Sinus Aestuum

 

 

Majestätisch ragte eine Reihe weicher Bergspitzen weit in die sternenklare schwarze Nacht des offenen Weltraums. Obwohl die Sonnenstrahlung an Intensität verloren hatte, leuchteten die Berge fast romantisch, wie von einer feinen weißen Schneedecke bedeckt. Weder Dunst, noch Wolken verschleierten die endlose Sicht auf die gewaltigen Bergmassive der Apenninen. Sowohl der Mons Ampére, als auch der Mons Huygens ragten beide weit über 5000 Meter in die Höhe. Dahinter lag die beginnende weite Ebene des zweitgrößten aller basaltgefüllten Mare, das Mare Imbriums, auch das Meer des Regens genannt.

Fast 4000 Meter tiefer, am Fuße des Mons Ampére, jagte die Explorer im dunklen Schlagschatten der mächtigen Berge auf das Ende der größten Gebirgskette des Mondes zu. Alle Positionslichter erloschen und selbst mit geschlossenen Achtertriebwerken hielt sich die Explorer nur mit geringen Schüben der Vertikaltriebwerke in der „Luft“. Über 500 Kilometer hatten ihr die Apenninen schon Schutz gewährt.

Sie waren fast am Ziel angelangt: Sinus Aestuum.

 

Cockpit Explorer, B-Deck

Nur die nötigsten Instrumente erhellten das Cockpit. In Rotlicht getaucht, suchte jeder Anwesende an freien Stationen nach den Verfolgern. Nur Caren stand am Fenster und blickte auf die atemberaubende Aussicht des hellstrahlenden Mare Imbrium. Hin und wieder suchte sie den kalten Sternenhimmel über ihnen nach dunklen Flecken ab.

Fast in Schrittgeschwindigkeit steuerte Bone die Explorer nur wenige hundert Meter über den abfallenden Gebirgshang hinweg. Stets im Schatten fliegend, gab er den nächsten Kursabschnitt in den Flugcomputer ein.

„Könnt ihr etwas ausmachen? Caren, du?“

„Nein. Da draußen ist nichts. Vielleicht haben wir sie ja abgehängt.“ Caren wechselte auf die Backbordseite und blickte den pechschwarzen Berghang hinauf, der in völliger Dunkelheit gehüllt war. Weit oben zeichnete sich die Silhouette des Kammes ab und irgendwo dahinter: die Sonne.

„Was sagen die Sensoren?“, fragte Bone die anderen.

„Hmmm, ich weiß nicht.“ Vandermeer checkte seine Anzeigen an der Phalanx. „Ich bin kein Experte an diesem Platz, aber ich wette, die Dinger sind noch da. Wir fliegen fast blind. Die Sensoren reichen nicht über den Kamm. Was ich bräuchte, wären aktive Sonden, aber die würden uns verraten.“

„Immerhin haben sie seit 20 Minuten nicht mehr auf uns geschossen“, stellte Wullf mit einem Blick auf seine Uhr fest und schaute Vandermeer über die Schulter.

Der schaltete auf eine dreidimensionale Reliefkarte aus der Computerdatenbank um und zoomte in eine höhere Totale der Apenninen, bis die ganze Gebirgskette zu sehen war. Automatisch nahm der Computer die Korrektur der Sonne vor und aktualisierte sämtliche Schatten.

„Wir hatten echt Glück. Ohne diese Berge wären wir längst erledigt. Commander? Uns hier im Schatten zu verstecken, war eine reife Leistung“, meinte Vandermeer anerkennend.

„Ich fühle mich geehrt!“ Bone hob dankend die Hand und hörte, was Wullf zu sagen hatte.

