zirkus des todes

 

 

Der Revolutionsausschuss hatte in Plotsk die orthodoxe Kathedrale mit dem Zwiebelturm übernommen und sie zum Hauptquartier des Kommissariats für Extropianische Ideologie gemacht. All jene, die die Doktrin der revolutionären Optimierung ablehnten und sich weigerten, die Stadt zu verlassen, wurden vor das Tribunal gezerrt und erhielten ebenso lange wie langweilige Lektionen über die Natur ihrer Vergehen. Danach wurden sie erschossen, ihre Hirne kartiert, mittels Upload dem Festival einverleibt und zur Umerziehung durch Arbeit verurteilt. Meistens erfolgte all das gleichzeitig. Es waren allerdings nicht viele: Der größte Teil der Bevölkerung war entweder in die Wildnis geflohen, in höhere Gefilde transzendiert oder hatte sich fröhlich die Sache der Revolution zu Eigen gemacht.

Die Hütte der Siebenten Schwester, gesponnen aus Erinnerungen an örtliche Mythen und Legenden, die in der Noosphäre des Festivals gespeichert waren, hockte sich vor dem Revolutionären Kommissariat auf den Hof und gab sich ihrem kräftigen Stuhlgang hin. Gleich darauf stand sie auf und schlenderte auf die Kirschbäume zu, die den Platz säumten. Sie hatte Hunger, und die Vorliebe des Bischofs für Kirschblüten würde sie nicht davon abhalten, sich zu bedienen.

Siebente Schwester rümpfte unangenehm berührt die Nase und trat den Rückzug an. Im Inneren der Kirche drängten sich die Kläger, die Schlange standen, um dieses zu fordern oder jenes zurückzuweisen. Sie hatten sich vor einem Küchentisch aufgebaut, den man in die Mitte des Kirchenschiffes gerückt hatte.

Dahinter saß ein halbes Dutzend gelangweilt wirkender politischer Funktionäre. Der kleine hektische Mensch namens Rubenstein schwenkte gerade die Arme und redete dem Vorsitzenden ins Gewissen. Dieser war so üppig mit mechanischen Zusatzausrüstungen versehen, dass es schepperte, wenn er aufstand und irgendwohin ging.

Offenbar drehte es sich bei dieser Ermahnung darum, dass Rubenstein eine Abkehr von der früheren Politik verlangte, die auf Vernichtung der in ästhetischer Hinsicht Ungebildeten abgezielt hatte.

Ehrlich gesagt zählte ein solches Vorgehen auch nach Einschätzung der Kritiker keineswegs zu den Prioritäten. Schließlich kann man nicht siegreich aus einem Streit über Ästhetik hervorgehen, wenn der Kontrahent ein Leichnam ist. Aber aus Sicht der Siebenten Schwester besagte die Tatsache, dass schon ein, zwei Tage in ihrer Gesellschaft einen Sinneswandel bei Rubenstein bewirkt hatten, noch längst nicht, dass er selbst in ästhetischer Hinsicht integer war. Diese seltsamen, schwerfälligen Menschen taten so unvorstellbar dumme und widersprüchliche Äußerungen, dass sie manchmal bezweifelte, deren grundlegende Ästhetik je begreifen zu können.

Siebente Schwester verlor sich ein Weilchen in dem Strom des Wissens, den das Festival ihr zuteil werden ließ. Aus allem, was das Festival wahrnahm, speiste es andere mit ausgewähltem Geistesfutter. Und es regte damit auch die Kolonie der Kritiker im Orbit an, die ihr sogleich bestimmte Leckerbissen übermittelte. Zwar verbreitete das Festival seine Nachrichten eigentlich über Starwisps, aber wenn es seine Entdeckungen nach Hause übermitteln wollte, stützte es sich auf Kausalkanäle. Inzwischen nahmen große Higgs-Boson-Fabriken[xxviii] in den mit Maschinerie bestückten Umlaufbahnen rings um Sputnik Gestalt an, wobei eisige Gase und Staub am Rande des planetaren Raums zu Wellenfunktionen in Teilchenbeschleunigern gerannen. Tausende riesiger Fusionsreaktoren nahmen den Betrieb auf, und jeder pumpte genügend Energie heraus, dass man damit einen ganzen bewohnten Kontinent hätte versorgen können. Die erste Staffel neuer Starwisps stand kurz vor der Vollendung. Diese Starwisps, jedes davon eine Tonne stabilisierter Antimaterie, waren unersättlich. Dann gab es da auch noch die Kausalkanäle, zu deren Herstellung man Petabytes und Exabytes verschränkter Teilchen mühsam wieder voneinander trennen und in aufeinander abgestimmte Sätze bringen musste, ohne sich vom Erfolg an Ort und Stelle überzeugen zu können. Bald schon würden die ersten Starwisps ihre Ladungen aufnehmen, ihre Stupsnasen in die Leere richten und mit fast einer halben Million g beschleunigen. Dabei würden sie auf den Strahlen neutraler Teilchen reiten, die riesige Startanlagen im hohen Orbit über Rochards Welt emittierten. Ihre wichtigsten Ziele waren die beiden Zwischenstationen auf der Route des Festivals, wo sie neue Kanäle abliefern würden und einen ausführlichen Bericht über den gegenwärtigen Besuch. Ihre anderen Ziele… nun ja, das Festival lagerte hier schon drei Monate. Bald würden die Händler eintreffen.

