Die dunkle Seite des Mondes

 

 

Musik hallte durch die Gänge und Ebenen der Explorer, die seit Stunden unberührt im Orbit des Mondes verharrte. Runde um Runde scannten alle Instrumente den einst stark bevölkerten Mond nach Anzeichen von Leben. Spuren von etwas wirklich Bedeutsamen. Irgendetwas.

 

Cockpit, B-Deck

Die Füße auf der Instrumentenkonsole, saß Bone relaxt im Pilotensessel, lauschte den Oldies des vergangenen Jahrhunderts, summte bekannte Melodien nach und folgte abwesend dem geordneten Wirrwarr aller Anzeigen. Hinter den Fenstern zog der Mond selbständig seine Runden, oder war es die Explorer, die es tat? Ab und an kommunizierte er mit dem Computer. Kein wirklich erfüllendes Gespräch. Von Müdigkeit geplagt, schlossen sich immer wieder seine Augen, so dass er Susannahs Eintreten gar nicht wahrnahm.

Als er wieder erwachte, beugte sie sich mit musterndem Blick über ihn. Er war zu müde, um sich zu erschrecken. Erst im zweiten Moment sah er auch Caren hinter Susannah stehen, die einen Teller mit warmem Essen in den Händen hielt.

„Wir dachten, wir sehen mal nach dir. Alles in Ordnung?“, fragte Susannah, wie immer um jedermanns Wohl besorgt.

„Klar doch“, antwortete Bone erfreut.

„Du solltest dich schlafen legen. Du siehst fertig aus.“

„Mir ist nur langweilig. Ist das für mich?“, fragte er Caren und blickte auf den Teller mit dem aufgewärmten Tiefkühlessen.

„Ich dachte mir, du hast vielleicht Hunger.“ Caren reichte ihm den Teller. Die Portion war heiß, rationiert und würde ihn kaum satt machen. Doch es war besser, als nichts zu essen. Innerlich fragte sich Bone, ob die Erbsen, das Steak und die Bratkartoffeln noch genießbar waren, doch der Duft, der in seine Nase zog, ließ seine Bedenken sofort schwinden. Etwas, das so gut roch, konnte nicht schlecht sein. Es enthielt genug Bestandteile, die das verhindern sollten. Der Rest war ihm egal. Vom Hunger getrieben, griff er zum Besteck und begann das schnell abkühlende Essen hinunterzuschlingen.

„Lass es dir schmecken“, lächelte Caren. Bone lächelte zurück. Susannah sah sich um, überprüfte selbst die Anzeigen aller Schirme, auch wenn sie nur die Hälfte davon verstand.

„Schon was Interessantes gefunden?“, fragte sie neugierig.

Bone schob sich gerade eine volle Gabel Bratkartoffeln in den Mund und kaute schneller, um antworten zu können.

„Nein. Nichts Neues.“

„Hoffentlich finden die anderen auf der Erde was Nützliches“, meinte Caren, während sie Bone beobachtete.

„Irgendetwas müssen sie finden. Da wäre ich jetzt auch gerne“, schmatzte Bone etwas zu laut.

„Ich hab jegliches Zeitgefühl verloren. Wie lange sind sie schon weg?“, fragte Susannah.

„Fast sechs Stunden.“

„Kommt mir viel länger vor.“

„Mach dir keine Sorgen. Sie kommen bald zurück“, versuchte er sie zu beruhigen und kratze bereits den Teller leer.

„Das hoffe ich sehr. Ich geh dann mal nach dem Rest sehen.“ Susannah stand vom Sitz des Co-Piloten auf und ging. Erst jetzt erblickte Bone einen Gegenstand auf dem Sitz, der vorher nicht dort gelegen hatte. Eine braune Aktenmappe mit roter Aufschrift. Das Siegel war aufgebrochen. Seine gesamte Aufmerksamkeit auf die Mappe gerichtet, wurde ihm klar, dass Susannah es absichtlich dort hatte liegen lassen.

„Vielleicht kannst du damit etwas anfangen“, rief sie noch aus dem Korridor zurück. Sie war sich sicher, dass Bone es bereits entdeckt hatte.

„Kann ich dir helfen?“, fragte Caren.

