GIER
KERSTIN ZEGAY
Von der Spitze des Springbrunnens lächelte Amor in ewiger Versteinerung. Sein Bogen war schon lange abgebrochen. Tiefe Risse hatten sich in der barocken Skulptur gebildet. Im Becken sammelte sich der Regen zu einer Pfütze. Laut zwitschernd badeten ein paar junge Spatzen darin, andere suchten zwischen dem ersten gefallenen Laub des Jahres nach Körnern. Obwohl der Herbst schon begonnen hatte, brannte die Sonne ungnädig vom Himmel. Nur die laue Brise von der anderen Uferseite des Flusses brachte etwas Abkühlung. Beharrlich klatschte das Wasser an die Seiten der Yacht.
»Wie lange brauchst du denn noch?«, fragte Janne ungeduldig. Fahrig wischte sie sich den Schweiß von der Stirn und dann die Hände am T-Shirt ab.
Elch knurrte durch seinen dichten Bart und schob die Brille zurück auf die Nase. Ein grober Sprung teilte das linke Glas in zwei Hälften.
Der Motor dröhnte auf, stotterte, wollte gerade Schwung nehmen, bevor er verstummte.
»Mist!«, brummte Elch und fummelte weiter an dem Kabelmantel. Mit dem Taschenmesser löste er eine Schicht Drahtisolierung. Schweißtropfen perlten von den schulterlangen Locken auf die Holzbohlen.
»Wer hat Elch eigentlich diesen blöden Spitznamen verpasst?«, fragte sich Janne nicht zum ersten Mal. Elch passte so gar nicht zu einem Griechen. Dann doch eher zu ihr. Schließlich war sie Schwedin, gefangen in einem Land, welches sie nur kurz besuchen wollte. Schon zu Studentenzeiten hatte Janne ihre Schwester Ida vor der Auswanderung gewarnt. Zu Recht, wie sich nun herausgestellt hatte. Janne schluckte schwer und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie tastete nach dem Insulin in ihrer Jackentasche, das lebenswichtige Medikament für Ida, das diesen Ausflug notwendig gemacht hatte. Sie schüttelte den Kopf und blinzelte die Tränen weg. Die kurzen, blonden Haare standen kreuz und quer vom Kopf ab. Tief beugte sie sich über Elchs Schulter, um den Arbeitsfortschritt zu kontrollieren.
Wütend fuhr Elch herum. »Ich kann so nicht arbeiten!«
»Was dauert das denn so lange?«
»Es dauert eben so lange, wie es dauert. Ich schließe nicht jeden Tag ein Boot kurz.« Sein von der Sonne gegerbtes Gesicht wechselte die Farbe erst zu rot und dann zu weiß. Seine Pupillen wurden starr.
Janne folgte seinem Blick.
Lautes Stöhnen störte die frühherbstliche Idylle. Die Seufzer kamen tief aus den Kehlen, klangen rau.
Hinter der Eisbude, deren Leuchtreklame schon lange nicht mehr brannte, kam der erste Untote. Von der schusssicheren Weste tropfte Blut auf den sandigen Weg. Ein Zeichen dafür, dass der Zombie vor kurzem noch ein Mensch gewesen war. Ein Maschinengewehr baumelte nutzlos vor der Brust. In den Höhlen der herausgerissenen Augäpfel wimmelten Maden. Immer wieder wischte er ein paar ungelenk aus dem Gesicht, während sie sich an der faulenden Fleischtheke bedienten.
Aus dem Gebüsch hinter der verwitterten grünen Parkbank tauchte der Zweite auf. Eine ältere Dame im lila Bademantel kämpfte sich durch das Dickicht und das Stöhnen klang ärgerlich, so wie sie früher womöglich Kinder beschimpfte hatte, die in der Mittagszeit Fußball spielten. Die grauen Haare waren immer noch auf Lockenwickler gedreht, die im Wind auf dem Rücken baumelten, weil die Kopfhaut abgeplatzt war. Irgendwann hatten sich die Muskeln vom Knochen gelöst, sodass der weiße Schädel aus dem Fleisch ragte. Das Gesicht war auf den Hals gerutscht und auf der Nase saß nach wie vor die kleine Lesebrille mit dem goldenen Kettchen.
Ein Straßenkehrer zog seinen Besen in ewiger Umklammerung nutzlos durch das Gras. Der Overall war schon lange nicht mehr orange. Er hatte einen Fuß verloren und humpelte auf dem Stumpen über die Wiese. Kurz stoppte er, reckte die verrottete Nase in die Luft, als suche er eine Witterung, keuchte entsetzlich und setzte seinen Weg fort.
