Alles oder nichts

 

 

Ein fernes Licht näherte sich rasend schnell. Gleich einem Hypertrain in Vakuumröhren unter der Erde raste die Explorer mit über 500 Stundenkilometern durch den Gesteinsmantel des Mondes. Funken schlugen durch die Dunkelheit, als sich Metall und Mantelgestein für kurze Zeit berührten. Die Explorer korrigierte ihren Kurs und flog unbeirrt weiter. Keine Schienen die sie führten, kein Ort der Ruhe. Es gab nur eine vernünftige Richtung. Raus aus dem toten Mond.

 

Cockpit Explorer, B-Deck

Die Enge und unmittelbare Distanz zur Tunnelwand verlangte Bone höchste Konzentration ab, die er kaum noch aufbringen konnte. Nur wenige Dutzend Meter Platz nach allen Seiten ließen kaum Spielraum für große Manöver. Übermüdet und erschöpft von dem starren Blick über die Nase des Schiffes, versuchte er verkrampft, die goldene Mitte in dem schier endlosen engen Tunnel zu halten. Es gab viele gute Gründe, diesen Ort so schnell wie möglich zu verlassen.

Obwohl die hohe Geschwindigkeit unvernünftig erschien, flog Bone gerademal mit acht Prozent der vollen Triebwerksleistung. Dennoch konnte jeder Fehler, jede Unachtsamkeit und jedwede Berührung mit der Wand das Schiff außer Kontrolle bringen, es um die eigene Achse schleudern und zu einem grässlichen Knäuel Metall verformen. Trotz des Risikos war höchste Eile geboten. Es war ein Wettlauf gegen die Vernunft.

„Ich hasse es, durch Tunnel zu fliegen. Wird langsam zur lästigen Gewohnheit“, kämpfte Bone angespannt gegen seine Müdigkeit.

„Kannst du noch? Du brauchst unbedingt eine Pause“, bemerkte Susannah besorgt. „Du siehst nicht gut aus.“

„Danke für das nette Kompliment. Eine Pause wäre nicht schlecht, aber unmöglich. Wir können hier nicht anhalten und der Bordcomputer und die Automatik sind defekt. Wer soll uns sonst hier rausbringen? Kannst du mir etwas Wasser reichen?“

„Na klar“, antwortete sie, holte eine volle Flasche und stellte sie sicher neben seinen Pilotensitz in eine dafür vorgesehene Vorrichtung. Dann nahm sie wieder neben ihm Platz und schraubte den Verschluss auf.

„Ich hab Caren ruhig gestellt. Sie ist bei Beth. Sie sind beide gut verwahrt und sicher“, sagte Susannah ruhig, schaute Bone seitlich ins Gesicht und sah ihm seinen Schmerz an.

„Okay. Das ist gut. Wir werden uns um sie kümmern, wenn wir das hier überstanden haben.“

„Irgendwie kann ich sie verstehen. Wäre ich an ihrer Stelle, hätte ich dasselbe getan. Sie tut mir so leid. Sie braucht dich.“

Bone schwieg, steuerte das Schiff unbeirrt weiter. Susannah sprach weiter, direkt aus ihrem Herzen.

„Und ich brauche Steven. Ich bin dir so dankbar, dass du versuchst, sie alle zu retten. Ich weiß nicht, was wir ohne dich…“

„Schon gut. Er ist auch mein Freund. Wir dürfen sie nicht im Stich lassen. Caren wird es verstehen. Das muss sie einfach.“

„Ich kümmere mich solange um sie. Sie mag dich wirklich. Das weißt du doch, oder?“

„Ja, ich weiß“, sagte er leise mit einem traurigen Lächeln.

Susannah blickte wieder hinaus in den dunklen Schacht.

„Wann kommt nur endlich der Ausgang?“, seufzte sie ungeduldig.

