Begegnung der zweiten Art

 

 

Bone’s Instinkt bescherte ihm ein unwohles Gefühl im Bauch. Genau wie damals, immer wenn er einen seiner waghalsigen Flugstunts vorführen sollte und er genau wusste, dass irgendetwas schiefgehen würde.

„So was hab ich noch nicht erlebt. Keinerlei Signatur, keine Reflexion, kein Radar. Nichts. Wenn wir es nicht mit unseren eigenen Augen sehen würden, wären wir vorbeigeflogen.“

„Mir kommt das nur zu bekannt vor. Nur dass dies hier kein kosmisches Phänomen ist. Ich hab ein ganz mieses Gefühl. Noch viel mieser als beim letzen Mal“, offenbarte auch Susannah ihre abneigende Haltung und Sorge des Vorhabens. Zusammen starrten sie über den sichtbaren Bug der Explorer hinaus. Zwei helle kleine Gestalten näherten sich dem Ding.

„Noch etwas mehr. Bin fast da“, rauschte es durch das Intercom. Keine 300 Meter trennte die Explorer von der unheimlichen schwarzen Sphäre. Barrow war weit näher dran. „Ich kann es fast fühlen“, sprach er über Funk.

„Das ist verrückt“, schüttelte Susannah den Kopf. „Wir wissen nicht mal, ob es menschlich ist.“

Forscher, Ingenieure und Konstrukteure. Sie alle hatten zumindest eine Gemeinsamkeit, einen identischen Abschnitt in der Kette des Lebens. Wie Motten vom Licht angezogen, konnten sie dem Unbekannten nicht widerstehen. Von Neugier besessen, Fremdartiges zu berühren und zu untersuchen, hatte keiner Barrow davon abhalten können, sich dem Ding persönlich zu nähern.

Kaum sichtbar spannten sich steuerbord zwei dünne Halteseile zu Barrow und seiner Begleiterin hinüber.

 

Außerhalb der Explorer

„Noch ein wenig näher“, verlangte Barrow mehr Leine. „Nur noch ein paar Meter. Ich brauch mehr Seil.“

„Die Winde gibt nicht mehr her“, antwortete Caren über Funk aus einer der Steuerbordschleusen.

„Ich komm so nicht näher ran“, wandte sich Barrow der Explorer zu. „Habt ihr gehört? Gebt mir mehr Seil!“ Einen Moment betrachtete er sein Schiff, das nur wenige hundert Meter zurück lag, ihr Bug genau auf ihn gerichtet.

„Wow, so hab ich sie noch nie gesehen.“

„Wen meinst du?“, fragte Sadler, die sich genau zwischen ihm und der Explorer befand und nur zögerlich zu Chad aufschloss.

„Unser Zuhause. Sieh doch!“ Barrow schwieg und starrte der spärlich erleuchteten Explorer entgegen. Ihre Scheinwerfer blendeten dafür umso mehr.

Sein Blick glitt nach links zur alten Heimat. Langsam hob er seinen Arm und peilte über dem Daumen die Erde an, die er kaum zu verdecken vermochte. Er erinnerte sich, wie er es als Junge in einem Science-Fiction-Film genauso gesehen hatte. Er grübelte. Das Bild des Astronauten Lovell genau vor Augen, fiel ihm der Film wieder ein. Er lächelte. Wie viele hatten diesen Test schon nachgeahmt und dabei geträumt? Er selbst hatte es von Minnesota aus unzählige Male getan. Hier draußen funktionierte es nicht. Der Planet war viel größer, um vom ausgestreckten Daumen verdeckt zu werden. Seine Hand wich zur Seite. Nun sah er wieder die Erde der Gegenwart. Kalt, weiß und tot.

„Wir sollten jetzt dort sein.“ Langsam senkte er seinen Arm und kniff die Augen zusammen. Das grelle Licht der Explorer schmerzte in seinen Augen. Wieder und wieder erstrahlte die ganze Lampenbatterie entlang ihrer Tragflächen wie eine überdimensionale Lichthupe.

„Hey, das gibt ein tolles Bild ab. Was ist los?“, rief Barrow verwirrt, während das Licht in seinen Augen blitzte.

„Du träumst. Das ist los. Mach weiter im Plan!“, antwortete Bone.

„Dann kommt dichter und gebt mir mehr Leine! Ich muss näher ran“, forderte Barrow mehr Spielraum.