„Im Moment nicht, danke“, antwortete er abgelenkt. Doch im selben Moment besann er sich, reichte ihr die Hand und zog sie zu sich heran, um sich richtig zu bedanken.

„Danke für das Essen. Das war lieb von dir. War eine tolle Idee. Vielleicht bringt ihr zwei den anderen auch eine Portion?“

„Okay, das machen wir. Naja, das heißt, wenn der kaputte Soldat aus der Küche verschwunden ist. Der hat mir eben einen Heidenschrecken eingejagt.“

„Was? Wer?“, fragte Bone nach, doch er hörte kaum zu.

„Na, Vandermeer. Der Typ macht mir echt Angst.“

„Ich kümmere mich gleich darum. Versprochen!“, gab er ihr den leeren Teller und blickte wieder zur Mappe.

„Sei aber vorsichtig! Bei dem kann man nie wissen.“

Dann ging sie. Einen Moment sah er ihr noch nach, wie sie nach hinten ging, doch dann fiel sein Blick wieder auf die braune Mappe mit der roten Aufschrift.

„TOP SECRET“ las er leise über Kopf und griff sich die Mappe vom benachbarten Sitz. Seine Neugier war groß. Die Initialen J. D. C. auf dem gebrochenen Siegel waren ihm so vertraut wie seine eigenen. Als er schließlich weitere Wörter auf der Mappe entzifferte, kam ihm schlagartig die Erkenntnis. Sinus Aestumm und Capri - CODE HS5A. Ohne die Mappe zu öffnen, wusste Bone bereits, worum es sich handeln musste. Das Geheimnis. Er erinnerte sich nur zu gut an die mysteriöse Geschichte des alten Mannes.

Plötzlich fielen ihm wieder Carens Worte ein. Er musste in der Messe nachsehen. Aber die Mappe. Er hatte keine Zeit.

„Mist. Sergeant Wullf? Wo sind Sie momentan?“

„Auf dem D-Deck. Was gibt es?“

„Probleme in der Messe. Kümmern Sie sich drum! Ende.“

„Verstanden! Ich geh nachsehen.“

Dann schlug er die Mappe auf. Seine Vermutungen sollten noch weit übertroffen werden.

 

Messe, Mittelsektion, B-Deck

Licht flackerte in der dunkel heruntergedimmten Messe. Lampensplitter knirschten unter den Sohlen. Müll säumte den glatten Metallboden. Als hätte eine Bombe eingeschlagen, lagen aufgeschlitzte Dosen, aufgerissene Packungen, Papierfetzen und Silberfolie zwischen Resten verschwendeter Nahrung, Scherben und verbeultem Geschirr.

Langsam trat Wullf in den chaosbeherrschten Raum, blickte auf den Boden der Verwüstung. Sein rechter Stiefel rollte einige Dosen beiseite, schob Reste aus dem Weg, als plötzlich eine geschlossene handgroße Konserve in den Kombüsenschrank krachte.

„Suchst du mich?“

Wullf richtete sein Blick in die Richtung, aus der das Wurfgeschoss geflogen kam. Vandermeer saß am Tisch. Ruhig ging er auf ihn zu, um nicht weitere Reaktionen zu provozieren. Doch Viktor kochte bereits vor Zorn.

Die Stiefel auf dem Tisch, saß er schweißgebadet auf einem Stuhl und kaute hastig Erdnüsse. Seine Augen versteckt, blickte er zu Wullf auf, als befände er sich im Krieg.

„Viktor. Was ist hier los? Alles klar, Mann?“, fragte Wullf mit besonnener Stimme, während sich an seinem Hals mächtige Schlagadern aufpumpten. Vandermeer starrte ihm entgegen, rührte sich keinen Millimeter.

Wullf trat näher heran, sah sich erneut um. Offenbar hatte sich Viktor mit seinem Messer am halben Mobiliar ausgetobt. Tiefe Schlitze klafften in den Edelstahlblenden diverser Schränke, als seien sie von einem Dosenschneider aufgeschnitten worden.

„Was ist bloß los mit dir, Soldat? Wir waren uns doch alle einig, dass die Nahrungsmittel rationiert werden müssen“, sprach Wullf mit festerer Stimme.