„Wenn es überhaupt einen gibt“, zweifelte Bone selbst so leise, so dass Susannah es kaum hören konnte. „Es kann nicht mehr weit sein. Hilf mir und halt die Augen offen. Warn mich, wenn ein Hindernis kommt!“

„Ich versuchs ja, aber wir fliegen fast blind. Die Wände zerstreuen jegliches Echo.“

Selbst der Blick auf dem Höhenmesser brachte keine klare Erkenntnis. Immer wieder sprang der Kilometerstand irrend hin und her.

Sehr zum Ärger der Anwesenden, betrat Viktor in diesem Moment das Cockpit. Wie eine lästige Fliege ließ er sich einfach nicht abschütteln.

„Bis hier sind wir gut durchgekommen. Den Rest schaffen wir auch noch“, machte Bone ihr Mut.

„Hoffentlich haben Sie Recht. Wenn das eine scheiß Sackgasse ist, in die Sie uns reingeflogen haben, heißt das Endstation für uns“, gab Vandermeer in gewohnt bissigem Ton von sich. „Raten Sie mal, wem ich dann den Arsch aufreiße!“

„Am besten Sie halten das Maul!“, geriet Susannah wieder zusehends in Rage. „Aufgeblasenes Ar…“

„Niemand macht sich so viel Arbeit, so tief zu graben. Der Schacht kann nur an die Oberfläche führen“, unterband Bone den aufkommenden Streit.

„Ja. Nur, ob sie auch fertig geworden sind?“

„Wir riskieren es! Okay?“, rief Susannah energisch. Strafend sah sie zum Marine, der entschuldigend seine Hände hob.

„Schon gut. Regen Sie sich ab! Ich will hier genauso raus.“

Plötzlich wurde das Schiff erneut durchgerüttelt, metallisches Kratzen hallte durch den ganzen Rumpf.

„Er kann die Mühle ja kaum noch geradeaus steuern.“

„Kontakt an Steuerbord. Ein paar Kratzer“, meldete Susannah von ihrer Station aus.

„Er weiß doch, dass die Sensoren beschädigt sind. Wir sind viel zu schnell“, flüsterte Vandermeer Susannah zu.

„Alles unter Kontrolle!“, rief Bone wieder etwas wacher und stellte die Flasche in ihre Halterung zurück. Von seinem Gesicht und Haaren tropfte kaltes Wasser herab.

„Der Rumpf wird diese Zusammenstöße nicht ewig aushalten. Kannst du nicht …“, meinte Susannah besorgt, doch als sie im selben Augenblick die rotleuchtende Treibstoffkontrolle erblickte, wusste sie, dass sie sich noch nicht genug Sorgen machte. Die Reserve war völlig aufgebraucht. Der Füllstand zeigte weniger als ein Prozent an. Bone hatte den Alarm längst verstummen lassen.

„Das muss sie aushalten! Sie muss!“, antwortete er entschlossen und ernst. Als er ihre ängstlichen Blicke spürte, gab er nochmals Schub.

„Wir fliegen nur noch mit heißer Luft? Wie viel Zeit bleibt uns noch?“, fragte sie mit trockenem Hals und griff sich ebenfalls die Flasche Wasser, hoffend, dass der Angstkloß im Hals verschwinden würde.

„Minuten vielleicht. Lass dir nichts anmerken! Wir können es nicht mehr ändern.“

„Gott, bitte lass das nicht geschehen.“

„Keine Ahnung, ob uns Gott hier hört. Vertraust du mir?“, fragte Bone.

„Ja“, antwortete sie leise. Während Susannah zu beten begann, hielt Bone weiter Kurs. Er war zu allem bereit, was nötig war.

Vater unser, der du bist im Himmel, geheiligt werde dein Name, dein Reich komme, dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auf Erden. Unser täglich Brot gib uns heute, und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern, und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen. Denn dein ist das Reich und die Kraft …“

„Ich erkenne etwas. Schwaches Echo voraus. Könnte der Ausgang sein“, rief Vandermeer plötzlich euphorisch, der sich hilfreich an der Sensorenphalanx versuchte.