„Negativ! Wir halten hier Sicherheitsposition. Caren gibt dir gleich mehr Leine.“

„Das dauert mir zu lange. Ich klink mich aus.“

 

Cockpit, B-Deck

„Das wirst du nicht tun!“, untersagte Bone harsch, doch die autonome Stimme von Barrows Anzuges antwortete schneller, als Bone reagieren konnte.

„Achtung! Sie haben die Sicherheitsleine ausgeklinkt“, erklang die monotone Stimme auf Barrows Frequenz.

„Dieser …“, schnaufte Bone wütend. „Lernt er denn gar nichts?“ Bone griff augenblicklich zum Steuergriff und gab der Explorer einen leichten Triebwerksimpuls, so dass sich die Seile bogen.

„Beth? Klink Chad augenblicklich wieder ein!“

„Ich kann ihn nicht erreichen. Er ist zu weit voraus.“

„Dann schließ zu ihm auf!“, befahl Bone.

„Seid vorsichtig da draußen! Geht kein Risiko ein! Wir wissen nicht, was es ist“, sorgte sich Susannah und wandte einen kurzen Blick in alle Richtungen.

„Das ist glatter Irrsinn“, wandte sich Bone ab und griff zu der braunen Mappe des toten Admirals. Mit einem Auge auf der Außenkamera, verfolgte Bone auf einem weiteren Bildschirm ganz andere Absichten. Die Fakten des unglaublichen Dokumentes ließen ihm keine Ruhe. Langsam verwandelte sich der Cursor in Koordinaten. Wenige Sekunden später identifizierte der Computer das Zielgebiet. Sinus Aestumm.

„Was tust du da?“, fragte Susannah irritiert und blickte auf die offene Akte. „Suchst du es?“

„Interessiert es dich etwa nicht?“

 

Außerhalb der Explorer

Mit ausgestreckten Armen näherte sich Barrow der pechschwarzen, körnig wirkenden Oberfläche. Begierig darauf, das Unfassbare mit seinen Fingern zu ertasten, als handle es sich um den lang verschollenen Goldschatz von Fort Knox.

„30 Meter bis Kontakt. Wenn Ihr das sehen könntet. Das Material der Außenseite ist ... tiefschwarz, voller Beulen“, berichtete Barrow. „Das kann unmöglich von Menschen stammen.“

„Halt bloß Abstand! Es sieht bedrohlich aus“, antwortete Sadler voller Respekt, die in einigen Dutzend Metern Entfernung wartete. Sie hatte nicht vor, sich dem Ding zu nähern. Von der Sicherheitsleine losgelöst, erreichte Barrow endlich das Objekt seiner Begierde.

„Touchdown!“ Vorsichtig berührte er die beulige matte Oberfläche und strich mit seiner Hand darüber hinweg.

„Bericht!“, forderte Bone aus der Ferne, der das Geschehen auf Video verfolgte.

„Es fühlt sich glatt an. Keine Ahnung, woraus das Ding besteht. Ich scanne es. Unbegreiflich. Der Tarneffekt ist perfekt. Nichts.“ Barrow wusste sich keinen Rat. Als Nächstes versuchte er sich aufzurichten, aktivierte die Haftwirkung der Stiefel, doch nichts passierte.

„Mist! Es ist nicht magnetisch. Ich hab Schwierigkeiten, mich festzuhalten. Die Schwerkraft reicht nicht aus.“

„Klink dich lieber wieder ein“, meinte Sadler nervös.

„Alles ruhig hier“, wiegelte er ab. Sein Blick huschte über den gebogenen Horizont der schwarzen Sphäre, als stände er auf der Oberfläche eines interplanetaren Himmelskörpers. Einen Moment lang vergaß er, wo er sich gerade befand. Luna, der Mond, bildete im ewigen Dämmerlicht der Sonne den natürlichen Himmel. All seine Krater schienen zum Greifen nah.

„Was für ein Anblick“, staunte Barrow ehrfürchtig.

„Mach ein Foto und komm wieder zurück! Beeil dich!“, stellte Bone über Funk eindringlich klar.

„Ja, ja“, antwortete Barrow, meinte jedoch genau das Gegenteil. Erneut strich er mit seinem Handschuh über die beulige Oberfläche und entdeckte einige Furchen. Das Licht seiner Scheinwerfer reflektierte nur minimal.