Die Händler folgten dem Festival überall hin. Als selbstreplizierende, natürliche Quelle von Kausalkanälen bahnte das Festival der Kommunikation den Weg und machte neue Kulturen dem Handel zugänglich. Diese Kulturen hatten durch den Besuch des Festivals meistens einen allzu heftigen Kulturschock erlitten, um Einwände dagegen zu erheben, dass die Händler ihnen die riesigen Bauten wegnahmen, die das Festival errichtet und später sich selbst überlassen hatte. Mithilfe von Raumschiffen, die mit Überlichtgeschwindigkeit reisten, hatten die Angehörigen auf Sand gebauter Handelsnationen ein Riesenvermögen gemacht. Sie hatten gerade so viel Grips, der Spur des Festivals zu folgen. Wie Vögel, die hinter einem Pflug herziehen, der reichen Ackerboden von unten nach oben kehrt, warteten sie ab, bis sie sich auf saftige Brocken geistigen Eigentums stürzen konnten. Brocken, die der Bauer im Vorbeigehen zutage gefördert hatte.

Irgendetwas machte sich jetzt bei Siebenter Schwester im Hinterkopf breit. Sie blieb neben einem Brunnen stehen und bückte sich, um zu trinken. Eine Nachricht von Erster Beobachterin. Schiffe kommen. Festival hat es bemerkt. Viele Schiffe, sie kommen lautlos. Also, das war wirklich interessant. Normalerweise tauchten die Händler, um Aufmerksamkeit zu erregen, mit großem Getöse auf – mit funkelnden Lichtern und lauter Musik, die auf allen verfügbaren Kanälen dudelte. Heimlichkeit bedeutete, dass es Probleme geben würde. Haben zweiundvierzig Schiffe gezählt. Alle mit Antriebskernen ausgestattet, alle mit wenig Emission; kaum Abwärme am Heck auszumachen, von vorne schlecht zu sehen. Abstand sieben Lichtsekunden. Wie eigenartig.

Siebente Schwester richtete sich auf. Irgendjemand kam durch die Seitentür herein. Nein, nicht irgendjemand, sondern irgendein Konstrukt des Festivals, so groß wie ein Menschenkind, aber mit langen Schlappohren und glänzendem Pelz. Es hatte das Gesicht eines Nagetiers und seitlich hervorquellende Augen.

Schwester mein. Wie reagiert das Festival?, fragte sie lautlos. Durch Implantate war sie direkt mit dem telefonischen Nervensystem des Festivals verbunden und dadurch auch mit ihrer Schwester.

Festival hat’s bemerkt. Die gegenwärtigen Aktivitäten sind noch nicht abgeschlossen. Festival wird keine Störung dulden. Hat drei Springer losgeschickt.

Siebente Schwester der Kriegslisten zitterte und bleckte die Zähne. Es gab nicht viel, das ihr am Festival Angst machte, aber Springer standen ganz oben auf der Liste, sie kamen gleich nach dem Fringe. Das Fringe mochte einen aus einer zufälligen Laune heraus umbringen, die Springer hingegen gingen sehr viel zielgerichteter vor.

Das hasenartige Wesen auf dem Gang hüpfte mit panischer Miene auf sie zu. Burija hörte auf, Timoschewski zu belehren, und wandte den Kopf. »Was ist los?«, fragte er.

»Glaube, heute Abend gibt’s Hasenbraten«, polterte Timoschewski los.

»Nein! Bitte, meine Herren, helfen Sie mir!« Das Kaninchen baute sich plötzlich vor ihnen auf, drängte zwei jammernde Babuschkas zur Seite und streckte seine vorderen Gliedmaßen aus. Arme, wie Siebente Schwester bemerkte, die in beunruhigend menschlichen Händen endeten. Es trug eine Weste, die ausschließlich aus Taschen zu bestehen schien und durch Reißverschlüsse zusammengehalten wurde. »Mein Herr ist in Schwierigkeiten!«

»Hier gibt’s keine Herren, Genosse«, sagte Timoschewski, der den Bittsteller offenbar als ungenießbar eingestuft hatte. »Die revolutionäre Doktrin lehrt uns, dass das einzige Gesetz in Rationalität und dynamischem Optimismus besteht. Woher stammst du? Und wo ist dein Personalausweis?«

Kaninchen können ihre Gesichtsmuskeln nur schwer kontrollieren. Dennoch gelang es diesem Exemplar, angemessene Verwirrung an den Tag zu legen. »Brauche Hilfe«, brachte es in weinerlichem Ton hervor und schwieg dann kurz, offensichtlich um Selbstbeherrschung bemüht. »Mein Herr ist in Schwierigkeiten. Die Possenreißer sind hinter ihm her! Im letzten Dorf sind sie zwischen uns geraten. Ich konnte entkommen, aber ich fürchte, sie sind auf dem Weg hierher.«

»Possenreißer?« Timoschewski schien verwirrt. »Meinst du vielleicht Clowns?« Ein stählernes Tentakel, als Endstück mit dem Flansch eines Gewehrlaufs verschraubt, löste sich von seinem Rücken und stieß suchend in die Luft. »Ein Zirkus?«

»Zirkus des Todes«, bemerkte Siebente Schwester. »Fringe führt sich sehr schlecht auf. Falls es hierher kommt, wird es allgemeinen Jubel über eure Revolution dämpfen.«

»Oh, wie das?« Timoschewski nahm Siebente Schwester misstrauisch aufs Korn.

»Hör ihr zu, Oleg!«, knurrte Burija. »Sie ist mit dem Festival gekommen und kennt sich aus.« Er rieb sich die Stirn, als schmerzte es ihn, ihr dieses Maß an überlegenem Wissen einräumen zu müssen.

»Oh?« In Timoschewskis Schädel gerieten die Mühlen langsam in Bewegung. Offenbar beanspruchte die Fülle künstlicher Verstärkungen einen Großteil seiner Aufmerksamkeit, wenn sie funktionieren sollten.