„Entfernung?“, rief Bone hellwach.

„Ungefähr 41 Kilometer!“, meldete Vandermeer rasch.

„Was hab ich gesagt? Wir schaffen das. Du wirst ihn wiedersehen!“

„Danke.“ Susannah lächelte wieder mit neuer Hoffnung in ihrem Blick.

„Das Echo wird stärker. Da ist definitiv etwas. Der Ausgang könnte versperrt sein. Sollten wir nicht das Tempo drosseln?“

„Noch nicht! Wir haben vielleicht nur diesen einen Anlauf. Waffen klarmachen! Wenns sein muss, pusten wir den Ausgang frei!“, befahl Bone.

„Waffen scharf und feuerbereit! Noch 35 Kilometer bis zum Ziel“, antwortete Vandermeer gebannt. Allmählich baute sich das Ende des Tunnels auf. „Was ist, wenn sie draußen auf uns warten?“, rief Vandermeer. „Oder bin ich der Einzige, der das denkt? Wir sind doch wie ein Vogel im Käfig. Und draußen lauert die Katze.“

Sekunden des Schweigens. Vandermeer vergiftete zwar die Illusion der Hoffnung, sah der bitteren Realität aber wie kein anderer ins Auge. Seit ihrer Rückkehr ins Sonnensystem waren sie ständig auf der Flucht. Kein Ort war bisher sicher. Tod und Bedrohung lauerten überall. Wenn sie jetzt feuerten, würden sie sich selbst verraten.

„Was, wenn es stimmt!?“, fragte Susannah. An ihrer ernsten Miene erkannte Bone, dass sie erhebliche Zweifel der Sicherheit hatte. Vandermeer hatte es geschafft, Angst zu sähen.

„Soweit wird es nicht kommen. Und wenn doch, werden wir es gemeinsam beenden. Dafür werde ich sorgen.“

„Nun bin ich beruhigt“, fluchte es von hinten.

„Bone, ich orte da etwas. Massive Metallstrukturen. Mehrere Tausend Tonnen Stahl versperren uns den Weg. Was kann das sein?“, fragte Susannah entsetzt.

„Shit! Das hatte ich vergessen. Das muss der Fahrstuhl sein, den Wullf und ich vermutet haben.“

„Ein Fahrstuhl? Und das sagen Sie erst jetzt? Er ist direkt über uns. Da kommen wir unmöglich durch.“

„Nein“, stieß Susannah klagend aus. Ihre Augen schrien, forderten einen letzten Versuch.

„Das werden wir sehen.“ Bone zielte wohlüberlegt, schaltete die gesamte zur Verfügung stehende Feuerkraft der Bordgeschütze und der Impulswaffen zusammen. Dann betätigte er den Abschussknopf und verfolgte die Salven der Geschosse durch den Tunnel.

„Entfernung?“

„19 Kilometer. Sie müssen die Bremstriebwerke starten!“

Sekunden später schlugen die Geschosse auf den Fahrstuhl ein. Glühendes berstendes Metall und grelles Plasma züngelte in der weiten Ferne des Tunnels, offenbarte für Sekunden das Ende der Reise als schwachen Lichtschein. Dann wurde es wieder dunkel.

„Bericht!“, forderte Bone zögerlich.

„Ziel nicht zerstört. Scheiße, es ist zu massiv. Ich kann nur leichte Beschädigungen ausmachen.“

Alle schauten sich entsetzt an, während Bone die Geschwindigkeit drosselte und endlich die Bremstriebwerke zündete.

„Endstation. Wir kannten das Risiko.“

„Das kann doch nicht alles gewesen sein? Feuern Sie nochmal!“ Vandermeer sprang von seinem Platz auf. „Los! Ballern Sie drauf, solange, bis es zerstört ist!“

„Nicht aufgeben! Versuch’s weiter!“, flehte Susannah.

„Verdammt richtig! Feuern Sie weiter oder machen Sie den Sitz frei!“, drohte Vandermeer noch deutlicher.