„Es sieht beinahe organisch aus. Überall befinden sich handgroße glatte Beulen und die Oberfläche ist von eigenartigen Kratzern übersät. Sieht aus wie Nähte, fast wie Narben, nur wenige Zentimeter hoch, nicht genug, um sich daran festzuhalten.“

Unterstützt von seinem Jetpack, versuchte Barrow erneut, Fuß zu fassen, blickte die Wand empor und richtete sich langsam auf, um die Oberfläche besser überblicken zu können.

„Seltsam, diese Strukturen. Nirgends ein Eingang, keine Technologien erkennbar. Wie hält sich dieses Ding bloß im Orbit? Verrate mir dein Geheimnis!“

„Mir gefällt das nicht. Es spielt mit uns“, versuchte Sadler ihn zur Rückkehr zu bewegen. Natürlich hatte sie keine Chance. Langsam begriff sie, dass seine Neugierde mit jeder Minute stieg und er erst zurückkehren würde, wenn er sie befriedigt hatte.

„Es muss einen Weg hinein geben.“ Unbeeindruckt von Sadlers Bemühungen, begann Barrow mit den eigentlichen Untersuchungen.

„Ich versuche, eine Probe zu nehmen.“ Zielsicher griff er zu einem pistolenähnlichen Gegenstand, und feuerte einen weißen Energiestrahl aus reinen Protonen auf die Oberfläche. Wirkungslos wurde die gesamte Energie absorbiert. Weder ein Kratzer noch ein Fleck.

„Interessant“, überlegte er einen Moment und veränderte das Setting des Protonenschweißgerätes. Höchste Leistungsstufe.

Erneut versuchte er einen kleinen Kreis in das unbekannte Material zu schneiden. Ionisierter Dampf breitete sich um die Schweißstelle aus.

„Sesam öffne dich!“

Doch auch der stärkste gebündelte Schweißpunkt vermochte die Oberfläche nicht zu durchdringen.

„Das gibts doch nicht. Ich brauch was Gröberes“, sprach er zu sich selbst und überlegte, während er unterbewusst die Mündungsöffnungen der Impulskanonen der Explorer fixierte. Einen kurzen Moment ertappte er sich bei genau diesem Gedanken, verwarf ihn jedoch sofort. Nein, er nutzte nicht solche Methoden.

„Kommt wieder rein! Das bringt nichts“, rief Bones vertraute Stimme über das Intercom. Barrow schüttelte verständnislos, fast abfällig den Kopf und setzte seine Arbeit fort.

„Chad, hast du gehört? Kehr zum Schiff zurück!“, wiederholte Bone mit energischer Stimme.

„Wir können nicht weg. Ich bin noch nicht fertig.“

„Doch! Das bist du!“

„Ich werde mich noch etwas mehr umsehen. Vielleicht find ich eine bessere Stelle für meine Tests“, antwortete Barrow stur, der keinen Anlass zur Rückkehr sah.

„Verdammt noch mal! Was soll das?“, brüllte Bone durch das Intercom zurück. „Mach nicht den gleichen Fehler wie Arkov! Der ist tot!“

„Unsinn! Das ist was völlig anderes. Es gibt keine Anzeichen einer Gefahr. Was soll ich denn an Bord herausfinden, wo das Ding genau vor meiner Nase ist?“

„Keine Anzeichen? Mann, die Dinger waren vorhin nicht da. Die spielen mit uns!“

„Kein Grund zur Panik. Vielleicht kann ich einen Eingang finden. Also hör auf, unsinnige Befehle zu erteilen. Ich verbrauch nur meinen Sauerstoff!“

 

Cockpit, B-Deck

„Idiot!“ Wütend riss sich Bone das Headset vom Kopf und rieb sich die Augen.

„Kommt mir irgendwie bekannt vor“, stieß ihn Susannah an und vollendete ihren Seitenhieb. „Ihr passt perfekt zusammen.“

„Ich glaub das nicht“, brummte Bone, begann aber leicht zu grinsen, als erkannte er sich selbst da draußen.

„Bone. Aufsässigkeit hat einen Namen“, erwiderte Susannah.

