Gestrandet
Wogend suchte der tote Ozean wieder nach seiner letzten Ruhe. Das atomare Feuer der unterirdischen Stadt hatte unzählige Kubikkilometer gefrorenen Salzwassers aufgetaut und explosionsartig verdampft. Die Schockwelle hatte das massive Eis des Ozeans im Umkreis von etlichen hundert Kilometern gebrochen und in ein absurdes Tollhaus verwandelt. Breite Spalten, tiefe Schluchten und riesige Eisschollen, die sich turmartig aufgestellten hatten, bildeten ein skurriles Schauspiel. Jeder offene Abgrund glich einer Todesfalle, die binnen Minuten von der nächsten Eismasse zermalmt werden konnte. Irgendwo in der Tiefe, eingekeilt zwischen dem sich bewegenden knirschenden Eis, verharrte der Rest der Arche und drohte jeden Moment zerquetscht zu werden. Nur spärlich drang das ohnehin müde Tageslicht in diese Tiefe hinab. Die Spalte, in der sich das Shuttle befand, schien endlos breit und um ein Vielfaches tiefer zu sein. Kopfüber abgerutscht steckte das Wrack des vorderen Rumpfes fest verkeilt zwischen immer spitzer zulaufenden Eisplatten. Rauchschwaden quollen aus dem aufgerissenen Mittelteil und verunreinigten das Eis, hinter dessen klarer Fassade zahlloses Leben für immer eingefroren worden war. Und weit unterhalb der Arche, wo sich die Spalte verengte, herrschte absolute Finsternis.
Ununterbrochen brachen Stücke der Oberfläche ab und stürzten in den Abgrund. Immer wieder trafen einige polternd auf das Wrack, das unentwegt metallisches Knirschen von sich gab. Langsam und unaufhaltsam nahm die Arche die Form der Spalte an, formte sich nach den strengen Regeln des gewaltigen Druckes. Gleich einer gewaltigen natürlichen Metallpresse bewies das Element Wasser wieder eindrucksvoll, dass es in großen Mengen nicht nur härter war, sondern in jedem seiner Zustände mehr Kraft und Gewalt besaß, als Metall. Schon seit Milliarden von Jahren formte es Landschaften, konnte härtestes Gestein sprengen und selbst unsinkbare Schiffe ins Verderben reißen.
Die Arche
Im zerstörten Inneren regte sich noch Leben. Nachdem sie sich selbst befreit hatte, kletterte Rivetti behutsam von oben ins chaotisch anmutende Cockpit hinab. Braun lebte und stöhnte vor Schmerzen.
„Ich helfe Ihnen gleich, Colonel. Halten Sie durch!“ Seine eingeklemmte Lage brauchte mehr Muskelkraft, als ihr allein zur Verfügung stand. Mühsam stieg sie noch eine Sitzreihe weiter hinab.
„Commander?“ Rivetti berührte ihn seitlich, doch er regte sich nicht. Bewegungslos hing er in seinem Gurt. Als Sanitäterin der alten Schule bevorzugte sie direktere Untersuchungen und verglich sie mit den Signalen, die der Biochip aussandte. Erleichtert registrierte sie, dass er nur bewusstlos war und versuchte ihn aufzuwecken.
„Commander.“
Viele Alternativen boten sich nicht. Sie konnte nicht einfach seinen Helm abnehmen. Mit respektvollem Blick nach unten wählte sie jeden ihrer Schritte mit größter Vorsicht, denn es konnte schnell ihr letzter sein. Wäre Steven nicht angeschnallt gewesen, hätte ihn die Wucht durch die geborstenen Fenster in die eisige dunkle Tiefe des Abgrundes gerissen.
„Hey! Steven. Kommen Sie! Wachen Sie auf!“, rüttelte Rivetti ihn jetzt entschlossener. Erbarmungslos ächzte die berstende Rumpfhülle unter ihren Füßen, die Millimeter für Millimeter zerdrückt wurde. Schlagartig stoppte sie ihre Bewegung und sah zu Colonel Braun auf, um den es nicht gut stand.
Der Absturz der Arche und der ruckartige Stopp im Eis, hatten seinen kompletten Sitz aus der Verankerung gerissen und gegen Stevens Rückseite gepresst. Beide Lungenflügel waren gequetscht, einige Rippen gebrochen. Kurz: Es hatte ihn mal wieder ziemlich schlimm erwischt.