„Sie hat das auszuhalten, das sagtest du selbst. Es gibt nur diesen Weg! Wir brechen da jetzt durch!“, forderte Susannah entschlossen.

„Also gut, was haben wir zu verlieren. Abstürzen können wir immer noch“, gab Bone nach und drückte den Abzug erneut.

Stark langsamer werdend, näherte sich die Explorer dem großen Hindernis. Immer wieder feuerten die Kanonen mit voller Kraft in die Dunkelheit. Wie Kugelblitze schossen die Plasmasalven den Tunnel entlang, erhellten die Wände auf ihrem Kurs mit gleißendem Licht. Während das Plasma das Metall zu schmelzen begann, riss das Bordgeschütz mit den Explosivgeschossen immer mehr Löcher in den gewaltigen Koloss aus Metall. Das feurige Inferno war schon deutlich sichtbar in greifbare Nähe gerückt.

Fast zum Stillstand gekommen, begann plötzlich ein heißer Strom aus rotglühenden Metalltropfen auf die Explorer zu prasseln. Einige trafen direkt auf die Fenster des Cockpits.

„Ich glaub, wir können durch“, freute sich Bone, als Vandermeer kreidebleich anlief.

„Ach, du Scheiße!“

„Was ist los? Reden Sie!“, fragte Susannah alarmiert, ahnend, dass etwas Schreckliches passieren würde.

„Das Ding kommt runter. Wir müssen die Halterungen zerstört haben. Es stürzt ab und kommt direkt auf uns zu!“

„Was?“, schrie Susannah auf.

„Kommen wir dran vorbei?“, fragte Bone naiv und schüttelte sogleich seinen Kopf. Kaum ausgesprochen erkannte er selbst, wie unsinnig die Frage gerade war. Jeder Fahrstuhl war so groß, wie sein Schacht.

„Negativ. Das Teil ist viel zu groß. Er wird uns in die Tiefe reißen. Und er kommt schnell näher.“

Ängstlich trafen sich Bones und Susannahs Blicke. Die nahe Rettung schien für immer verloren. Verbittert kniff Susannah die Augen zusammen und schluchzte leise.

„Wie weit noch entfernt?“

„11000 Meter und wird immer schneller.“

„Und wir haben es auch noch kurz und klein geschossen. Das macht es noch gefährlicher.“

„Wie viele Tonnen Masse hat es? Schnell! Ich brauch genauere Daten.“

„Moment. 160.000 Tonnen. Grob geschätzt“, rief Viktor.

„Triebwerke aus.“ Bone reduzierte den Schub auf null, so dass auch die Explorer in den freien Fall überging. Mit dem Heck voran stürzte das Raumschiff zurück in die Tiefe des Mondes.

„Was haben Sie vor?“, fragte Vandermeer.

„Ich arbeite dran. Wie weit ist er noch entfernt?“

„Noch knapp 8000 Meter. Kommt verdammt schnell näher.“

„Geben Sie mir laufend Meldung!“

„Verstanden.“

Bone griff zum Steuerhebel, aktivierte die Bugdüsen zur Lagekontrolle und kippte das ganze Schiff in horizontale Fluglage 90° zum Tunnel. Die senkrechten Starttriebwerke auf den Mondkern ausgerichtet, näherte sich der Metallkoloss nun direkt von oben. Es war pure Millimeterarbeit. Mit einer Länge von 145 Metern entsprach die Explorer schließlich fast den Maßen des Schachtes. Vorsichtig manövrierte Bone den Bug in Richtung der diagonalen Ecken, um mehr Bewegungsfreiheit zu bekommen. In dieser Ausrichtung hatte er immerhin 215 Meter Platz. Die Explorer fiel unterdessen unaufhaltsam in die Tiefe.

„Viktor, wie weit ist er entfernt?“, verlangte Bone nach konkreten Daten.