Eine Mutter hielt krampfhaft ihren, in eine hellblaue Decke gewickelten, Säugling im Arm. Der Pullover zerrissen und der Blick glasig, den durchdringenden Schrei, ersetzt durch Röcheln, angezogen vom Instinkt, den Hunger zu befriedigen. Beherzt griff das Baby der Mutter an die Brust, riss ein Stück ab und stopfte es sich in den Mund. Maden tropften von den dünnen Lippen auf die Decke, auf den Boden, machten Platz für das Fleisch, das die Eier nährte. Blind krochen sie über die Kiesel, auf der Suche nach einem neuen Wirt, getrieben vom Instinkt, zertreten von den nachkommenden Untoten. Die Frau zuckte nicht einmal zusammen.
Janne würgte und schluckte die hochkommende, verdaute Nahrung wieder runter. Sie kannte das Ziel, denn sie waren es selbst, ihr noch warmes, durchblutetes Fleisch. Zwischen ihnen und den Zombies gab es nur noch das kleine, eiserne Tor, knapp drei Meter hinter dem Ufer, mitten auf dem Steg, dessen Schloss sie erst vor wenigen Minuten geknackt hatten.
Und es stand offen.
Elchs und Jannes Blicke trafen sich. Sofort wandte sich Elch den Kabeln zu.
Janne sprang von der ‘Ars vitae’ auf den Steg und rannte sofort los.
Tagelang hatten sie nach einem Krankenhaus oder einer Apotheke gesucht, die keine Zombiehölle, die kein Opfer von Plünderungen geworden war. Tage hatten sie den Entbehrungen der Sicherheit getrotzt, nur um die Insulinampullen zu finden, um Ida vorerst zu retten. Und jetzt ... auf keinen Fall würde sie sich überrennen lassen.
Ihr Herz hämmerte wie wild. Die ersten Untoten erreichten den Steg und es lagen nach wie vor zig Meter zwischen ihr und dem Tor.
Janne rannte, atmete schwer und der erste Zombie überquerte die Schwelle des Tores als sie den Hauptsteg erreichte. Fast wäre sie auf den vermoosten Planken ausgerutscht, als sie die Kurve knapper nahm, als die Geschwindigkeit zuließ. Nur mit Mühe hielt sie das Gleichgewicht. Ihre Füße berührten kaum den Boden, so erbarmungslos raste sie dem Tor entgegen. Mangels eines ausgereiften Plans rammte sie den Ersten mit ihrem vollen Gewicht, brachte ihn aus dem Gleichgewicht, sodass er von dem Steg ins Wasser stürzte. Luftblasen blubberten, Maden wanden sich an der Oberfläche, aber der Zombie blieb verschwunden.
Überrascht von diesem Erfolg schlitterte Janne über die Holzbohlen, die verdächtig knarrten. Sie ruderte mit den Armen und fiel auf die Knie, genau vor die Füße des nächsten Angreifers.
Der unglaubliche Gestank raubte Janne den Atem und sie keuchte.
Ein Augapfel des Zombies baumelte an den Sehnen auf der Wange. Die aschfahle Haut hing in Fetzen von der grauen Masse, die einmal Muskeln gewesen waren. Laut klapperte er mit den Zähnen, in dem Versprechen, sie bald in ihr Fleisch zu schlagen. Maden krümmten sich hinter der großen Lücke des fehlenden Schneidezahns. Die blanken Fingerknochen berührten Jannes Hals.
Im letzten Moment duckte sie sich, warf sich auf die Seite und trat dem Zombie im Sturz gegen das Knie.
Knochen knackten, Sehnen barsten, verfaultes Fleisch schmatzte, als sich der Unterschenkel vom Rest des Körpers löste. Der Zombie stöhnte und in Jannes Ohren hörte es sich an wie Überraschung und Ärger. Verweste Fleischbrocken blieben an den Sohlen ihrer Turnschuhe kleben. Der Untote prallte ungebremst mit dem Kopf auf das Holz. Der Schädel platzte auf wie eine überreife Melone. Graue Hirnmasse und geronnenes Blut liefen über die Bohlen und tropften durch die Ritzen in das Wasser.
Schnell rappelte sich Janne auf. Die Kette des Vorhängeschlosses lag noch auf dem Steg und sofort griff sie danach. Wie ein Lasso schwang sie die schwere Kette über ihrem Kopf, um den nächsten Zombie auf Abstand zu halten. Mit der anderen Hand angelte sie nach dem Tor, bekam eine Metallstrebe zu fassen und zog sie zu sich. Kurz schwang das kleine Tor zurück und sofort packte sie fester zu. Der Angreifer stöhnte und weitere Zombies tauchten aus dem Gebüsch auf.
»Scheiße! Scheiße! Scheiße!«, flüsterte Janne und merkte, wie die Panik in ihr hochstieg.