„Ach, halt den Mund!“

„Lasst ihn machen! Er ist in seinem Element“, meldete sich Caren überraschend zu Wort. „Ich bin auch neugierig, auch wenn mich keine zehn Pferde da hinausbringen könnten.“

Bone drehte seinen Kopf zu Caren und lächelte ihr zu.

Susannah schüttelte den Kopf. „Wieso bist du nicht auf deinem Posten?“, fragte sie sofort.

„Ähhm. Wullf hat mich abgelöst. Er meinte, er kenne sich besser mit der Winde aus. Ist vielleicht besser, wenn er …“

„Wo ist Viktor?“, fragte Bone nervös. „Wullf sollte doch …“

„Er hilft in der Schleuse“, antwortete Caren. „Die Lektion hat offenbar geholfen. Er war ganz manierlich.“

„Hoffentlich vertragen sich die beiden“, meinte Susannah misstrauisch. Es war gut gemeint, doch die letzten Ereignisse sprachen eine andere Sprache. Susannah und Bone hoben gemeinsam ihre Augenbrauen. Ungläubigkeit breitete sich aus. Ohne weitere Worte zu wechseln, erhob sich Susannah, um sich selbst davon zu überzeugen, dass alles in Ordnung war. Beiläufig bot sie Caren ihren Platz neben Bone an und verließ das Cockpit.

„Wer hat es wohl gebaut?“ Caren richtete ihren Blick über den Bug hinaus.

„Ich bin nicht sicher, ob ich das erfahren möchte“, antwortete Bone unsicher. Sein flaues Gefühl war nicht verschwunden.

„Also, ich möchte es wissen. Dreh mal den Funk lauter. Ich möchte hören, was die beiden reden.“

Mit einem Griff an der Konsole beendete Bone die automatische Funküberwachung des Bordcomputers.

„… so richtig schön an einem warmen Kamin. Ich hasse diese Kälte.“

„Ach, Beth. Sobald wir zurück sind, sitzt du wieder im Warmen.“

„Dann beeil dich bitte.“

„Nur noch ein paar Minuten. Keine Hetze! Ich probiere grad was aus. Mal sehen, wie es darauf reagiert.“

„Was hast du vor?“, fragte Beth.

„Das wirst du gleich sehen.“

 

Tief im Puerto-Rico-Graben

Langsam sanken die winzigen Fallschirme in der riesigen Stadt unter dem Eis zu Boden. Dunkelheit beherrschte diesen verlassenen Ort. Dennoch verwandelte ein schwaches blaues Licht die Stadt in ein gespenstisches Bild aus schwarzen Silhouetten kilometerhoher Schatten.

Van Heusen unterbrach die notorische Funkstille des Staunens.

„Woher kommt dieses Licht?“

„Das muss eine Art Notbeleuchtung sein.“

„Ich weiß nicht. Ist das gut oder schlecht?“, fragte Rivetti.

„Wir sind hier, um Antworten zu finden. Kontakt zu Menschen aus dieser Zeit könnte uns das Leben retten“, stellte Braun unmissverständlich klar. „Dennoch: Bleibt wachsam!“

„Seht euch diese Bauwerke an. Wir müssen viel weiter in der Zukunft gelandet sein, als wir denken“, mutmaßte Rivetti und flüsterte im Gleitflug: „Ich hab ein mulmiges Gefühl. Und mein Bauch irrt sich nie.“

Wohin ihre Augen der Dämmerung auch folgen konnten, ragten säulenartigen Türme in die Luft, jedoch weit genug von der unfassbaren Kuppel entfernt, die alles überragte. Die Bauten unterlagen einer strengen Anordnung von Blocks, die sich zu konzentrischen Ringen um ein großes halbkugelförmiges Gebilde in der Mitte der Stadt formierten. Dicht zusammen gerückt, bildeten sie Schluchten aus Metall, Beton und Dunkelheit.

„Passt auf eure Höhe auf! Der Boden kommt schnell näher!“, riet Van Heusen, der sich auf die Landung vorbereitete.

Mochte der Sinkflug langsam wirken, so erwies sich das auf Grund der Größe der Bauten als Fehleinschätzung. Die schwere Ausrüstung lies jeden Einzelnen unermüdlich auf den Boden zurasen. Ausgebildete Marines hatten ein Auge für Gefahren und wussten, diese in den meisten Fällen sicher zu entgehen. Es war nur eine Frage der richtigen Entscheidung, Gegenmaßnahmen und Reaktion. Der Abwurf kostbarer Ausrüstung war keine Option, erst recht nicht, wenn es eine bessere Lösung gab, die jeder Huckepack mit sich trug.

