High Noon

 

 

Verletzlich ruhte die Explorer auf der weiten Landeplattform. Inmitten des immer größer werdenden, alles verdunkelnden Kernschattens der sich nähernden Sphäre, schalteten sich Sektion für Sektion die Lichter ab, bis Sekunden später auch die letzte Beleuchtung erlosch. Nun wirkte das Schiff ebenso verlassen, wie der Rest an diesem seelenlosen gottverdammten Ort. Wähnte sich die Besatzung Minuten zuvor noch in größter Sicherheit, wurde sie nun zum denkbar ungünstigsten Zeitpunkt überrascht. Angreifbar, schutzlos ausgeliefert, mit heruntergelassenen Hosen. Zu spät, um sich totzustellen, oder war ihre Anwesenheit purer Zufall und sie hatten sie noch nicht entdeckt?

Mit jedem vergehenden Augenblick wuchs der Schatten der Bedrohung immer größer an. Als folgten die riesigen Sphären einer ausgelegten Spur von Brotkrumen, näherte sie sich der viel zu kleinen Doppelschleuse. Nur wenige hundert Meter vor der Mauer aus Glas kam das Ungetüm schließlich zum Stillstand. Und wartete.

 

An Bord der Explorer

„Glaubst du, dass wir noch starten können?“, rief Susannah ängstlich. Im Laufschritt passierten sie die Luke zu Deck B.

„Keine Ahnung, ob die uns starten lassen“, erwiderte Bone rastlos und rannte weiter. „Aber wir geben eine gute Zielscheibe ab und sitzen auf dem Präsentierteller. Wenn sie uns abschießen wollten, hätten sie es schon getan.“

„Was wollen die von uns?“, fragte sie weiter.

„Sie wollen uns lebend“, war sich Bone sicher. So wie Chad. Noch immer wusste er nicht, was mit dem Schiffskonstrukteur geschehen war.

Im Cockpit angekommen, wusste jeder, was er zu tun hatte. Hastig nahmen beide Platz. Selbst Susannah hatte sich mittlerweile zur zweitklassigen Pilotenrekrutin gemausert, kannte fast jede Konsole und deren Funktion. Viel wichtiger jedoch: Sie kannte auch jene Knöpfe, die man besser nicht drückte. Oft genug hatte sie die Mechanismen der Schaltzentrale beobachtet. Nun wurde ihre Neugierde belohnt.

„Sag mir, was ich tun soll!“, rief sie verängstigt und blickte seitlich zur schwarzen Sphäre hinaus.

„Bring alles online, was noch funktioniert! Ich kümmere mich um das Ding“, versprach Bone angriffslustig. Innerhalb weniger Augenblicke waren die meisten funktionstüchtigen Systeme wieder betriebsbereit.

„Ich fahr das Fahrwerk wieder aus. Ganz langsam.“

Knarren und Ächzen erfüllte das gesamte Schiff. Der beschwerliche, harte Weg hatte seine Spuren hinterlassen und die Hydraulik beschädigt, mit der sich das Schiff nun aufzubäumen versuchte.

„Los fahr aus! Heb deinen fetten Arsch!“, sprach Bone zur Explorer, bis schließlich das leise beruhigende Geräusch einrastender Bolzen das Unterschiff durchfuhr. Grüne Kontrollanzeigen bestätigten das ausgefahrene Fahrwerk. Schnell begann er, die restlichen Systeme vorzubereiten und fuhr den Antrieb wieder hoch.

IVI: „Reaktor ist wieder online. Antrieb startklar.“

„Was ist mit den Panzersicherungen der Außenhülle? Wir müssen sie wieder schließen“, fiel Susannah die gravierende Sicherheitslücke ein. Würden sie jetzt starten, verlören sie die halbe Außenwand.

