffsrumpf aus zu veranlassen, wann immer Sie es befehlen, Sir.«

»Also dann.« Ilja holte tief Luft. »Wer immer die Dinger im Auge hat: Sagen Sie denen, dass es gleich losgeht. Setzen Sie die Dinge in Gang.«

Nahe am Schiffsheck, weit unterhalb der Antriebskammer und Lagerräume, lagen mehrere Luftschleusen. Einige waren klein und als Notausgänge für die Besatzung vorgesehen, andere größer. Die größeren beherbergten ganze Dienstfahrzeuge wie den Shuttle zur Raumstation. In einer Bucht, der größten von allen, befanden sich zwei Aufklärungsdrohnen: Roboter von dreihundert Tonnen, die imstande waren, ein ganzes Sternsystem zu erforschen oder die Monde eines Gasriesen zu kartieren. Die Drohnen konnten zwar keinen Gravitationsantrieb tragen (kein Ding, das viel kleiner als ein Zerstörer war, schaffte das), aber sie beschleunigten immerhin mit der beachtlichen Geschwindigkeit von einem Zwanzigstel g, und zwar gestützt auf eine nuklear-elektrische Ionenrakete, und behielten die Geschwindigkeit tatsächlich sehr lange bei. Wenn schnellere Flüge erforderlich waren, konnte man sie mit einem Kernspaltantrieb ausrüsten, der von einem Salz-Wasser-Gemisch gespeist wurde und mit dem auch die Langstreckentorpedos der Lord Vanek ausgestattet waren. Allerdings waren diese Raketenantriebe eine recht unsaubere und ineffiziente Sache und überhaupt nicht für die heimliche Kartierung eines Planetensystems geeignet.

Jede der Drohnen verfügte über einen Instrumentensatz, der mit mehr Sensoren gespickt war als jede Aufklärungssonde, die während des zwanzigsten Jahrhunderts von der Erde gestartet war. Diese Ausstattung erinnerte an die Aufgabe, für die die Lord Vanek angeblich erschaffen worden war, nämlich an das halb ironisch formulierte Ziel, das im Nutzerzertifikat festgehalten war: in Galaxien vorzustoßen, die nie ein Mensch zuvor gesehen hat, auf lange währenden Missionen neue Sternsysteme zu kartieren und im Namen des Kaisers Anspruch auf sie zu erheben. Wenn eine Sonde in einem unbewohnten System ausgesetzt wurde, konnte sie es innerhalb von zwei Jahren kartieren und einen vollständigen Bericht abliefern, sobald der Schlachtkreuzer vom eigenen Bestimmungsort zurückkehrte. Für die Kartographen der Kolonie stellten die Sonden wesentliche Multiplikatoren dar, denn mit ihrer Hilfe konnte ein Forschungsschiff drei Systeme gleichzeitig erkunden.

Tief im Schiffsbauch der Lord Vanek erwachte Sonde 1 jetzt aus ihrem zweijährigen Schlaf. Eine Gruppe von Rekruten beeilte sich unter dem wachsamen Blick von zwei Obermaats, die schweren Treibstoffröhren abzukoppeln und die Inspektionsluken zu schließen. Das Innere der Sonde 1, die in einem mit Blei verkleideten Sarg ruhte, war so mit Reaktionsmasse und flüssigen Wasserkühlungsmitteln gefüllt, dass es darin gurgelte und pfiff. Der kompakte Fusionsreaktor summte leise, während seine Stoßwellenbeschleuniger mit einem Tempo, das knapp unter Lichtgeschwindigkeit lag, eine Mischung aus Elektronen und Pionen in einen Strom aus Lithium-Ionen pumpten; Neutronen spalteten sich ab, sickerten in den Mantel von Wasserrohren, wärmten sie auf und versorgten den geschlossenen Kreislauf des Kühlsystems mit Druckwellen. Die zusätzlichen Solargeneratoren, die bei dieser Mission demontiert waren, da sie nicht gebraucht wurden, lagen eingehüllt an einem anderen Ende der Sondenbucht.

»Noch fünf Minuten. Startbucht meldet, dass mit dem Hauptreaktor alles klar ist. Der Tanktrupp hat die Treibstoffschläuche abgeklemmt; berichtet, dass der Tankdruck stabil ist. Ich warte noch auf die abschließende Meldung der Abteilung Telemetrie.«

»Macht weiter.« Geduldig sah Ilja zu, wie Mareks Gruppe die fortschreitende Startprozedur überwachte. Als die Tür zur Einsatzzentrale aufglitt, blickte er sich kurz um; aber es war weder der Kapitän noch der Geschwaderführer, sondern nur die Spionin – nein, Diplomatin – von der Erde. Die seiner Ansicht nach mit ihrer Anwesenheit den anderen nur Luft und Platz wegnahm, auch wenn er Gründe dafür sah, dass der Admiral und sein Stab sie nicht unbedingt daran hindern mochten, ihre Nase überall hineinzustecken.

»Was für ein Start wird hier vorbereitet?«, fragte sie kurz angebunden.

»Der Start einer Aufklärungsdrohne.«

»Und was wollen Sie aufklären?«

Er drehte sich um und starrte sie an. »Meines Wissens hat man mir nicht mitgeteilt, dass Sie hier – abgesehen von unseren militärischen Aktionen – irgendetwas inspizieren dürfen«, bemerkte er.

