Fester Boden

 

 

Metallverstrebungen verformten sich und rissen aus ihren Verankerungen. Klägliches Quietschen hallte durch sämtliche Decks. Dauerhafte Kälte und Strahlung hatten die alten überhängenden Landeplattformen über Jahrhunderte mürbe gemacht. Obwohl im Innern des Mondes kaum nennenswerte Schwerkraft herrschte, war kaum eine der bisher entdeckten Landeplattformen für ein Schiff von der Größe und dem Gewicht der Explorer geschaffen worden.

Es gab nur noch eine Handvoll möglicher intakter Alternativen. Die meisten Stationen boten einen Anblick des Grauens. Welche Dramen sich hier einmal abgespielt haben mussten, ließ sich nur erahnen. Eingedrückte Wände und geborstene Fenster zeugten von externen Einflüssen großer Detonationen. Die erloschenen Mini-Sonnen gaben genügend Anlass zur Spekulation. Ein Unfall? Vielleicht. Sabotage? Schon eher. Andererseits könnte auch ein Angriff stattgefunden haben, doch gab es weder Kampfspuren noch Anzeichen eines Gefechtes. Keine Einschusslöcher, keine Krater. Nichts.

Der alles vernichtende Krieg, dem die Erde und das restliche Sonnensystem zum Opfer gefallen waren, hatte das Mondinnere nie erreicht. Und dennoch waren die meisten Stationen im tiefen Fels vollkommen zerstört. Von außen wie von innen.

Behutsam setzte die Explorer zur Landung an, doch die starken Magnetfelder des Landefahrwerks, die sich an die Plattform pressten, zermalmten die angeschlagene innere Struktur des Metalls. Zulange hatte die Statik keine solche Last mehr halten müssen. Krachend gab der poröse Untergrund endgültig nach, zerbrach und schwebte in alle Richtungen davon.

 

Cockpit, Deck B

„Die Plattform bricht weg!“, schrie Susannah und glaubte schon zu fühlen, wie sich ihr Magen auf den Kopf stellte.

„Alles halb so wild. Ich hab sie“, beruhigte Bone sie fast gelassen. „Verringerte Schwerkraft. Keine Panik.“

Gekonnt stabilisierte er die beinahe trocken fliegende Explorer und entfernte sich langsam von der nahen, im Fels errichteten, Station.

„Gut gemacht“, lächelte Susannah. Auch Caren fiel ein Stein vom Herzen. Doch die Freude der Unversehrtheit war nicht von langer Dauer. Vandermeer versprühte erneut Gift in der kleinen Gemeinschaft.

„Von wegen. Er hat uns in einen Riesenhaufen Scheiße reingeflogen, aus dem wir nie mehr herauskommen.“

„Das müssen wir uns nicht anhören, Viktor. Verschwinden Sie von der Brücke. Tun Sie etwas Sinnvolles! Es gibt genug zu reparieren“, entgegnete ihm Susannah kühl.

„Das werde ich nicht! Das war knapp vorhin und er weiß es. Sie bringen uns noch alle um“, meuterte Vandermeer. „Suchen Sie einen Weg hier raus, solange wir dazu noch eine Chance haben! Oder ich werde das Steuer übernehmen.“

Auf so eine Gelegenheit hatte er nur gewartet. Bone betätigte einen Knopf, tippte den Steuerknüppel leicht nach rechts, erhob sich und überließ ihm das Steuer.

„Bitte. Sie gehört Ihnen!“

Vandermeer rührte sich nicht, während sich die Explorer ganz langsam der Felswand annäherte. Natürlich wusste Bone genau, dass der Marine über keinerlei Flugerfahrung verfügte und sah ihm ins Gesicht. Viktor überschaute das weiträumige Cockpit und blickte auf die schiere Flut unbekannter Instrumente. Er hatte keinen blassen Schimmer.

„Die Wand kommt immer näher.“ Bone wartete ab. Selbst Susannah und Caren blieben ruhig und vertrauten seinem Urteil.

„Treiben Sie keine Spielchen mit mir!“, drohte Vandermeer und trat etwas zurück.

IVI: „Achtung, Kollisionswarnung. Automatik außer Betrieb. Aufprall in 30 Sekunden.“

„Hören Sie auf, Mann! Ich hab’s ja kapiert.“

„Sie wollten doch steuern.“ Bone verwies auf den Pilotensitz.

IVI: „Achtung, Kollisionswarnung. Automatik außer Betrieb. Aufprall in 15 Sekunden.“

„Ich kann’s nicht! Stoppen Sie das!“, rief Vandermeer. Die Felswand war zum Greifen nah. Der Aufprall stand unmittelbar bevor.