Besorgt beobachtete Rivetti immer wieder seine vitalen Lebensanzeigen, die zwar stabil, aber auch geschwächt waren. Irgendetwas stimmte nicht. Sie kannte die Eitelkeiten der Jungs in ihrer Truppe. Warum sollte es bei Braun anders sein? Ein Handgriff genügte, um sicher zu gehen.
„Männer!“ Obwohl jeder Raumanzug ein Lebenserhaltungssystem besaß und sogar selbstständig lebenswichtige oder schmerzstillende Medikamente verabreichen konnte, ließ dies ein Großteil der Truppe nicht zu. Sie wollten stets Herr ihrer Sinne sein, bis zum Tod. Rivetti schüttelte den Kopf und betätigte Brauns Kontrolle, um die mobile Apotheke des Raumanzuges wieder auf Automatik zu stellen. Autonom injizierte sein Anzug den schnellwirkenden Cocktail, der den Colonel binnen Sekunden durchströmte. Seine eingeklemmte Haltung ließ nicht zu, dass er sich selbst half.
„Besser so?“
Braun nickte dankbar und sah sie an.
„Wie schlimm ist es? Hat es uns schwer erwischt?“, erkundigte er sich, doch erwartete der Colonel eher eine Analyse zu seiner Lage. Er schien mit dem Schlimmsten zu rechnen.
„Wir leben noch! Bewegen Sie sich möglichst nicht! Ich versuche, Sie da rauszuholen“, antwortete sie und schaute sich um. Ohne Hilfe war sie kaum in der Lage, den Colonel aus der gefährlichen Situation zu befreien. Sie wandte sich wieder dem bewusstlosen Piloten zu. Steven war ihre einzige Chance.
„Commander? Kommen Sie schon! Wachen Sie auf!“, rüttelte sie energischer an Cartrights Schulter, achtete jedoch auf seine Gurte.
Erschüttert huschten ihre Blicke immer wieder zum zweiten Pilotensitz, wo Natascha, ihre beste und einzige Freundin, im Sitz hängend, ausblutete. Für sie kam jede Hilfe zu spät.
„Tascha!“, schluchzte sie leise um Fassung kämpfend und kehrte sich dann voller Trauer von ihr ab. Schlagartig verwandelte sich ihr Kummer in Wut über die schier aussichtslose Lage, bis sie sämtliche herabhängenden Metallplatten von der Decke riss und einen provisorischen Boden über das Cockpitfenster ausbreitete. Nach einer knappen Minute hatte sich der bodenlose Abgrund in einen wackeligen Steg verwandelt, der genug Bewegungssicherheit bot, um Steven aus seiner misslichen Lage zu befreien. Gerade als sie seine straffen Gurte zu lösen versuchte, schreckte er völlig benommen aus seiner Bewusstlosigkeit auf.
„Was ist passiert? Wo sind wir?“, fragte er orientierungslos.
„Wir sind abgestürzt.“
„Stimmt. Hab ich nicht vergessen. Was ist dann passiert? Ich kann mich nicht erinnern.“ Steven tastete verwirrt um sich. Die Schwerkraft schien umgekehrt zu sein. Unverkennbar stand das Schiff auf dem Kopf.
„Wir sind in eine Eisspalte abgerutscht und stecken fest“, erklärte Rivetti, begleitet vom monotonen bedrohlichen Knarren des Schiffsrumpfes. „Die Lage ist sehr kritisch.“
Sofort wurde Steven hellhörig, erkannte die Gefahr, die sich unweigerlich ankündigte.
„Helfen Sie mir. Schnallen Sie mich ab!“
Kaum hatte er den Satz ausgesprochen, rutschte das Wrack einen halben Meter ab, um sich unter lautem Ächzen sofort wieder zu fangen. Metall verformte sich.
„Ich weiß nicht, wie wir hier herauskommen sollen. Wir haben schon genug Probleme“, zweifelte Rivetti, verwies auf den Colonel und löste die Schnallen.
„Danke.“ Entsetzt sah er sich um. Kowski war längst tot.
