Der Eisplanet

 

 

Mit größter Vorsicht näherte sich die Arche der Erde. Ihre vereiste Oberfläche offenbarte kaum noch nennenswerte Wiedererkennungsmerkmale. Nur die mächtigsten Gebirge rangen dem einstigen blauen Planeten vertraute Konturen ab. Kaum ein Kontinent vermochte sich noch von den gefrorenen Ozeanen abzuheben. Die Kontraste der früher schillernden Welt waren einer einzigen tristen Farbe gewichen. Alles erloschene Leben verbarg sich nun unter einem massiven Mantel aus Schnee und Eis, schutzlos der Kälte des Weltraums ausgeliefert.

Der Verlust der halben Atmosphäre hatte zum endgültigen Kollaps geführt. Sämtliche Klimagürtel hatten aufgehört zu existieren und sich zu einer einzigen arktisähnlichen Zone verbunden. Große Teile der schützenden Ozonschicht, der wärmenden Thermosphäre und der lebensspendenden Troposphäre waren vom Erdball weggefegt worden. Der verbliebene klägliche Rest war nur noch ein Schatten seiner selbst.

Zwar hatten sich über großen Teilen Asiens und Osteuropas riesige Sturmzellen gebildet, doch deren schwache Intensität konnte allenfalls mit denen des Mars verglichen werden. Kein Hurrikan vermochte jemals wieder einen Menschen oder gar einen Baum von seinem Untergrund emporzureißen. Das Wetter hatte kaum noch Macht über den Planeten.

Langsam zog die Erde hinter dem dicken Glas vorüber, als die Arche links abdrehte und in einen äquatorialen Orbit einschwenkte. Der Erdrotation entgegen brachte dieser Kurs die schnellsten Ergebnisse des Oberflächen-Rasterscans.

Emsig prüften die auf verschiedenste Techniken geschulten Marines Quadratkilometer für Quadratkilometer. Während die Speicherbänke des Computers das umfassende Datenmaterial nach lebenswichtigen einprogrammierten Schlüsselformeln durchleuchteten, suchten ihre menschlichen Begleiter nach persönlichen Erinnerungen.

Vergeblich. Jeder Ort der Vergangenheit, strategische Basen und Stützpunkte, markante Objekte, die früher einmal eine Rolle gespielt hatten, existierten nicht mehr.

Rivetti starrte auf einen weißen Bildschirm, dessen Eisfläche von parallelen dunklen Furchen in südwestliche Richtung durchzogen war. Steven warf einen Blick über ihre Schulter und überflog die Koordinaten des Suchbegriffes aus der Datenbank.

40°25` Nord, 3°42` West. Es war Madrid. Aus ihrer Personalakte wusste Steven, dass die alte Hauptstadt einen bedeutenden Platz in ihrem Leben darstellte. Es war nicht nur ihr Geburtsort, sondern auch weit Schlimmeres. Sein eigenes Familiendrama war kaum ein paar Stunden her, doch was Rivetti als Kind erlebte, war die Hölle.

„Suchen Sie weiter“, versuchte Steven der sichtlich betroffenen Rivetti Mut zu machen, drängte aber gleichzeitig auf nutzbare Ergebnisse.

„Wonach denn?“, schluckte Rivetti. Ihr Hals war trocken.

„Betrachten Sie diesen Flug als Rettungseinsatz“, appellierte Steven an ihren Stolz und forderte weiter Reaktionen der Marines heraus.

„Und wen sollen wir Ihrer Meinung nach retten?“, rief Van Heusen ungehalten.

„Uns“, brachte es Steven deutlich auf den Punkt. „Also halten Sie Ihre Augen offen. Jeder noch so winzige Hinweis kann unser Leben retten.“

„Ich finde rein gar nichts. Überall nur Eis. Das ist ein gottverdammter Albtraum!“, schimpfte Weißberg wie gewohnt.

„Ich kann auch nichts entdecken“, stimmte Van Heusen ungehalten zu.

„Was denken Sie, Commander, was hier passiert ist?“, meldete sich Braun erstmals seit dem Aufbruch zu Wort, während er wie ein Adler über alle Aktivitäten wachte.