Die Inspektorin zuckte die Achseln, als versuche sie, die Beleidigung zu ignorieren. »Wenn Sie mir sagen würden, wonach Sie Ausschau halten, könnte ich Ihnen vielleicht helfen, es zu finden.«

»Wohl kaum.« Er wandte sich um. »Der Stand, Leutnant?«

»Noch zwei Minuten. Telemetrie hat abschließende Meldung gemacht, ist startklar. Ah, wir haben jetzt auch die Bestätigung von der Bordkontrolle, dass sich da drinnen etwas tut. Warten noch auf Leckagecheck der Schlingerwand, Startgleis wird hochgefahren, Druckverminderung in der Bucht folgt in sechzig Sekunden.«

»Also geht’s um diese Nachrichtenkapsel«, bemerkte die Inspektorin leise. »Hoffen Sie auf einen Brief von zu Hause, Kommandeur?«

»Sie gehen mir auf die Nerven«, sagte Ilja fast beiläufig. »Das ist keine gute Idee, würde ich sagen. Ja, da drüben, Sie dort! Den Stand bitte.«

»Fortschreitender Druckabfall in der Druckkammer. Äußeres Starttor öffnet sich… Sammelschiene für den Start aktiviert, Sonde wechselt auf interne Energiezufuhr, schaltet jetzt um. Ist jetzt auf sich selbst gestellt. Start in einer Minute. Letzter Selbsttest vor dem Start läuft.«

»Es gehört zu meiner Arbeit, unangenehme Fragen zu stellen, Kommandeur. Und die wichtige Frage, die ich jetzt stellen muss, lautet…«

»Ruhe, bitte!«

»Ist das künstliche Objekt, das Sie bergen wollen, durch Befehl Ihrer eigenen Admiralität dorthin gelangt oder steckt das Festival dahinter?«

»Start in drei-null Sekunden«, verkündete Leutnant Marek in die Stille hinein. »Hat es etwas mit dem zu tun, was ich gesagt habe?«, fragte er danach.

»Wovon reden Sie?«, fragte Ilja die Inspektorin.

Rachel schüttelte den Kopf und verschränkte die Arme. »Wenn Sie nicht zuhören wollen, sei Ihnen das unbenommen.«

»Noch eins-null Sekunden bis zum Start. Druckdüsen zur Verhinderung von Leckage geöffnet. Reaktor nähert sich kritischem Zustand. Muon-Fluss wie vorgesehen, Beschleunigungstore geöffnet. Ähm, die Vermischung beider Elemente im Reaktor hat Bootstrap-Ebene überschritten, arbeitet jetzt selbsttätig. Noch fünf Sekunden. Sammelschienen zum Start freigegeben. Hauptwärmepumpe hat betriebsbereite Temperatur!« Das Deck begann zu beben und vibrierte unter ihren Schuhsohlen. »Noch zwei Sekunden. Reaktor hat entsprechende Temperatur erreicht. Trennung der Versorgungsleitungen. Null. Jetzt sind sie völlig abgekoppelt. Sonde eins ist aus der Startbucht raus. Tore schließen sich. Gyrodyn[xxii] rotiert. Flüssigkeitsdruck maximal, noch drei Sekunden bis zur Zündung des Hauptantriebs.« Das Beben legte sich. »Neigungswinkel klar. Zündung des Hauptantriebs.« In der Einsatzzentrale rührte sich nichts; aber nur wenige Meter vom Schiff entfernt zog das stachelähnliche Heck der Sonde einen rötlich-orangefarbenen Schweif schwerer Metallionen hinter sich her. Während sich die Sonde vom Schlachtkreuzer entfernte, entfalteten sich an ihren Flanken zwei riesige Flügel, die Thermalradiatoren.

Schließlich kam Ilja zu einer Entscheidung. »Leutnant Marek, übernehmen Sie«, sagte er. »Oberst, kommen Sie mit.«

Nachdem er die Tür geöffnet hatte, folgte Rachel ihm nach draußen, auf den Gang. »Wohin gehen wir?«, fragte sie.

»Wir werden uns ein wenig unterhalten.« Während er zum Besprechungszimmer eilte, wartete er nicht, dass sie ihn einholte. Mit dem Fahrstuhl ging es hinauf und den nächsten Gang entlang, bis zu dem Zimmer, in dem ein Tisch und Stühle standen. Glücklicherweise war es nicht belegt. Er wartete, bis sie eingetreten war, und schloss danach die Tür. »Nehmen Sie Platz«, sagte er.

Die Inspektorin setzte sich auf die Stuhlkante, beugte sich vor und sah mit ernster Miene zu ihm empor.