Janne schwang die Kette und traf den Stöhner am Unterkiefer. Es knirschte, es knackte, es schmatzte, dann plumpste der Kiefer in den Fluss. Ein Madenregen ergoss sich auf den Steg. Hunderte prallten auf das Holz, wanden sich und krochen wie Raupen in Jannes Richtung. Langsam schlurfte der Zombie ihr entgegen. Er streckte die Arme aus, wollte das Fleisch berühren und wich der Kette aus.
Fest umklammerte Janne das Tor, in der Hysterie, überrannt zu werden. Sie schleuderte die Kette und traf den Untoten an der Schläfe. Der Schädel knackte. Janne holte Schwung und traf erneut. Der Knochen knirschte, ähnlich wie bei einer Walnuss, kurz bevor die Schale nachgab, wenn der Nussknacker sie in der Zange hatte. Janne schüttelte sich und eine Gänsehaut überzog ihren Körper. Der nächste Schlag traf ihn am Ellenbogen, beeindruckte ihn jedoch kaum.
Ihre Schulter schmerzte, die Muskeln wurden müde und bei jeder Sporteinheit hätte sie längst eine Pause eingelegt. Nur der pure Überlebenswille veranlasste ihren Körper dazu, weiter zu arbeiten.
Weitere Zombies schlurften Richtung Tor.
Janne schwang die Kette mit voller Kraft und eisernem Willen. Endlich traf sie die Schläfe. Der Knochen brach und Hirnmasse sickerte über seine Schulter. Noch ein letzter Schlag. Das Hirn war nur noch eine breiige Masse und der Körper sackte zusammen.
Janne atmete tief ein, gönnte sich aber keine Pause. Wo war das verdammte Schloss? Suchend sah sie sich um und konnte es nirgendwo entdecken. Einerlei, sie konnte sich nicht damit aufhalten. Sie schlang die Kette durch die Stahlstreben und um den Pfosten. Mit ihrem ganzen Gewicht hängte sie sich an die Kette, welche im Augenblick Sicherheit versprach, aber nicht für den nächsten. Wieso hörte sie immer noch keinen Motor?
Stetig füllte sich die Anlegestelle mit gefräßigen Zombies. Irrende Hände griffen durch die Stäbe, auf der Suche nach frischem Fleisch, tasteten nach ihrem Körper. Blinde Augen suchten ihre Nähe. Geschickt wich Janne ihnen aus, trat nach verwesenden Fingern und Armen, die Eisenkette fest im Griff. Immer mehr Untote drängten auf den schmalen Steg.
Besorgt sah Janne zu den Yachten. Kein Zeichen von Elch, kein aufheulender Motor.
Der Hunger trieb die Wurmwirte vorwärts. Sie drängten nach vorne, rücksichtslos, krabbelten übereinander, schubsten, stöhnten.
Die Holzbohlen knarrten. Es fiel Janne immer schwerer, Ruhe zu bewahren. Sie war schweißnass.
Der süßliche Geruch der Verwesung hing in der Luft und sie vermied es, durch die Nase zu atmen.
Die Vorderen wurden von den nachrückenden Untoten immer weiter gegen das Tor gedrängt, sodass ein Öffnen des Tores unmöglich wurde.
Janne lockerte den Griff um die Kette und entspannte die Muskeln. Zehn, fünfzehn Arme langten durch die Stäbe, versuchten sie zu erhaschen, verdorrte Lippen wurden zurückgezogen, Zähne gebleckt, Kiefer mahlten.
Der Motor der Ars vitae heulte auf, stotterte.
Der Straßenkehrerzombie hatte im Gedränge seinen Besen verloren und krallte seine Finger in die Schulter des Vordermanns. Ohne Respekt kletterte er über den Rücken, trat einem anderen in den Magen, getrieben von einer unbändigen Gier. Maden krochen unter der Haut, brachten Ausbeulungen zum Vorschein, wo keine sein durften. Ohne Schmerzen umfasste er den Stacheldraht.
Janne beobachtete das Spektakel mit Unbehagen.
Schon schwang er das rechte Bein über den Zaun. Ein Zombie hängte sich an das linke Bein und brachte ihn aus dem Gleichgewicht. Die Dornen des Stacheldrahtes rissen an dem zerfetzten Overall und bohrten sich in das faulende Fleisch. Dunkelbraunes Blut und gelbgrüner Gallensaft tropfte von den Drähten und steigerte die Raserei der Meute. Unzählige Kehlen bildeten einen stöhnenden Chor. Tief und tiefer drückte sich der Stacheldraht in den Körper und schlitzte ihn auf. Die lebende Leiche klatschte auf den Boden. Sein Darm hing an den Dornen wie zu räuchernde Würstchen mit lebendiger Füllung. Ungelenk rappelte der Straßenkehrer sich auf. Er hatte ein Päckchen zu überbringen.