„Keine Frage, Commander. Sie fliegen diesen Vogel wirklich grandios. Aber wenn ihr mich fragt. Ich denke, die spielen mit uns. So schlechte Schützen hab ich noch nie gesehen. Ihre Technik ist der unseren weit überlegen. Wieso also konnten wir so leicht entkommen? Die wollten uns gar nicht treffen.“

„Du klingst schon genauso psycho wie Weißbrot“, meinte Viktor zu Wullf. „Bone hat grad deinen schwarzen Arsch gerettet. Nein. Hier sind wir schön im Dunkeln.“ Vandermeer deutete auf die Position der Explorer, irgendwo am schattigen Hang der Apenninen. „Vielleicht haben wir sie abgehängt. Aber ich wette meinen gesamten Sold, dass die Dinger hier oben auf dem Plateau auf uns warten. Wenn wir die Berge verlassen, sind die wieder an uns dran.“

„Vielleicht sollten wir hier landen und warten“, schlug Caren besonnen vor und blickte auf die schöne Landschaft.

„Warten? Fuck! Ja, vielleicht“, stutzte Vandermeer einen Moment und überlegte.

„Nur bis sie weg sind“, antwortete Caren.

„Die sind nicht weg. Die warten oder spielen mit uns“, war sich Wullf absolut sicher.

Auch Bone überlegte eine Weile. Langsam zeichnete sich das Ende der Apenninen ab. Ein großes beeindruckendes Relikt uralter kosmischer Gewalt nahm am Horizont Form an. Der Krater Eratosthenes. Eine Entscheidung musste her.

„Landen kommt nicht in Frage. Wenn Sie uns finden, sind wir ein leichtes Ziel“, stellte Wullf seine strategische Meinung klar.

„Also riskieren wir es“, nickte Bone zustimmend.

„Riskieren? Was? Wollen Sie uns nicht mal verraten, was Sie eigentlich vorhaben? Wonach suchen Sie denn?“, murrte Vandermeer verhalten. Auch ihm war der Schatten der Berge lieber und deutete auf Caren. „Ich fand ihren Vorschlag gar nicht so schlecht.“

„Alles zu seiner Zeit“, antwortete Bone knapp und voller Konzentration. „Wir landen dort, wo wir in Sicherheit sind.“

„Wo das auch immer sein soll“, murmelte Wullf.

„Ich hab einen Auftrag für Sie beide. Schaffen Sie unser viertes Schmuckstück in Schleuse drei. Falls wir wieder Gesellschaft bekommen, weiß ich, wie wir die Dinger abhängen.“

„Na endlich. Das gefällt mir schon besser. Ich denk, ich weiß, was Sie vorhaben.“ Vandermeer trommelte tatkräftig auf die Konsole, sprang auf und ging zusammen mit Wullf hinaus.

„Ihr habt ja keine Ahnung“, erwiderte Bone leise für sich. Dann starrte er mit leerem Blick auf die lunare Einöde.

„Er scheint sich wieder gefangen zu haben“, meinte Caren. Sie war trotzdem über jeden Moment froh, in dem sie Viktor nicht erdulden musste.

„Ja, scheint so.“ Bone dachte nicht mehr an die Marines. Einen Moment vergaß er die Bedrohung, kramte kurz unter seinem Sitz und holte sein V3R-System hervor. Er war schon viel zu lange nicht bei ihr gewesen.

„Was willst du jetzt damit?“, wunderte sich Caren. „Zocken? Jetzt?“

„Es kann viel mehr als das, Caren. Ich brauch kurz eine Auszeit. Passt du solange auf? Wenn was ist, drück auf diesen Knopf und ich bin sofort wieder da.“

„Ja, gut. Aber der Kurs.“

„Autopilot. Die nächste Viertelstunde musst du nichts tun. Sie fliegt von ganz allein.“

„Okay. Ich bleib bei dir.“

Bone zog einen besonderen Handschuh an und setzte sich das eigenwillige Kopfstück auf. Dann schloss er die Augen. Das Glas des halbgeschlossenen Bügels verdunkelte sich. Halb weggetreten und trotzdem wach, war Bone nun an einem anderen, weit besseren Ort. Von Illusionen abgelenkt, brauchte es schon spürbare physische Reize, um den Unterschied zwischen dieser und der realen Welt zu fühlen. V3R konnte so ziemlich alles simulieren, doch nichts davon war wirklich echt. Dennoch war die Illusion so perfekt, dass man sich gern in aufgezeichneten Erinnerungen oder selbstgeschaffenen Fantasien verlor. Bone jedoch ging an einen ganz bestimmten Ort.