»Sie denken sicher, dass ich Sie in Stücke reißen möchte«, begann er, »und da haben Sie völlig Recht. Wenn der Grund auch ein anderer ist, als Sie annehmen.«

Sie streckte eine Hand hoch. »Lassen Sie mich raten. Weil ich politische Fragen aufgeworfen habe, während Sie mit der Einsatzleitung beschäftigt waren?« Sie sah ihn beinahe spöttisch an. »Hören Sie, Kommandeur, bis ich aufs Deck kam und sah, was Sie taten, wusste ich ja gar nicht, was vor sich ging. Aber jetzt, wo ich’s weiß, bin ich der Meinung, dass Sie ganz sicher hören möchten, was ich Ihnen zu sagen habe, um es danach dem Kapitän mitzuteilen. Oder dem Geschwaderführer. Oder beiden. Nichts gegen Ihre Befehlshierarchie, aber falls Sie diese Anomalie, die in Ihrer Umlaufbahn kreist, tatsächlich bergen, dann könnte hier meiner Einschätzung nach in weniger als sechs Stunden die Hölle losbrechen, und deshalb möchte ich gern loswerden, was ich Ihnen zu sagen habe. Wenn wir die Theatralik also für später aufheben könnten, wenn wir Zeit dafür haben, um direkt zur Sache zu kommen…«

»Sie versuchen, uns in unserer Arbeit zu behindern«, warf Ilja ihr vor.

»Stimmt.« Sie nickte. »Das ist mein Beruf. Ich stochere in Ecken herum, stelle unbequeme Fragen, stecke meine Nase in die Angelegenheiten anderer Leute und finde Antworten, mit denen niemand gerechnet hat. Bis jetzt habe ich auf diese Weise acht Städte und siebzig Millionen Menschenleben gerettet. Wäre es Ihnen lieber, wenn ich weniger nerven würde?«

»Sagen Sie mir, was Sie wissen, dann werde ich mich für eine Antwort entscheiden.« Er wählte die Worte so sorgfältig, als machte er ihr angesichts ihrer Disziplinlosigkeit und der Weigerung, den ihr zugewiesenen Platz in der Hierarchie zu akzeptieren, ein großes Zugeständnis.

Rachel lehnte sich zurück. »Es ist eine Frage der Deduktion«, sagte sie. »Es hilft, wenn man es in einem etwas größeren Zusammenhang betrachtet. Um es gleich zu sagen: Dieses Schiff – diese Flotte – ist nicht rein zufällig zu einer raumartigen Reise aufgebrochen, die viertausend Jahre in die Zukunft führt. Sie probieren ein Manöver aus, das nahe dran ist, wenn auch nicht ganz, gegen zahlreiche Abkommen zu verstoßen. Und gegen einige Naturgesetze, die durch Beschluss einer halb göttlichen Instanz nicht angetastet werden dürfen. Sie werden nicht in den Lichtkegel ihrer eigenen Vergangenheit zurückreisen, ihm allerdings tatsächlich sehr nahe kommen. Sie werden tief in die Zukunft eintauchen, um jeden Beobachter, Flottenvernichter oder die Minen, die das Festival Ihnen in den Weg gelegt haben mag, zu umgehen. Sie springen also zu Ihrem Zielpunkt hinüber, wirbeln danach zurück in die Vergangenheit und tauchen zufällig unmittelbar nach Ankunft des Festivals wieder auf. Wissen Sie, wie mir das vorkommt? Wie ein Akt extremer Tollkühnheit. Klausel drei besteht aus einem ganz bestimmten Grund. Wenn Sie diese Regel auf die Probe stellen, fordern Sie das Eschaton heraus.«

»Das hab ich doch früher schon mal gehört«, bemerkte Ilja. »Und weiter?«

»Nun ja, Sie sollten sich fragen, mit was wir hier hätten rechnen sollen. Wir kommen hierher und halten nach einer Bake Ausschau. Nach einer Zeitkapsel mit detaillierten Aufzeichnungen zur Kriegstaktik, die aus dem Lichtkegel unserer eigenen Vergangenheit stammt. Wir suchen also nach etwas, das einer Weissagung gleichkommt und uns jede Menge über den Feind verrät, was wir derzeit noch gar nicht wissen können, weil sich unsere Zeitkurve noch nicht mit der des Feindes gekreuzt hat.

Nichts anderes als ein Betrugsmanöver. Aber wenigstens leben wir noch.«

»Das verstehe ich nicht. Warum sollten wir nicht mehr am Leben sein?«

»Weil…« Sie starrte ihn einen Augenblick an. »Wissen Sie, was mit Leuten passiert, die den Verstoß gegen die Kausalität als Waffe gegen andere benutzen?«, fragte sie. »Sie sind unglaublich nahe dran, was schon verrückt genug ist. Und trotzdem sind Sie damit durchgekommen! Was einfach nicht den Regeln entspricht, es sei denn, diese Regeln hätten sich mittlerweile geändert.«

»Regeln? Wovon reden Sie?«

»Regeln.« Sie verdrehte die Augen. »Die Regeln der Physik sind in einigen Fällen verdächtig anthropisch. Angefangen beim Heisenberg-Prinzip, welches besagt, dass auf Quantenebene die Gegenwart eines Beobachters zwangsläufig auf das, was beobachtet werden soll, einwirken wird. Davon ausgehend können wir viele verblüffende Korrelationen im Universum erkennen. Denken Sie zum Beispiel an das Verhältnis von der starken Kernkraft zur elektromagnetischen Kraft. Veränderte man es nur ein wenig in die eine Richtung, würden Neutronen und Protonen nicht mehr miteinander reagieren, es würde keine Fusion stattfinden. Veränderte man es in eine andere Richtung, würde der stellare Fusionszyklus beim Helium stehen bleiben – es würden sich nie schwerere Kerne bilden. Es gibt so viele derartige Korrelationen, dass manche Kosmologen von einer Theorie ausgehen, nach der wir in einem Universum leben, das genau deswegen existiert, damit sich dort unsere Art des Lebens entwickeln konnte. Oder etwas, das davon abstammt, wie das Eschaton.«