Endlich hatte sich der Motor gefangen und lief. Elch hatte es geschafft.
Janne rannte los, sprang über die Leichen und schlitterte über die Planken. Der abgetrennte Unterschenkel brachte sie zu Fall. Sie rutschte über das Holz, der Stoff der Jeanshose gab nach, Splitter bohrten sich in ihr Knie. Laut ächzend nahm der Untote die Verfolgung auf.
Elch löste schon das Tau, mit der die Yacht befestigt war, als Janne auf das Boot sprang. Noch nie hatte sie ein so schönes Geräusch gehört, wie den vor sich hin tuckernden Motor.
Als der Wurmwirt die Abzweigung des Stegs erreichte, legten sie ab. Janne winkte ihm zu.
Breitbeinig stand Elch hinter dem Steuerrad und sah aus, als wäre er schon immer als Kapitän über die Meere geschippert und kein Grubenarbeiter aus dem Ruhrpott.
Janne lehnte sich an ihn.
»Alles okay?«, fragte er sie.
Sie nickte. »Alles gut.«
»Wir schaffen das schon.«
»Klar, wie immer.«
»Ida ist eine starke Frau.« Aufmunternd sah er ihr in die Augen.
Wieder nickte Janne. Ihre Wangen waren gerötet und ihr war heiß. Schweißperlen liefen ihr über die Schläfen und den Hals. Erschöpft riss sie sich die Jacke vom Körper, warf sie auf Deck, streckte und dehnte sich. »Mir ist so heiß«, stöhnte sie. Jeder Muskel schmerzte. Sie sank entkräftet auf die ehemals roten Samtkissen der Loungeecke und untersuchte ihr Knie. Sie entfernte einen zwei Zentimeter langen Holzspieß, der sich tief in den Muskel gegraben hatte. Es schüttelte sie, als sie Teile des Augapfels des Zombies vom Schienbein wischte und es kostete sie große Anstrengung, sich nicht zu übergeben.
Ruhig glitt die Yacht durch das Wasser und der Fluss breitete sich vor ihnen aus. Die Äste der Bäume hingen tief ins Wasser. Eine Entenfamilie bahnte sich ihren Weg durch das Dickicht.
Janne kuschelte sich tiefer in die Kissen und beobachtete die Spatzen wie sie durch den Himmel flogen. Das sonore Brummen des Motors wiegte sie in einen unruhigen Schlaf.
Das Dröhnen der Kampfhubschrauber weckte sie schlagartig. Mehrere Maschinen rasten im Tiefflug über sie hinweg, alle beladen mit großen, schweren Tonnen.
Janne hustete und sehnte sich nach einem heißen Tee. Die Anstrengungen der letzte Tage hatten ihre Spuren hinterlassen.
Elch nickte ihr zu. »Kampfflieger.«
»Vielleicht haben sie uns gesehen.«
»Und wenn? Für die gelten wir als infiziert und als potentielle Zombies. Sie würden uns töten.«
Resigniert sah Janne in die Schaumkronen, die die Yacht hinterließ. Ihre Situation war hoffnungslos. Deutschland war seit Monaten abgeschottet, die Grenzen dicht. Keiner wollte ins Land, aber die Überlebenden raus. Nach und nach eliminierten die angrenzenden Staaten die Großstädte. München, Berlin, Hamburg, Köln, ausgebombt und nur noch eine Erinnerung an längst vergangene Zeiten. Alles nur aus Angst vor Ansteckung. Erst nannten sie es Quarantäne, dann rollten an den Grenzen die Panzer ins Land. Die Ketten hinterließen tiefe Narben. Schwer bewaffnete Soldaten schossen auf alles was sich bewegte. Ihre kleine Gruppe hatte beobachtet, wie sie nicht infizierte Kinder und Überlebende erschossen. Rücksichtslos durchstöberten sie Häuser, brannten ganze Viertel nieder. Männer in Schutzanzügen nahmen Bodenproben, legten Maden unter ein Mikroskop und schütteten Wasser in ein Reagenzglas. Deutschland musste desinfiziert werden.
Die Zeit lief ab.
Während sie geschlafen hatte, mussten sie ein Flussmündung passiert haben. Hier war der Fluss viel breiter, die Häuser waren dichter an das Ufer gebaut. Verrostete Schiffscontainer ragten aus dem Wasser, gekenterte Frachter versperrten den Weg.
Wachsam umschiffte Elch die Hindernisse.