„Hoffentlich ist das möglich. Dafür war es wohl kaum ausgelegt.“ Bone vergewisserte sich umgehend, suchte in den Einstellungen der Biosphäre und atmete erleichtert auf, als er die erlösende Rücksicherung fand. Offenbar hatte man unschlüssige Überreaktionen bei der Planung vorausgeahnt. Solange die Panzerung nicht gänzlich abgeworfen wurde, konnte der Standort jederzeit gewechselt werden. Mit einem schiffsweiten Knattern schlossen sich alle Sicherungen wieder zu einem festen Verbund zusammen.

„Wir sind startklar“, schnaufte er und lächelte einen Moment, als hätte er die lauernde Bedrohung vergessen, die ihnen vor der Glasbarriere den Weg versperrte.

„Bring uns hier raus!“, bat Susannah mit flehendem Blick.

„Ich werd’s versuchen.“ Er ergriff die manuelle Kontrolle und erhöhte behutsam die Leistung der vertikalen Triebwerke, um von der Landeplattform abzuheben. Mit der Sorgfalt eines Kranfahrers im Munitionsdepot legte Bone all sein Können in die manuelle Steuerung. Ganz langsam hob die Explorer nur wenige Zentimeter vom blanken, fast sterilen Felsboden der Landeplattform ab. Da es hier weder Staub noch Dreck gab, blieb der Startvorgang aus der Ferne betrachtet weitestgehend unbemerkt. So hofften sie beide jedenfalls.

„Nur keine schnellen Bewegungen“, kommentierte Susannah die ernste Lage angespannt.

„Ich hab alles unter Kontrolle. Vielleicht bemerken sie nicht, was wir vorhaben.“

„Wir strahlen wie ein Weihnachtsbaum“, bemerkte Susannah und deutete auf die brennenden Triebwerke, die jede Menge Abwärme produzierten und im Infrarotbereich einem verräterischen Feuerwerk gleichen mussten.

„Bleib ganz cool!“, versuchte er sich zu konzentrieren. Doch auch seine Hände schwitzten, dass ihm fast das Steuer entglitt.

Drohend überragte die riesige Sphäre alle Gates der Doppelschleuse. Es schien unmöglich, an ihr vorbeizukommen. Die unsichtbare und unbegreifliche Kraft, die ein so gewaltiges Objekt unbewegt an ihren Platz hielt, erschien jedem an Bord gespenstisch und faszinierend zugleich. Eine weitere Sphäre zog hinter der ersten vorbei.

„Worauf warten die?“, fragte Susannah eingeschüchtert, während sie ihre Blicke kaum abwenden konnte.

„Vielleicht …“, überlegte Bone kurz. „ … auf Verstärkung?“

„Machst du Witze? Es sind doch schon zwei.“

„Sie versperren uns den Weg. Entweder spielen sie mit uns oder sie warten auf etwas. Ich wette, sie haben keine Ahnung von dem Schacht hinter uns.“

„Was für ein Schacht?“

„Beobachte die Sensoren, Sue. Melde mir die kleinste Veränderung! Wir müssen jetzt einen kühlen Kopf bewahren.“

„Ich kann nichts erkennen.“

„Nutz sämtliche Bandbreiten, das ganze Spektrum“, forderte Bone sie auf, um sie zu beschäftigen.

Vorsichtig zog er die Maschine noch etwas höher, um das Fahrwerk vollkommen einzufahren und drehte die Explorer ganz ruhig der Sphäre entgegen, bis sie direkt auf das Gate ausgerichtet war.

„Was tust du da? Dort kommen wir nie raus.“

„Ich weiß. Sie sollen ruhig im Glauben bleiben, dass wir nach vorne flüchten. Ich dreh diesem Ding ganz sicher nicht den Rücken zu.“

Voller Entsetzen erblickte Susannah eine drohende Veränderung auf ihrem Schirm.

„Hier passiert was! Ich glaube, sie machen sich feuerbereit“, beobachtete sie einen deutlich steigenden Energieoutput der frontalen schwarzen Sphäre auf dem Scanschirm.