Unbeeindruckt stand Vandermeer auf, ging auf Wullf zu und wollte stur an ihm vorbei gehen, als dieser ihn am Arm packte und festhielt.

„Hey, ich rede mit dir!

Mit tobender Gewalt eskalierte die Situation. Als hatte er nur darauf gewartet, stieß Vandermeer ihn sofort gegen einen Aluschrank, zog blitzschnell sein Kampfmesser und hielt es Wullf an den Hals, so dass er den kalten, scharfen Stahl auf seiner Haut fühlte. Mit brutaler Schnelligkeit hatte er Wullfs Arme hinter seinen Rücken verdreht, so dass dieser regungsunfähig war. Richtig angewandt, konnten schwächere Menschen mit diesem Griff weit stärkere im Schach halten. Jeder Versuch, sich aus diesem Griff zu befreien, bedeutete in der Regel unsagbare Schmerzen oder Sehnenverletzungen. Zumindest war es bei normalen Menschen so. Obwohl Wullfs Kraftreserven diesen Griff spielend umkehren konnten, ließ er sich auf keinen Kampf ein, schon gar nicht, solange diese riesige Klinge an seiner Kehle kratzte. Der schwarze Riese drehte seinen Kopf, um seinen Peiniger zu erblicken.

„Nimm das Messer von meinem Hals! Was ist dein Problem?“, brüllte Wullf entschlossen, ohne einen Funken der Angst zu zeigen.

„Halt’s Maul! An deiner Stelle würde ich jetzt still sein!“

Vandermeer drückte Wullfs Gesicht noch fester gegen den Schrank.

„Du willst wissen, was mein Problem ist? Ihr alle! Meint, hier nur Anweisungen geben zu müssen. Ich lasse mir keine Befehle mehr erteilen!“

„Du bist nur verwirrt! Reiß dich zusammen!“, befahl Wullf.

Kaum ausgesprochen rammte Vandermeer sein Knie in Wullfs Rücken und drückte das Messer noch fester an den Hals.

„Ich lass mir nichts mehr sagen, erst recht nicht von einem Großmaul wie dir! Es spielt keine Rolle, was wir hier tun. So wie ich das sehe, ist sowieso alles im Arsch. Diese kranke Zukunft ist ein Albtraum.“

Wullf wollte gerade etwas sagen, als ihm Vandermeer das spitze Messer unters Kinn drückte. Die scharfe Klinge ritzte seine Haut auf, so dass er fühlen konnte, wie erste Tropfen warmen Blutes seinen Hals hinabliefen.

„Ruhig, Mann! Du gehst zu weit.“

Wullf wagte es nicht mehr, sich zu bewegen.

„Fresse! Was meinst du, wer es mitbekommen würde, wenn ich dich in die Schleuse schicke. Dann machst du einen Spaziergang, wie die Japse. Ich könnte dir auch deine Visage abschneiden. Dann gibt es einen beschissenen Aufschneider weniger an Bord. Na, wie würde dir ...“

Ein Klick-Geräusch zu seiner Rechten weckte Vandermeers Aufmerksamkeit. Gerade als er nachsehen wollte, setzte ihn ein harter Schlag auf die Nase zu Boden. Vandermeer landete auf allen Vieren. Das Messer klirrte neben ihm auf den Boden.

Er schmeckte Blut, sein Blut. Schnell wollte er die Lage wieder unter Kontrolle bringen, griff zum Messer, als ein Fuß seine Hand wegstieß und das Messer durch den halben Raum schlitterte. Im selben Moment fühlt er den kalten Stahl eines Laufes in seinem Nacken.

„Versuch’s nur!“, drohte Bone und drückte die Pistole noch härter auf seine Wirbelsäule.

Susannah nahm unterdessen das Messer an sich und wich auf sichere Distanz zurück.

„Unten bleiben!“, warnte Bone erneut, als sich Vandermeer aufrappeln wollte.