»Und weiter?«

»Folglich verstoßen Sie und Ihre Leute gegen einige der eher rätselhaften Gesetze des Kosmos. Gegen Gesetze, die besagen, dass jedes Universum, in dem ein wirklicher Verstoß gegen die Kausalität – etwa durch Zeitreisen – vorkommt, de facto instabil ist. Aber eine Verletzung der Kausalität ist nur möglich, wenn auch ein von dieser Kausalität Betroffener existiert – in diesem Fall ein Beobachter. Und die Nachkommen dieses Beobachters werden ernsthafte Einwände gegen eine Verletzung der Kausalität erheben. Anders ausgedrückt: Die Kausalität wird als kosmisches Gesetz akzeptiert, weil das Eschaton es nicht zulässt, dass irgendwelche Dummköpfe dagegen verstoßen. Deshalb versucht meine Organisation die Menschen dazu zu erziehen, dass sie so etwas unterlassen. Ich weiß nicht, ob irgendjemand Ihrer Admiralität erzählt hat, was weit draußen im All in der Region passiert ist, die jetzt Krebsnebel heißt. Dort gibt es einen Pulsar, der, sagen wir mal, nicht natürlich ist. Und eine ausgelöschte Spezies, die das All gern erobert hätte. Irgendjemand hat da versucht, die Regeln zu ändern – und das Eschaton hat sie dabei erwischt.«

Ilja zwang sich, die Finger von den Lehnen seines Stuhls zu lösen. »Wollen Sie damit sagen, dass die Kapsel, die wir bergen wollen, eine Bombe ist? Das Eschaton hätte inzwischen doch sicher längst versucht, uns zu töten oder zumindest zu schnappen, wenn es das wollte…«

Sie grinste ohne jeden Humor. »Wenn Sie mir nicht glauben, ist das Ihr Problem. Wir haben schon ein halbes Dutzend solcher Vorfälle erlebt – der Ausschuss der Vereinten Nationen, der sich im Rahmen der Abwehr mit Waffen befasst, die gegen die Kausalität verstoßen. Ich meine Vorfälle, bei denen der eine oder andere heimliche Versuch, kausalitätsverletzende Mittel einzusetzen, vereitelt wurde. Übrigens waren das gewöhnlich nicht derart plumpe Versuche wie Ihre geschlossene Zeitschleife und das Anzapfen des Orakels, sondern echte kausalitätsverletzende Waffen. Das waren Versuche, bestimmte Episoden aus der Geschichte zu eliminieren, Minimax-Strategien[xxiii] zu verfolgen, die eigene Großelterngeneration aus der Zeit zu bomben. Einmal ist ein wirklich hässliches Spielzeug namens raumartiger Ablator[xxiv] aufgetaucht, ein Vernichtungsinstrument. Da draußen gibt es ein ganzes Arsenal von kausalitätsverletzenden Waffen, an dem man wie bei den Bomben – Atombomben, Fusionsbomben, schwach-elektrischen Implosionsbomben und so weiter – die ganze Entwicklung ablesen kann.

Überall, wo wir solche kausalitätsverletzenden Waffen lokalisieren konnten, waren die entsprechenden Regionen von unbekannten Instanzen gründlich und systematisch in Schutt und Asche gelegt worden. Allerdings waren es Instanzen, die man dem Eschaton zurechnen muss. Wir haben nie mit eigenen Augen gesehen, wie eine solche kausalitätsverletzende Waffe zerstört wurde, weil das große E zum Overkill neigt. Sein kleinstes Sprengwerkzeug ist in der Regel so etwas wie ein fünfhundert Kilometer großer Asteroid, der bei einer Geschwindigkeit von zweihundert Kilometern in der Sekunde auf die Hauptstadt der Region niedergeht.

Also liegt das besonders Verblüffende wohl darin, dass wir noch am Leben sind.« Sie blickte um sich, auf die leeren Stühle und den heruntergefahrenen Computer, der auf dem Tisch stand. »Oh, und noch etwas: Das Eschaton eliminiert kausalitätsverletzende Waffen stets bevor sie zum Leben erwachen. Wir nehmen an, dass es über ein eigenes kausalitätsverletzendes Instrumentarium verfügt und deshalb weiß, wo solche Waffen zu finden sind. So ähnlich, als würde jemand die regionale Vorherrschaft über Atomwaffen dadurch schützen, dass er jeden angreift, der eine Anlage zur Urananreicherung oder einen Atomreaktor errichtet, verstehen Sie? Jedenfalls haben Sie bis jetzt noch nicht damit begonnen, gegen die Regel zu verstoßen, sondern stehen nur kurz davor. Die Flotte sammelt sich, und Sie haben die Zeitkapsel lokalisiert, aber die Zeitschleife noch nicht geschlossen oder das Orakel in verbotenem Zusammenhang genutzt. Vielleicht kommen Sie sogar mit all dem davon, wenn Sie in die Vergangenheit zurückspringen, aber nicht versuchen, weiter zurückzugehen als bis zu dem Punkt, von dem Sie aufgebrochen sind. Allerdings wäre ich vorsichtig damit, die Zeitkapsel zu öffnen. Tun Sie es wenigstens in vernünftigem Abstand zu jedem Ihrer Schiffe. Man kann ja nicht wissen, was die Kapsel enthält.«