„Haltet euch bereit!“ Van Heusen ergriff die Steuerung der Düsen und wartete einen Moment. Der harte Boden kam schnell näher.

Jetpacks zündeten in kurzen Intervallen. Nacheinander setzten alle professionell und butterweich auf dem vom Schrott übersäten Boden auf. Punktlandungen, ohne Ausnahme. Selbst Steven machte eine gute Figur.

„Nicht übel für einen Zivilisten.“ Rivetti lächelte und stellte ihr Jetpack ab.

„Sammeln!“, befahl Van Heusen ruhig und sah sich um.

„Sind alle da?“, fragte Rivetti und zählte.

„Wahnsinn! Ein unglaublicher Bau. Und das zehn Kilometer unter dem Eis“, staunte Steven beeindruckt.

„Bei dieser Tiefe und dem Druck sollte es noch flüssiges Wasser geben, Commander!“ Rivetti blickte sich um.

„Nach meinen Berechnungen sind wir um einiges tiefer. Ich bin mir nicht mal sicher, ob diese Stadt auf dem Meeresboden steht.“ Steven scannte die Umgebung.

„Schwärmt aus und haltet eure Augen auf! Bleibt unauffällig! Wir wissen nicht, was uns hier erwartet. Ich schlag vor, dass wir ab jetzt Funkstille wahren!“ Brauns Anweisung wurde sofort unterbrochen.

„Jungs, wo ist David?“, fragte Rivetti besorgt und sah sich suchend nach ihm um. Ihr Blick wanderte in die Höhe der gewaltigen Kuppel, doch von Weißberg keine Spur.

„War er nicht hinter uns? Weiß jemand, ob er abgesprungen ist?“, fragte Van Heusen vorwurfsvoll und starrte zu Isabell.

„Woher soll ich das wissen? Ich bin nicht seine Mama.“

„Okay. Suchen wir ihn!“

„Nicht mehr nötig. Ich weiß, wo er ist.“

Gefolgt von allen Blicken richtete Steven seinen Arm in die Höhe der Kuppel, Richtung Westen.

„Sieht er uns nicht?“ Rivetti leuchtete mit ihrer Taschenlampe. „Los, schau her! Schau nah Osten, David!“

Plötzlich blitzte auch seine Lampe codeartig auf.

„ICH … SEHE … EUCH … KOMME … ZU … EUCH!“, entzifferte Rivetti den alten Morsecode.

„Na großartig. Weißbrot, du Idiot!“, rief Van Heusen.

Fern ab ihrer Position, fast auf der anderen Seite der Stadt, gab sich Weißberg alle Mühe jegliche Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Begleitet von zwei Leuchtfackeln segelte sein Fallschirm rasant zu Boden.

„Scheint fast so, als hätte er Schwierigkeiten.“

„Okay, dann wären wir ja wieder vollzählig. Trennen wir uns“, schlug Van Heusen vor. „Commander? Sie und ich schlagen diese Richtung ein und sammeln unsere Nachhut auf.“

„Wie Sie meinen.“

„Corporal, können Sie uns hören?“, rief Braun.

Einige Augenblicke später folgte eine undeutliche verstümmelte Antwort. Weißberg klang angespannt und neurotisch.

„… sie verstan … ihnen ent … erdamm … ist da …“

„Wir gehen ihm entgegen.“ Van Heusen lud sein Gewehr durch und schaltete die Lampe am Lauf seiner Waffe ein.

„Dürfte ziemlich schwierig sein, hier voranzukommen.“ Steven leuchtete mit seinem Scheinwerfer die Umgebung aus. Meterhoch türmten sich verschiedenste Wrackteile unkenntlich deformierten Metalls und versperrten die Straßen wie Barrikaden. Riesige, teils zerbrochene Steinplatten, die den Untergrund bildeten, waren gesäumt von Dreck, Schutt, Geröll und verschiedensten undefinierbaren Gegenständen. Das alles wiederum schien von einer dicken, fast schmierig glänzenden Schlammschicht überzogen zu sein.

„Was zum Teufel ist das?“ Alle traten näher heran.