„5700 Meter. Was haben Sie vor?“, versuchte Viktor das letzte Manöver zu verstehen.

„Geht auf autonome Sauerstoffversorgung! Los! Verschließt alle eure Anzüge! Das wird vielleicht etwas hart werden.“

Niemand ließ sich diesen Befehl zweimal sagen. Die Bedeutung war allen klar. Sofort setzten sich diejenigen, die keinen Helm trugen, einen auf.

Vandermeer reichte weitere Helme nach vorn, während Susannah half, die einzelnen Anzüge zu verschließen.

„4000 Meter. Sie wollen den Fahrstuhl auffangen? Sie sind verrückt!“, stellte Vandermeer erschreckend nüchtern fest. Bone nickte.

„Haben Sie einen besseren Plan?“

„Nein. Das ist ein beschissener Plan. Aber der Beste, den ich grad sehe“, begrüßte Vandermeer ihn zustimmend und lächelte verrückt. Er schien Gefallen an dem waghalsigen Stunt zu haben. Wieder einmal blickte er mit einer Mischung von Wahnsinn und Angst, bei dem Bone ein Schauer über den Rücken lief.

„Alles hängt an der Brenndauer des Antriebes. Um das Gewicht des Fahrstuhls mach ich mir keine Sorgen. Die Gravitation des Mondes verringert seine Masse auf ein Sechstel. Die Triebwerke schaffen viel mehr. Betet besser, dass unser Treibstoff reicht!“

„Und dass uns das Teil beim Aufschlag nicht zermalmt. Noch 2500 Meter“, meldete der Marine übernervös.

Nach vorn gebeugt, blickte Susannah hinauf. Von einem Funkenmeer begleitet, schrammte der rotglühende Fahrstuhl immer tiefer der Explorer hinterher.

„Ich kann ihn sehen. Er ist riesig!“, rief Susannah ängstlich. „Bist du sicher, dass wir das überstehen?“

„Wir haben keine andere Wahl“, antworte Bone unsicher. In seinen Augen lag etwas Schicksalhaftes. Jetzt wusste sie, dass er die Antwort auf die eigentliche Frage selbst nicht kannte.

„Wir fallen zu langsam. Bei der Geschwindigkeit wird er uns wie eine Presse zerdrücken. Wir sitzen hier oben viel zu nah dran!“, rief Vandermeer aufgeregt.

„Je tiefer wir fallen, umso geringer sind unsere Chancen es wieder nach oben zu schaffen. Die Fallgeschwindigkeit gleicht sich an. Er muss etwas schneller sein als wir“, erklärte Bone kühl.

„Er wird uns zu hart treffen und alle oberen Decks zerstören. Unseres mit eingeschlossen.“ Vandermeer schüttelte resignierend den Kopf. „Wir sind hier nicht sicher!“

„Wenn wir es hier nicht überleben, dann nirgendwo. Dann wird uns das Ding nach unten reißen und in den Boden rammen. Vielleicht werden wir es nicht schaffen. Das Risiko müssen wir eingehen.“ Bone zuckte mit den Schultern. Es gab keine andere Alternative mehr.

„Noch 1500 Meter. Aufschlag in circa 40 Sekunden!“

Vandermeer wurde ganz still und starrte auf das Radar.

Sachte senkte Bone den Bug um 15 Grad ab, so dass sich der Fahrstuhl auf die Knautschzone der hinteren Hälfte mehr am Heck austoben konnte. Er musste abwägen. Vorne oder hinten. Um ihrer Köpfe willen, wählte er die Heckpartie, auch wenn er damit die Haupttriebwerke aufs Spiel setzte.

„Schnallt euch alle an! Das ist bitterer Ernst!“

Flüchtig sah er noch zum Bild von Jane auf der Konsole, gedachte ihrer einige Sekunden. Dann griff er sich an die Brust, wo unter der Kleidung das Amulett von Caren hing.