Caren wusste nicht, wo er gerade war. Langsam stellte sie sich hinter ihn und legte ihre Hände um seinen Hals. Ob er ihre zärtliche Umarmung überhaupt bemerkte? Den kurzen Moment der Zweisamkeit genießend, fühlte sie seinen Puls an ihren Armen. Sie wusste, dass er es auf der anderen Seite spüren würde. Einige Minuten vergingen.

Langsam klarte Bones Visier des V3Rs wieder auf. Erst jetzt bemerkte er ihre Umarmung. Ohne auf das Disklaufwerk des Zuspielers zu schauen, verdeckte sein Daumen langsam und unauffällig das Etikett mit der Aufschrift des Drives. Dann schaltete er das Gerät ab, während das Visier leise summend automatisch über seine Stirn nach oben fuhr. Ihre Umarmung tat gut. Er küsste ihre Hände und lächelte.

„Erzählst du mir, wo du gerade warst?“, fragte Caren neugierig in sein Ohr.

„Ich kann es dir auch zeigen.“

Sie hatte ihre eigene Meinung von V3R. So scharf war sie nicht darauf.

„Irgendwann vielleicht. Ich muss dir was sagen. Weißt du, ich hab da einige Berechnungen angestellt“, sprach Caren dicht neben seinem Ohr.

„Was für Berechnungen? Wegen der Biosphäre?“ Bone lauschte, was Caren sagte, obwohl er bereits eine Ahnung hatte, was es sein würde.

„Ja. Wenn wir nichts finden sollten, wäre die Venus die beste Alternative. Ihre Umlaufbahn befindet sich fast im grünen Gürtel, etwas dichter als die alte Erdbahn. Da die Sonne an Intensität verloren hat, ist es ideal. Was meinst du?“

Bone überlegte interessiert, auch wenn er diese Wahl gegenwärtig noch längst nicht in Betracht zog.

„Wärme und Licht hätten wir genug. Aber was ist mit Wasser?“, fragte er besorgt.

„Das holen wir vorher von der Erde und recyceln es dann.“

„Diese Lösung findest du gut?“, grübelte Bone. „Die Umwandlung wäre endgültig. Auf der kahlen Venus? Keine gute Idee. Nicht bevor wir alle anderen Möglichkeiten kennen. Es gibt sicher eine bessere Wahl.“

„Und wo soll das sein?“, wollte Caren von ihm wissen.

„Vielleicht ganz nah!“ Bone reichte auch ihr die Geheimdokumente des Admirals. „Hier können wir jedenfalls nicht bleiben!“ Er blickte aus dem linken Fenster den dunklen Hang empor.

Aufgebracht stürzte Susannah plötzlich ins Cockpit.

„Was soll das? Aaron und Viktor tragen einen verfluchten Atomsprengkopf durch das halbe Schiff! Weißt du davon?“, wartete Susannah atemlos auf eine Antwort.

„Nur ein Notfallplan. Keine Panik! Wir brauchen ihn vielleicht als Ablenkungsmanöver“, reagierte er gelassen, als wäre die Sprengung einer Atombombe etwas Alltägliches.

„Wozu? Ich dachte, wir hätten sie abgehängt.“

„Nur weil sie nicht auf uns feuern, heißt es nicht gleich, dass sie auch weg sind. Ich wollte gerade einen Blick riskieren. Mal sehen, wo sie stecken“, antwortete Bone und zog die Explorer sanft am Hang empor.

Am Ausläufer der Apenninen angekommen, erreichten die Berge hier keine 3000 Meter mehr. Es war nur noch eine Frage von Minuten, bis sie den schützenden Schatten verlassen mussten. Wie ein U-Boot auf der Jagd, das sich langsam der Wasseroberfläche näherte, um sein Periskop auszufahren, näherte sich die Explorer dem Kamm. Nur noch wenige hundert Meter, und Bone konnte sich mit eigenen Augen davon überzeugen, ob die seltsamen Sphären noch da waren oder nicht.