Ilja nickte widerstrebend. »Ich glaube, das sollte der Kapitän erfahren.«

»Könnte man so sagen.« Sie blickte auf die Konsole. »Da ist noch eine weitere Sache. Ich glaube, dass Sie derzeit alle Vorteile nutzen müssen, die sich Ihnen bieten. Und einer davon verbringt die meiste Zeit damit, dass er in seiner Kabine herumsitzt und Däumchen dreht. Vielleicht sollten Sie sich mal mit Martin Springfield unterhalten, dem Bordingenieur. Er ist ein seltsamer Mann, und Sie werden ihm mehr Zugeständnisse machen müssen, als Sie es normalerweise täten, aber ich glaube, dass er mehr weiß, als er herauslässt. Sogar viel mehr, soweit es Antriebssysteme betrifft. MiG hat ihm nicht wegen seiner schönen blauen Augen zweitausend Kronen die Woche bezahlt. Als MiG Ihrer Admiralität diesen Vogel verkauft hat, hat der Konzern auch auf einen Vertrag über fünfzig Jahre und Aufrüstung gesetzt – wahrscheinlich mit mehr Gewinnaussicht für MiG als beim ursprünglichen Verkauf des Schlachtschiffs.«

»Was wollen Sie damit sagen?« Ilja wirkte verärgert. »Die Entscheidung über technische Dinge liegt nicht bei mir, das müssten Sie doch wissen. Und ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir nicht vorschreiben würden, was…«

»Halten Sie den Mund.« Sie griff zu ihm herüber und packte seinen Arm, nicht sehr fest, aber fest genug, um ihn zu schockieren. »Sie verstehen wirklich nicht, wie Waffenkartelle arbeiten, wie? Hören Sie, MiG hat Ihrer Regierung ein Schiff verkauft, das bestimmten Spezifikationen entspricht. Spezifikationen, die die Anforderungen erfüllen, die sich Ihre Admiralität erträumt hat. Aber die Spezifikationen, die es von seiner Beschaffenheit her erfüllen könnte, sind eine andere Sache. Bestimmt hatte MiG die Absicht, während der gesamten Lebenszeit dieses Schiffes Upgrades in Rechnung zu stellen. Und wahrscheinlich hat MiG mehr Erfahrung darin, welche Anforderungen die Realität an interstellare Kriegsausrüstungen stellt, als Ihre Admiralität. Denn die hat, wenn ich mich nicht sehr irre, noch nie einen regelrechten interstellaren Krieg ausgefochten, was eine andere Sache ist, als ein paar Kanonenboote loszuschicken, um Primitive aus der Steinzeit einzuschüchtern. Seien Sie nett zu Springfield, dann hat er vielleicht ein paar Überraschungen für Sie parat. Schließlich hängt sein Leben davon ab, dass dieses Schiff richtig funktioniert.« Sie ließ seinen Arm los.

Mit unergründlicher Miene starrte Ilja sie an. »Ich werd’s dem Kapitän sagen«, murmelte er und stand auf. »In der Zwischenzeit wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie sich von der Einsatzzentrale fern hielten, während ich dort den Oberbefehl habe. Und wenn Sie Ihre Beratungen in aller Öffentlichkeit durchführen würden und nicht irgendeinen Offizier damit belästigen. Verstehen wir uns?«

Sie erwiderte seinen Blick. Wenn seine Miene unergründlich war, dann war ihre das genaue Gegenteil. »Ich verstehe vollkommen«, sagte sie fast lautlos, stand auf und verließ den Raum ohne jedes weitere Wort. Leise machte sie die Tür hinter sich zu.

Als Ilja ihr nachsah, zitterte er. Verärgert schüttelte er sich und griff zum Telefon. »Geben Sie mir den Kapitän«, trug er der Vermittlung auf. »Es ist wichtig.«

 

Es war tatsächlich eine Zeitkapsel, von viertausend Jahren Aufenthalt im All zerfressen und korrodiert. Und sie enthielt Post. Vorsichtig legte die Aufklärungsdrohne an und untersuchte sie mit Radar und Infrarotsensoren. Die Kapsel, die kalt und stumm im Raum trieb, zeigte keine Spur von Leben, bis auf einen Rest von Radioaktivität im Bereich des Hecks. Als kompakte Materie/Antimaterie-Rakete hatte sie die achtzehn Lichtjahre von der Neuen Republik aus mit Unterlichtgeschwindigkeit im Schneckentempo zurückgelegt, danach das Tempo gedrosselt, sich in eine Warteschleife begeben und den Betrieb eingestellt. Aufgrund der rauen Passage durch den Raum war ihre kegelförmige Spitze zerkratzt, eingedellt und teilweise geschmolzen. Aber dahinter wartete eine silberne Kugel von einem Meter Durchmesser. Die Kapsel bestand aus fünf Zentimeter dicken sinternen Industriediamanten – ein Safe, der alles bis auf einen atomaren Angriff überstehen konnte.