Mehrere Lichtkegel beleuchteten die aufgetürmte Barrikade aus Schrott. Unter dickem Rost trugen einige Teile fast unkenntlich erodierte Nummern und Schriftzeichen.

„Wer hat das getan?“, schauderte es Rivetti.

„Mich würde eher interessieren, wen diese Barrikaden aufhalten sollten. Scheint ein höllischer Kampf gewesen zu sein.“

„Ich sehe keine Leichen“, bemerkte Rivetti trocken und schwenkte ihre Scheinwerfer in alle Richtungen. Keine der Lampen vermochte die weiten Fassaden auszuleuchten, stattdessen erzeugte das ferne blaue Licht eine beklemmende Atmosphäre. Ohne Details ihrer Konstruktion preiszugeben, ragten überall Dutzende Silhouetten in die Höhe.

„Ein gespenstischer Anblick. Commander, haben Sie Derartiges schon einmal gesehen?“, senkte Braun seinen nutzlosen Scheinwerfer.

„Nein. Hätte nie gedacht, dass ich mal so etwas zu sehen bekomme. Das jagt einem eine Gänsehaut ein.“

„Ja, ich hab gerade eine“, betonte Rivetti.

„Die Architektur ist unglaublich. Wie hält die Kuppel nur den Druck aus? Ich muss mir die Außenwand genauer ansehen.“ Steven ging Richtung Außenwand nach Norden.

„Da kommen wir nicht lang. Jedenfalls nicht zu Fuß.“ Van Heusen wollte gerade mit seinen Händen zur Steuerung des Jetpacks greifen, als ihn Braun daran hinderte.

„Die brauchen wir später noch. Sparen Sie Ihren Treibstoff! Sie wollen doch wieder nach oben, oder?“

Van Heusen verstand und schnaufte widerwillig.

„Dann dort entlang! Einmal um den Block!“

Schritt für Schritt bahnte sich die Gruppe wortlos ihren Weg durch die breiten Häuserschluchten. Die Gewehre im Anschlag, bereit, hinter jeder Ecke auf Unerwartetes zu treffen. Systematisch leuchteten die Scheinwerfer jeden Winkel aus, soweit das Licht reichte.

„Unheimlich. Keine Fahrzeuge, keine Fenster. Es sieht aus wie eine Stadt, ist aber keine. Wo sind wir hier nur?“, rätselte Rivetti.

„Wir müssen einen Blick in diese Bauten riskieren. Ich brenne vor Neugier, was darin … Was zum ...“

Plötzlich rieselte Schmutz aus dem Nichts der großen Höhe in die Tiefe herab. Reflexartig richteten alle ihre Waffen zu den Türmen hinauf und warteten. Tausende hell erleuchtete Staubpartikel fielen wie Schnee zu Boden.

„Ich kann nichts erkennen!“, flüsterte Braun bedacht.

„Verdammt, ich glaub, wir sind nicht allein!“ Van Heusen zielte in alle Richtungen. Sein Daumen folgte seinem Instinkt und entsicherte das Gewehr. Die Waffe war scharf.

Einen Moment verharrten alle in Starre, verfolgten schemenhafte Konturen der nächstgelegenen Gebäude, doch nichts passierte.

Rivettis scharfer Sinn und Aufmerksamkeit erkannte die nahgelegenen senkrechten Streben als Erste.

„Da ist die Außenwand.“ Rivetti begann einige schwere Schritte zu laufen, kletterte ein paar Stufen empor, bis sie direkt vor der tragenden Konstruktion der Kuppel stand. Ihr Licht durchdrang die scheinbar dünne Schicht. Sie konnte kaum glauben, was sie dort erblickte.

„Wasser! O mein Gott!“, schrie sie lachend, ließ ihre Waffe fallen und stützte ihre Hände gegen die Wand. „Seht nur! Wasser! Flüssiges Wasser.“

Die gute Nachricht war fast zu schön, um wahr zu sein. Schnell schlossen auch die anderen auf und überzeugten sich von dem sensationellen Fund, der den Abstieg rechtfertigte. Die Lage schien sich endlich zum Positiven zu wenden.

„Tatsächlich“, freute sich auch Steven und betrachtete die organisch anmutende Begrenzung. Das Licht durchströmte diese und reflektierte an einem Felsen.