Erbärmliches Ächzen, grauenhaftes Röcheln und abscheuliches Seufzen drang von einem havarierten Ausflugsdampfer zu ihnen herüber. Die blaue Schutzfarbe war abgeblättert. Am Bug klaffte ein großes Loch. Die Fenster, durch die Familien früher die Aussicht genossen hatten, waren blutverschmiert. Eine Gruppe Zombies hatte sich auf dem Deck versammelt und irrte von Maden getrieben umher.
Elch hielt den Abstand so groß wie möglich und Janne schüttelte sich, als sie vorbeifuhren. Nicht, weil sie die grauenhafte Meute nicht mehr ertragen konnte; die Erinnerung an ihre Familie, an glückliche Tage, alles schien so weit weg.
»Was meinst du, wie lange wir noch brauchen?«, fragte Janne.
»Wenn uns keine Hindernisse ausbremsen ...« Elch kontrollierte die Benzinanzeige. Die Nadel kroch gefährlich nahe auf den roten Bereich zu. »... und das Benzin reicht, können wir in einer Stunde anlegen. Dann sind wir in zwei Stunden zu Hause.« Elch stockte und berichtigte sich selbst. »Dann sind wir da.«
Unzufrieden kaute Janne auf ihrer Unterlippe. Ihr Kopf brummte und sie massierte die verspannte Nackenmuskulatur.
Kleine Fabriken aus roten Backsteinen säumten jetzt das Ufer. Dicke Rohre führten einst Abwasser in den Fluss. Heute tröpfelte es nur noch über die vermoosten Kanten.
Der Kran der nächsten Fabrik war ins Wasser gestürzt und die gelbe Farbe war einer dicken Schicht aus Flechten gewichen.
Der Motor der Yacht tuckerte immer langsamer und stoppte.
Fragend sah sich Janne zu Elch um. »Benzin alle?«
Gemächlich glitt das Boot durch das Wasser.
Elch schüttelte den Kopf. »Nein.« Mit dem Kinn deutete er nach vorne.
Keine hundert Meter vor ihnen querte eine Autobahnbrücke den Fluss. Zurückgelassene Autos, Lastwagen und Wohnmobile verstopften die Straße. Ein schwarzer Geländewagen hatte die Brüstung durchbrochen und hing mit dem Vorderreifen in der Luft. Hunderte Zombies schlichen um die Wagen. Sie klagten, versuchten sich zu übertönen, krochen über die Geländer. Mehrfach stürzte einer in den Fluss und versank wie ein Stein. Der leichte Wind hatte sich gedreht und der Gestank war kaum zu ertragen. Unter das Aroma der Fäulnis hatte sich der üble Geruch von vermoderten Tierabfällen gemischt.
Noch immer driftete die Ars Vitae der Brücke entgegen. Elch drückte einen Knopf und rasselnd presste sich der Anker in den Grund. Stockend stoppte die Yacht.
Janne konnte den Blick nicht von der Brücke wenden. Ihre Ankunft war nicht unbemerkt geblieben. Verfressen streckten die Ersten ihre Hände nach ihnen aus, obwohl so noch weit entfernt waren. Andere rückten von hinten nach und Janne schüttelte über so viel Gier nur den Kopf. »Und nun?«
Elch kniff die Augen zusammen und antwortete nicht.
»Wenn wir drunter durchfahren, springen sie.«
»Was ist das?«, fragte Elch.
»Was?«
»Die Brücke ist seltsam.«
»Seltsam?« Janne prüfte die Brücke eingehend und rieb sich die kleine, schmerzhafte Beule hinter dem rechten Ohr. »Wieso?«
Elch runzelte die Stirn. »Ich weiß nicht ... die Farbe.«
»Sie ist halt rot. Und?«
Elch legte den Kopf schief, die Stirn gedankenverloren in Falten. Das wehmütige Klagen der Zombies erreichte einen markerschütternden Höhepunkt.
Janne sah zu Elch, dann zur Brücke und wieder zu Elch. »Da ist nichts ...«
Grob packte Elch sie am Arm und zerrte sie vorwärts. »Komm!«
»Was ist?« Janne stolperte, fing sich, stieß gegen die Reling. »Was ist denn los?«
»Das ist eine Falle.« Schon hatte er das Bein über die Reling geschwungen.
»Ich verstehe überhaupt nichts. Wieso fahren wir nicht weiter?«
»Janne, diskutiere nicht, komm.«
Sie rollte sich über das harte Eisen des Schiffsgeländers, während Elch schon bis zur Brust im kalten Wasser stand. Janne atmete ein paar Mal durch, wappnete sich innerlich vor der Eiseskälte und sprang.
»Das ist keine rote Farbe. Unter der Verwesung und der Fäulnis riechst du geronnenes Blut.« Elch schnappte nach Luft. Ohne inne zu halten schwamm er dem Ufer entgegen.
»Literweise Blut. Innere Organe.« Drei kräftige Züge brachten ihn dem Ufer näher.