„Passen Sie auf, wohin Sie treten!“ Sie klopfte mit ihren Füßen auf die losen Platten. „Dahinter geht’s tief runter.“
Steven starrte auf seine Füße. Ein ungewöhnlicher Anblick, denn er stand mitten auf dem Cockpit. Keine einzige Anzeige funktionierte mehr, kein Lämpchen, nichts als dunkle zertrümmerte Armaturen.
„Jetzt brauch ich mal Ihre Hilfe. Wir müssen den Colonel befreien“, verlangte Rivetti nach Stevens Unterstützung. Steven nickte selbstverständlich.
„Warum haben Sie das nicht gleich gesagt?“
„Nur keine Eile“, meinte Braun, „Ich bin sowieso erledigt.“ Unter großen Schmerzen drückten mehrere seiner gebrochenen Rippen auf die inneren Organe. „Okay, ich könnte noch so einen Cocktail vertragen.“
„Das haben wir gleich“, unterschätzte Steven das verbogene Metall. Mit flacher Atmung erduldete Braun die wiederholten Versuche, ihn zu befreien. Als es schließlich gelang, holte er tief Luft und brach in fürchterliches Husten aus.
„Sterbe ich jetzt? Wieder die Rippen. Das ist nun schon das zweite Mal.“
„Stimmt. Sie sind ein richtiger Glückspilz“, untersuchte Rivetti ihn weiter. Als sie schließlich ihre Instrumente einsteckte, stutzte Braun. Sie lächelte.
„Was ist? Das ist alles?“, fragte er nur.
„Was soll ich Ihrer Meinung nach tun? Sie können froh sein, dass der Anzug dicht geblieben ist. Ein Magnetfeld hält ihre Rippen von den Organen fern und die Medikamente bringen Sie erstmal da rauf.“
„Ein Magnetfeld ist in meiner Brust?“ Braun schaute an seinem Oberkörper hinab und spürte nichts. Auch keinen Schmerz.
„Ja. Naniten. Das sind Mikro-Bots. Ihr Anzug hat sie in Ihre Blutgefäße injiziert. Ein paar Tausend sind magnetisch und genau da, wo ich sie haben will. Versuchen Sie sich zu schonen und vertrauen Sie endlich dem Autodoc. Er bringt Sie schon durch.“ In einer fast vertrauten Geste gab Rivetti dem Colonel einen kumpelhaften Klaps und stieg nach oben.
„Naniten. Fuck!“
Einige Meter höher versuchte sich Steven ein Bild der Lage zu verschaffen und blickte mit zugekniffenen Augen die haltlose Eiswand empor.
„Wird nicht leicht sein“, meinte er, als schmiedete er bereits einen möglichen Plan. „Das sind mindestens 250 Meter, vielleicht sogar noch mehr. Ich hoffe, Sie sind schwindelfrei. Was ist mit ihm? Kann er klettern?“, fragte Steven besorgt. Rivetti zuckte mit ihren Schultern.
„Das muss er wohl.“
„Was ist mit den Jetpacks?“, rief Braun von unten.
„Die lagen im Heck.“ Steven sah zu Isabell, die zum selben Schluss gekommen war. Zumindest hatte sie ihre dort in aller Eile abgelegt.
Das pausenlose Kräftemessen zwischen Stahl und Eis ging in die nächste Runde. Ohne Vorwarnung rutschte das Wrack wieder einige Meter tiefer ab und fing sich erneut. Hektisch klammerten sich alle an der nächstbesten Strebe fest.
„Wir müssen klettern. Das Eis bewegt sich“, drängte Rivetti. „Entweder wir schaffen es da hoch, oder wir werden zerquetscht.“
„Falsch“, korrigierte Steven analytisch und sah neben sich in die Tiefe hinab. „Wir werden abstürzen. Die Spalte verbreitert sich. Und zwar unter uns.“
„Wie sollen wir da hochkommen? Das ist unmöglich.“ Rivetti sah sich suchend um. Was sie brauchten, waren Seile, eine Kletterausrüstung, irgendwas.
„Seht mal her!“, rief Braun von unten und stemmte ein funktionstüchtiges Jetpack in die Höhe.