Bone nahm wieder Platz als der Annäherungsalarm ertönte. Zielsicher zündete er die richtigen Schubdüsen, bremste und brachte das Schiff auf sicheren Abstand zurück.

„IVI. Schwebemodus aktivieren!“

IVI: „Schwebemodus aktiv.“

„Danke für die Lektion, Sie Held. Und wie geht’s nun weiter?“, fragte Viktor erbost. Jeder konnte die kochende Wut spüren. Susannah war sich sicher, dass Bone und Viktor nie mehr Freunde sein würden. Aber vielleicht hatte der Marine etwas Wichtiges gelernt.

„Wir bleiben, solange es nötig ist und suchen alles ab“, antwortete Bone mit ruhiger Stimme zurück, ohne sich umzusehen. „Danach kümmern wir uns um einen Ausgang, wobei Sie gern helfen können.“

„Eye, Sir!“

„Viktor? Jeder an Bord ist wichtig. Auch wenn Sie Ihre Rolle vielleicht noch nicht erkennen können. Wir könnten Ihre Hilfe gebrauchen.“ Susannah sprang über ihren Schatten und versuchte es freundlich zu sagen, auch wenn sich ihr Innerstes vehement dagegen sträubte.

„Lassen Sie mich raten, wer Sie sind. Mutter Theresa?“

„Machen Sie sich endlich nützlich! Ich hab Ihr Gequatsche satt“, konterte Susannah voller Zorn.

„Passen Sie auf, was Sie sagen, Doktor! Sie alle!“ Wütend machte Vandermeer eine Kehrtwende und verließ das Cockpit.

„Danke! Das ist noch besser. Endlich ist er weg“, rief sie ihm nach, so dass er es noch in der angrenzenden Sektion hören konnte.

„Beruhige dich! Hör einfach nicht hin. Wir sind alle übermüdet und gereizt.“

„Der Mann ist unglaublich. Unausstehlicher Mistkerl!“ Susannah schob sich die Haare aus dem Gesicht und band sich einen Pferdeschwanz.

„Hey, ich hab hier etwas gefunden. Wie siehts damit aus? Da, auf der anderen Seite“, wies Caren auf eine weitere Landemöglichkeit hin. Es wäre bereits der dritte Versuch, die Explorer sicher und nahe genug an einer der gewaltigen erhaltenen Stationen zu landen. Nur dort vermuteten sie die erhofften Antworten.

„Vielleicht.“ Bone setzte den neuen Kurs und kniff angestrengt die Augen zusammen. Es fiel ihm immer schwerer, sich zu konzentrieren. Tiefe unübersehbare Augenringe zeichneten sein Gesicht. Er wirkte müde und angespannt. Der chronische Schlafmangel hatte längst überdeutliche Zeichen hinterlassen. Susannah erging es ähnlich. Sie musste nicht erst in den Spiegel schauen, um das zu erkennen. Sie sah schrecklich aus, wie ein Gespenst. Zulange hatte niemand ein Auge geschlossen.

„Bring sie endlich runter, damit wir uns ausruhen können. Ich bin müde und erledigt. Und du könntest auch ein paar Stunden Schlaf gebrauchen.“ Kaum hatte sie das gesagt, brach sie in langes Gähnen aus.

„Allerdings. Das musst du mir nicht verordnen. Wenn alles sicher ist, bin ich der Erste, der sich hinhaut.“

„Ich weiß nicht, wie ich hier ein Auge zukriegen soll.“

Gleich wo sie aus den Fenstern hinausblickten, die Aussicht war phänomenal, wunderschön und angsteinflößend zugleich. Würde der Körper sein Recht nach Schlaf nicht erbarmungslos einfordern, so wäre Schlaf das Letzte, was allen nun im Sinn stand. So viele offene Fragen und keine Antworten.

In diesem Augenblick betrat Wullf erneut das Cockpit und sah sich besorgt um. Zweifellos war auch er gerade Opfer von Viktors mieser Laune geworden.

„Alles in Ordnung? Ich dachte, ich sehe mal nach, was los ist.“

„Nix passiert, Aaron“, antwortete Susannah. „Wie geht es Ihnen?“

„Hinten herrscht dicke Luft. Fragen Sie nicht.“

„Sergeant? Wenn wir gelandet sind, übernehmen Sie die erste Wache! Wir müssen schlafen, ansonsten steuere ich das Schiff bald gegen eine Wand. Und das wollen wir doch nicht oder? Danach sind Sie dran“, sagte Bone gähnend.