„Krieg. Ein furchtbarer Krieg. Die Spuren sind doch unübersehbar.“

Stevens Terminal bot die eisige Luftaufnahme eines toten Schlachtfeldes, wie er es noch nie zuvor gesehen hatte. Gewaltige kilometerlange Trümmer zerfetzter Raumschiffe lagen ausgebrannt über mehrere Bergregionen der Alpen verteilt auf nacktem Gestein. Einschlagkrater von der Größe ganzer Stadien säumten den Raumschifffriedhof in 2500 Metern Höhe. Erst die blinkende Analyse des Zielgebietes löste Stevens gebannten Blick von der unglaublichen Größe der Trümmer.

Ein kurzer Blick auf die Werte verriet ihm, dass keiner der ersehnten Rohstoffe gefunden wurde.

„Und Sie?“, fragte Steven zurück, neugierig über das Gespinst, das sein Gegenüber seit über einer halben Stunde in seinem Kopf zusammenbraute. „Was glauben Sie?“

„Ich weiß genau, was Sie denken. Sie könnten auch Recht haben. Aber machen Sie nicht mich dafür verantwortlich oder unseresgleichen. Das dort ist eine ganz andere Liga.“ Braun verstummte. Irgendwie fühlte er sich dennoch schuldig.

„Sind Sie sicher?“, fragte Steven nachdenklich.

„Wir suchen an der falschen Stelle. Wir sind viel zu hoch für die Messgeräte. Wir müssen weiter runter“, nörgelte Weißberg laut.

„Wie stellst du dir das vor? Sollen wir 510 Millionen Quadratkilometer Oberfläche im Tiefflug absuchen? Dieser Orbit ist optimal. Wenn es Wasser und Sauerstoff gibt, finden wir es.“, erwiderte Rivetti.

„Nicht aufgeben! Machen Sie weiter! Suchen Sie nach Städten und Strukturen! Erweitern Sie das Suchschema! Jeder Fund bringt uns weiter“, erinnerte Steven.

 

Wie in Zeitraffer drehte sich die Erde unter dem Bauch der Arche. Wieder und wieder umrundete das kleine Schiff die gottverlassene Welt. Ihr Spiegelbild reflektierte in der silberglatten Oberfläche, als schließlich die Triebwerke verstummten. Der eisgraue Planet drehte sich weiter.

 

Eilig stürmte Steven von seinem Cockpit zu Rivettis Station. Auch die übrigen Marines kamen herüber.

„Was haben Sie gefunden?“

Rivetti vergrößerte den Ausschnitt des Thermoscans.

„Ich schwör euch, so was habt ihr noch nicht gesehen. Wir haben dieses riesige Objekt 200 Km südlich von Chicago ausgemacht. Irgendeine künstliche Konstruktion. Vielleicht eine Stadt.“

„Sieht aus wie ein riesiges Ei. Wie groß ist das Ding?“, fragte Steven erstaunt und starrte gebannt auf das aus den Wolken ragende Gebilde.

„Es ist wirklich gewaltig“, schluckte Rivetti “Über 26 Kilometer hoch und fast 80 Kilometer lang.“

„26? Unglaublich! Können wir das Innere scannen?“, brannte Steven vor Neugier und sah zu Rivetti.

„Nein, nicht aus dieser Höhe. Aber wir haben das Ding beim Umrunden mit allem abgetastet, was wir haben, sogar X-Radar und dabei dann diese Aufnahmen gemacht.“

Rivetti wechselte die Ansicht. Bläulich lilafarbene Thermobilder legten sich Ebene um Ebene aufeinander und bildeten in Sekundenschnelle ein vollständig rotierendes 3D-Modell der Glocke, das schwerste Schäden offenbarte. Riesige kilometerbreite Löcher klafften in der Westwand. Auch oberhalb der Kuppel gab es ein klaffendes Loch. Ein nahezu perfekter Kreis. Steven fragte sich willkürlich, ob es einen Eingang darstellte.

„Seltsam“, murmelte Steven. „Hmm, scheint ziemlich zerstört zu sein“.

„Wie alles, was wir bisher entdeckt haben“, sagte Braun leise.

„Vielleicht war es die Sonnenexplosion?“, meinte Van Heusen.