„Gott sei Dank“, meinte Rivetti, ohne sich zu freuen. Sie wusste, wem sie diese zweite Rettung zu verdanken hatten. Wie immer hatte Tascha vorausschauend vorgesorgt. Nur bedanken würde sie sich nie mehr können. Sie schluckte tief. Zum Trauern blieb ihr keine Zeit. Entschlossen streckte sie sich zu Braun hinab und packte das rettende Gerät.
„Wo haben Sie denn das gefunden?“, fragte Steven überrascht. Alle Halterungen waren leer.
„Hier unten, beim Notausgang.“
Ohne zu zögern legte sich Rivetti die flache Apparatur auf den Rücken und begann sich das schwere Gerät umzuschnallen.
„Wir brauchen nur ein langes Seil. Ich fliege hoch und sie können dann hochklettern.“
Steven reichte Braun die Hand und zog ihn auf einen Absatz hinauf. Erschöpft fiel der Colonel auf die Knie.
„Guter Plan. Nur nicht umzusetzen.“
„Wie meinen Sie das?“, wollte Rivetti wissen.
Braun warf ihr einen schwarzen Sack vor die Füße.
„Es gibt hier kein Seil, das lang genug ist. Wir haben nur dieses eine.“ Braun sah sich im überschaubaren Chaos des verbliebenen Innenraums um.
Isabell öffnete den Sack. Das darin befindliche dünne Seil war bestenfalls dazu geeignet, sich wie Bergsteiger gegenseitig an der Wand zu sichern. Trotz der stolzen Länge von 50 Metern, reichte es niemals bis zur Oberfläche. Es war viel zu kurz.
„Wir könnten Kabel zusammenbinden“, schlug Steven vor.
Das Wrack ächzte erneut, hielt aber Position. Allen drei wurde schlagartig klar, dass sie in höchster Lebensgefahr schwebten.
„Keine Zeit!“, rief Braun, öffnete hastig sämtliche erreichbaren Stauräume und durchsuchte sie. „Wir haben hier genug Schrott, den wir als Eispickel oder Haken benutzen können. Ich hab schon schlimmere Wände gemeistert“, fuchtelte er mit einer Eisenstange, klemmte sie an der zerstörten Seitentür fest und verbog sie mit all seiner Kraft. Sein Brustkorb schmerzte, doch er ließ sich nichts anmerken.
„Sie waren wohl auch bei den Pfadfindern, was? Hier müssen doch irgendwo noch Seile sein. Die gehören zur Standardausrüstung dazu.“ Rivetti suchte frustriert weiter.
Steven öffnete unterdessen ein Notfall-Kit, entnahm das darin enthaltene Laserschweißgerät und schmolz in Sekundenschnelle drei provisorische Stufen in das Eis.
„Was haltet ihr davon?“, stieg er zwei Schritte empor. Die Schuhe reichten mühelos in die Löcher hinein.
Braun und Rivetti waren sichtlich beeindruckt.
„Das könnte klappen“, blickte Isabell die steile Eischräge empor. „Sie hätten Eiskünstler werden sollen.“
Colonel Braun klopfte auf das Jetpack.
„Mit dem Gewicht kommen Sie nicht weit. Sie sollten sich besser davon trennen. Es hält uns nur auf.“
„Ich schaff das schon. Wir werden es sicher brauchen.“
„Dann nehme ich das“, wollte Steven ihr entgegenkommen.
„Finger weg! Ich sagte, ich schaffe das. Sie klettern schon einhändig und schweißen die Stufen. Wenn Sie hiermit abstürzen, reißen Sie uns alle mit. Und Sie Colonel, mit Verlaub, Sie können sich kaum auf den Beinen halten und sind voll auf Drogen.“
Niemand wagte es, ihr zu widersprechen. Keiner der beiden Männer wollte den abgenutzten „Nur weil ich eine Frau bin ...“-Satz hören.
„Akzeptiert!“, meinte Steven bedingungslos. Braun nickte stumm.
„Gut.“ Rivetti war zufrieden.
„Dann los! Sichern wir uns mit dem Seil“, sprach Steven und hakte einen Karabiner in seinen Gürtel.