„Egal, was nun passiert. Ich bin sehr stolz darauf, dass ich bei dieser Mission dabei sein durfte. Mit euch allen!“

Dann begann er etwas zu tun, was er schon lange nicht mehr getan hatte. Die Hand noch immer auf der Brust ruhend, begann er leise zu beten.

„Er hat uns gleich!“ Susannah krallte sich fest.

 

Kryohalle II, Mittelsektion, C-Deck

Trügerisch war die Stille. Gedämpftes Licht erfüllte die verlassene Station. Summend scannten die beiden horizontal ausgerichteten Kryostationen sowohl Sadler als auch Caren. Aufgebahrt und unter Beruhigungsmitteln in Tiefschlaf versetzt, lagen beide Frauen hinter dem Glas der verschlossenen Kanzeln. Auf unbestimmte Zeit verwahrt, um sie vor sich selbst und weiteren unüberlegten Dummheiten zu schützen, ruhten ihre verletzten Seelen, unfähig das Erlebte zu verarbeiten. Und doch waren sie besser dran als der Rest der Crew, die dem kommenden Martyrium entgegensah.

 

Obere Sensorenphalanx, Kommunikation, A-Deck

High-Tech dominierte diesen für alle Raumflüge typischen primären Abschnitt. Dies war das Reich der bunten Lichter, der Sensoren, Backup-Systeme, Kommunikationsrelais sowie der Schalt- und Kontrolltafeln der großen Hauptantenne, die sie schon vor Jahren verloren hatten. Nur selten verschlug es ein Mitglied der Besatzung an diesen ruhigen Ort. Es herrschte Stille. Nichts als das Surren der aktiven Systeme.

Plötzlich erschütterte ein heftiges Krachen oberhalb der Außenschicht das gesamte Schiff. Metallstreben brachen. Elektrische Leitungen barsten, peitschten ihre Blitzentladungen zwischen den Schränken voller Technik hin und her. Das Halon-System setzte zur Brandbekämpfung ein, obwohl es noch kein Feuer gab. Entsetzliches Tosen brach über das ganze Schiff herein, als in Sekundenbruchteilen die Decke von hinten nach vorn eingedrückt wurde und sich die gesamte Sektion in ein unbeschreibliches Chaos verwandelte. Überall riss die Außenwand ein, so dass der Druckausgleich des Hüllenbruchs alles hinausbeförderte, was lose oder zerstört umherflog. Binnen einer einzigen Sekunde hatte sich der gewaltige Fahrstuhl durch das ganze A-Deck gedrückt und bewegte sich unaufhaltsam zum B-Deck der Messe vor.

 

Kryohalle II, Mittelsektion, C-Deck

Selbst das C-Deck blieb von der Wucht des Aufschlages nicht verschont. Unter Dröhnen und Ächzen verformte sich der Rumpfquerschnitt dieser Sektion. Nicht die Geschwindigkeit hatte das Innere der Explorer verformt, sondern die Masse des Fahrstuhls, die den Hohlraum der einzelnen Decks wie eine Bierdose zerquetschte. Die gesamte Integrität destabilisierte sich zusehends, hielt aber stand.

Die Decke verformte sich unter dem Druck. Lampen sprangen aus ihren Fassungen und Platten polterten zu Boden. Sogar das dicke innere Schott zur Achtersektion brach aus seiner Halterung und rutschte mit zerstörerischer Wucht durch den Raum. Eine Explosion erschütterte die angrenzende Kryohalle III. Hinter dem zweiten Schottfenster loderten Flammen einer Feuersbrunst, die sämtliche Kryokammern der dritten Halle vernichtete.

Sadler und Caren schliefen fest und friedlich, nicht wissend, welche Last sie über ihren Körpern trugen. Dann brach das Stromnetz der Sektion zusammen. Obwohl keine elektrischen Lampen mehr leuchteten, wollte sich keine Finsternis einstellen. Stroboskopartig flackerten grelle Funken aus allen Enden des Schiffes. Die Gluthölle der Kryohalle III tauchte die Sektion wie ein einsam brennender Hochofen in oranges Licht.