„Nein, das denke ich nicht. Dafür sind die Schäden zu konzentriert, zu sauber. Die Sonne hätte alles vernichtet. Ich denke, das Bauwerk lag im schützenden Erdschatten und wurde viel später zerstört. Können wir in das Ding hinein?“

„Die Struktur strahlt weit über unsere Skalen hinaus.“, ergänzte Rivetti. „Keine Ahnung, wie hoch die Strahlung im Innern ist. Ich empfehle, auf Abstand zu bleiben.“

„Und mit dem Schiff? Die Löcher sind doch groß genug“, schlug Weißberg hastig vor. Alles war ihm recht, solange er keinen Fuß in diese trostlose Welt setzen musste.

Eine Kamera zoomte langsam durch einen der großen Risse hindurch. Rivetti manipulierte Helligkeit und Kontrast, bis turmartige Formationen sichtbar wurden, die sich dem Himmel entgegenstreckten. Steven richtete sich auf und schnaufte erleichtert, als garantiere dieser Fund weiteren Aufschub.

„Das sind Häuser. Eine riesige Stadt.“

„Sieht fast so aus.“ Isabell zuckte mit den Schultern. Sie mochte keine Garantie geben.

„Was soll es sonst sein?“, fuhr Steven fort. „Habt Ihr noch was?“

Die beiden Marines sahen einander an, als hätten kleine Kinder etwas ausgefressen. Van Heusen zögerte zunächst, doch dann antwortete er ruhig.

„Wir wollten es euch eigentlich nicht zeigen.“ Nacheinander öffnete er weitere Luftaufnahmen. „Das ist die Ostküste von Nordamerika. Boston, New York, Philadelphia und Washington.”

Auf keinem der Bilder war ein einziges Haus oder eine Straße zu sehen. Stattdessen zeigten sie alle gigantische eisgefüllte Riesenkrater, dicht an dicht, umsäumt von einem Meer aus Ruinenresten. Alles schien flächendeckend ausgelöscht worden zu sein.

Steven nahm seinen Helm ab.

„Verflucht!“, stotterte Weißberg.

„Nein!“, stieß sogar die wortkarge Kowski hervor.

„Keine einzige Stadt wurde verschont. London, Paris, Berlin, Hamburg, Rom und Madrid.“ Rivetti zögerte erneut bei dem eisigen Anblick Spaniens. „Tokyo, Peking, Moskau…“

„Es reicht! Wir haben verstanden.“ Steven strich sich durch die verschwitzten Haare und dachte nach.

„Das war wohl der Dritte Weltkrieg“, sagte Van Heusen still.

„Das war kein Weltkrieg. Das war etwas anderes. Seht euch das an! Überall, auf allen Kontinenten die gleichen Einschläge. So dumm kann doch keiner sein. Die Frage ist nicht: Wer das getan hat, sondern von wo die Bomben kamen?“

Alle blickten Braun an, der die Lage scharf analysierte. In seinem Kopf spielten sich die unmöglichsten Theorien und Vermutungen ab.

„Was? Etwa aus dem All? Sprechen Sie von Aliens?“, meinte Van Heusen irritiert.

„Wäre das so abwegig? Wer hat sonst die Maschine unter Capri gebaut. Außerirdische, ja, warum nicht. Aber auch Menschen wären zu dem hier in der Lage. Vielleicht haben sich die Menschen aber auch selbst zerstört. Ein planetarischer Krieg um die ganzen Rohstoffe der Welt. Wer weiß das schon? Ich bin kein Messias.“

„Wie sieht es mit der Luft aus? Können wir Sauerstoff gewinnen? Es gibt doch überall Eis. Mit Sauerstoff und Wasser dürften wir doch keine Probleme haben“, hoffte Steven.

„Wenn nicht alles kontaminiert ist. Dazu müssten wir erst weiter runter und einige Proben nehmen. Eins kann ich jetzt schon sagen: Die Luft ist sehr dünn und kalt, gerade noch atembar. Aber freiwillig nehme ich meinen Helm nicht ab“, warnte Isabell. David sprang sofort drauf an.