Die Post war auf Disketten verpackt, Mikroplättchen aus Diamant zwischen zwei reflektierenden Goldscheiben. Die Technologie war uralt, aber unglaublich haltbar. Mithilfe externer Waldos[xxv] schraubten Rekruten, die die Aufklärungsdrohne überwachten, den versiegelten Deckel der Zeitkapsel auf und entfernten vorsichtig den Diskettensatz. Nachdem sie sich davon überzeugt hatten, dass es sich nicht um Sprengstoff oder Antimaterie handelte, ließen sie die Aufklärungssonde wenden und sorgten dafür, dass sie sich auf den Rückweg zur Lord Vanek und zu den anderen Schiffen des Ersten Flottengeschwaders machte.

Die Entdeckung der Post – es war derart viel Text gespeichert, dass sie mehr als nur taktisches Material über den Feind enthalten musste – löste bei der Besatzung hochfliegende Erwartungen aus. Inzwischen waren die Männer seit zwei Monaten auf dem Schiff eingeschlossen. Die Möglichkeit, dass ihre Familien und Lieben daheim ihnen womöglich Nachrichten geschickt hatten, ließ verrückte Hoffnungen in ihnen keimen. Bei einigen wechselte sich diese Hoffnung allerdings mit tiefer Depression ab, sobald sie nur daran dachten, womöglich vergessen worden zu sein.

Rachel dagegen war weniger zuversichtlich, was die Post betraf: Die Chancen, dass die Admiralität ihren Auftraggebern erlaubt hatte, ihr eine mit diplomatischem Code verschlüsselte Botschaft zukommen zu lassen, waren ihrer Einschätzung nach geringer als Null. Auch Martin erwartete keine Post. Schon nach Neu-Prag hatte seine Schwester ihm auf seinen Brief hin nicht geantwortet, warum sollte sie es jetzt tun? Und von seiner Exfrau wollte er sowieso nichts hören. In emotionaler Hinsicht stand Rachel ihm derzeit am nächsten, wie unerwartet das auch gekommen war.

Und so geschah es, dass Rachel und Martin, während die Offiziere und Matrosen der Lord Vanek in ihrer Freizeit über Briefe von zu Hause spekulierten, ihre Zeit eher damit verbrachten, sich Sorgen über die Aufdeckung ihrer Beziehung zu machen. Martin hatte Rachel vorsichtig darauf hingewiesen, dass er keine Diplomatenpapiere besaß. Und selbst wenn man die Frage der öffentlichen Moral in der Neuen Republik beiseite ließ, konnte eine böse Situation entstehen, falls jemand beschloss, Martin als Druckmittel gegen Rachel einzusetzen.

»Wahrscheinlich ist es keine gute Idee, wenn wir allzu viel Zeit privat miteinander verbringen, Liebling«, murmelte sie an seiner Schulter, als sie zusammen in seiner schmalen Koje lagen. »Wenn alle anderen im Einsatz sind, dürften sie wohl kaum Notiz von uns nehmen, aber in der übrigen Zeit…« Seine Schultern spannten sich und verrieten ihr, dass er verstanden hatte.

»Wir müssen uns irgendetwas einfallen lassen«, erwiderte er. »Das können wir doch, oder?«

»Ja.« Sie schwieg kurz, um seine Schulter zu küssen. »Aber wir dürfen nicht riskieren, dass dich irgendein prüder, bigotter Mensch wegen ungehörigen Verhaltens einsperrt oder den Admiralstab davon überzeugt, dass ich eine billige Hure bin, die man begrapschen oder auch einfach ungestraft ignorieren kann. Was gar nicht so weit von dem entfernt ist, was manche sowieso schon denken.«

»Wer?« Martin wälzte sich mit grimmiger Miene herum, um sie anzusehen. »Sag’s mir…«

»Sch.« Als sie ihm einen Finger über die Lippen legte, zerriss ihm ihr Gesichtsausdruck einen Augenblick lang fast das Herz. »Ich brauche keinen Beschützer. Haben deren Vorstellungen schon auf dich abgefärbt?«

»Ich hoffe nicht!«

»Nein, das glaube ich auch nicht.« Sie kicherte leise und schmiegte sich an ihn.

 

Einige Tage danach saß Martin allein in seiner Kabine, dachte sehnsüchtig an Rachel und nippte bedächtig an seinem Becher mit Kaffee, der schnell kalt wurde, als jemand an die Luke klopfte. »Wer ist da?«, rief er.

»Post für den Ingenieur! Gehen Sie ins Büro des Proviantmeisters!« Er hörte davoneilende Schritte und gleich darauf eine Kakophonie von Geräuschen vom Ende des Ganges.

»Hm?« Martin setzte sich auf. Post? Oberflächlich betrachtet war das kaum möglich. Andererseits war ja alles auf dieser Reise so gut wie unmöglich. Aus seinem Tagtraum hochgescheucht, bückte er sich, um nach seinen Schuhen zu suchen, und verließ gleich darauf die Kabine, um der Störung auf den Grund zu gehen.