Siebente Schwester stampfte so heftig mit dem Fuß auf, dass der Boden erzitterte. »Possenreißer sind langweilig. Ich sage: Helft Kaninchen. Lernt etwas Neues, vielleicht bühnenreifes Rettungsdrama?«

»Wenn du meinst.« Burija wandte sich Oleg zu. »Hör mal, du hast die Dinge hier doch ganz gut im Griff. Ich würde gern sechs deiner besten Männer – wem sag ich das? – mitnehmen, um diese Possenreißer zur Schnecke zu machen. Wir können’s wirklich nicht brauchen, dass sie hier ein Chaos anrichten. Ich hab gesehen, was die anstellen, und es gefällt mir ganz und gar nicht.«

Ein Volkskommissar mit bleichem Gesicht, der hinter Oleg gestanden hatte, drängte sich nach vorn. »Seh nicht ein, warum wir auf dich hören sollen, du Schweinefleisch fressender Kosmopolit«, schnarrte er mit breitem Akzent. »Das hier nicht deine Revolution, das hier unabhängige Raumfahrer-Republik von Plotsk. Wir lassen uns zentralistischen Mist nicht gefallen!«

»Halt den Mund, Babar«, sagte Oleg. Das Tentakel, das aus seinem Rücken ragte, rotierte, um den Mann aus dem Osten in Augenschein zu nehmen. An der Spitze leuchtete schwach ein rotes Lämpchen auf. »Burija ist ein guter Genosse. Wenn er uns den Zentralismus aufzwingen wollte, wärt ihr mit Streitmacht gekommen, denke ich, oder?«

»Ist er ja auch«, bemerkte Siebente Schwester, ohne dass die Revolutionäre sie beachteten.

»Er geht mit Trupp Wachsoldaten. Ende der Debatte«, fügte Oleg hinzu. »Ist ein guter Revolutionär. Vertrau ihm, er wird Sache gut machen. Sache mit… Kaninchen.«

»Wehe du irrst dich, Timoschewski«, grunzte Babar. »Wir keine Idioten. Dulden kein Versagen.«

 

Bereits eine Minute, nachdem er das Bewusstsein wiedererlangt hatte, war Sauer aus der Offiziersmesse entkommen und bis zur Sicherheitszentrale gelangt. Er fluchte schrecklich, versuchte, durch Zwinkern gegen heftiges, vom Chloroform verursachtes Kopfweh anzukämpfen und gleichzeitig sein zerknülltes, beflecktes Hemd glatt zu ziehen. Hastig sprang der Maat, der Bereitschaft hatte, auf und salutierte, doch Sauer winkte nur ab. »Allgemeiner Sicherheitsalarm. Ich will, dass sofort überall auf dem Schiff nach der UN-Spionin und dem Bordingenieur gesucht wird. Und schicken Sie mir, sobald Sie das veranlasst haben, alle Überwachungsprotokolle der letzten Stunde, die die UN-Spionin betreffen, auf meinen Rechner. Außerdem will ich sofort eine vollständige Liste derjenigen, die dienstfrei haben.«

Wütend ließ er sich auf den Stuhl hinter seinem Schreibtisch fallen, fuhr sich mit den Fingern durch das kurz geschorene Haar, starrte finster auf den Bildschirm seines Rechners und schaltete auf interne Kommunikation. »Geben Sie mir den Befehlshaber der Kommandozentrale«, grunzte er, drehte sich um und sagte über die Schulter: »Obermaat, meine Anordnung hat oberste Priorität, sie muss sofort erledigt werden! Greifen Sie sich jeden, den Sie brauchen.«

»Ja, Sir. Entschuldigen Sie, Sir, aber darf ich fragen, womit wir rechnen müssen?«

»Die Diplomatin von der Erde ist eine Saboteurin. Wir haben sie ertappt, aber sie ist geflohen und hat den Ingenieur mitgenommen. Was uns allen eigentlich nur recht sein könnte. Aber erstens laufen sie immer noch frei auf dem Schiff herum, und zweitens sind sie bewaffnet. Also müssen Sie nach Wahnsinnigen Ausschau halten, die mit verbotener ausländischer Technologie ausgerüstet sind und irgendwo auf den Gängen lauern. Alles klar?«

»Ja, Sir.« Der Maat schien verwirrt. »Völlig klar, Sir.«

Als sich der Rechner meldete, wandte sich Sauer dem Bildschirm zu. Kapitän Mirsky sah ihn forschend an. »Ich dachte, Sie wären damit beschäftigt, ein Auge auf dieses verdammte Teiggesicht zu halten, auf diesen Wunderknaben vom Büro des Kurators.«

»Sir!« Sauer setzte sich blitzschnell aufrecht hin. »Bitte um Erlaubnis, ein Problem melden zu dürfen, Sir.«

»Nur zu.«

»Verletzung der Sicherheit.« Sauer stand der Schweiß auf der Stirn. »Da wir bei der Diplomatin von der Erde verdeckte Aktivitäten vermuteten, habe ich ein Täuschungsmanöver arrangiert, um sie davon zu überzeugen, dass wir sie am Wickel haben. Leider waren wir allzu überzeugend, denn sie ist gemeinsam mit dem Bordingenieur aus unserem Gewahrsam geflohen und läuft jetzt frei irgendwo auf dem Schiff herum. Ich habe eine Fahndung und Durchsuchung des Schiffes angeordnet, aber angesichts der Tatsache, dass wir offenbar bewaffnete Feinde an Bord haben, empfehle ich eine vollständige Absperrung aller Räume und Sicherheitsalarm.«

Der Kapitän nahm es auf, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. »Veranlassen Sie das.« Er drehte sich um und verschwand ein paar Sekunden aus dem Blickfeld. »Die Kommandozentrale ist jetzt versperrt.« Jenseits der schallisolierten Tür der Sicherheitszentrale begann eine Sirene zu schrillen. »Status melden.«