Janne hatte Schwierigkeiten zu folgen.
»... und sie können nicht mehr runter von der Brücke. Irgendwie haben sie den Weg versperrt.«
»Wer denn?«
»Mensch, Janne. Die, die in den Hubschraubern saßen. Und sie werden zurückkommen, mit schnelleren Maschinen und Waffen.«
Die Strömung wurde stärker. Nur mit Mühe konnten sie sich von der Brücke fernhalten. Erschöpft griff Janne nach einer Strebe des umgekippten Krans. Glitschige Algen klebten am Metall. Im seinem Schutz hangelten sie sich an das Ufer. Sie fror und auch Elchs Lippen waren blau. Doch er gönnte ihnen keine Pause. Die Böschung war felsig und Janne hatte Schwierigkeiten, Halt an den scharfen Kanten zu finden. Immer wieder rutschte sie ab. Ihre Muskeln waren müde, die Kraft ließ nach und doch trieb Elch sie unermüdlich an. Dann packte er sie am Handgelenk und zerrte sie das letzte Stück nach oben. Ein rauer Vorsprung schürfte ihr den Rücken auf. Die Schmerzen trieben ihr die Tränen in die Augen, aber sie klagte nicht, sondern raffte sich sofort auf. Elch sah ihr in die Augen, überprüfte nur in Sekunden ihre Verfassung und rannte los.
Janne folgte und ließ die Füße über den Kiesweg fliegen. Unkraut wucherte und die ehemals gestutzten Büsche eroberten das Gelände zurück. Ihre Lunge brannte, die Beine schmerzten und ihr war klar, dieses Tempo konnte sie nicht mehr lange halten. Der Abstand zu Elch wurde immer großer. Sie atmete schwer und es strengte sie an, die Lungen aufzublähen und mit Luft zu füllen. Während sie versuchte, Elch auf den Fersen zu bleiben, beobachtete sie, wie er die Geschwindigkeit drosselte und sich nach ihr umsah. Der Weg machte eine Kurve und trotz der scheinbar drohenden Gefahr, ließ er Vorsicht walten, denn nie konnten sie wissen, welche Bedrohung auf sie wartete. Janne holte auf, stemmte die Hände auf die Knie und verschnaufte, konzentrierte sich auf die Atmung. Ihr Begleiter gönnte ihr ein paar Minuten.
Dann erschauderte sie und blickte Elch mit großen Augen an, fasste ihn geschockt an den Unterarm und suchte ihr Gleichgewicht. »Wir müssen zurück«, stotterte sie und stolperte in die Richtung, aus der sie gekommen waren.
»Spinnst du?« Elch zerrte sie vorwärts.
Janne schlug um sich und versuchte sich aus seinem Griff zu befreien. »Das Insulin. Es ist in meiner Jackentasche ... auf der Yacht.«
Betroffen starrte Elch sie an.
Sekundenlang herrschte Schweigen. Im Unterholz sangen Zikaden ein lautes Lied in der einsetzenden Abenddämmerung.
»Du kannst nicht zurück.« Elch flüsterte und lockerte seinen Griff um Jannes Taille nicht.
Längst rollten dicke Tränen über ihre Wangen. Doch sie gab nicht auf, wand sich, um sich aus seiner Umklammerung zu befreien, mit dem Resultat, dass Elch noch fester zupackte. In ihrer Verzweiflung trat sie ihm gegen das Schienbein. Er grunzte kurz und schenkte dem Schmerz keine weitere Beachtung.
Ein lauter Knall am Himmel stoppte ihre Rangelei. Die Zikaden unterbrachen ihr Lied. Janne versuchte, zwischen den Baumwipfeln etwas zu erkennen. Aufgeschreckte Vögel flogen umher. Elch zog sie zum Ufer, um freie Sicht zu haben.
»Sie kommen«, brummte er.
Zwei Kampfflieger flogen in einer Formation über die Brücke. In rasender Geschwindigkeit drehten sie, flogen einen Bogen und kamen zurück. Über der Autobahnbrücke ließen sie Bomben fallen und waren wenige Augenblicke später aus dem Sichtfeld verschwunden.
Janne beobachtete, wie die Geschosse in gefühlter Zeitlupe den Zombies entgegenfielen. Die Luft flirrte, doch sie konnte ihren Blick nicht abwenden. In letzter Sekunde warf Elch sie auf die Erde und schützte sie mit seinem Körper.
Mit einem gigantischen Donnerschlag explodierten die Bomben.