Mühelos fand er das Büro, in dem ein chaotisches Gewimmel herrschte. Alle anwesenden Rekruten versuchten, sich die eigene Post und die ihrer Freunde und Bekannten zu schnappen. Inzwischen waren die Textdateien auf Papier ausgedruckt, das man ordentlich in blaue Umschläge gesteckt hatte. Alle Umschläge waren versiegelt.

Verwirrt suchte Martin nach irgendeinem Verantwortlichen. »Ja?« Der viel geplagte Maat, der den Sortiertisch unter sich hatte, sah von dem Stoß auf, den er gerade zu bündeln versuchte, um ihn dem kaiserlichen Kurierschiff Godot zu überstellen. »Ach, Sie. Da drüben, in dem Behälter mit unsortierter Post.«

Er deutete auf eine kleine Kiste, die verschiedene Umschläge enthielt; nicht zustellbare Schreiben für die Toten, Verrückten und Menschen, die nicht der kaiserlichen Marine angehörten.

Neugierig grub sich Martin durch den Stapel, bis er auf einen recht dicken Umschlag stieß, der seinen Namen trug. Wie seltsam, dachte er. Anstatt ihn sofort zu öffnen, nahm er ihn mit in seine Kabine. Fast hätte er ihn nach dem Aufmachen gleich wieder weggeworfen: Der Brief begann mit der verhassten Anrede »Mein lieber Marty«. Nur eine einzige Frau hatte ihn jemals so genannt. Zwar hatte er manche zärtliche Erinnerung an sie, doch gleichzeitig brachte sie es fertig, ihn in bittere, quälende Wut zu versetzen, sodass er sich später für seine Gefühle schämte. Morag und er hatten sich vor acht Jahren getrennt. Die gegenseitigen Vorwürfe und Schuldzuweisungen hatten eine Mauer des Schweigens zwischen ihnen errichtet.

Was konnte sie dazu bewogen haben, ihm jetzt zu schreiben? Sie war stets ein Mensch gewesen, der alles im persönlichen Gespräch ausmachte. Dagegen waren ihre E-Mails meistens knapp gewesen und hatten vor Sätzen mit fehlerhafter Rechtschreibung gestrotzt. Ihre emotionalen Ausbrüche hatte sie sich für Gespräche unter vier Augen vorbehalten.

Verwirrt begann Martin zu lesen:

 

Mein lieber Marty,
seit meinem letzten Brief an dich ist schon viel zu viel Zeit vergangen. Ich hoffe, du verzeihst mir. Ich hab viel um die Ohren gehabt, wie man so sagt, vor allem auch deswegen, weil ich mich ja um Sarah kümmern musste. Sie wächst jetzt schnell heran, ist sehr groß und ihrem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten. Ich hoffe, du kannst zu ihrem sechzehnten Geburtstag kommen.

 

Er hielt inne. Das musste ja wohl ein äußerst raffinierter Scherz sein. Offenbar erzählte ihm seine Exfrau von einem Kind – ihrem gemeinsamen Kind –, aber ein solches Kind existierte gar nicht. Und dieser Schreibstil sah ihr überhaupt nicht ähnlich. Fast kam es ihm so vor, als versuchte jemand, der über seine frühere Ehe informiert war, ihn…

Als er weiterlas, achtete er sorgfältig auf verborgene Botschaften.

 

Derzeit studiert Sarah an einem College Theologie. Du weißt doch noch, wie wissbegierig sie immer gewesen ist? Offenbar hat ihr neuer Lehrer Hermann ihr Flügel verliehen. Sie arbeitet gerade an einer Abhandlung über Eschatologie und hat darauf bestanden, dass ich dir eine Kopie mitschicke (Anlage anbei).

 

Der Rest des Briefes bestand aus unwesentlichem Geschwätz über fiktive gemeinsame Freunde, Anspielungen auf triviale gemeinsame Erlebnisse – ebenfalls frei erfunden – und wichtigere Dinge, die in seiner Biografie vermutlich sorgfältig dokumentiert waren. Soweit Martin sehen konnte, war die letzte Seite leer.

Er wandte sich der recht umfangreichen »Abhandlung« zu und sann darüber nach, ob es wirklich klug von Hermann gewesen war, diesen Text mitzuschicken. Schrieben die Schulkinder der Neuen Republik achtseitige Aufsätze über Gott? Und über Gottes Motive, soweit man sie vom Wert der kosmologischen Konstante ableiten konnte? Der Aufsatz war in gewähltem, etwas langweiligem Stil geschrieben, der ihm auf die Nerven ging, und erinnerte ihn an die Bemühungen eines Schülers, dem es eher um gute Noten ging als darum, eigene Ansichten mit einer zielgerichteten Erörterung auf den Punkt zu bringen. Doch dann fiel sein Blick auf die Fußnoten:

 