„Gute Idee. Ein paar Stunden Ruhe können nicht schaden“, begrüßte auch Wullf den Schlaf als willkommene Abwechslung.

Carens Landevorschlag kam indessen in Sichtweite. Erstaunt erhob sich Bone und sah der beeindruckenden Station entgegen.

„Volltreffer. Ich glaub dort können wir landen.“

 

Anflug auf Station U19

Mit gedrosselter Geschwindigkeit näherte sich die Explorer der menschenleeren Basis, in der einst das Leben florierte.

Tief im Mond solch imposante Stationen zu errichten, war wahrlich eine technische Meisterleistung. Doch eine der seltsamsten Entdeckungen betraf die Ausrichtung der Stationen und deren Schwerkraft, die im Widerspruch zu den errichteten Städten auf der Oberfläche stand. Normale Hochhäuser ragten gewöhnlich zum Himmel hinauf und wurden entgegen der Gravitation ihres Planeten errichtet.

All das spielte an diesem Ort keine Rolle. Es gab kein Oben oder Unten. Ohne einen schweren Kern unter den Füßen gab es keine Gravitation. Das fremde Artefakt und der dicke Mantel des Mondes hoben jegliche Schwerkraft auf, so dass die Stationen quer in das Gestein des Mantels errichtet wurden wie die jordanische Felsenstadt Petra.

Sicher eingekapselt hinter gewaltigen doppelwandigen Schutzkuppeln, ragten mehrere Ebenen kleiner Skylines im Fels des Mantels empor. Hochhauskomplexe, die mit gläsernen Brücken verbunden waren, bildeten imposante Häuserschluchten, in deren dunkle Gassen nie ein Sonnenstrahl vordrang. Riesige erloschene Leuchtreklamen, Holowände und Schriftbanner zeugten von einer einst schillernden, famosen und lebendigen Stadt. Massive aus Stein freigelegte Plattformen boten ausreichend Platz für Grünanlagen, Märkte und große Schiffe. Die sie umgebenden transparenten Barrieren erfüllten gleich mehrere wichtige Funktionen. Wärme, Atmosphäre und Druck.

„Wahnsinn! Seht euch das an“, erklang Bones verzerrte Stimme über Funk. „Sie ist völlig intakt.“

Bevor die Explorer zur Landung ansetzte, flog sie einen langen weiten Bogen um die anscheinend vollkommen erhaltene Glasbarriere.

Immer wieder funkelten entfernte Fensterscheiben hinter dem dicken Schild aus Glas, reflektierten das helle Licht der künstlichen kleinen Sonnenkopien. Die gewölbte Oberfläche schien kilometerweit unversehrt zu sein.

Doch dann tauchte ein kleiner Makel in der Ferne auf, wurde größer und entpuppte sich schließlich als mächtiger Schleusenkomplex, der aus acht Toren bestand. Geöffnet, boten sie genug Platz, um ein Schiff der zehnfachen Größe der Explorer hindurchzuschleusen. Sie alle standen weit offen.

„Mein Gott“, rief Susannah über das Intercom. Ihre Stimme klang bedrückt, denn sie wusste, dass es keine Chance auf Leben mehr in dieser Stadt geben konnte. „Sie müssen es sehr eilig gehabt haben.“

Die Explorer stoppte direkt vor dem Eingang der überdimensionierten Schleuse.

„Sowas nenn ich einen Todesstoß“, erkannte es Caren auf den ersten Blick. Die Parallelen zu bekannten Anlagen waren unübersehbar. Oft genug hatte sie über ähnliche Pläne und futuristische Vorhaben diskutiert und referiert. Eine Biosphäre dieser Größenordnung konnte nicht nach Belieben geöffnet und neu belebt werden. Erst recht nicht, wenn das zerbrechliche Ökosystem durch einen so drastischen Druckverlust dem offenen kalten Weltraum ausgesetzt worden war. Ein solcher Vorgang war unumkehrbar und bedeutete das absolute Ende für Flora und Fauna.

„Dann mal los, Bone. Fliegen wir hinein“, bat ihn Susannah, was er ohnehin getan hätte. Ein kleiner Impuls reichte. Langsam durchquerte die Explorer Gate für Gate und trieb schwerelos auf die nahe liegende Stadt zu.

 

Cockpit, Deck B

Während Bone das Schiff durch die Tore der offenen Schleuse hindurchsteuerte, fiel Caren ein fast verblasster Schriftzug auf. Ein Buchstabe und eine Zahl wiederholten sich meterhoch an jedem Rahmen.