„Du Psychopath!“, brüllte Wullf und wischte sich das Blut von seinem Hals. „Tut mir leid, Commander. Er hat mich völlig überrascht. Normalerweise werde ich mit sowas fertig. Ich dachte, ich könnte es friedlich lösen.“

„Das ist Ihnen hoch anzurechnen. Der Doc wird Sie verarzten.“

„Ich hätte dich kaltmachen sollen“, antwortete Vandermeer kühl, als hätte er den Wunsch, selbst zu sterben.

„Wir fangen nicht an, uns umzubringen! Ist das klar, Corporal! Wir haben andere Probleme und brauchen jeden, um aus diesem Albtraum herauszukommen.“ Bone senkte seine Waffe und trat zwei Schritte zurück.

„Aufstehen! Los, kommen Sie hoch!“, rief er, die Pistole noch immer fest im Griff. „Setzen Sie sich auf den Stuhl! Wir unterhalten uns jetzt mal.“

„Sie können mich kreuzweise!“

„Nicht nur Sie haben Probleme. Ich kann gut nachfühlen, was Sie empfinden, aber das hier geht eindeutig zu weit!“

Vandermeer richtete sich auf seinen Knien auf und blieb auf dem Boden sitzen.

„Es gibt kein Entkommen mehr, Sie Narr! Es ist vorbei! Alles ist vorbei! Ich musste einfach mal Dampf ablassen. Und wer hat Sie zum Sheriff ernannt? Verpissen Sie sich!“, brüllte Vandermeer verächtlich und verbittert.

„Sie werden sich an die Regeln halten und diesen Saustall auf der Stelle aufräumen. Ist das klar? Wenn Sie noch einmal durchdrehen und das Leben der anderen hier an Bord in Gefahr bringen, leg ich Sie eigenhändig um! War das deutlich?“

„Na los! Drücken Sie ab! Warum tun Sie es nicht gleich?“

„Weil wir Sie vielleicht noch brauchen.“

„Schwachsinn! Wozu denn? Sie sind nur zu feige! Sie haben nicht den Mumm, das zu tun, was getan werden muss“, trotzte Vandermeer, dem versehentlich eine Träne aus dem Auge trat.

„Was ist denn hier los?“, rief Barrow, der plötzlich zur Tür hereingestürmt kam. Fassungslos sah er sich in der völlig ramponierten Messe um.

„Wer zum Teufel war das?“, schäumte er vor Wut. „Wer hat das angerichtet?“

„Frag nicht“, antwortete Bone. Es war unübersehbar, wer dafür verantwortlich war.

„Sind Sie total geisteskrank, Mann? Was haben Sie hier veranstaltet? Sie Wahnsinniger! Alle gleich! Verdammtes Soldatenpack!“, tobte Barrow und verließ die Messe.

„Kommt! Wir gehen“, wandte sich auch Susannah ab.

Nach und nach verließen alle Verbliebenen die Messe und ließen Vandermeer zurück.

 

Sensorenphalanx, Deck B

Aufgebracht folgte Caren Bone zum Bug.

„Warte! Moment mal! Du lässt ihn einfach allein? Er ist gefährlich und unberechenbar!“, war sie überzeugt.

„Nein, ist er nicht. Er ist nur ausgerastet. Ich kann ihn verstehen. Du wirst sehen, er fängt sich wieder.“

„Lass mich nie mit dem allein!“, forderte Caren.

„Wir müssen auf uns Acht geben.“ Bone näherte sich einem Terminal des Schiffes und aktivierte es.

„IVI. Videoüberwachung starten!“

Ein Querschnitt des Schiffes zeigte alle Sektoren. Er tippte auf die Mitte der Explorer, Deck B. Neun Videokacheln zeigten sämtliche Kameras des Bereiches. Er wählte Messe-03. Das klare Farbbild zeigte Vandermeer, der einsam auf dem Boden saß. Noch immer herrschte das blanke Chaos. Die Weitwinkeloptik verstärkte das wilde Durcheinander. Doch es war kein Anblick der Gefahr, die von Vandermeer ausging, sondern Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit. Bone wechselte zur 05 und zoomte heran.

Der ruhige Marine war kaum wiederzuerkennen. Er saß einfach nur da. Seinen Kopf nach unten gesenkt und die Hände vor sein Gesicht gepresst, ließ es nur einen Schluss zu.

„Weint er etwa?“, blickte Caren erstaunt auf den Monitor.