Die Druckwelle der Explosion drückte sie tief in den Matsch. Das Gesicht durch den Sturz von den Dornen der Büsche zerkratzt, mit dem Kinn im Dreck, realisierte Janne nur langsam, was gerade passiert war. Ein spitzer Stein bohrte sich schmerzhaft in ihre Hüfte. Ihr Körper fühlte sich an, als hätte sie eine Dampfwalze überrollt. Gequält schüttelte sie ihre Arme und raffte sich auf. Ihre Ohren klingelten und sie sah, dass Elchs Lippen sich bewegten, er auf sie einredete, aber sie konnte ihn nicht verstehen.
Fassungslos sah sie auf die verwüstete Brücke. Die Hitze versengte ihr die Augenbrauen. Überall zwischen den groben Steinbrocken lagen abgerissene, verwesende Leichenteile, losgelöste Arme und Köpfe.
Die Autobahnbrücke existierte nicht mehr. Fahrbahnteile und Autowracks stachen aus dem Wasser. Ein dichter Ölfilm trieb an der Wasseroberfläche und brannte haushoch. In der Mitte des Flammenteppichs ragten die Pfeiler der Brücke ohne Funktion.
Janne starrte auf das Inferno, unfähig, sich die nächsten Schritte zu überlegen.
Die Yacht brannte. Es knirschte und knackte, als das Holz nachgab und den Flammen reichlich Zunder bot.
Jannes Blick war glasig, das Piepen in den Ohren unerträglich und noch viel schlimmer die Konsequenzen. Aus und vorbei. Das Todesurteil für ihre Schwester. Wie sollte sie ihr wieder unter die Augen treten, war Janne doch ihre einzige Hoffnung.
Sie ging einen Schritt auf den Brand zu. Wie viel einfacher wäre es, wenn ...
Die Selbstmordgedanken blieben ungedacht. Elch riss sie am Arm und zwang sie zur Bewegung, ignorierte ihre Tränen. Zurück auf dem Weg verfielen sie in einen leichten Trab und entfernten sich Stück für Stück von dem Inferno.
Als die Dämmerung hereinbrach, erreichten sie eine Lichtung. Hinter einem Felshaufen ließ sich Janne völlig erschöpft auf den Boden sinken. »Ich kann nicht mehr und ich will nicht mehr.« Sie rieb sich die schmerzenden Schläfen.
»Wir können nicht hier bleiben. Schon gar nicht in der Nacht.«
»Mir sind die Zombies egal. Lass mich einfach hier liegen.« Janne drehte sich auf die Seite. »Es hat doch sowieso alles keinen Sinn.«
»Steh auf.« Elchs Ansage duldete keinen Widerstand. »Aufgeben ist keine Option.«
Janne beobachtete, wie die kleinen Wölkchen weiterzogen. Der Drang, einfach liegenzubleiben, der Müdigkeit und Erschöpfung nachzugeben, war groß, aber die Angst vor den Untoten dann doch größer. Wieder gab sie Elch nach. Bis jetzt hatte er immer die richtigen Entscheidungen getroffen.
»Bist du so weit?«, drängte Elch zum Aufbruch.
»Nein.« Trotzdem stand sie auf.
»Dort hinten steht ein Wanderwegweiser. Noch einen Kilometer bis zur nächsten Ortschaft.«
»Da willst du hin?«
Elch zuckte nur mit den Schultern. »Haben wir eine Wahl?«
»Elch ... wirklich ... ich kann heute nicht mehr. Ich brauche eine Pause. Eine Ortschaft bedeutet Zombies und ich will nicht kämpfen. Morgen ... morgen wird es wieder gehen.« Sie mühte sich den kleinen Berg hinauf. Ihr Atem ging stoßweise.
»Wir brauchen Insulin. Ida hat keine Pause.«
Die Maisfelder zu beiden Seiten hätten längst abgeerntet werden müssen. Die Sonne hatte die Kolben verbrannt.
»Ida bringt es nichts, wenn wir uns vor Schwäche überrennen lassen und verwandeln«, flüsterte sie vor sich hin.
Elch brummte nur und kickte einen Stein. »Der Ort ist nicht mehr weit und vielleicht gibt es eine Apotheke, die noch nicht geplündert wurde.«
Eine Vogelscheuche quietschte leise im Wind, während sie die Anhöhe erklommen. Ein kleiner, geschwungener Weg führte hinab ins Tal, auf eine asphaltierte Allee, der Zufahrtsstraße in das Dorf. Es wirkte ruhig, fast schon gespenstisch leer. Aber aus Erfahrung wusste Janne, dass hinter jeder Ecke ein Rudel lauern konnte, nur darauf wartend, sich der Gier nach ihren pochenden Herzen zu ergeben. Längst war der Mond aufgegangen und hatte die Sonne hinter dem Horizont verscheucht. Das letzte bisschen Sonnenlicht, gefressen von den Schatten. Die Dunkelheit verstärkte Jannes Ängste und sie würde nichts lieber tun, als ihrem Instinkt nachzugeben und sich irgendwo unter einem Bett zu verstecken.