Als sich Sauer umsah, nickte der Rekrut, der an der Tür stand. »Bitte Meldung machen zu dürfen, Sir. Sicherheitszentrale ist versperrt.«

»Wir haben uns hier eingeschlossen, Sir«, gab Sauer weiter. »Der Vorfall hat sich erst vor drei Minuten zugetragen.« Er beugte sich zur Seite. »Haben Sie die Aufzeichnungen schon gefunden, Obermaat?«

»Spule gerade zurück, Sir«, erwiderte der Maat. »Ah, hab jetzt die Außenkameras… Verdammt! Entschuldigen Sie, Sir, aber vor zwölf Minuten wurden die Überwachungskameras auf dem grünen Deck, Sektor Offiziersquartiere – da liegt auch die Kabine der Diplomatin – ausgeschaltet. Und zwar aufgrund eines internen Signals, das von der Sicherheitszentrale kam, autorisiert von… äh, hm… Das Signal zum Abschalten erfolgte unter Ihrem Namen, Sir.«

»Oh.« Sauer stöhnte auf. »Haben Sie schon überprüft, wo sich die Besatzungsmitglieder aufhielten, die keinen Dienst taten?«

»Ja, Sir. Offenbar hat sich in der letzten Stunde niemand unbefugt irgendwo aufgehalten. Heißt natürlich nicht viel. Das Schlimmste, was man üblicherweise fürs Herumschnüffeln in fremden Revieren bekommt, sind ein, zwei Tage Bau.«

»Was Sie nicht sagen. Schicken Sie eine Mannschaft runter. Ich will, dass der Gang abgesichert wird!«

Sauer hatte vergessen, dass die interne Verbindung noch offen war, bis sich der Kapitän schließlich räusperte. »Ich nehme an, dass Sie für den Augenblick in Sicherheit sind«, bemerkte er.

»Ja, Sir.« Der Leutnant wurde rot bis an die Ohren. »Irgendjemand hat die Sensoren vor der Kabine der Inspektorin ausgeschaltet und dabei meine Sicherheitskennung benutzt. Sie hat uns wirklich eins ausgewischt, Sir.«

»Und wie gedenken Sie die jetzige Situation in den Griff zu bekommen?« Mirsky zog eine Augenbraue hoch. »Machen Sie schon, ich erwarte eine Lösung.«

»Nun ja…« Sauer zögerte. »Ich glaube, ich habe die Saboteure geortet, Sir. Hab ich Ihre Erlaubnis, sie mir zu schnappen?«

Mirsky grinste ohne jede Spur von Humor. »Tun Sie’s. Aber nehmen Sie die beiden lebend fest, ich möchte ihnen ein paar Fragen stellen.« Zum ersten Mal erlebte Sauer seinen Kapitän wütend, und das ließ sein Blut erstarren. »Ja, sorgen Sie dafür, dass beide am Leben bleiben. Ich will nicht, dass ihnen etwas zustößt. Ach, und noch etwas, Sauer.«

»Sir?«

»Wenn das hier vorbei ist, will ich einen vollständigen schriftlichen Bericht, aus dem hervorgeht, wie und warum es zu der ganzen Geschichte gekommen ist. Bis gestern früh.«

»Ja, Sir.« Ohne Ankündigung kappte der Kapitän die Verbindung.

Sauer stand auf. »Ihr habt gehört, was der Käpt’n gesagt hat. Obermaat, ich nehme den Funkrufempfänger mit. Und Waffen.« Er ging zu dem gut gesicherten Schrank hinüber und drückte seinen Daumen auf den Scanner. Als es klickte und die Tür aufsprang, entnahm er dem Schrank verschiedene Gerätschaften. »Sie bleiben hier. Auf Kanal neunzehn hören Sie mit. Ich mache mich jetzt auf den Weg zur Kabine. Halten Sie ein Auge auf meine Sicherheitskennung. Wenn Sie merken, dass sie irgendwo auftaucht, wo ich unmöglich sein kann, geben Sie mir unverzüglich Bescheid.« Er setzte sich einen Kopfhörer auf, der wenig Gewicht hatte, griff nach einem Betäubungsgewehr, hielt es sich an die Schläfe, während der Computer die Waffe mit Informationen fütterte, und verdrehte die Augen, als er den Sucher testete. »Soweit alles klar?«

»Ja, Sir. Soll ich die Infrarotsensoren auf dem grünen Deck einschalten?«

»Selbstverständlich.« Sauer drückte mit dem Gewehr gegen die Tür. »Luke öffnen.«

»Zu Befehl, Sir.« Es klickte, als sich die Verriegelung löste. Der Rekrut, der draußen Wache schob, hätte fast sein Tablett mit der Kaffeetasse fallen gelassen, als er den Leutnant sah.

»Sie da! Setzen Sie sofort das Tablett ab und nehmen Sie das hier!« Sauer streckte ihm eine zweite Schusswaffe aus seinem Arsenal hin, die der verblüffte Rekrut unbeholfen ergriff. »Halten Sie sich an Kanal neunzehn. Ich will von Ihnen keinen Ton hören, außer wenn Sie zur Meldung aufgefordert werden. Und jetzt folgen Sie mir.«

Schon eilte Sauer den Gang entlang, während die luftdichten Türen vor ihm auseinander glitten und hinter ihm wieder zugingen. Die Nacht verwandelte sich in eine endlose Reihe von Tunneln, die nur sporadisch, beim Aufgleiten der Türen, durch rötliches Licht erhellt wurde.