Bone nickte. Er sah einen zutiefst gebrochenen Mann. Der Verlust seines Captains und die aktuelle Lage waren offenbar zu viel für den Soldaten.

„Ich behalte ihn im Auge. Wir dürfen nicht zulassen, dass uns diese Welt zerstört. Er fängt sich schon wieder.“

 

Kryohalle II, Mittelsektion, C-Deck

Im Schlepptau folgte Wullf Susannah zur Med-Station.

„Nicht nötig, Doktor.“

„Ihre Wunden müssen versorgt werden. Wenn Sie es nicht können, muss ich es wohl machen. Setzen Sie sich!“

„Es ist nicht so schlimm. Ich komm schon klar.“

„Und ich sagte: Setzen Sie sich!“, duldete sie keinen Widerspruch. „Es wird auch nicht wehtun, Sergeant. Oder darf ich Sie Aaron nennen?“

„Nennen Sie mich, wie Sie wollen. Nur machen Sie schnell!“

„Okay, dann Aaron. Das war eine äußerst gefährliche Situation vorhin. Sie sollten besser auf sich achten.“

„Ich hatte alles unter Kontrolle“, winkte Wullf locker ab.

„Das hab’ ich gesehen. Hören Sie, wir stehen alle unter starkem psychologischen und emotionalen Stress. Das haben Sie ja gerade am eigenen Leib erfahren. Vergessen Sie besser ihren Rang, wenn Sie schon Anweisungen geben. Sie müssen lernen, anders miteinander umzugehen. Lassen Sie den Befehlston. Arbeiten Sie gemeinsam. Egal mit wem. Wir müssen alle zusammenhalten.“

Susannah nahm ein Gel und trug es auf die Wunde auf.

„Ich verstehe, was Sie meinen“, antwortete er.

„Wie fühlen Sie sich sonst?“, fragte sie.

„Matt und schlaff. Ich brauche dringend festen Boden unter den Füßen.“

„Den brauchen wir alle. Die lange Zeit hier draußen macht sich langsam bemerkbar. Laser oder Pflaster?“

„Das Pflaster reicht“, antwortete er.

„Okay, fertig. Legen Sie sich auf die Station!“

„Muss das sein?“

„Hinlegen!“

„Wie war das gleich mit dem Befehlston?“, hob er eine Braue. Sie musste schmunzeln, doch er gehorchte.

„So ists brav.“

In Sekundenbruchteilen scannte die Station das organische Gewebe und zog sämtliches anorganisches Material der Kleidung vom Gesamtgewicht ab. Eine simple Rechenaufgabe, für jeden Computer seit über 100 Jahren.

„Ihre Daten entsprechen dem allgemeinen Zustand der Crew, also auch den meinen. Sie haben 7,3 Kilo abgenommen, ihr Muskelgewebe ist um 19 Prozent geschrumpft und von ihren Blutwerten will ich erst gar nicht reden“, wertete Susannah die kurze Analyse aus.

„Geben Sie mir einfach ihr bestes Mittelchen! Am besten gleich die doppelte Dosis.“

„Wir sollten lieber alle ein paar Extrarunden auf dem Fitnessdeck drehen. Ich fühl mich auch etwas schlapp.“

„Na dann. War das alles, Doktor?“ Wullf erhob sich von der Station und wollte gerade gehen.

„Sie haben’s wohl eilig? Darf ich Ihnen eine Frage stellen?“

„Bei Untersuchungen fühle ich mich nie sonderlich wohl. Fragen Sie!“, meinte Wullf schulterzuckend.

„Wie sind Sie zu den Marines gekommen?“, schaute sie wissbegierig.

„Das ist eine lange Geschichte.“

„Wir haben Zeit. Erzählen Sie es mir!“

„Nun, ich würde es Schicksal nennen. Die Umstände in unserem Land haben mich dazu gezwungen. Haben Sie schon mal gesehen, wie ganze Dörfer vernichtet wurden?“

„Vielleicht anders als Sie, aber ich kenne solche Bilder. Sehr gut sogar“, fügte sie leise hinzu. Sofort kamen ihre Erinnerungen von Yukatan zurück.