„Hier. Knoten Sie es fest zusammen!“, gab Rivetti das blaue Seil weiter. „Hoffentlich hält das.“
„Wir schaffen das, Isabell!“, machte ihr der Colonel Mut. Nachdem sich alle gesichert hatten, begann Steven die nächsten Stufen in das Eis zu brennen. Es dauerte nicht lange, bis er alle 40 bis 50 Zentimeter, Loch für Loch, eine schöne lange Leiter geformt hatte.
Nach zehn Stufen schien Steven den Dreh herauszuhaben. Immer schneller führten seine Handbewegungen wie ein Bildhauer durch das Eis. Tief genug geschmolzen, boten die versetzten Löcher genügend Halt, um mit den Füßen sicher nach oben zu klettern. Der schräge Winkel nach unten verhinderte dabei das Abrutschen der Sohlen.
Cartright hatte inzwischen eine Höhe von 20 Metern erreicht. Das Seil spannte sich, so dass er stoppte.
„Kommt endlich!“, rief er wartend von oben herab.
„Einen Moment.“ Isabell checkte gerade den Zustand des Colonels und sah ihn besorgt an. Er sah nicht gut aus. Blass und durchgeschwitzt. Allein der Auto-Doc hielt ihn noch auf den Beinen. Immerhin hatte er ihre Einstellungen beibehalten und ihn nicht wieder deaktiviert.
„Sie müssen viel trinken.“ Sie drückte ein paar Tasten an seinem Anzug, so dass sich innerhalb seines Helmes direkt vor seinem Gesicht eine Klappe öffnete. Ein Röhrchen streckte sich seinem Mund entgegen. Braun sog daran und trank aus seinem Wassertank.
„Besser?“, fragte sie.
„Danke.“ Braun nickte lächelnd. Er hätte es auch selbst gekonnt, doch wäre es ihm nicht in den Sinn gekommen. Frauen waren schon etwas Tolles, dachte er. Behüten und Umsorgen lag ihnen im Blut. Er kannte viel zu wenige.
„Werden Sie das schaffen?“, war sie noch immer besorgt.
„Sicher. Nach Ihnen!“
Das Eis knirschte ununterbrochen. Auch das Knarren und Ächzen der Arche war nicht verstummt. Rivetti stieg als Nächste empor. Schritt für Schritt zog sie sich in die Höhe. Sie bemerkte sofort, wie spiegelblank die Stufen waren. Eine Unachtsamkeit und sie rutschten alle ab.
„Vorsicht! Die Kanten sind sau glatt!“
„Gehen Sie ein Stück vor. Ich bleib hinter Ihnen.“
„Aber schön wach bleiben, Colonel. Und wagen Sie es nicht, auf meinen Hintern zu glotzen“, scherzte sie etwas. Vielleicht half es, dass er bei Sinnen blieb. Sie musste mit ihm reden.
„Ich bin ein Gentleman. Außerdem ist er sehr hübsch.“
„Das will ich meinen.“
Braun hob zwei verbogene Wrackteile in die Höhe, die in ihrer Form stabilen Eishaken glichen. Für ihre letzte Bestimmung waren sie geradezu perfekt. Nachdem er sie mit kurzen Haltegurten versehen hatte, rammte er eines der beiden Eisen in die Wand und zog sich mit ihnen hoch.
Auf halber Höhe angekommen, begann das Eis wieder zu beben. Ein Grollen stieg die Spalte hinauf.
„Festhalten! Es bewegt sich wieder“, rief Steven von oben herab. Eisbrocken stürzten in die Tiefe.
„Vorsicht!“, schrie Rivetti. Alle zogen schnell die Köpfe ein.
Steven wusste, dass es kaum sicheren Halt gab. Weder fanden sie rutschfeste Grate noch hatten sie spitze Eisen unter den Füßen, um sich zu sichern. Sich mit bloßen Händen an einer Granitwand zu halten, war eine Sache. Die gummierten, dicken Handschuhe der Anzüge auf frisch geschmolzenem Eis, entbehrten hingegen jegliche Vernunft. Sofort ließ er den Laser länger brennen und formte einen tieferen Tunnel für seine Arme, um sich besser halten zu können.
Auch Rivetti krallte sich so fest sie konnte, während Braun seine selbstgebogenen Hacken in das Eis rammte.
Mühsam hielten sich alle in der Wand. Das zusätzliche Gewicht des Jetpack-Treibstoffkanisters zerrte an Rivettis zierlichem Körper, was Braun nicht entging.