„Los geht’s! Haltet Ausschau!“

Alle drei spähten über den Kamm der blendenden Sonne entgegen. Als sie von hier oben auf die bergige Landschaft der Apenninen herabblickten, erkannten sie, dass sich das Gebirge in verschiedene Richtungen bis zu mehreren hundert Kilometern Länge hinzog. Nichts als Berge, überzogen von einer weißgrau silberschimmernden Schicht aus Mondstaub, dem Regolith. Von der Sonne und den Bergen geblendet, überstrahlte das Licht nicht nur die Sterne, sondern vielleicht noch mehr. Ohne Knöpfe zu betätigen oder einen verbalen Befehl zu erteilen, regulierten Bones bionische Implantate den Lichteinfall seiner Augen. Die Sicht besserte sich.

„Fliegen wir nicht zu dicht über den Bergen?“, lenkte Caren die Aufmerksamkeit auf die dicht vorbeirasende Mondoberfläche. Scheinbar zum Greifen nah, tauchte der Kamm unter ihnen auf und verschwand immer wieder.

„Ich hab alles im Griff.“ Bone ging etwas auf Abstand.

„Wo sind sie?“, fragte auch Susannah suchend, in der Angst, dass die Sphären plötzlich auftauchen könnten und wieder zu feuern begannen. „Ich kann sie nicht sehen.“

„Ich auch nicht. Vielleicht haben wir Glück und sie sind wirklich fort“, wagte auch Caren zu hoffen.

Bone misstraute der friedlichen Ruhe und hielt weiter Ausschau. Susannah nahm an der Sensorenphalanx Platz, doch er unterbrach ihre Bemühungen, noch bevor sie einen Knopf betätigen konnte.

„Wir konnten sie nicht registrieren, als sie direkt vor uns waren. Es hat keinen Sinn. Vertraut nur euren Augen!“

„Die Berge. Sie sind weg“, rief Caren, als sie bemerkte, dass sich der Kamm unter ihnen in eine Ebene gewandelt hatte. Die Apenninen lagen nun hinter ihnen. Sinus Aestuum direkt voraus. Zur Rechten lag der beeindruckende Krater Eratosthenes, der mit seinem scharfkantigen 4000 Meter hohen Kraterrand den krönenden Abschluss der Apenninen bildete. Dahinter erhob sich ein noch größerer alter Bekannter. Der Krater Kopernikus.

„Sind wir da?“, fragte Susannah. Bone nickte.

„Wie sollen wir es finden?“, blickte sie von ihrem Platz in die vor ihren liegende Bucht der Hitze, die einen Durchmesser von fast 300 Kilometern hatte. Aus dieser Höhe und Entfernung waren keinerlei menschliche Einrichtungen zu erkennen. Nirgends gab es Anzeichen eines verborgenen Einganges. Doch das hatten die meisten Geheimnisse so an sich.

„Keine Sorge. Ich sehe unser Ziel.“ Von Bones Platz war die Aussicht zwar die gleiche, doch zeigte seine Scheibe einen gewissen Unterschied. Strahlend wie ein Leuchtturm deutete die gelbe Holomarkierung auf die Position des streng gehüteten Mysteriums. Er hatte die genauen Koordinaten.

„Was hast du vor?“, wurde Caren neugierig, obwohl sie die Antwort bereits in ihren Händen hielt. Mit offenem Mund starrte sie auf die blanken Schwarzweißfotografien, die Unglaubliches zeigten. „Was ist das hier?“

„Der sichere Ort, von dem ich sprach.“

Ohne Umwege hielt Bone Kurs auf die Koordinaten, als sich etwas Dunkles vor die strahlende Sonne schob. Wie ein böses Omen, verdeckte etwas die Sonne gleich einer Finsternis. Erst beim zweiten Hinsehen erkannte Bone, dass es nicht die Erde war.

„Da sind sie“, schluckte Susannah entsetzt.

„Sie haben uns gefunden“, rief auch Caren ängstlich.

„Falsch! Sie hatten uns nie verloren“, war sich Bone sicher.