„Die bluffen doch nur“, konterte Bone schwitzend, wischte seine Hände an seinem Anzug ab und aktivierte sämtliche zur Verfügung stehenden Waffensysteme der Explorer.

„Die werden uns nichts nützen, oder?“, erkannte Susannah vollkommen richtig.

„Ich denke nicht.“

Regungslos standen sich die Gegner zweier unterschiedlicher Epochen gegenüber. Obwohl beide Schiffe bis an die Zähne bewaffnet waren, war es dennoch ein ungleiches Duell, wie das von David gegen Goliath.

„Mal sehen, wie ihnen das schmeckt.“ Bone betätigte den Abzug und schoss damit zuerst.

„Tu es nicht!“, schrie Susannah zu spät und hielt im gleichen Moment die Luft an. Die Bordgeschütze feuerten mehrere Salven durch das offene Gate auf die Sphäre. Wirkungslos verpufften sämtliche Einschläge ohne feindliches Gegenfeuer. Mit offenem Mund, weit aufgerissenen Augen und steif vor Angst starrte sie auf die Sphäre, wartend auf den vernichtenden Gegenschlag. Ihr Puls hatte kritische Werte erreicht, die Atmung war schnell und flach, kurz vor Hyperventilation. Nichts passierte.

„Bist du von Sinnen?“

„Als ob man mit einem Luftgewehr auf einen Panzer schießt“, meinte er leise voller Ehrfurcht. Den Finger noch immer über dem Knopf haltend, liefen einige Tropfen Schweiß seine Schläfen hinab.

„Hab ich mir gedacht.“ Er lächelte Susannah zu, als wolle er ihr Mut machen, dass sie noch am Leben waren. „Du hattest Recht. Wir werden was Größeres brauchen.“

Die nicht existente Reaktion bewies Bone vor allem eins: Sie spielten tatsächlich mit ihnen und hatten die bedeutungslose Feuerkraft der Explorer vermutlich längst erkannt. Jeder Schuss der Sphäre würde die Explorer aus dieser kurzen Distanz sofort vernichten. Also, warum feuerten sie nicht zurück oder worauf warteten sie wirklich? Bone zermarterte sich den Kopf.

„Ich fürchte, uns sind die Atomsprengköpfe ausgegangen“, scherzte Susannah mit einem Hauch von Ironie. Sie hatte aufgehört, die vielen Explosionen zu zählen.

„Einen haben wir noch. Aber wir würden der Detonation kaum entkommen“, starrte er in derselben Sekunde zu der nervös blinkenden Warnanzeige, die sich über mangelnden Treibstoff beschwerte. Müde kniff Bone seine Augen zu engen Schlitzen zusammen und versuchte angestrengt, Detailinformationen der roten Treibstoffanzeigen zu erkennen. Verschwommenen Blickes rieb er sich beide Augen, bis sich seine Sicht klarte.

„Das bedeutet nichts Gutes, oder?“, folgte Susannah seinem ernsten Blick auf die Konsole.

Konnte es sein? Wussten sie vom mangelnden Treibstoff? Warteten sie nur darauf, die Explorer kampflos zu übernehmen? Bone schwieg einen Moment, streckte seine Hand aus, um zu testen, ob er den nächsten Anforderungen noch gewachsen war. Seine Hände zitterten auffällig. Der Umschaltmodus der verbleibenden Zeit bis zur Abschaltung der Triebwerke zeigte weniger als zwei Prozent. Kapitulieren kam nicht in Frage. Niemals würde er das Schiff kampflos aufgeben.

Vandermeer stürmte ins Cockpit, stoppte und sah stumm hinaus. Die im ganzen Schiff hörbaren Feuersalven waren ihm nicht entgangen. Doch die Sphäre war noch da. Näher und bedrohlicher denn je.

„Verdammt! Nicht mal einen Kratzer.“ Ohne einen einzigen gehässigen Kommentar nahm Vandermeer weiter hinten Platz.