 

Das Erste, was sie merkte, war, dass ihr Kopf schmerzte. Das Zweite…

Sie lag in einem Beschleunigungssessel. Ihre Hände und Füße waren kalt. »Rachel!«

»Ich bin wach«, versuchte sie zu sagen, war aber nicht sicher, ob irgendetwas aus ihrem Mund drang. Schon das Öffnen der Augen verlangte enorme Willenskraft. »Wie spät? Was ist…? Wie lange…?«

»Eine Minute«, erwiderte Martin. »Was ist hier drinnen passiert?« Er saß neben ihr. Die Kapsel war so winzig, dass man Platzangst bekommen konnte, und sah wie ein Ungetüm aus den Anfängen der Raumfahrt aus. Die Luke über ihnen stand allerdings offen, sodass sie gerade noch die innere Kabinentür erkennen konnten. »Luke schließen«, ordnete sie an. »Ich hab doch gesagt, dass ich ein Rettungsboot besitze, stimmt’s?«

»Tja, und ich dachte, du wolltest mich nur bei Laune halten.« In dem trüben Licht wirkten Martins Pupillen riesengroß. Das Verdeck der Kapsel faltete sich über seinem Kopf zusammen. »Was geht hier vor?«

»Wir sitzen auf einer…«, sie schnappte nach Luft. »… ach, Scheiße, auf einer… Salzwasserrakete. Kernspaltung. Gepäck voller… Uran. Und Bor. Unauffällige Hilfsmittel, die man im Notfall gut gebrauchen kann, Zeug, das man nicht leicht entdeckt. Meine kleine Versicherungspolice.«

»Du kannst dir doch nicht einfach den Weg aus einem Raumschiff mit voller Besatzung erzwingen!«, wandte Martin ein.

»Das wirst du schon sehen.« Sie verzerrte das Gesicht, wobei sich ihre Lippen von den Zähnen zurückzogen. »Versiegelte… Schotts. Luftdichter Kokon ringsum. Die einzige Frage ist…«

»Autopilot bereit«, verkündete das Rettungsboot. Eine ganze Batterie von Navigationsdisplays für Notsituationen leuchtete auf der Konsole vor ihnen auf.

»… ob die auf uns schießen, wenn wir starten.«

»Warte. Ich muss da erst mal durchblicken. Wir sind weniger als einen Tag von Rochards Welt entfernt, stimmt’s? Und dieses… Ding… hat genügend Beinchen, um uns dorthin zu tragen? Also wirst du ein nettes kleines Loch in die Wand hauen, damit wir rauskommen. Und die werden uns einfach so ziehen lassen?«

»So in etwa«, erwiderte sie und schloss die Augen, um die hübschen blauen Displays zu beobachten, die auf ihre Netzhaut projiziert wurden. »Noch rund zehntausend g- Sekunden bis zur Landung. Derzeit befinden wir uns etwa vierzigtausend Sekunden von Erdnähe. Also werden wir wie ein Scheißhaufen durch die Gegend treiben, nicht wahr? Und so tun, als wären wir eine entleerte Jauchegrube. Falls die ihr Radar einschalten, verraten sie ihren Standort. Und falls sie schießen, sind sie nicht länger unsichtbar. Also werden sie uns ziehen lassen und sich vornehmen, uns später aufzusammeln, sofern wir nach ihnen dort ankommen. Falls wir versuchen, dort als Erste anzukommen, werden sie schießen…«

»Du setzt darauf, dass das Festival sie erledigt.«

»Stimmt.«

»Bereit, Startpumpe auszurüsten«, meldete der Autopilot und klang dabei wie ein pingeliger alter Mann.

»Mein erster Mann«, erklärte sie. »Hat immer nur herumgenörgelt.«

»Und ich hatte schon gedacht, das sei die Stimme deines Lieblingsfrettchens.« Martin beschäftigte sich gerade damit, nach Schutzpolstern zu suchen. »Gibt’s in dieser Kiste keine Schwerkraft?«

»Ist kein Luxusdampfer.«

Etwas stieß draußen so hart gegen die Tür, dass es schepperte. »O Scheiße.«

»Wir starten in… zweiundvierzig Sekunden«, sagte Rachel.

»Hoffe, die lassen uns noch so lange Zeit.« Martin beugte sich hinüber, um Rachel anzuschnallen. »Wie viele g macht das Ding?«

Ihr Lachen ging in ein Husten über. »So viele, wie wir aushalten. Die Rakete basiert auf Kernspaltung.«

»Kernspaltung?« Er sah sie entgeistert an. »Dann können die uns wie die Tontauben abknallen! Wenn sie…«

»Halt den Mund und lass mich arbeiten.« Erneut schloss sie die Augen, um die letzten Vorbereitungen zu treffen.

Sich heimlich davonzuschleichen war natürlich entscheidend. Für einen Schlachtkreuzer wie die Lord Vanek war eine Rakete, die von Kernspaltung angetrieben wurde, ein leichtes Opfer. Ihre Schubleistung würde rund vier Stunden vorhalten. Möglicherweise würden sie während dieser Zeit dem Schlachtkreuzer voraus sein – falls die Beschleunigung, der kein Ausgleich entgegenwirkte, die Passagiere dieser Nussschale nicht vorher umbrachte. Und falls die Lord Vanek nicht einfach volle Kampfstärke vorauslegte und an der Rakete vorbeiraste. Aber nach diesen vier Stunden würde ihnen die Schubkraft ausgehen, was einer Katastrophe gleichkam. Und was noch schlimmer war: Bis sie es schafften, mehr als zehntausend Kilometer Abstand zwischen sich und die Lord Vanek zu legen, würden sie sich innerhalb der Reichweite der tertiären Laserverteidigung befinden – so nahe dran, dass das Kriegsschiff nichts anderes zu tun brauchte, als seine Lidar-Impulse auf das Rettungsboot zu richten. Und dann würden sie sich ganz schnell in ihre Bestandteile auflösen, nicht anders als ein Ei im Mikrowellenherd.