„Ich auch nicht! Wer weiß, was alles in der Luft schwebt. Bestimmt irgendwelche Killerviren.“

„Du Nappel, ohne Wirtszellen können Viren gar nicht überleben. Die sind längst tot“, stieß ihn Van Heusen an.

„Eingekapselt können die ewig überdauern!“, war sich Weißberg sicher. Die Lautstärke der Diskussion nahm mit jedem Satz zu.

„Im Eis, vielleicht“, gab Van Heusen zu.

„Davon gibt es da unten ja wohl jede Menge. Im Übrigen kann man bei Viren nicht von Lebewesen sprechen. Es sind keine.“

„Beherrscht euch!“, stoppte Steven das Gebrüll. „Habt Ihr denn nichts Positives gefunden?“

Rivetti schüttelte den Kopf. „Nichts, was ich als positiven Fund bezeichnen könnte. Wir müssen da runter!“

Nun war es Steven, der zögerte und sich nicht entscheiden konnte.

„Was ist los? Worauf warten wir?“, flüsterte Braun unhörbar. Auf eine Entscheidung wartend, drängte er unbewusst zum Abflug. „Der Planet ist tot. Wir haben nichts zu verlieren! Wir müssen da runter!“

„Ich weiß …“, brach Steven ab und zog einen tiefen Luftstrom verbrauchter Atemluft in seine Lungen. Dann nickte er Braun zu. „Ja, das Risiko ist annehmbar. Also gut!“

„Okay, wir nehmen diesen Kurs.“ Steven deutete auf die ihm am wichtigsten erscheinenden Entdeckungen und markierte die nächsten Zielpunkte direkt auf dem Monitor. „Wir gehen hier runter und nähern uns von Osten. Mal sehen, was von der Welt noch übrig ist.“

Die Ungewissheit im Nacken, nahmen alle Platz und schnallten sich zum Wiedereintritt fest in ihre Sitze. Die Bilder der furchtbaren Zerstörung noch vor Augen, wusste jeder, was sie bald erwartete. Eine bedrückende Ruhe erfüllte die Gemüter, als Kowski den Antrieb startete und das Schiff in die Atmosphäre lenkte.

Zeit und Sauerstoff waren kostbar und so stürzte die Arche nur zwei Minuten später wie ein Meteor der eisigen Oberfläche entgegen. Obwohl die Atmosphäre nur noch eine klägliche Dichte von 47 Prozent aufwies, entwickelte die Reibung Temperaturen von über 1600 Grad Celsius.

Von Turbulenzen durchgeschüttelt, ertrugen die Meisten den Flug mit Fassung. Einige schlossen die Augen, andere beobachteten das Feuerinferno hinter den Fenstern, das sich langsam aufklarte.

Immer wieder zündete Kowski die Bremstriebwerke, so dass sich die Gurte durch den Anzug schnürten. Mit nachlassender Geschwindigkeit und rapide fallender Höhe begann der Sturzflug.

„Fahre Tragflächen aus“, bestätigte Kowski.

Plötzlich riss ein Alarm alle aus den Gedanken. Ein durchdringender Warnton fiepte in den Ohren und konnte nur eines bedeuten. Stall - Strömungsabriss. Der Luftstrom war abgebrochen. Luft, die es faktisch kaum noch gab.

„Sorry, ich vergaß. Hätt’ ich mir denken können“, rief Kowski und unternahm die nötigen Korrekturen. Das Leitwerk hatte kaum nennenswerten Nutzen, ebenso wie die Tragflächen. Die geringe Luftdichte machte herkömmliches Fliegen in der oberen Atmosphäre unmöglich, noch gab es genügend Auftrieb.

„Sind wir in Schwierigkeiten?“, fragte Braun angespannt, doch er bewahrte Ruhe.

Mit einem wiederholten starken Ruck stauchten alle Glieder zusammen, als Kowski die Bremstriebwerke erneut zündete, um die Arche abzufangen. In 18.000 Metern Höhe erreichte das kleine Schiff schließlich eine stabile Höhe. Steven begann die Flugzeit zu kalkulieren und machte sich Sorgen. Für derartige Flugmanöver war die Arche nicht konzipiert. So, wie sie jetzt flog, sollte sie nur unter Null-Gravitation im Orbit operieren, nicht jedoch mit ständigen Bremstriebwerken der Gravitation eines Planeten entgegenwirken. Unter diesen Umständen war die Arche kein Gleiter mehr. Ohne Bodentriebwerke würde sie wie ein Stein auf die Erde fallen.