„Auch Ihr eigenes Dorf, Ihr Heim? Brennende Menschen? In die Armee einzutreten, war die einzige Möglichkeit, das zu bekämpfen, was ich am meisten zu hassen gelernt habe.

„Verstehe. Haben Sie schon viele Menschen getötet?“

Wullf zögerte einen Moment, doch es hatte keinen Sinn die offensichtliche Wahrheit zu leugnen. Er war, was er war.

„Ich bin Berufssoldat. Aber, um Ihre Frage zu beantworten, ja, ich habe schon viel zu viele Menschen getötet. Aber nur die bösen Jungs. Das ist leider Routine in den meisten Einsätzen, wissen Sie? Töten ist das Einzige, was ich gut kann.“

„Das ist traurig. Ich habe mein Leben lang versucht, das Gegenteil zu bewirken. Ist schon irgendwie paradox, finden Sie nicht?“

„Ich sehe es Ihnen an. Dass wir an Bord sind, gefällt Ihnen nicht.“

„Einige an Bord halten Sie alle für tickende Zeitbomben. Ihr Jungs vom Militär verfolgt stets nur eigene Interessen und seid unberechenbar. Wenn’s hart auf hart kommt, sind wir einkalkulierter Collateralschaden. Aber vermutlich kennen Sie die obersten Befehle gar nicht. Sie sind selbst nur eine Marionette.“

„Eine ziemlich oberflächliche Verallgemeinerung, finden Sie nicht?“, ärgerte sich Wullf sichtlich.

„Ich gebe nur wieder, was die Allgemeinheit denkt. Meine Meinung ist differenzierter.“

„Machen Sie uns nicht schlechter, als wir sind. Ganz Unrecht haben Sie natürlich nicht. Meine Vergangenheit ist nicht gerade rühmlich. Hätte ich eine andere Wahl gehabt, wäre alles anders verlaufen. Mein Vater war Bäcker. Wussten Sie das?“

„Ein ehrenwerter Beruf. Darf ich Ihnen noch eine Frage stellen?“

„Ich kanns wohl kaum verhindern. Sie fragen doch sowieso.“

„Was hat Sie zu dieser Mission bewogen? Warum sind Sie hier?“ Susannah blickte ihn freundlich an.

„Ich … ich hatte einfach genug vom Töten und wollte einmal im Leben an etwas wirklich Bedeutungsvollem teilhaben.“

„Was ist mit Ihrer Familie? Ist sie nicht bedeutsam? Vielleicht hätten sie dort Gutes tun können.“

Wullf nahm seinen Gürtel und seine Jacke, die er zuvor abgelegt hatte und ging Richtung Ausgang der Krankenstation.

„Wenn es sie noch gäbe, wäre ich niemals Soldat geworden und nicht hier an Bord.“ Wullf schwieg und wartete einen Moment.

„Sie sind also hier, um Buße zu tun, und haben ihre persönliche Mission beendet?“

„Eye. Aber ich bin kein Killer.“

„Dann bin ich froh, dass wir Freunde sind“, scherzte Susannah.

„Sie sind ein guter Mensch, Doc. Rufen Sie mich, wann immer Sie Hilfe brauchen. Sie können auf mich zählen. Dann beweise ich Ihnen, dass in mir ein guter Kerl steckt.“

„Danke. Darauf komme ich gern zurück.“

„Ma'am“, grüßte er. Dann ging er.

Susannah sah ihm nach. Es fühlte sich gut an, neue Freundschaften zu schließen.

 

Cockpit, B-Deck

Bone und Caren kehrten zum Cockpit zurück. Begierig, das wichtige Geheimnis mit jemandem zu teilen, schloss er die Tür.

„… wirst du nicht glauben. Und er wusste es die ganze Zeit.“

„Zeig mir lieber, wie ich mit der Sensorenphalanx umgehe, dann kann ich mich auch mal nützlich ...“

„Erst die Akte! Das musst du sehen!“, sagte Bone, als Caren plötzlich stehen blieb.

„Komm schon!“, rief er Caren zu. „Was ist los? Was hast du?“, fragte er wiederholt und bemerkte, wie Caren ihre Augen weitete, vor Angst erstarrte und direkt an ihn vorbei durch die Fenster starrte. Langsam folgte sein Blick dem ihren und passte sich der Dunkelheit an. Seit Atem stockte.