„Werfen Sie das Ding endlich ab, oder es zieht uns alle runter wie ein Stein“, rief Braun unter ihr.
„Nein!“, stöhnte Rivetti erschöpft. „Ich schaff das. Wir brauchen es noch.“
Als wollte sich die gewaltige Scholle gegen ihre Bezwinger erwehren, richtete sich die Eiswand immer weiter auf. Noch 12 Grad und die Wand würde ihren vertikalen Scheitelpunkt passieren und anschließend überkippen.
„O Gott. Es hört nicht auf“, rief Rivetti und blickte hinab. Der Wettlauf neigte sich buchstäblich dem Ende entgegen. Etwas tiefer nahm das Schicksal der Arche ihren Lauf. Quietschend deformierte der Druck sämtliches Metall zu einem unförmigen Gebilde. Noch hielt sich das bis zur Unkenntlichkeit zerstörte Wrack in der Spalte.
„Das klingt nicht gut. Es ist noch nicht vorbei!“, hustete Braun stark in seinen Helm. Seine inneren Armaturen sprenkelten sich mit Blut. Kein gutes Zeichen. Obwohl er von den Medikamenten wie benommen wirkte, verlor er zu keinem Zeitpunkt die Kontrolle. Es war schon fast ironisch. Der langjährige Umgang mit Alkohol hatte seinen Körper quasi für derartige ungewöhnliche Situationen vortrainiert.
„Die Wand wird immer steiler“, schrie Rivetti. Mit jeder Minute wurde es schwieriger, sich festzuhalten. Ängstlich blickt sie in die Höhe. Steven hielt sich kaum zehn Meter über ihr.
„Wir müssen schneller nach oben, oder wir können uns nicht mehr lange halten“, machte auch er Druck. „Rivetti! Werfen Sie endlich Ihren Rucksack ab, oder wir stürzen noch alle ab.“
„Klettern Sie lieber etwas schneller“, weigerte sie sich trotzig.
Immer hastiger trieb Steven den Laser in das Eis. Unentwegt strömte das Schmelzwasser wie ein kleiner Wasserfall auf die unter ihm wartenden Marines. Rivettis Anzug war inzwischen völlig vereist. Immer wieder musste sie frisches Eis vom Visier entfernen, welches ihre Sicht beeinträchtigte. So nah an der Oberfläche herrschte wieder eisige Kälte von minus 64 Grad.
„Was ist mit dem Brenner? Wie lange funktioniert der noch?“, erkundigte sich Rivetti in der stillen Hoffnung, dass er bis oben durchhalten würde.
„Keine Ahnung. Denken Sie nicht dran!“, spritzte weiter Wasser in die Tiefe. Unentwegt trieb er ein Loch nach dem anderen in das Eis, während er sich stets mit nur einem Arm im letzten Loch verkeilte.
Als niemand mehr daran dachte, erfüllte ein Krachen und Bersten die ganze Spalte. Dann folgte wieder Stille.
„Was zur Hölle war das?“, erschrak Braun und sah in den Abgrund hinab. Außer einem bodenlosen, dunklen Schlund war nichts zu erkennen. Dennoch schien etwas anders zu sein.
„Die Arche. Sie ist weg“, erschrak Rivetti entsetzt.
„Los, weiter!“, drängte Steven, während er weitere Stufen in das Eis trieb. „Es gibt kein Zurück mehr.“
Entschlossen, wenigstens noch einmal die Oberfläche zu erblicken, kletterten alle drei Überlebenden mühsam dem spärlichen Licht des bleiernen Himmels entgegen.
Auch Colonel Braun sammelte all seine Kräfte und kämpfte um jeden Meter. Trotz seines Alters war er ein zäher Kämpfer. Aufgabe oder Kapitulation war selbst in den aussichtslosesten Momenten seiner Laufbahn niemals eine Option gewesen. Wie in Trance, kaum noch fähig, einen sicheren Schritt nach den anderen zu bewältigen, blieb er auf der Stelle stehen und sah hinauf. Alles verschwamm um ihn herum. Sein Körper gehorchte ihm nicht mehr.
„Weiter, Colonel! Wir haben es fast geschafft“, rief Rivetti aus der Ferne.