„Was tun sie? Warum greifen sie nicht an?“

 

Backbordschleuse drei, Mittelsektion, C-Deck

„Jetzt ganz vorsichtig absetzen!“, schnaufte Wullf laut. Unsanft krachte die unhandliche Apparatur in den Boden und hinterließ eine kräftige Delle im profilierten Metall. Die eindeutigen Warnhinweise der berüchtigten gelben Dreiecke auf dem Koloss ließen keinen Zweifel aufkommen. Es war keine kompakte Fusionsbombe. Sie war verdammt groß, ebenso wie ihre Zerstörungskraft.

„Himmelarsch! Ich sagte vorsichtig absetzen!“, wiederholte Wullf schwitzend.

Blitzartige Kugeln schossen hinter dem ovalen Fenster der Schleuse vorbei.

„Mist, sie sind wieder da.“

„Hey. Du siehst blass aus“, scherzte Vandermeer angestrengt und wischte auch seine verschwitzten Hände an der Hose ab.

„Lass die dummen Witze“, warnte Wullf energisch.

„Reg dich ab! Ohne Zünder passiert doch gar nichts. Das Baby hält viel mehr aus als wir beide zusammen.“

„Wie weit seid Ihr da unten? Es wird langsam brenzlig“, drängelte Bone. „Ihr habt maximal sechs Minuten! Länger kann ich sie nicht hinhalten.“

„Sagte er sechs? Macht er Witze?“ Vandermeer streckte sich.

„Los weiter!“

Zusammen hoben sie die 150 Kilogramm schwere Bombe hoch, passierten die letzte Tür mit kleinen Schritten und legten sie behutsam vor der Schleuse ab.

„Geschafft“, schnaufte Wullf und wollte gerade zur nächsten Com-Station greifen, als sich Viktor lautstark beschwerte.

„Wieso zur Hölle haben wir nicht die Schwerkraft reduziert?“, fragte Vandermeer zu spät. Wullf rollte mit den Augen. Keiner von beiden hatte an diese Option gedacht.

„Scheiß drauf. War gutes Training. Kein Wort darüber zu den anderen.“ Wullf öffnete einen Com-Kanal. „Wir sind soweit, Commander. Was jetzt?“

„Sehr gut. Ich brauche einen von Ihnen, der mit in die Schleuse geht und das Paket auf mein Kommando abliefert.“

Nickend griff Wullf zum nächsten Raumanzug.

„Was soll das werden?“, fragte Vandermeer, als hätte er die Anordnung nicht verstanden.

„Was meinst du wohl, wie das Ding aus der Schleuse raus soll? Mach sie endlich scharf!“, befahl Wullf, warf ihm die Mappe mit den Aktivierungscodes zu und stieg in den Anzug.

„Der Plan ist total bescheuert“, schüttelte Vandermeer den Kopf.

„Schon okay, ich mach das schon“, stellte Wullf klar.

„Viktor, hören Sie genau zu!“, sprach Bone aus dem Cockpit, während er mit den Verfolgern spielte. „Reduzieren Sie die Sprengkraft, in dem sie die Kapseln zwei bis neun entfernen. Zwei bis neun! Haben Sie verstanden? Lassen Sie nur Kapsel eins im Behälter. Bestätigen Sie!“

„Alles klar. Zwei bis neun entfernen. Einen Moment.“

Vandermeer öffnete eine große Klappe und betrachtete das Herz der Bombe. Neun armdicke gläserne Zylinder reihten sich aneinander. Vorsichtig zog er die besagten Kapseln heraus und legte sie auf den Boden. Ohne Zündmechanismus waren sie völlig ungefährlich, so hoffte er. Dann schloss er die Klappe.

„Erledigt. Wieviel Kraft hat das Paket jetzt noch?“

„Genug, um unsere Spuren zu verwischen“, antwortete Bone. „Wir wollen ja nicht den Mond sprengen.“

„Eine Giga-Tonne. Das sollte wirklich reichen“, beantwortete Wullf die Frage genauer.

„Schalten Sie den Zünder nun auf 30 Sekunden!“, gab Bone die nächste Anweisung. „Das war knapp“, rauschte es über die Anlage.

„Das ist glatter Selbstmord.“ Vandermeer sah schon wieder rot. „30 Sekunden reichen nie, um wegzukommen. Nicht bei diesem Tempo. Er wird uns umbringen“, totterte Vandermeer, machte aber trotzdem weiter.