„Uns läuft die Zeit davon.“

„Also, was machen wir jetzt?“, fragte Viktor eingeschüchtert.

„Verschwinden. Mal sehen, wie es darauf reagiert.“ Ohne länger zu zögern, trat Bone ganz langsam den Rückzug an. Zuerst im Schritttempo zog sich die vergleichsweise kleine Explorer immer weiter vom Zentrum der Landeplattform in Richtung der dunklen, verlassenen Stadt zurück.

„Was haben Sie vor? Wollen sie Anlauf nehmen und das Ding aus dem Weg rammen?“, spottete Vandermeer, ohne darüber lachen zu können.

„Interessante Idee“, schien Bone ernsthaft über diese Möglichkeit nachzudenken. Überlegend runzelte sich seine Stirn, als erwäge er tatsächlich den frontalen Fluchtweg. „Angriff ist die beste Verteidigung.“ Wer kannte dieses Zitat nicht. Carl von Clausewitz, Militärhandbuch. Würden sie weichen oder würden sie den Aufprall riskieren? Aber wohin würde sie die unsinnige Flucht bringen? Es gab nur noch einen einzigen Weg. Oder hatten sich die Sphären einen neuen Zugang freigeschossen? Schließlich waren sie hier.

Bone beschleunigte das Tempo der rückwärtigen Bewegung und hatte eine Entscheidung getroffen.

„Egal was nun passiert, schnallt euch besser an!“, appellierte Bone eindringlich und sah sich erstmals seit Vandermeers Anwesenheit nach diesem um. Schon die Tatsache, dass er die Außenpanzerung des Cockpits verschloss, verzehnfachte die Nervosität des Marines.

„Scheiße!“, fluchte Viktor und wusste aus Erfahrung der letzten Manöver, dass es keine leere Drohung war. So schnell sie konnten, schnallten sich alle ihre Sicherheitsgurte um die Körper. Dann gab Bone nochmals etwas Schub und die Explorer trieb immer schneller auf die hinter ihr liegende tote Stadt zu.

„Da! Seht nur!“ Ungläubig erschrak Susannah, als sie die Sphäre betrachtete und die äußere Wand des Glasschutzschildes im weiten Umkreis zu schmelzen begann. Geschockt blickte sie auf ihre Anzeigen, die einen unermesslich starken Energieanstieg der Sphäre bot.

„Bone!“, wisperte sie nur.

„Ich sehe es. Wir haben ihre Aufmerksamkeit erregt.“

„Worauf warten Sie!“, rief Viktor nach vorn.

„Ihr habt Recht! Zeit, abzuhauen“, stimmte Bone trocken zu und riss den Steuerknüppel nach rechts.

 

In einer gewagten 180-Grad-Kehre, schleuderte die Explorer ihren Bug zur Stadt und zündete ihre Triebwerke. Entschlossen, aber nicht zu schnell, schoss das Schiff auf die dunkle Schlucht der Stadt zu.

In einem Akt der Tobsucht tat es ihr die erste Sphäre gleich und durchbrach die Barriere mit aller Gewalt. Millionen Scherben der zertrümmerten Glaskonstruktion fächerten sich in einem tödlichen Sturm auf die verlassene Häuserfront aus. Sekunden später zertrümmerten meterdicke Fragmente die letzten noch unversehrten Fenster dieser einst so prachtvollen Stadt.

Dann verschwand die Explorer in der Dunkelheit, passierte die Ringe am Eingang des unbekannten Schachtes und folgte ihm durch den Mantel des Mondes. Ungewiss, ob sie das Ende je erreichen würden und was dort lauerte, hatte die unerbittliche Hetzjagd eine neue Richtung eingeschlagen.

Viel zu groß für die Verfolgung stoppten die Sphären direkt vor der Stadt und begannen zu warten. Nichts würde ihnen jetzt noch entkommen können.

 

Sie hatten alle Zeit der Welt.