Er konnte sie kaum noch erkennen. Dann griff er zu seinem Multitool, klappte mühsam das Messer heraus und begann zu schneiden.
„Colonel! Was tun Sie da? Hören Sie auf!“
„Entweder schaff ich es allein oder gar nicht. Beim nächsten Schritt reiß ich sie beide in die Tiefe. Ich kann nicht mehr. Spielt auch keine Rolle mehr.“
Er schnitt weiter.
„Hören Sie auf! Wir sind fast oben“, hörte er sie noch sagen. Dann kappte er das blaue Seil.
„Nein! Verdammt! Er hat es durchgeschnitten.“
Augenblicke verloren an Bedeutung. Zeit war relativ. Nichts erschien ihm mehr wichtig. Regungslos verharrte Braun in der Wand. Seine Hände fest in den Eishaken-Schlaufen fixiert, verlor er schließlich das Bewusstsein.
Ohne einen klaren Gedanken zu fassen, öffneten sich schließlich seine Augen. Zuerst erkannte er Rivetti, die sich über ihn beugte und etwas herum hantierte. Unruhig wanderten seine Blicke weiter. Nur schemenhaft erkannte er Konturen der Umgebung. Unscharf und verwirrend schien die Welt ins völlige Chaos geraten zu sein.
„Er kommt wieder zu sich“, sprach Rivetti nach links. Die Dosis wirkte. Seine Erinnerungen und seine Sinne begannen sich zu schärfen. Schließlich erkannte er auch den Ort, an dem er sich befand. Eis, überall nur Eis. Sie waren an der Oberfläche.
„Sein Zustand stabilisiert sich“, diagnostizierte Rivetti erleichtert und behandelte Braun weiter.
„Sie verrückter Mistkerl! Sie hätten sich fast mit einer Überdosis Schmerzmittel ins Nirwana geschossen. Es hat nicht viel gefehlt.“
Braun lächelte nur und sah sich um.
„Ja, ich bin wohl ziemlich kaputt“, stimmte er Rivetti zu. „Wie zum Teufel haben Sie mich da hochgeholt?“
Steven trat in sein Sichtfeld und hockte sich nieder.
„Ihre Absicht in allen Ehren, Colonel. Aber da Sie nicht abgestürzt sind, wie Sie es vielleicht vorhatten, mussten wir Sie bergen. Sie hätten sie sehen sollen“, deutete er auf Rivetti hin.
„Wir lassen niemanden zurück, der noch lebt“, ergänze Isabell verbittert. „Niemals!“
„Trotzdem vielen Dank“, meinte Steven zum Colonel.
„Wofür?“ Braun war irritiert.
„Dass Sie die Leine gekappt haben, bevor Sie uns hinuntergerissen hätten. Das nenne ich selbstlos.“
„Keine Ursache.“
Beim Versuch, sich aufzurichten, bemerkte er den schwarzen Ruß auf seinem Anzug. Brandflecken zierten die ehemals weiße obere Schicht auf beiden Schultern. Nun war ihm alles klar. Er konnte sich bildhaft ausmalen, wie Isabell ihn ganz allein mit ihrem Jetpack aus der Tiefe geschleppt hatte.
„Was machen wir nun?“ Rivetti starrte in die Weite.
Die Oberfläche
Jeder Blick, gleich in welche Richtung man auch sah, offenbarte das nächste unbezwingbare Problem. Wie ein Irrgarten umgab sie das gebrochene Eis mit unpassierbaren Schrägen, tiefen Spalten und scheinbar harmlosen Wegen. Tausend Möglichkeiten, und jeder Weg konnte ins eisige Grab führen. Nur welcher war der richtige?
„Wie sollen wir hier wegkommen?“, machte sich Rivetti Sorgen und hoffte, dass Steven eine Lösung wusste. „Wir haben nicht mal Funk.“
Doch Steven stand ebenso ratlos wie schockiert vor dem Nichts. Wortlos suchten seine Augen den Horizont ab. Irgendwo da draußen gab es vielleicht einen sicheren Weg durch das Labyrinth. Plötzlich blieben seine Augen zwischen zwei Eisplatten stehen. Dutzende Meter ragten die Schollen in die Höhe. Es war schier unmöglich, einen Überblick über das ganze zerklüftete Trümmerfeld zu bekommen. Und doch, hatten seine Augen etwas erspäht.