„Wir haben keine Zeit für Diskussionen! 30 Sekunden! Beeilen Sie sich! Ich verlasse mich auf Sie. Ich time alles, muss mich aber darauf verlassen können, dass Sie die Zeit korrekt eingeben. Bestätigen Sie!“

„30 Sekunden. Du hast ihn gehört. Tu es!“

„Ja, verdammt. Erledigt.“

„Wullf? Bestätigen Sie die Einstellungen!“

„Bestätige, alles wie gewünscht, Commander. Mach das Ding scharf!“

Ein schnelles Piepen und ein Warnsignal beendeten die Prozedur. Der orange Counter stand auf 0:00:00:30.

„Das ist alles Bullshit.“

„Halt’s Maul und hilf mir!“ Wullf schaltete seine Betriebsanzeigen online und öffnete die Schleuse. Sein Anzug konfigurierte sich von selbst. Nun fehlte nur noch der Helm.

„Wir sind soweit. Was soll ich tun?“, erkundigte er sich weiter. Gemeinsam packten die Marines die Bombe und trugen sie durch das letzte Tor.

„Zwei Minuten zum Zielgebiet. Wenn ich das Kommando gebe, befördern Sie die Bombe so stark wie nur möglich nach draußen, damit sie sich schnell parallel entfernt und auf festem Grund aufschlägt. Haben Sie verstanden?“

„Alles verstanden“, antwortete Wullf konzentriert, nahm den Zünder aus Viktors Hand und machte sich bereit.

„Ich versuch die Dinger solange wie möglich abzuschütteln. Schnallen Sie sich fest! Wir wollen Sie nicht verlieren!“

„Ich bin nichts anderes von Ihnen gewohnt.“

„Sie wissen, dass das keine Absicht war. Passen Sie auf sich auf!“

Vandermeer trat einige Schritte zurück. Dann schloss sich das Schott.

„Schleuse drei geschlossen. Druckabbau beginnt.“

Luftdruckgeräusche und hermetische Klänge durchschallten den Vorraum zur Schleuse. Warnlampen blinkten um die Wette.

„Das ist total verrückt“, schnaufte Vandermeer und sah durch das Fenster zu Wullf, der seinen Daumen lässig nach oben streckte.

IVI: „Gravitation deaktiviert. Schleusentor geöffnet“, hallte die weibliche Stimme mit monotoner Entschlossenheit.

Von drei Sicherheitsleinen gesichert, wagte Wullf einen Blick nach draußen. Achtern folgten bereits drei Sphären, während Bone die Explorer im senkrechten Sturzflug auf die Mondoberfläche zu steuerte.

„Gott steh uns bei!“, betete Wullf und bekreuzigte sich.

 

Cockpit Explorer, B-Deck

„Achtung! Jetzt von rechts“, schrie Susannah alarmierend.

Blitzartig reagierte Bone, als die Geschosse wieder ganz nah an der Explorer vorbeisausten und das Schiff nur knapp verfehlten. Magenfest starrte er durch das HUD auf die näher kommende Mondebene, während die Explorer den holografischen Keil durchflog und sich um ihre eigene Längsachse drehte.

„Irgendwo hier muss es sein. Die Koordinaten stimmen! Es muss verborgen sein“, suchte er auf einem Raster nach ungewöhnlichen Mustern in der Oberfläche.

„Wie kann man so etwas Großes verstecken?“, rief Susannah, die sich immer wieder nach den Sphären umblickte.

Auch Caren betrachtete erneut die unfassbaren Fotos und versuchte Ähnlichkeiten zwischen den Bildern und der realen Landschaft auszumachen. Krater, Gräben oder irgendeinen verdammten Hügel. In den Aufnahmen sah es aus, als hätte jemand einfach einen schwarzen Edding genommen und einen Kreis über die Oberfläche gemalt. Das Loch reichte ohne erkennbaren Grund in den Mond hinein. Verglichen mit den imposanten Kratern suchten sie eher nach einem verborgenen Kratzer, der jedoch stattliche fünf Kilometer im Durchmesser betrug. Von der Erde aus gesehen, war es nur ein Punkt, mit bloßen Augen nicht zu erkennen. Aber aus dieser oberflächennahen Höhe musste es doch sichtbar sein. Caren fand nichts. Dennoch barg der Anblick der Fotos etwas Unheimliches und Geheimnisvolles. Weder natürlichen Ursprungs noch von Menschenhand erschaffen, waren diese Bilder wie von einer anderen Welt. Und doch kam es ihr seit Jahren so vertraut vor.