„U19. Was kann das bedeuten?“, fragte sie nachdenklich.

„Vielleicht die 19. Station dieser Art?“ Bone hielt Kurs. Auch er grübelte noch. Worte wie: U-Bahn, Untergrund oder unterirdisch kamen ihm in den Sinn.

„Sieht verlassen aus.“ Susannah blickte in die tote Stadt.

„Ja, gespenstisch“, stimmte ihr Caren zu.

Warmgoldenes Licht reflektierte von unzähligen Fenstern und Oberflächen ins Cockpit zurück und doch starrten sie alle in die Dunkelheit. Kein einziges Licht elektrischer Herkunft stammte von der Stadt, sondern wurde nur von den Mini-Sonnen reflektiert. Wie sehr sehnte sich Caren nach pulsierendem Leben und Menschen. Sie kamen zu spät.

„Da!“, rief Susannah plötzlich. „Ein Landeplatz. Also wenn der nicht ausreicht.“ Ein Hauch von Erleichterung überzog ihr Gesicht, auch wenn ihr Innerstes nach der Rückkehr zur Oberfläche schrie. Obwohl sie nichts mit Vandermeer gemein hatte, teilte sie seine Furcht. Sie mussten hier so schnell wie möglich raus.

„Ich sehe ihn“, antwortete Bone. „Endlich mal eine gute Nachricht.“ Dann leitete er das Landemanöver ein.

 

Einige Minuten später stand die Explorer auf dem festen, aus massivem Gestein und Metall errichteten Landeplatz, der um ein Vielfaches größer war als das kleine Schiff. Vom starken Magnetfeld des Fahrwerks gesichert, erloschen die Triebwerke und kühlten rasch in der eisigen Kälte des Mondinnern ab.

Bone lehnte sich zurück und dachte nach. Dieser Ort war Fluch und Segen zugleich. Rettung, Zuflucht und Grab in einem. Seine Augen wurden schwerer. Er starrte hinaus.

Dyson-Sphäre hin oder her: Gegenüber dem hypothetischen Konstrukt, welches Wullf beschrieb, besaß der Mond im Innern keine Atmosphäre, die Sonnenwärme speicherte oder die man atmen konnte. Keine der vielen Stationen verfügte über intakte Biosphären. Entweder waren sie zerstört oder im blinden Wahn geöffnet worden. Immer wieder wechselten seine Gedanken. Wie sollten sie aus dem Kern entkommen? Wie lange warten? Dann nickte er ein.

Minuten vergingen, ehe Susannah das müde Elend zu wecken versuchte.

„Hey, aufwachen! Geh ins Bett. Ruh dich richtig aus. Nicht hier im Sessel.“

„Okay, ja. Packen wir zusammen. Wir haben alle eine Pause verdient. In ein paar Stunden beginnen wir mit der Suche nach … wo ist Caren?“, wollte Bone wissen.

Auch Susannah sah sich um, konnte sie aber weder in dieser noch in der nächsten Sektion sehen. Von einer Vorahnung gepackt, trat Bone an das nächstgelegene erleuchtete Fenster heran. Licht blendete ihn. Dann sah er sie.

„Dacht ich’s mir doch.“

„Das ist unverantwortlich. Sie hätte uns Bescheid sagen müssen“, reagierte Susannah sichtlich verärgert. Und doch konnte sie es gut verstehen. Sie kannte Caren gut genug und wusste, warum sie nicht mehr warten konnte.

Bone sah zu ihr hinaus. Da stand sie, in ihrem Raumanzug. Am Rande der Landeplattform über ein Geländer gebeugt, blickte sie in die befremdliche Weite des Mondinneren hinaus. Die Aussicht war so verstörend, dass sie es selbst sehen musste, um es zu glauben. Selbst Kneifen half nicht mehr. Es war wie ein böser Traum, nur dass niemand schlief. Ja, sie konnte Caren verstehen und nachfühlen, was sie bewegte. Auch Bone erging es nicht anders. Susannah konnte es ihm ansehen. Nur Gefühle und Bindungen zu geliebten Menschen konnten sie noch vor diesem Wahnsinn retten.

„Nun geh schon hin zu ihr“, stieß sie ihn an. „Sie braucht dich.“ Bone nickte wortlos und ging.

 

Susannah stand noch lange am Fenster und drehte ihren Ehering. Das tat sie immer, wenn sie nervös war oder an ihn dachte. Steven.

Und wer half ihr?

Als sie Bone schließlich zu Caren herantreten sah, wandte sie sich traurig ab.