„Das kostet zu viel Treibstoff!“, rechnete Steven aufgebracht. „Wenn wir so weitermachen, sind unsere Reserven schneller verbraucht, als wir denken!“

„Das ist mir durchaus bewusst, Commander. Was sollte ich denn ihrer Meinung nach sonst tun?“

„Das hör ich nicht gern. Wie viel Zeit haben wir denn?“, fragte Rivetti nach.

„Wenn wir nicht bald landen, keine zwei Stunden. Wir müssen runter!“, kalkulierte Steven hart an der Grenze.

„Wahnsinn. Seht euch das an!“ Van Heusen deutete frontal auf das Fenster.

Am Horizont zeichnete sich bereits das Ungetüm ab, welches sie kurz zuvor aus dem Orbit beobachtet hatten. Schier endlos ragte die gewaltige Formation gigantischen Ausmaßes wie ein Gebirgsmassiv dem Himmel entgegen. Im ganzen Sonnensystem gab es nichts Vergleichbares. Nicht einmal der majestätische Vulkan Olympus Mons, der höchste Berg des Sonnensystems auf dem Mars, konnte es mit diesem Konstrukt aufnehmen. Selbst der Mount Everest verpuffte zum erbärmlichen Provinzhügel.

„Das haben tatsächlich Menschen gebaut?“, staunte Rivetti und verstummte sogleich vor Bewunderung. Der bloße Anblick verschlug jedem die Sprache und verdeutlichte nur zu sehr, wie viele Generationen seit ihrem Start auf der Erde gelebt haben mussten. Je näher das Schiff kam, umso mehr Details wurden sichtbar. Millionen haushoher Dreiecke bildeten die unübersehbare menschliche Herkunft der unmöglich anmutenden Konstruktion. Eine riesige Öffnung auf dem Dach weckte Stevens Interesse. Der perfekte Kreis, den er aus dem Orbit sah. Kowski folgte Stevens Anweisung und flog im Steigflug die Westwand empor.

Alle Augen richteten sich auf das schwarze Innere der Kuppel, doch das spärliche Licht ließ nichts Deutliches erkennen. Einer nach dem anderen schaltete die Spektralsicht seines Helmes um und sah nun das tödliche Innenleben.

„Da glüht was verdammt Großes.“

„Ich sehe es auch“, antwortete Rivetti und begann gleichzeitig mit ihrer Analyse. „Die Strahlung ist unheimlich hoch. Ich kann nicht mal sagen wie hoch. Wir sollten da nicht rein“, warnte sie eindringlich.

Während sich im grünlichen Restlicht nur schwarze Silhouetten kilometerhoher Wolkenkratzer abzeichneten, erstrahlte im Röntgenbereich die ganze Kuppel, als sei mitten in der Stadt etwas explodiert. Und das Feuer lodert unaufhörlich.

Höher und höher stieg die Arche, kaum 100 Meter von der Wand entfernt, bis zum Dach der Kuppel empor.

„Woraus besteht dieses Ding?“, wollte Van Heusen wissen.

Rivetti schüttelte nur den Kopf. Das wüsste sie auch zu gern.

„Keine Ahnung. Außer Silicium erkennen die Scanner keine Substanz. Das müssen andere Legierungen sein als die uns bekannten. Ich bin nicht mal sicher, ob ich alle Elemente kenne.“

„Wow, auf jeden Fall ist dieser Mantel unheimlich kompakt und dicht. Der beste Baustoff, den ich je gesehen habe“, fügte Weißberg ihren Aussagen hinzu.

„Aber nicht unzerstörbar, wie wir alle sehen können.“

Oberhalb der Kuppel angekommen, näherte sich die Arche langsam dem Rand des riesigen kreisrunden Loches. Verschmolzene Streben bogen sich überall ins Innere und bildeten einen sauberen, fast makellosen geschmolzenen Rand, als habe etwas unendlich Heißes die Konstruktion wie Butter durchdrungen.