Die Parallelen zu Capri waren unverkennbar.

„Ich kann nichts entdecken. Wo ist es?“

„Mal sehen, was passiert, wenn …“, änderte Bone die Strategie und betätigte den Abzug der Bordgeschütze. Wie ein Jagdflugzeug im Sturzflug schossen die parallelen Salven auf den Mond zu und wühlten eine Schneise aus Staub und Dreck auf.

Mit einem Auge auf den Radarscann kontrollierte Bone die Einschläge und zog erneut den Abzug. In einer langen Kette von Detonationen verursachte ein Geschoss nach dem anderen Staubfontänen bis plötzlich mehrere Projektile die staubbedeckte Oberfläche durchschlugen. Schließlich sackte die perfekte Illusion zwischen einigen Löchern ein.

„Volltreffer!“, schrie er auf, als er sah, wie die letzte Salve einen erkennbaren Durchbruch in die künstliche Oberfläche riss. Wieder zog er den Abzug, um die genaue Ausrichtung zu erfassen. Sofort übertrug der erfolgreiche Scann sein Ergebnis und offenbarte den verborgenen Tunnel. Auf einem Bildschirm baute sich ein dreidimensionales Abbild unter einem Deckmantel aus Metall und Beton auf.

„Da ist es. Unglaublich!“, staunte Bone und manövrierte die Explorer wieder Richtung Orbit, um an Höhe für den finalen Anflug zu gewinnen.

„Es ist wahr.“

In der Zwischenzeit schlugen die letzten Treffer in die künstliche Mondfassade ein und rissen weitere Löcher hinein. Stück um Stück vervollständigte sich das Modell. Nur noch wenige Sekunden und die Explorer befand sich direkt im Zenit über dem Tunnel, 54 Kilometer über der eisig strahlenden Oberfläche.

„Was hast du vor?“ Caren erahnte bereits das nun folgende Manöver. „Das kann unmöglich dein Ernst sein.“

„Hast du eine bessere Idee?“, fragte er entschlossen. Dann begann er das Schiff auf den Eingang auszurichten. Die Schubdüsen verrichteten klaglos ihren Dienst, drehten und bremsten die Explorer. Die farbige Markierung des Zielgebietes überdeckte die verborgene Eingangstür wie ein transparenter Schleier. Susannah schwieg vor Angst und zog ihren Gurt noch fester, bis es schmerzte.

„Sie feuern nicht mehr“, rief Caren. Immer wieder schaute sie zu den Verfolgern.

„Sergeant, halten Sie sich bereit! Ich flieg so nah an den Rand, wie ich kann“, sprach er ruhig und zündete schließlich die Booster.

„Bin bereit und warte auf Ihr Kommando. Hoffentlich wissen Sie, was Sie tun“, keuchte Wullf gebannt, bereit den kurzen Countdown zu starten und den verrückten Plan durchzuführen. Nur welchen Rand Bone meinte, wusste Wullf nicht.

Mit kräftigem Schub, schoss die Explorer immer schneller auf die Oberfläche zu, bis sie eine Geschwindigkeit von annähernd 3500 Kilometer pro Stunde erreichte.

Tollkühn hielt er Kurs auf den inneren Rand der Markierung. Ein rotes Fadenkreuz visierte die Einschlagstelle an. Timing war alles.

„Fünf Sekunden! Ab jetzt!“, gab Bone das Kommando.

Nun half nur noch beten, dass das Paket auf hartem Fels aufschlug.