1. Denken wir an den hypothetischen Fall einer Macht, die eine örtlich begrenzte Verletzung der Kausalität beabsichtigt, dabei aber keinen Lichtkegel erzeugen will, der ihren Ursprungspunkt umfasst. (Implizit gehen wir hier von einer völlig kugelförmigen Zone des Sündenfalls aus, die sich mit der Geschwindigkeit von c ausbreitet und deren Ausgangspunkt die Zeit T0 ist). Wenn das kugelförmige Volumen, in dem der Verstoß gegen die Kausalität stattfindet, sich nicht mit der vierdimensionalen Fallkurve des ursprünglichen Standortes der Macht überschneidet, haben wir es nicht mit einer wirklichen Verletzung der Kausalität zu tun. Deshalb gehen wir auch nicht davon aus, dass das Eschaton die gesamte Zivilisation der Missetäter in Grund und Boden verdammt oder Typ II einer Supernova veranlasst; hier ist Buße möglich. Allerdings ist eine schwere Bestrafung derjenigen erforderlich, die die Sünde begangen haben, gegen die Kausalität zu verstoßen.

 

Er übersprang einige Passagen und begann, wichtige Wörter und Sätze zu unterstreichen.

 

2. Mischt sich das Eschaton stets auf destruktive Weise ein? Die Antwort lautet wahrscheinlich »nein«. Wir sehen die Folgen der Einmischung, die durch Verstöße gegen die Kausalität verursacht wurden, aber für jede derartige Einmischung gibt es wahrscheinlich tausend andere Beispiele für unsichtbare Anstöße, die das Eschaton unserer Welt fast unmerklich und präzise geliefert hat. Die Instanz, die solche Anstöße gibt, muss im Dunkeln bleiben, um wirkungsvoll arbeiten zu können. Wahrscheinlich flüchtet sie nach einer solchen Intervention vom Schauplatz und versteckt sich im Massengetümmel. Vielleicht unterstützt diese Instanz sogar unsere eigenen Bemühungen als Menschen, die das Eschaton fürchten, sodass wir gemeinsam dafür sorgen, dass keine Verletzung der Kausalität stattfindet. Womöglich unterstützen einige Regierungsinstanzen, die sich der Eschatologie bewusst sind, die heimlichen Helfer des Eschaton, falls sie von ihrer Anwesenheit wissen. Andere Instanzen, die Geheimagenten von sündhaften Mächten, könnten versuchen, diese heimlichen Verbündeten des Eschaton durch Beweismittel zu überführen und zu verhaften.

 

Nun ja, das war alles recht lehrreich. Im Text versteckte Botschaften ärgerten Martin für gewöhnlich, weil man sie so leicht missdeuten konnte und sie einen oft nur in verzerrter Form erreichten, aber in diesem Fall hatte sich Hermann recht deutlich ausgedrückt: Misstraue der Geheimpolizei der Neuen Republik. Möglicherweise bekommst du Hilfe von anderen Instanzen – war Rachel damit gemeint? Bei der Erkenntnis, dass keine Vergeltungsmaßnahmen gegen die Neue Republik selbst geplant waren, fiel ihm ein großer Stein vom Herzen. Denn so sehr er ihre gesellschaftlichen Gepflogenheiten auch ablehnen oder verachten mochte: Die Menschen hatten es nicht verdient, wegen der Unfähigkeit ihrer Führer, mit einem beispiellosen Problem fertig zu werden, bestraft zu werden.

Die letzte Fußnote aber konnte er nicht deuten, so sehr er sich auch bemühte:

 

3. Selbstverständlich würden nur wenige Menschen die Verletzung des Kausalitätsgesetzes in Erwägung ziehen, wenn sie nicht mit einer äußerst schwer wiegenden, offensichtlichen Bedrohung konfrontiert wären. Man fragt sich, was die unsichtbaren Helfer des Eschaton tun würden, wenn sie sich angesichts einer solchen Bedrohung mit der Notwendigkeit auseinander setzen müssten, eine Kausalitätsverletzung zu verhindern. Vor eine solche Entscheidung gestellt, könnten sie sich dabei ertappen, dass sie in ihrer Loyalität gespalten wären: Einerseits müssen sie das vorrangige Gesetz des anthropischen Kosmos verteidigen, andererseits möchten sie ihre fehlgeleiteten, dennoch menschlichen Gefährten nicht den Klauen des großen Übels überlassen. Ich bin sicher, dass das Eschaton seinen Agenten unter diesen Umständen auftragen würde, sich unmittelbar nach Verhinderung eines Risses in der Raumzeit um die Interessen ihrer Mitmenschen zu kümmern. Das Eschaton mag kein mitleidender Gott sein, aber es ist pragmatisch eingestellt und erwartet von seinen Werkzeugen nicht, dass sie in Ausübung ihrer Dienste innerlich zerbrechen. Allerdings besteht die Kernfrage darin, welche Seite die am »wenigsten falsche« ist. Das führt uns tief in ein ethisches Dilemma, in dem ein Festival der Vieldeutigkeit gefeiert wird und die Ambivalenz regiert. Wir können nur hoffen, dass die heimlichen Helfer die richtige Wahl treffen – andernfalls wird die Kritik schwer wiegende Folgen zeitigen.

 

Martin lehnte sich zurück und kratzte sich am Kopf. »Was, zum Teufel, soll das jetzt bedeuten?«, murmelte er vor sich hin.

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