„Nicht weiter fliegen!“, rief Rivetti laut. Ihre Anzeigen sprengten die Skalen. „Ich messe extrem hohe Strahlung!“

„Position halten?“, fragte Kowski.

Kowski sah zum Colonel. Braun zu Steven. Die Neugier stand den Männern ins Gesicht geschrieben. Steven spähte zu Rivetti, die mit den Achseln zuckte.

„Ihre Entscheidung!“, sagte sie.

„Wir gehen etwas höher und riskieren einen Blick hinein“, antwortete Steven.

Kaum ragte der Bug über den Rand, schrillte ein neuer Alarm auf. Rivetti schrie laut auf.

„Strahlungsalarm! Zurück!“

„Zurück! Schnell, schnell!“, befahl Steven hektisch.

„Die Strahlung verseucht uns alle. 13-faches kritisches Niveau überschritten!“

Ein starker Ruck ließ alle nach vorne kippen, als die Arche den Rückwärtsgang einlegte. Zügig schob sie sich wieder über den sicheren Rand des Mantels zurück, der die Strahlung größtenteils zu absorbieren schien.

„Mann, sagt mir, dass unser Strahlungsschild aktiv war!“, brüllte Van Heusen.

„Ja war er! Denk ich“, meinte Kowski unsicher.

„Denkst du?“

„Ich bin mir sicher!“, schaute sie zur Statusanzeige.

„Was war das eben? Wieviel haben wir abbekommen?“, forderte Braun eine klare Antwort.

„Muss ich erst prüfen. Ich hab Sie ja gewarnt, aber Sie wollten ja nicht auf mich hören.“

„Der Mantel schluckt beinahe die ganze Strahlung. Unglaublich.“ Steven hatte die Gefahr unterschätzt. „Das nächste Mal verbieten Sie mir solche Aktionen!“, rief er zu Rivetti.

„Was ist das da unten?“, wollte Braun wissen.

„Sind unsere Instrumente noch in Ordnung? Kowski, machen Sie einen systemweiten Check! Haben wir was aufgezeichnet?“ Steven beugte sich nach hinten zu Rivetti und Weißberg.

Isabell kramte indessen in einem Koffer und holte ein mobiles Gerät zur Strahlungsmessung heraus. Verwandt mit dem guten alten Geigerzähler, knatterte auch dieses kleine gelbe Gerät und verdeutlichte die Rückstände der gefährlichen Strahlenflut. Eine Gelampulle enthielt lauter Blasen. Ein klares Anzeichen. Eine Weile schwenkte sie das Gerät in alle Richtungen, beobachtete die Anzeigen, bis sie schließlich erleichtert aufatmete.

„Das Niveau sinkt wieder ab. Ich schätze, die Zeit war zu kurz, um Schäden an unseren Zellen anzurichten. Noch mal Glück gehabt.“

„Bist du sicher?“ Weißberg fasste sich unwillkürlich in seinen Schritt.

„Nein. Wie soll ich mir sicher sein? Du verlierst deinen Schwanz schon nicht. Und wenn doch: Willkommen im Club“, scherzte Rivetti, der selbst noch die Angst im Nacken steckte.

„Ich dachte, wir sind hier drinnen sicher. Verdammt noch mal! Wieso bin ich nur auf diesen Trip eingestiegen?“

„Reißen Sie sich endlich zusammen!“, befahl auch Colonel Braun streng, dem die Unbeherrschtheit zu viel wurde. „Wie hoch war die Äquivalentdosis?“, wollte er wissen.

„Etwa 400 Milli-Sievert.“

„Ha, mehr nicht?“ Van Heusens Stimme klang ironisch und spottend. Aber er verstand die Ernsthaftigkeit.

„Die was?“, fragte Kowski stutzig.

„Die Strahlung, die wir aufgenommen haben“, machte Rivetti klar.

„Und wie viel ist gesund?“, fragte Kowski nochmals.

„Zwei Milli-Sievert. Pro Jahr. Wären wir ihr länger ausgesetzt gewesen, wären wir erledigt. Ihr bekommt alle Strahlentabletten!“

„Wie beruhigend“, motzte Weißberg noch immer.