Aber zwischen der bloßen Möglichkeit und der unvermeidlichen Tatsache bestand immerhin eine gewisse Kluft, und Rachel setzte darauf, dass diese Kluft groß genug sein würde, um die Nussschale hindurch zu manövrieren. Falls das riesige Kriegsschiff den Antrieb aktivierte, ging damit ein Leitstrahl einher, den womöglich alle Verteidiger im Umkreis von einer halben Lichtminute entdecken würden. Und falls es die große, tödliche Batterie von Lasersensoren einsetzte, hätte es ebenso gut mit greller Neonschrift ankündigen können: KRIEGSSCHIFF IM ANFLUG – KOMMT UND SCHNAPPT MICH. Kapitän Mirsky würde nicht wagen, sie mit so auffälligen Mitteln zur Strecke zu bringen. Es sei denn, er war bereit, den Zorn seines Admirals auf sich zu ziehen, indem er vor den Augen des Festivals ein Riesenspektakel inszenierte. Nur wenn sie ihren eigenen Antrieb oder ein Notsignal zündeten, würde Mirsky sie bedenkenlos abschießen, weil die Position der Lord Vanek in diesem Fall ohnehin schon preisgegeben war.

Allerdings mussten sie erst einmal vom Schiff herunterkommen. Zweifellos würde das Suchkommando innerhalb von Minuten vor ihrer Kabinentür stehen, ausgerüstet mit Blechschneidern und Waffen.

Die ausgehöhlten Schotts zwischen diesem Witz von Rettungsboot und der äußeren Schiffshülle waren ja gut und schön, aber wie sollte sie einen sauberen Durchbruch schaffen, ohne die da draußen zu alarmieren?

»Roboter eins, übermittle Beginn der ersten Zerstörungsphase.«

»Bestätige Beginn der ersten Zerstörungsphase.«

»Schwert. Bestätigung?«

»Bestätigt.«

Der Transponder in ihrem Gepäck schickte den Sirenengesang der Zerstörung aus und nutzte dazu Wellenlängen, die nur Rachels Spionageroboter – die wenigen, die noch übrig waren – hören würden. Roboter eins, eingezwängt ins Abflussrohr der Zelle, in der man Martin gefangen gehalten hatte, würde auf das Signal lauschen. Und den letzten Rest seiner fast erschöpften Reserven dazu nutzen, seine winzige Sprengladung zu zünden. Die Ladung war zwar nicht einmal so groß wie eine Handgranate, aber sie besaß genügend Kraft, das Abflussrohr der Toilette zu zerfetzen.

 

Kriegsschiffe können sich bei ihren sanitären Einrichtungen nicht auf Gravitation stützen. Das Abwassersystem der Lord Vanek stand künstlich unter Druck und bestand aus einem komplizierten Netz von Rohrleitungen, die durch Klappen miteinander verbunden waren, um Rückstaus zu verhindern. Die Lord Vanek recycelte die Jauche nicht, sondern lagerte sie ein, damit Fäkalien nicht etwa zu Schrapnells gefroren. Denn dann hätten sie das Raumschiff und seine Trabanten wie eine mit eiskalten Kugeln geladene Schrotflinte zerfetzen können. Aber erstens kann es anders kommen und zweitens als man denkt. Zwar schien es vernünftig, die Fäkalien in Tanks aufzubewahren, um Raumtrümmer möglichst zu vermeiden, aber andere Risiken – wie eine Katastrophe an Bord, ein elektrischer Kurzschluss oder das Versagen der lebenserhaltenden Systeme – waren dabei nicht eingerechnet.

Als die von Rachel konstruierte behelfsmäßige Bombe explodierte, zerriss sie ein abwärts verlaufendes Rohr, durch das Abwasser und Fäkalien eines ganzen Decks zu den großen Tanks transportiert wurden. Was noch schlimmer war: Sie zerfetzte auch eine Klappe, die den Rückstau regulierte. In der Folge strömte das Abwasser von den Tanks zurück und verteilte sich überall, hunderte von Litern pro Sekunde, die Konstruktionen und Leitungen durchnässten. Sofort schrillten in den Wartungsräumen Schadenmelder los. Hastig öffnete der Rekrut, der dort Dienst tat, die Hauptklappen und beförderte die ganze Soße hinaus ins All. Die Lord Vanek hatte fast zwölfhundert Mann Besatzung an Bord und war seit Wochen unterwegs. Was sich aus dem Speigatt ergoss, dem Loch in der Schiffswand zum Wasserablauf, war ein höllischer Regen. Fast zweihundert Tonnen von Abwasser drangen just in dem Moment ins All hinaus, als Rachels Rettungsboot den Countdown zum Start gerade zu Ende brachte.

Bei der Montage des Rettungsbootes hatte die Roboterfabrik in Rachels Gepäck ausgiebige, um nicht zu sagen verheerende Veränderungen in ihrer Kabine vorgenommen. Angeblich massive Schotts zersplitterten wie Glas. Auf der äußeren Schiffshülle zerfiel eine fünfzig Zentimeter dicke Schicht aus zermahlenen Diamanten im Umkreis von drei Metern zu einer Pudermasse. Als Rachels Notsitz ins Schlingern geriet, drehte sich ihr der Magen um. Doch dann sprangen die behelfsmäßigen Kaltgasdüsen ein und schoben das neugeborene Rettungsboot aus dem zerfetzten Mutterschoß nach draußen. Ein seltsamer, schmerzhafter Druck, der in Wellen kam, machte ihr zu schaffen. Martin stöhnte so, als hätte ihm jemand einen Tiefschlag in den Magen versetzt. Gleich darauf trat das Rettungsboot in das gekrümmte Raumfeld des Schiffes ein – in ein Gefälle von einem g, das sich rund hundert Meter in den Raum erstreckte. Zwar ächzte und schlingerte das Boot unheilverkündend, begann aber gleich darauf mit seinem Sturzflug und fiel kopfüber auf das Heck des Kriegsschiffes zu.