„Raus damit! So kräftig sie können!“

 

Backbordschleuse drei, Mittelsektion, C-Deck

Reflexartig hämmerte Wullf auf die ENTER-Taste und vergewisserte sich, dass der Countdown begann. Piepend zählte der orange Counter die erste Sekunde. Die Uhr tickte. So schnell er konnte, löste er den letzten Karabiner des Sicherungsseils, welches an der Bombe hing. Gegen das Schott gestemmt, schleuderte er den ganzen schweren Apparat mit der ganzen Kraft seiner Beine in den Weltraum. Nur der Schwerelosigkeit war es zu verdanken, dass sich das todbringende Monster aus Stahl so schnell entfernte. Und doch erschien es ihm nicht schnell genug.

„Wullf, melden Sie sich! Was ist mit der Bombe?“, ertönte Bones aufgeregte Stimme über das Intercom.

„Paket ist draußen“, schnaufte er und starrte ihr weiter hinterher.

„Dann machen Sie die Schleuse zu. Aber schnell!“

Ein letztes Mal riskierte er einen Blick zum Bug und traute seinen Augen nicht. Mit wahnsinnigem Tempo näherte sich die kraterübersäte Oberfläche. Die Explorer feuerte aus allen Rohren auf die Oberfläche. Zu spät, um wieder hochzuziehen. Der Aufprall stand unmittelbar bevor. Wullf schloss das Schott und ging in Deckung.

 

Cockpit Explorer, B-Deck

„Feuer!“, rief Bone und zog zusätzlich zur großen feuernden Hauptimpulskanone noch den Abzug der Bordgeschütze. Einem Flakfeuer ähnlich detonierten die Explosivgeschosse auf dem Schutzmantel des Tunneleinganges, als die Plasmaladung der Impulskanone die Oberfläche vaporisierte und wie Butter durchdrang. Ein großes Loch klaffte direkt voraus, gerade groß genug.

Schnell schaltete Susannah die Erde auf den Monitor und berührte das Glas. Sie war sich des letzten Blickes bewusst.

„Vertraut mir! Wir werden sie wieder sehen!“, machte ihr Bone Hoffnung und kniff die Augen zusammen.

„Ich hab Angst!“, rief Caren und umklammerte den Pilotensitz.

„Festhalten! Kontakt in fünf, vier ...“

 

Sinus Aestuum, Die nahe Mondoberfläche

Schwere Explosionen und konzentriertes Dauerfeuer zertrümmerten den verborgenen Eingang. Aufgewirbelte Staubwolken breiteten sich über dem klaffenden Loch des Deckmantels nach allen Seiten aus. Beton brach und splitterte in alle Richtungen davon. Verbogenes, geschmolzenes Metall und ein abgrundtief schwarzes Loch zerstörten die Illusion der ruhenden Mondlandschaft. Wieder und wieder durchdrangen grelle, weiße Plasmaladungen die Staubwolke und verschwanden ohne Widerstand in der Tiefe. Der Weg schien frei.

Keine zwei Sekunden später erreichte die Explorer die Oberfläche. Krachend durchbrach sie mit ihrem großen Rumpf die Öffnung, riss weitere Metallfragmente berstend mit sich und verschwand in den unbekannten Tiefen des Mondes.

Mehrere hundert Meter entfernt, schlug die Bombe auf festen, felsigen Untergrund auf und grub sich durch den Staub in den Basaltmantel. Der Counter verstummte. Der harte Aufprall hatte jegliche Technik zerschmettert, doch die Kettenreaktion nahm ungehindert ihren Lauf.

Gleißend detonierte die Bombe und verwüstete die lokale Mondoberfläche mit all ihrer zerstörerischen Kraft. Gleichmäßig blähte sich ein gewaltiger Feuerball in alle Richtungen auf, der binnen Sekunden die Sphären erreichte. Ungehindert raste die Druckwelle über anliegende Berge und Täler. Risse breiteten sich aus und brachten den Tunneleingang zum Einsturz. Die Wucht der Detonation brach die oberste Kruste des Mondmantels und verkeilte mehrere Kubikkilometer Gestein in den Tunnel. Der Eingang war für immer verschlossen. Millionen Tonnen Regolithstaub erhoben sich in weite Höhen des Orbits und tauchten den Ort der Explosion in eine riesige undurchdringliche Wolke. Langsam drehten die erhitzten Sphären ab.

 

Der Plan hatte funktioniert.