„Keine Sorge. Für eine tödliche Dosis hat es nicht gereicht. Es geht weiter nach Plan. Wir machen später einen Bluttest. Okay?“

Alle waren fürs Erste einverstanden. Als es wieder ruhiger wurde und sie den ersten Schock überwunden hatten, fragte Steven erneut.

„Da unten war etwas. Hat die Kamera was aufgenommen?“

„Ja“, antwortete Rivetti und zeigte die kurze Videoaufnahme im Röntgen-Spektralbereich.

Die nur wenige Sekunden dauernde Sequenz zeigte eine zähflüssige strahlendheiße Masse, die sich im Zentrum der Kuppel auf dem Boden ausgebreitet hatte. Selbst die kilometerhohe Architektur, die einst die Mitte der Kuppel beherrschte, musste unter der ultrahohen Hitze geschmolzen sein. Rivetti spielte das kurze Video noch einmal ab und machte ein Standbild. Unzählige der benachbarten riesigen Hochhäuser waren vollkommen verschmolzen. Sie erinnerten an Stalagmiten einer Tropfsteinhöhle, jenen Kalkablagerungen die durch tropfendes Wasser vom Boden nach oben wuchsen.

„Was ist das für ein Zeug da unten?“, fragte Braun.

Weißberg hatte sich inzwischen beruhigt und beugte sich neugierig zum Monitor heran. Alle waren neugierig.

„Vielleicht eine Waffe? Genau das Richtige, um eine Stadt dieser Größe zu zerstören“, schlug Van Heusen vor.

„Unmöglich! Zu viel Masse. Das kann keine Waffe gewesen sein!“, erwiderte Weißberg. „Es sieht viel mehr nach dickflüssigem Plasma aus.“

„Erzähl du mir nicht, was unmöglich ist! Sieh dich um!“

„Ich glaub nicht, dass dies das Werk einer Waffe war. Es sieht eher nach einem Unfall aus. Es kann auch ein Anschlag oder Sabotage gewesen sein.“

„Wie kommen Sie darauf?“, forderte Braun eine Erklärung.

„Ist nur eine Vermutung. Die gesamte Kuppel ist von einem Mantel umgeben, der weder Licht noch Strahlung hindurchlässt. Möglicherweise wurde diese Kuppel als Zuflucht vor der Nova als Schutz für die Menschen gebaut.“

„Toller Schutz“, murrte Van Heusen.

„Lassen Sie ihn ausreden!“, ermahnte ihn Braun.

„Erstens das geschmolzene Loch in der Kuppel. Die zähe Masse ähnelt Sonnenplasma. Ich vermute, dass es sich hierbei um eine Art Biosphäre gehandelt hat. Die echte Sonne stirbt, also bauten sie eine neue innerhalb dieser Mauern. Vielleicht haben sie sogar die Nova überstanden, doch irgendwann ging etwas schief und es kam zum Unfall. Für mich sieht es so aus, als ob die kleine künstliche Sonne durchgebrannt ist, das Loch in die Mauer schmolz und dann in die Tiefe der Stadt gestürzt ist. Eine Art Super - GAU. Keine Waffe.“

Weißberg sah in verdutzte Gesichter, die ihm die Geschichte abkauften, als seien es historisch belegte Fakten.

„Brillant.“ Steven war beeindruckt.

„Wenn ich’s wäre, würd’ ich heute nicht hier sitzen. Ich wünschte, wir würden endlich aus diesem Albtraum aufwachen.“

„Da sind Sie nicht der Einzige“, stimmte Braun zu. „Wirklich interessant.“ Auch Braun sah so aus, als konnte er mit dieser These leben und die Waffentheorie an den Nagel hängen.

„Es ist völlig egal, was dort unten ist, weil wir nie hinein können. Alles ist verstrahlt. Wir sollten weiter suchen! Das hier ist ein Massengrab“, antwortete Rivetti und klopfte auf die Uhr.

„Wo sie Recht hat“, stimmte Van Heusen ihr zu.

„Natürlich hab ich das! Eigentlich immer!“

„Und wer Recht hat, gibt einen aus. Wie wär’s mit einem Kuss?“

„Davon träumst du.“

„Jede Nacht, Schätzchen!“

„Okay?“

Rivetti nahm ihren geöffneten Helm ab, beugte sich grinsend zu Van Heusen und gab ihm einen geschlossenen Kuss auf den Mund.