„Unglaublich“, riss auch Braun seine Augen auf, als er eine Bewegung ausmachen konnte. „Dort! Da hat sich was bewegt. Etwas Weißes. Irgendein Tier. Eine Krabbe vielleicht?“

„In dieser Tiefe? Wo? Das muss ich sehen“, freute sich Rivetti, ging ein Stück weiter und berührte das fremdartige Material. Steven folgte ihr und fühlte sich beinahe wie ein Besucher im Meeresmuseum.

„Sie wirkt so dünn. Oder ist es eine Täuschung? Woraus besteht sie?“, wollte Steven wissen.

„Dürfte interessant sein.“ Rivetti trat einen Schritt zurück, zog ein Messgerät aus einer Seitentasche ihres rechten Beines und untersuchte die Beschaffenheit der Struktur. Der eingelassene Bildschirm in ihrem Visier zeigte ihr ein mikroskopisches Bild eines Fasergeflechtes, das zunehmend höher auflöste. Auf atomarer Ebene begann der Analyseprozess. Computersymbole, chemische Abkürzungen trennten die einzelnen bekannten Elemente, bis schließlich das Ergebnis feststand.

„Interessant. Eine Art Kohlenstoffverbindung, Siliziumfasern mit weiteren Spuren unbekannter, sehr komplexer Verbindungen. Äußerst robust, fantastisch. So etwas hab ich noch nie gesehen.“

„Das hat niemand. Wir werden uns daran gewöhnen müssen“, antwortete Steven nüchtern, als hätte er nichts anderes erwartet. Alles, was sie in den letzten Stunden zu Gesicht bekommen hatten, veränderte ihr Weltbild.

„Da ist es wieder.“ Auch Rivetti leuchtete durch die Wand auf das krabbelnde weiße Tier, als Sekunden später sogar ein seltsamer Fisch durchs Licht schwamm. Ein Lächeln überzog alle Gesichter. Es gab noch Hoffnung.

„Ich würde es nicht glauben, wenn ich es nicht mit eigenen Augen sehen würde“, meinte Steven fasziniert.

„Ja, wundervoll. Zum Glück konnten sie hier überleben.“

„Wie kommt es, dass es so weit unten noch Leben gibt?“, fragte Van Heusen verwundert.

„Bei diesem hohen Druck wundert es mich selbst. Andererseits weiß man viel zu wenig über die Tiefsee. Diese extremen Gebiete sind größtenteils unerforscht. Es gibt sicher zahllose Arten, die nie ein Mensch zuvor gesehen hat. Organismen, die trotz hohem Druck und hohen Temperaturen überleben können. Manche benötigen nicht einmal Sauerstoff und funktionieren auf ganz anderer Basis, etwa Schwefel.“

„Kennen Sie die Art?“, fragte Steven neugierig.

„Nein. Diese Exemplare hab ich noch nie zuvor gesehen. Vielleicht haben wir gerade eine neue unbekannte Spezies entdeckt. Aber das spielt wohl keine Rolle mehr, oder?“ Rivetti schüttelte traurig ihren Kopf.

„Vielleicht ist es von Bedeutung, aber es ändert nichts. Kommen Sie! Wir müssen weiter.“ Braun griff nach Rivettis Hand, hielt aber kurz inne, um ihr etwas Zeit zu lassen.

„Wir sollten uns endlich aufteilen, um mehr herauszufinden. Unser Sauerstoff wird nicht ewig reichen. Wir müssen einen Weg in diese Bauten finden.“

„Ich wüsste da eine Möglichkeit“, klopfte Van Heusen selbstsicher auf seine automatische Kanone, die seitlich an seinem Körper herabhing. Obwohl die Waffe fast eine halbe Körperlänge maß, war sie außerordentlich leicht, gleichzeitig aber auch so zerstörerisch wie tödlich.

„Wir finden einen anderen Weg“, winkte Steven abfällig ab. Er wusste, dass ein einziger Feuerimpuls dieser Wumme reichte, um jedes Hindernis aus dem Weg zu räumen.

„Colonel? Sie und Isabell versuchen einen Eingang in diese Türme zu finden. Wir suchen David und sehen uns im Zentrum um“, schlug Steven vor. Auch Van Heusen war einverstanden.