„Wow wow, was ist das…?“, schluckte Bone. Er konnte kaum glauben, was er dort sah.

 

Außerhalb der Explorer, direkt voraus

Wie aus dem Nichts waren sie aufgetaucht. Große Sphären. Riesige makellose Kugeln, mattschwarz, ohne jegliche Oberflächenstruktur, ohne erkennbaren Antrieb, ohne Fenster oder dergleichen. Langsam zog eine dieser riesigen schwarzen Kugeln in kurzer Distanz direkt vor der Explorer ihre Bahn. Aber es war nicht irgendeine Bahn, die den Kurs der Explorer kreuzte. Die Sphäre befand sich genau auf der gleichen Umlaufbahn wie die Explorer um den Mond.

 

Cockpit, B-Deck

Bone schlug Alarm, und brachte den Rest der Besatzung in Schwung. Kaum eine Minute später stürmte auch der Letzte in das Cockpit. Es war Wullf.

„Heilige Maria“, betete dieser und bekreuzigte sich.

„Leute, das ist gruselig!“, flüsterte Sadler verstört.

„Allerdings. Was zum Geier … ist das ein Raumschiff?“ Barrow nahm an der Phalanx Platz. Dieses Ding hatte seine volle Aufmerksamkeit und Neugier geweckt.

„Das war doch vorhin noch nicht da, oder?“ Sadler rannte von einem Fenster zum nächsten und sah in alle Richtungen. Sie nutzte nicht die Kameras und Monitore. Falls ihr jemand einen Streich spielen wollte, konnte man diese sabotieren. Sie wollte es selbst sehen, mit ihren eigenen Augen. Durch spezielle für Notsituationen konzipierte Eckspiegel konnte sie ebenfalls Richtung Heck schauen, als sie sich plötzlich umdrehte.

„O Gott! Achtern folgt uns noch so ein Ding“, rief Sadler erschrocken. „Es ist direkt hinter uns.“

„Wo kommen die her?“ Wullf stützte sich vor, um die ganze Sphäre betrachten zu können. Sie war so groß, dass sie das ganze Fenster ausfüllte.

„Wichtiger ist, warum wir das nicht bemerkt haben?“, fragte sich Bone selbst und prüfte alle Systeme, besonders das Radar und die Langstrecken-Sensoren. Doch nichts deutete auf die riesigen Sphären hin. Das Radar war leer.

„Chad, was zeigt dein Terminal? Ich hab hier seltsame Anzeigen. Das kann nicht stimmen.“

„Ich versteh das nicht. Da draußen ist nichts“, staunte Barrow. „Unmöglich.“ Langsam kroch die Angst auch in seine Glieder. „Kein Kontakt. Nichts!“

„Bei mir auch nichts. Wir träumen das doch nicht. Das Ding ist direkt vor uns.“

„Ich habe nichts auf dem Schirm. Es muss sämtliche EM-Wellen schlucken“, versuchte Barrow schnell eine Erklärung zu finden.

„O doch. Da draußen ist was. Ich weiß, was ich sehe. Entfernung zu dem Ding?“, wollte Bone wissen.

„Woher soll ich das wissen?“, rief Barrow zurück.

„Die Dinger sind ja riesig. Mindestens das Dreißigfache wie wir“, schätzte Wullf, der seine Nase so nah ans Fenster presste, dass sein Atem das Glas beschlug.

„Wir sollten sie anfunken. Vielleicht antworten sie“, schlug Susannah vor. Bone nickte einverstanden und öffnete alle Frequenzen.

„Seid ihr verrückt?“, rief Sadler anderer Meinung.

„Unbekanntes Flugobjekt, identifizieren Sie sich! Hier ist die ESS Explorer. Melden Sie sich! Over.“

„Unbekanntes Flugobjekt? UFO?“, räusperte Susannah.

„Ich finde, das trifft es ganz genau“, antwortete Sadler ernst.

„Versuch es noch einmal!“, sagte Susannah erneut.