„Komm, ich will einen richtigen!“, rief er empört, doch sie umkreiste ihre Lippen nur mit der Zunge und lachte.

„Später, Süßer.“

„Wir sind noch immer im Einsatz. Wir suchen nach Proviant, falls Sie es vergessen haben sollten“, unterbrach Braun die Zweisamkeit.

„Sie wissen doch, wie ein Computerterminal funktioniert oder Colonel? Warum versuchen Sie es nicht selbst einmal!“, biss Rivetti genervt zurück. „Man wird ja wohl noch etwas Spaß haben dürfen?“

„Ganz schön cool, Mann“, klatschte Van Heusen ihr in die Hände.

„Frau!“, korrigierte sie und wandte sich wieder Braun zu.

„Ach, kommen Sie. War nur ein Scherz, Colonel. Ich habe beim Widereintritt etwas Interessantes entdeckt, das wir uns ansehen sollten.“

„Na schön. Lassen Sie sehen!“

Rivetti schaltete eine Thermo-Aufnahme auf den Monitor. Der Kartenausschnitt zeigte eine riesige dunkle Fläche, die völlig eben erschien. Erst auf den zweiten Blick erkannte Braun, dass es der gefrorene Ozean sein musste.

„Die dunkelblaue Färbung steht für die tiefen Temperaturen auf der ganzen vereisten Oberfläche.“

„Verstehe.“

Rivetti zoomte weiter auf das Zielgebiet zu, ohne dass sich etwas Bedeutsames abzeichnete.

„Wo ist das? Ich erkenne nichts. Von den Koordinaten her, müsste das im Atlantik sein“, überlegte Braun. In Nautik war er immer gut gewesen.

„Vollkommen richtig! Das ist ... war der Atlantik.“

Noch immer konnte Braun nichts sehen.

„Da ist es“, zeigte Rivetti zielsicher.

Erst waren es nur wenige Pixel, die ihre Farbe änderten, dann wurden es immer mehr. Kreisrunde hellrote Punkte. Jeder von ihnen hob sich bereits in seiner warmen Farbe deutlich von der eisigen Umgebung ab.

„Wärmequellen. Sind sie natürlichen Ursprungs?“

„Ich denke nicht. Zu gleichmäßig.“ Rivetti lächelte.

„Warme Luft?“ Steven vergrößerte selbst einen Ausschnitt und fuhr ganz nah heran.

„Und diesmal keine Strahlung“, ergänzte Rivetti.

„IVI: Berechne den Durchmesser des angezeigten Objektes!“

IVI: „Der Durchmesser beträgt genau 74,3 Meter.“

„Belüftungsrohre?“ Steven sah die anderen an.

„Ziemlich dicke“, fügte Weißberg ungläubig hinzu.

„IVI: Ich benötige Luftzusammensetzung und Temperatur um diese Löcher.“

IVI: „Nicht genügend Daten vorhanden.“

„Isabell. Checken Sie das nächste!“

Rivetti verschob den Ausschnitt zur nächstgelegenen Wärmequelle und zoomte erneut heran.

„Neuer Scann! Den Durchmesser, IVI!“

IVI: „Der Durchmesser beträgt genau 74,2 Meter.“

„Das kann kein Zufall sein. Das muss eine unterirdische Anlage sein“, nickte auch Van Heusen sicher.

„Das Beste, was wir bisher gefunden haben. Wir müssen da runter!“, rief Rivetti mit auffordernder Stimme.

„Da rein? Vergesst es! Ohne mich! Ich geh da nicht runter!“, stellte sich Weißberg stur. „Ihr könnt mich oben absetzen. Macht ihr, was ihr wollt.“

„Schnallt euch lieber an!“, rief Kowski kurz, dann ging es los.

 

Kaum eine Minute später, begann die Arche zu beschleunigen und ihr neues Ziel anzusteuern. Irgendwo im Puerto-Rico-Graben, tief unter dem Meer, lagen vielleicht die Antworten auf alle Fragen. Oder war es nur die nächste Station eines nie enden wollenden Albtraums?