 

Cockpit Explorer, B-Deck

Während sie aus ihren Sitzen in die Gurte katapultiert wurden, entbrannte auch im Cockpit ein Inferno. Weder die Dämpfungsfelder noch die Ablenkungskraftfelder gegen Raumartefakte konnten die ungewöhnliche Härte des Aufschlages abmildern. Krachend erzitterte das gesamte Schiff, während ohrenbetäubender Lärm die Zerstörung zusätzlich unterstrich. Die Decke bebte, beulte sich zusehends und riss an einigen Stellen über ihren Köpfen einen handbreiten Spalt ein. Die ausgefallene Schwerkraft erzeugte ein unwohles Gefühl des freien Falls, geschoben und angestoßen von etwas sehr Großem.

„Gott, wir schmieren ab! Er zieht uns runter! Starten Sie die Triebwerke, solange Sie noch können!“, brüllte Vandermeer so laut er konnte. Der Lärm übertönte alles.

„Hüllenbruch und Feuer auf mehreren Decks!“, rief Susannah, wobei sie versuchte, ihre Angst würdevoll in Grenzen zu halten. Im selben Augenblick erloschen alle Anzeigen an Vandermeers Sensorenphalanx.

„Himmel! Alle Komm-Systeme ausgefallen. Wir sind blind und taub.“ Vandermeer schien verbittert, hatte er doch genau dies befürchtet.

„Was haben Sie erwartet?“, erwiderte Bone ernst.

Konzentriert überflog er die noch funktionierende Schadenskontrolle, wartete auf das Ende des Zusammenpralls und wollte keine zusätzliche Stauchung durch die Triebwerke verursachen.

Unaufhörlich bebte und vibrierte das Schiff. Der Krach von brechendem und quietschendem Metall wollte nicht enden.

„Hört sich an, als wenn sich der Fahrstuhl durch das Schiff gräbt“, fragte Susannah zurecht verängstigt.

„Das Metall überträgt die Schallwellen des Fahrstuhls. Wir spüren den Kontakt zum Tunnelschacht. Kein Grund zur Panik! Das Schlimmste haben wir hinter uns.“

„Keine Panik? Der Schrott macht uns platt, wenn Sie nicht bald etwas unternehmen. Ziehen Sie die Mühle hoch!“

Wilde Signale und Alarme fügten sich zu einem Konzert des Grauens. Ein Kurzschluss unterhalb der rechten Konsolen löste mehrere Stichflammen aus, die zwischen Susannahs Beinen empor loderten. Nur ihrem Anzug war es zu verdanken, dass sie keine Verbrennungen erlitt. Diszipliniert nahm sie den Feuerlöscher und erstickte die Flammen, bevor sie auf weitere Systeme übergriffen. Dann sah sie Bone an.

„Bring uns endlich nach oben!“

 

Außerhalb der Explorer

Unbarmherzig riss der Fahrstuhl das zusammengedrückte Schiff in die Tiefe. Gleich einer gigantischen Walze hatten tausende Tonnen Metalls die Oberseite der Explorer zu einer flachen Ebene zusammengedrückt.

Dann starteten die untersten Triebwerke. In einem Akt der Verzweiflung begannen sie in einem letzten Versuch entgegen der Gesetzmäßigkeit der Gravitation ihrem Schicksal zu entfliehen. Der übermächtige Koloss, den das im Vergleich zierliche Schiff huckepack trug, schien unaufhaltsam in die Tiefe zu stürzen. Doch die Triebwerke bremsten den Absturz immer stärker. Sie waren zu weit mehr Leistung fähig, als es erst den Anschein hatte.