An Bord der Lord Vanek schrillten Sirenen los, die vor der Reduktion der Schwerkraft warnten. Fluchende Brückenoffiziere zerrten an den Sicherheitsgurten ihrer Sitze. Überall auf dem Schiff brüllten die Maats nach ihren Matrosen und riefen sie zu den Schutzräumen.

Kommandeur Krupkin, der im unteren Deck für Kontrolle und Wartung des Antriebs zuständig war, betätigte den AUS-Schalter für Notsituationen, worauf sein Display nur noch einen blauen Streifen zeigte. Danach klammerte er sich mit einer Hand an den Schreibtisch und griff mit der anderen nach dem Funktelefon, das ihn mit der Brücke verband, um eine Erklärung zu verlangen.

Ohne jeden Wirbel schaltete sich die Singularität des Antriebs aus. Der gekrümmte Raum, der das Schiff umgab und sowohl für die Simulation von Schwerkraft als auch für den Schutz bei Beschleunigung sorgte, fiel zu einem weitaus schwächeren kugelförmigen Feld rings um die punktartige Masse im Maschinenraum zusammen. All das geschah gerade noch so rechtzeitig, dass eine größere Katastrophe verhindert werden konnte. Denn andernfalls wären zweihundert Tonnen Bilgenwasser und eine zwanzig Tonnen schwere behelfsmäßige Rettungskapsel ins Schiffsheck Lord Vanek eingeschlagen und hätten die Wärmeaustauschregler zerfetzt.

Es war wie ein Albtraum: Auf dem Gang, der zu den Offiziersquartieren des grünen Decks führte, schrillte eine ganze Kakophonie von Sirenentönen los. Gleichzeitig blitzten an der Decke blaue, rote und grüne Stroboskoplampen auf. Das bedeutete Kurzschluss, Aufhebung der Schwerkraft im Schiff und vieles andere.

Leutnant Sauer fluchte lautlos und kämpfte verzweifelt mit einer Sperrvorrichtung, die wegen des Notfalls heruntergesaust war. »Helfen Sie mir schon, Sie Dummkopf!«, brüllte er den Vollmatrosen Maxim Krawtschuk an, der mit angstbleichem Gesicht wie angewurzelt mitten auf dem Gang stehen geblieben war. »Packen Sie den Griff und drücken Sie mit aller Kraft dagegen, wenn Ihnen Ihr Leben lieb ist.«

Im hinteren Teil des Ganges glitten weitere Sperrtüren zu. Als sie sich schlossen, schossen an ihrer Innenseite Verstrebungen und Auffangnetze in grellem Orange heraus. Maxim packte den Griff, wie Sauer befohlen hatte, und zerrte daran. Gemeinsam schafften sie es, die sperrige Tür zu öffnen. »Gehen Sie schon hinein, Dummkopf«, knurrte Sauer. Zwar erloschen die blitzenden Lampen, die KURZSCHLUSS – den Schrecken aller Kosmonauten – verkündeten, dafür drang Sauer jetzt die Sirene, die das Versagen der Schwerkraft meldete, bis tief ins Mark. Der Boden begann zu kippen. Krawtschuk taumelte in die abgesperrte kleine Schutzkabine und gurtete sich an der Wand fest, wobei sich seine Hände nur noch auf den Instinkt verließen. Sauer konnte das Weiße in den Augen des Mannes erkennen, die vor Entsetzen weit aufgerissen waren. Er blieb am Eingang stehen und warf einen Blick durch den Gang. Die Kabine der UN-Schlampe lag im nächsten Abschnitt. Er würde erst diesen Abschnitt sichern und ein Atemgerät anlegen müssen, bevor er losgehen und herausfinden konnte, was die Frau seinem Schiff angetan hatte. Nicht nur der Kapitän wird ihr Fragen stellen, dachte er bitter.

Sauer flüchtete sich genau in dem Augenblick in den kleinen Schutzraum, als sich der Fußboden zur Seite neigte. Allerdings stabilisierte sich das Gefälle bei dreißig Grad, was noch einigermaßen erträglich war. Er merkte bereits, wie seine Füße leichter wurden. Der Antrieb muss sich wohl gerade ausschalten, wurde ihm klar. Er ließ die Tür des Schutzraums auf – bei Druckabfall würde sie sich automatisch schließen – und machte sich daran, einen Schutzanzug anzulegen, wobei er völlig systematisch vorging. Im Prinzip bestand der Anzug aus einem ganzen Satz transparenter Hüllen, die miteinander verbunden waren. Der Rucksack enthielt Sauerstoff für sechs Stunden – nicht genug für irgendwelche Unternehmungen außerhalb des Raumschiffs, aber lebensrettend, sofern man innerhalb der beschädigten Schiffshülle blieb.