„An das unbekanntes Flugobjekt direkt vor uns. Identifizieren Sie sich! Over.“

Gespannt auf eine Reaktion warteten alle ab, was passieren würde. Doch außer einem Rauschen schwieg die Leitung.

„Geht es nur mir so? Ich fühle mich beobachtet“, meinte Sadler mit flauem Gefühl im Magen.

„Ja, als wären wir Ratten“, stimmte Barrow Sadler zu.

„Nichts. Keine Antwort.“ Bone überlegte.

„Scheiße, die Dinger beobachten uns“, wurde auch Vandermeer unruhig. Allein der Gedanke machte ihn wieder wirr. „Wir haben uns doch nicht die kleine Parklücke zwischen den beiden Dingern ausgesucht. Die nehmen uns in die Zange. Die wissen ganz genau, dass wir hier sind und hören wahrscheinlich jedes Wort!“, wurde er bestimmter.

„Dann schicken wir jetzt eine Sonde raus. Mal sehen wie weit sie kommt.“

Bone betätigte die Automatik und lud die Sonde in den Abschussschacht.

„Und wenn sie das als Waffe missverstehen?“, warnte Sadler vor Konsequenzen.

„Dann haben wir zumindest eine Reaktion. Genau das wollen wir doch“, wies Bone die Frage zurück. „In einem Punkt sind wir uns alle einig. Ich stimme Ihnen zu. Die wissen genau, was wir tun.“

Augenblicklich machte Bone eine Peilsonde startklar, die der Explorer und auch anderen Schiffen wie ein Feuerschiff als Orientierung dienen sollte. Quasi ein Leuchtturm im Weltraum. Sie war kaum größer als ein Stuhl.

Sekunden später startete die Sonde, beschleunigte und flog als kleiner Punkt auf dem Radar davon.

„Soll ich unsere Waffen scharf machen, Sir?“, fragte Wullf.

„Nein! Auf keinen Fall!“, winkte Bone ab. „Nur wenn wir angegriffen werden. Wir wollen sie nicht provozieren.“

„Beschädige Sie nicht“, nuschelte Barrow, der kein Auge vom Monitor ließ. „Ich will wissen, was da drin ist.“

„Fünfhundert, Sechshundert, Siebenhundert, ...“, zählte Bone die Entfernung und betrachtete konzentriert das Radar, auf dem die Sonde deutlich davon eilte.

„Langsamer! Die Dinger sind kostbar!“, mahnte Barrow.

„Schon gut“, antwortete Bone.

Gerade als er das Tempo der Sonden drosseln wollte, prallte sie schon gegen die Sphäre und zerschellte in tausend Stücke.

„Signalabbruch. Mist! Wir haben sie verloren. Ich sagte langsamer!“, rief Chad erzürnt.

„Gibt’s eine Reaktion?“, fragte Susannah angespannt, als erwarte sie jeden Moment das Gegenfeuer.

„Nein. Kann nichts erkennen. Entfernung: 1,24 Kilometer. Wenigstens wissen wir jetzt, dass wir nicht träumen“, stellte Bone fest und beobachtete das Radarecho der Trümmerfragmente, die auf der Oberfläche der Sphäre liegen blieben.

„Schwerkraft“, staunte Bone. „Chad, was sagen die Scanner jetzt?“

„Schwerkraft? Unmöglich! Das Ding hat keine Delle abbekommen. Musstest du die Sonde crashen?“

„Sorry, mein Fehler. Erkennst du sonst noch was?“

„Ich kann dir die Größe verraten. Mehr nicht!“,

„Die sehe ich schon selbst.“

„Das Ding ist gewaltig. Mehrere Kilometer“, versuchte Wullf eine grobe Schätzung.

„2,7 Kilometer im Durchmesser, wenn ihr es genau wissen wollt.“ Barrow erhob sich von seinem Stuhl.

„Als wenn es nicht da wäre“, überzeugte sich Bone von seinen leeren Anzeigen.

„Was ist es?“, fragte Susannah, doch niemand antwortete.

Alle sahen einander an und dachten nach, was sie als nächstes unternehmen konnten. Die Neugierde des Menschen führte zum einzig nächsten logischen Schritt.

„Ich muss da raus“, rief Barrow und verschwand aus dem Cockpit.