Die unterschiedlichen Massen der vielen Himmelskörper machten es von jeher nötig, flexible Antriebstechniken für den Weltraum zu entwickeln, die sich jeglichen Gravitationsverhältnissen anpassen konnten. Irdische Verhältnisse waren längst Standard und stellten kein Problem mehr dar. Selbst Jupiter oder der nahen Sonne wussten die starken Triebwerke genügend Gegenwillen zu leisten. Je schwerer der Himmelskörper, umso mehr vervielfachte sich das Startgewicht des eigenen Schiffes, das der Antrieb zu tragen hatten. Der Mond erwies sich in diesem Moment als Segen, dessen geringe Schwerkraft ohne jede Mühe überwunden werden konnte. Die Masse des Fahrstuhls war unbedeutend und nicht das eigentliche tödliche Problem.

Langsam näherte sich die Explorer dem Wendepunkt und brachte den Fahrstuhl quietschend zum Stillstand. Reibungsfunken erloschen für einige Sekunden, dann drehte das Schiff den Spieß um und drückte den Koloss mit aller Kraft nach oben.

 

Cockpit Explorer, B-Deck

Lautes Quietschen und Krachen hallte durch das ganze Schiff.

„Er hat sich verkeilt“, brüllte Vandermeer ins Intercom.

„Hat er nicht! Ich sag euch, wenn er sich verkeilt hat“, erwiderte Bone angespannt und sah nach oben hinaus. Dort konnte er mit eigenen Augen erkennen, wie Recht Vandermeer mit seinem Gespür doch hatte.

Die Schlagseite des Fahrstuhls hatte das Metall in die Schachtwand hineingedrückt und suchte dort einen neuen Weg. Dummerweise führte dieser Weg nicht nach oben, sondern in eine korkenähnliche Pattsituation, aus der sich der Fahrstuhl niemals befreien würde.

IVI: „Warnung! Treibstoff erreicht kritischen Stand. Sofort Landung einleiten! Warnung! Treibstoff erreicht kritischen Stand. Sofort Landung einleiten!“, wiederholte die Stimme des Bordcomputers fortlaufend. Bone schaltete sie ab.

Erstarrt blickte Susannah auf die Treibstoffanzeige, deren Reserve aufgebraucht war. Die rote Null-Anzeige ließ ihr den kalten Schweiß an der Stirn hinablaufen.

„Was? Uns ist der Saft ausgegangen? Ausgerechnet jetzt? Ist ja großartig“, brüllte Vandermeer.

„Tu doch was!“, flehte Susannah Bone an.

„Die Anzeigen waren noch nie 100-prozentig zuverlässig. Ein paar Minuten haben wir noch.“ So hoffte er jedenfalls. Er überlegte. Zuerst musste er aus dieser misslichen Pattsituation heraus. Er hatte einen Plan. Sofort zog er alle Schubregler zurück. Die kurzzeitige Abschaltung aller Triebwerke brachte den gewünschten Erfolg, so dass der Fahrstuhl aus der eingekeilten Position rutschte und erneut zu fallen begann. Sofort startete Bone das der eingedrückten Schachtwand nächstgelegene Triebwerk und kippte den Fahrstuhl in die andere Richtung. Ein heftiger Ruck durchfuhr das Schiff, als Bone schließlich auch die restlichen vertikalen Booster zündete.

„Und hoch! Hoch! Los, mach schon! Lass uns jetzt nicht in Stich!“, sprach Bone mit dem Schiff. Alle anderen schwiegen und beteten innerlich, dass ihnen das Schicksal gnädig gewogen sei. Schneller und schneller schoss die Explorer den Schacht hinauf, blind dem Ende entgegen. Doch die Hoffnung riss entzwei, als plötzlich ein starkes Stocken einsetzte. Nummer drei setzte zuerst aus. Kurz darauf Nummer zwei und vier.

„Die Tanks sind trocken. Das war’s.“ Bone starrte ins Leere.

Es war nur noch eine Frage von Sekunden, bis sie alle ihren Dienst einstellten und der freie Fall begann.

„Wir haben es wenigstens versucht“, sprach Susannah leise.

Abgekämpft blickten sich beide an.

 

Dann erlosch das letzte Triebwerk.