»Ziehen Sie sich an!«, befahl er dem verängstigten Rekruten. »Wir gehen nachsehen, wodurch das hier verursacht wurde.«

Vier Minuten später stießen Obermaat Molotow und vier bewaffnete, durch rote Streifen als Polizisten ausgewiesene Männer zu ihnen, die sich mühsam durch die gesperrten Abschnitte des Korridors kämpften. Der junge Prokurator hatte sich ihnen mit hochrotem Gesicht angeschlossen; offenbar machte ihm der ungewohnte Schutzanzug zu schaffen. Sauer beachtete ihn gar nicht. »Obermaat, ich habe den begründeten Verdacht, dass sich im nächsten Abschnitt des Ganges beziehungsweise in der dritten Kabine bewaffnete Saboteure aufhalten. Wenn ich ein Zeichen gebe, wünsche ich, dass die Tür geöffnet und der Gang dahinter geräumt wird. Ich weiß zwar nicht, was die beiden in der Kabine an Mitteln zur Verteidigung besitzen, aber sie sind eindeutig bewaffnet. Deshalb schlage ich vor, dass Sie einfach nur Betäubungsmittel zur Befriedung der Lage einsetzen. Sollten wir feststellen, dass die Kabine leer ist, nehmen wir uns sofort die nächste vor, verstanden?«

»Zu Befehl«, erwiderte Molotow. »Haben Sie irgendeine Idee, wer da drin sein könnte?«

Sauer zuckte die Achseln. »Am ehesten wohl der Ingenieur, Springfield, und die Frau von der Erde. Aber ich könnte mich auch irren. Wie Sie vorgehen, ist Ihre Sache.«

»Verstehe.« Molotow drehte sich um. »Sie beide: rechts und links der Tür postieren. Wenn sie aufgeht, auf alles schießen, was sich darin bewegt.« Er zögerte kurz. »Haben Sie eine Fernsteuerung zur Öffnung dieser Schutztür?«

»Sie ist versperrt, aber nur manuell verriegelt.«

»Sie haben Recht.« Molotow öffnete einen Tornister und machte sich daran, ein dickes Kabel zu entrollen. »Am besten, Sie treten einen Schritt zurück.« Er griff nach dem Griff, mit dem man die Sperre an der Tür im Notfall lösen konnte.

»Auf mein Zeichen, los!«

Summend glitt die Schutztür in die Decke. Den Rekruten war die Anspannung anzumerken, aber der Gang war menschenleer. »Also gut, zur Kabine, Jungs.« Vorsichtig näherte er sich der Kabinentür. »Nehme an, dahinter liegt das Vakuum, Sir.« Er deutete auf die blinkenden Alarmlämpchen im Türrahmen.

»Wette, sie hat nur ein winziges Loch ins Schott gebohrt, um uns draußen zu halten. Lassen Sie einfach alle die Schutzanzüge anlegen, bevor wir stürmen.« Sauer kam näher und sah zu, wie Molotow das gummierte Kabel am Türrahmen befestigte, es an den Angeln entlang und danach um den Türgriff herumführte und mit Klebeband befestigte. »Ich werde das Kabel zum Aufsprengen der Tür benutzen. Sie geben der Umgebungskontrolle wohl besser Bescheid, damit dieser Gang wegen eines möglichen Druckabfalls so lange versiegelt wird, bis wir den Druck in dieser Kabine wiederhergestellt haben.«

»Sir…« Es war Muller, der diesen ganzen Schlamassel verursacht hatte.

»Was ist los?«, schnappte Sauer, der sich keine Mühe gab, seine Wut zu kaschieren.

»Ich… äh…« Wassily wand sich. »Bitte seien Sie vorsichtig, Sir. Sie… die Inspektorin… ist kein Dummkopf. Das hier macht mich nervös…«

»Wenn Sie mich weiter belästigen, werde ich Sie nervös machen. Obermaat, wenn dieser Mann anderen auf den Geist geht, dürfen Sie ihn jederzeit festnehmen. Er hat dieses ganze Fiasko verursacht.«

»Ach ja, wirklich?« Als Obermaat Molotow den angehenden Prokurator mit einem finsteren Blick bedachte, schrumpfte Wassily in sich zusammen und verdrückte sich nach hinten.

»Ich werde der Umgebungskontrolle mitteilen, dass sie uns von der Außenwelt abschneiden soll.« Sauer sprach noch mit der Zentrale, als Molotow irgendwelche Drähte und ein Sprenggerät herausholte und sich daran machte, die Sprengladungen zu verkabeln. Schließlich zog er sich ein paar Schritte zurück und wartete ab.

»Alles klar«, sagte Sauer schließlich. »In Ordnung, sind alle so weit?« Er zog sich zurück, bis er neben Molotow stand. »Bereit?« Der Obermaat nickte. »Also los!«

Nach einem heftigen Knall wie von einer Peitsche quoll Rauch aus der Tür. Gleich darauf ertönte ein unglaublich lauter Schlag, sodass sich Sauers Ohren schlossen. Der Eingang war verschwunden. Dahinter wälzte sich Dunkelheit auf ihn zu, zerrte mit eisigen Klauen an ihm, heulte auf und zog die anderen ins Vakuum hinaus. Also doch kein winziges Loch? Er versuchte noch, nach dem Griff der nächsten Schutztür zu greifen, aber sie knallte bereits zu, und er wurde gewaltsam den Gang hinunter gezerrt. Irgendetwas versetzte ihm einen schweren Schlag zwischen die Schulterblätter, so heftig, dass er keine Luft mehr bekam. Um ihn herum war es dunkel, und er hatte unglaubliche Schmerzen. Vor seinen Augen drehte sich alles, in seinen Ohren pfiff und klingelte es. Plastik schlug ihm ins Gesicht. Muss wohl meinen Schutzanzug zerrissen haben, schoss es ihm durch den Kopf. Frage mich, was mit… Denken war Schwerarbeit. Schließlich gab er es auf und überließ sich einer Benommenheit, die nach dem ersten rasenden Schwindelgefühl bald in traumloser Stille endete.

Da war Wassily Muller allemal glücklicher dran.

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