„Da!“, rief er. „Rauch! Vielleicht …“
Eine schwarze dichte Rauchsäule stieg in weiter Entfernung in den Himmel.
„Das Heck?“, spekulierte Rivetti hoffend. Doch so schnell die Hoffnung aufblitzte, verschwand sie auch wieder mit verzweifeltem Blick auf das unüberwindbare Chaos des Eises.
„Unsere einzige Chance“, antwortete Steven. Isabell schüttelte den Kopf.
„Das ist unmöglich zu schaffen. Das sind mindestens drei oder vier Kinometer. Der Weg ist unpassierbar! Verdammt! Wir kommen ja nicht mal 200 Meter weit“, fluchte sie und schwieg dann niedergeschlagen.
„Wir müssen es versuchen. Wenn das Heck auch nur zum Teil unversehrt ist, könnten wir vielleicht Sauerstoff und ein Funkgerät bergen.“
„Sieht nicht so aus, als wäre es unversehrt“, meinte Braun mit Blick auf den schwarzen Rauch. Jeder wusste, dass so dichter schwarzer Qualm nicht von selbst entstand. Was auch immer vom Heck übrig geblieben war, verbrannte offensichtlich in diesem Augenblick.
Steven checkte die Sauerstoffanzeige seines CCR, die sich bereits dem gelben Bereich unterhalb von 30 Prozent angenähert hatte. Innerlich beschuldigte er sich selbst. Sie hatten das Wrack der Arche viel zu schnell verlassen, ohne sich weitere Sauerstoffreserven einzupacken. Oder sie hatten es in der Panik schlicht vergessen. Nun war die Zeit ihr ärgster Feind.
„Wir sollten uns auf den Weg machen. Uns bleiben noch knapp neun Stunden“, las er mit ernüchternder Stimme von seinem Display am Arm ab. Der Ton seiner Stimme senkte sich. Abhängig von der Atemfrequenz und der Aktivität konnten es auch Plusminus 60 Minuten sein. Doch angesichts der bevorstehenden Kletterstrapaze, würde die verbleibende Zeit rücksichtslos verstreichen. Das Ultimatum lief erbarmungslos ab.
Entschlossen hob er das Laserschweißgerät vom Boden auf und prüfte die verbliebene Kapazität. 30 Prozent. Vielleicht würde es noch bis zum Wrack durchhalten. So oder so mussten sie sich einen Weg durch das Eis bahnen.
„Na wie gut, dass ich das Jetpack nicht abgeworfen hab“, warf Rivetti einen ironischen Blick zu den anderen. Ihr Ausdruck forderte Genugtuung.
„Okay, wir hatten Unrecht! Gut, dass Sie nicht auf uns gehört haben“, gab Steven zu. Braun erholte sich währenddessen in rasanter Geschwindigkeit.
„Was haben Sie mir gegeben?“
„Wie fühlen Sie sich? Geht es Ihnen besser?“, fragte Rivetti.
„Ja. Sehr viel besser.“ Vorsichtig tastete er seine Brust und Seite ab. Schmerzfrei holte er wieder tief Luft.
„Sie haben sich und uns mit der Überdosis keinen Gefallen getan. Das nächste Mal belassen Sie die Einstellungen so, wie ich sie eingestellt habe.“
„Sorry. Kommt nicht wieder vor“, antwortete Braun verlegen.
„Ich musste Ihnen noch mehr Nanodocs injizieren. Sie regenerieren Sie von innen. Wenn sie nicht mehr gebraucht werden, lösen sie sich von ganz allein auf. Vielleicht geht’s Ihnen ein paar Tage schlecht. Sorry.“
„Schon gut. Ich werd’s überleben“, erwiderte Braun lächelnd.
„Kommen Sie! Wir müssen weiter. Ich will Sie nicht umsonst gerettet haben.“ Rivetti half ihm auf die Beine. Ein letztes Mal sah sie in die Schlucht hinab, in der sie Kowski zurückgelassen hatten. Innerlich zerrissen wich sie vom Abgrund zurück. Dann folgten beide dem Weg durchs Eis, den Steven mit dem Laser geebnet hatte.