„In Ordnung. Funkcheck alle 10 Minuten.“

„Verstanden. Dann los!“

 

Im Zentrum der Stadt

Hilflos stolperte Weißberg durch das von Schatten beherrschte Zentrum. Seine anfängliche Faszination schlug langsam in Wut um. Zwar hatte er die restliche Gruppe aus der Luft noch sehen können, doch die harte Bruchlandung in diesem Trümmerfeld kostete ihn jede Orientierung.

„Leute! Sagt endlich was! Meldet euch!“, keuchte er, als bestiege er die Alpen. Das Schlachtfeld, auf dem er sich befand, machte jeden seiner Schritte zur lebensgefährlichen Gratwanderung. Wieder stolperte er und hielt seine Körperbalance in letzter Sekunde, bevor ihn seine schwere Ausrüstung auf scharfe, spitze Trümmerteile gezogen hätte.

„Fuck! Was zur Hölle mach ich hier unten?“ Völlig ramponiert, nur zwei funktionstüchtige Scheinwerfer an seiner rechten Schulter und dem Helm, kaum genug Licht, um die nächsten 30 Meter auszuleuchten, schlug er wiederholt gegen die Kontrolleingabe seines Armes. Der Zusammenprall mit der Schachtwand und die missglückte Landung hatten heftige Spuren an seinem Kampfanzug hinterlassen. Zwar schien er noch hermetisch abgeschlossen zu sein, jedoch hatte er mit erheblichen technischen Mängeln zu kämpfen. Sein Jetpack schrie geradezu nach der Lösung seiner Probleme, jedoch verhinderte eine Fehlfunktion den Start. Trotz größter Anstrengungen schleppte er das defekte Gerät weiter mit sich herum. Es war das einzige Ticket zurück an die Oberfläche.

Eine große Delle an seiner rechten Helmseite zeugte von Weißbergs jüngstem Dilemma. Quer über sein Gesicht, zog sich ein gefährlicher Riss durch das Sicherheitsglas seines Visiers. Da auch seine gesamte Spektralsicht ausgefallen war, griff er in seine Tasche und holte drei Leuchtkugeln hervor. Er überlegte kurz, ob er sie einsetzen sollte. Sie waren ausdrücklich nur für Notfälle gedacht.

„Wo seid Ihr?“, fluchte er, widersprach seiner inneren Stimme und lud eine Leuchtkugel in den Granatwerfer seines Gewehrs.

 

Oberhalb der Stadt war es finster wie die Nacht und doch war das trügerische dunkelblaue Licht allgegenwärtig. Plötzlich raste ein gleißend heller Lichtpunkt vom Boden empor, stieg zwischen den grobverkleideten Riesenbauten in die Höhe, dessen einst spiegelglatte Oberfläche seit Äonen dem Rost verfallen war. Teile der Hausverkleidung fehlten und waren aus unendlicher Höhe zu Boden gestürzt. Der Verfall von Beton und Glas nahm seit einer Ewigkeit seinen Lauf. Im Zenit ihrer Flughöhe hielt die Leuchtkugel einen Moment inne, ehe sie an ihrem kleinen Schirm wieder herabsank.

Offen herausklaffende Rohrsysteme, alte Metallträger, die überall aus den Gebäuden hingen, nichts blieb vom Zahn der Zeit verschont. Weißberg starrte in die Höhe und sah sich um. Schlagartig blieb sein Blick an einer eigenartigen Querverstrebung hängen.

„Moment mal“, stutzte er und fokussierte die frisch angelegte Schweißnaht an dem Träger. Jemand hatte sich vor kurzem daran zu schaffen gemacht. Es sah zu neu aus, zwischen all dem zerfallenen Rost. Stroboskopartig begann nun die Leuchtkugel zu flimmern, zu unregelmäßig verbrannte das Magnesiumgemisch in der dünnen Luft. Angespannt sah sich der einsame Soldat in alle Richtungen um, als sich über ihm inmitten der wilden Querstreben etwas Großes zu bewegen schien. Weißberg zuckte zusammen.

„Shit! Was war das?“

Panisch hob er seine Lampe und richtete den Lichtkegel in die Höhe. Rostkrumen fielen wie Hagel zu Boden. Sofort begann seine Hand zu zittern. Er war nicht mehr allein.

„Seid Ihr das? Ist hier noch jemand?“ Wartend hielt er inne, doch es kam keine Antwort. Stattdessen krachte Sekunden später ein riesiger Betonträger rechts von ihm zu Boden.

 

Dann erlosch die Leuchtkugel.