»Also gut«, sagte Elch. »Zu den Feldern muss es ja einen Hof geben. Da verbringen wir die Nacht.« Er strich sich durch den Bart.
Erleichtert atmete Janne auf.
»Sobald es hell wird, brechen wir auf. Klar?«
»Klar.« Allein die Aussicht auf ein wenig Schlaf brachte die Motivation zurück. Janne kratzte sich die roten Pusteln am Hals auf, ohne es zu merken.
»Was hast du?«, fragte Elch und strich ihr über den Hals.
»Da hinten war ein Weg für Traktoren. Wahrscheinlich kommen wir da zum Bauernhaus.«
»Was ist mit deinem Hals?«
Janne fuhr sich über die Kratzspuren. »Sonnenallergie oder Mückenstiche.«
Elch studierte ihren Blick und gab sich dann mit der Antwort zufrieden.
Sie mussten nur wenige Meter zurück laufen, als sie die Traktorreifenspuren fanden. Mit Unkraut überwuchert waren sie mehr zu erahnen, als zu erkennen.
Wachsam bewegten sie sich vorwärts. Der mannshohe Mais barg Gefahren, die sie erst spät erkennen würden. Vielleicht zu spät, um reagieren zu können. Zombies, Hunde, die schon lange keine Haustiere mehr waren. Plünderergruppen, die hinter jedem Menschen einen Gegner witterten.
Sie schlichen voran, zügig, aber mit Bedacht. Die verwelkten Blätter raschelten und Jannes Herz klopfte bis zum Hals. Ihre Nerven waren zum Zerreißen gespannt und sie vergaß das Atmen. Vielleicht wäre das Dorf doch die bessere Alternative gewesen. Der Wind löste einzelne Maiskolben und sie landeten dumpf auf der Erde. Jedes Mal zuckte Janne zusammen. Endlich kam das Ende des Feldes in Sicht. Es war ihr vorgekommen, als wären sie Stunden durch ein Maislabyrinth geirrt, doch es waren nur Minuten und sie war erleichtert, der grünbraunen Hölle entkommen zu sein. Dem Maisfeld schloss sich ein Weizenfeld an, auch überreif, aber übersichtlicher. Zwischen dem Weizen schoss überall Unkraut hervor. Mitten im Feld stand eine von diesen modernen Erntemaschinen. Zurückgelassen, mitten in der Arbeit. In den Schneidwerkzeugen hingen abgetrennte Beine, aufgespießte Köpfe, Stofffetzen. Selbst aus der Entfernung konnte Janne den untoten Bauern in der Kabine erkennen, wie er tobte. Das Fleisch ummantelte die Knochen lederartig. Rasend, weil er der Kabine nicht entkommen konnte. Aufgelöstes Menschenfett, das einst die Scheibe herabgeronnen war, war eingetrocknet und machte den Zombie noch aggressiver, als er versuchte, es abzulecken, mit einer Zunge, die keinen Speichel mehr produzierte.
Angewidert wandte Janne sich ab. Sie konnte sich nicht an diese Bilder gewöhnen, wollte sich nicht an diese Bilder gewöhnen und musste es jeden Tag erdulden, in der Befürchtung, einmal selbst so zu enden.
Der Hof war nur noch wenige hundert Meter entfernt. Das große Bauernhaus, die Scheune, der Stall. Alles sah ruhig und friedlich aus. Eine ländliche Idylle.
An den Holzwänden der Scheune suchten sie Schutz. Schritt für Schritt näherten sie sich dem Innenhof, immer auf der Hut. Janne linste zwischen den Hölzern in die Scheune. Vergammeltes Heu, verstreute Arbeitsgeräte, nichts Auffälliges.
Elch hob die Hand und gebot ihr so, stehenzubleiben. Er schielte um die Ecke, inspizierte den Hof und nickte ihr zu.
»Gehen wir in die Scheune?«
»Mir wäre der Stall lieber. Stabilere Wände.« Elch klopfte auf das Holz.
Geduckt huschten sie über den Hof und pressten sich an die Wand des Stallgebäudes.
»Hier ist keiner.« Janne strich sich über die pochende Schläfe.
»Wir bleiben vorsichtig.« Elch spähte durch das vergitterte Fenster und versuchte mit dem Ärmel, den Dreck der letzten Monate zu lösen. Ergebnislos. »Also der Haupteingang.«
Mühevoll zog Elch den leicht angerosteten Metallriegel zurück. Sofort sprang die Stalltür auf. Direkt standen sie in einer Dunstwolke aus abgestandener Luft, Kuhmist und vergammelten Fleisch. Janne rang nach Luft. Unzählige verendete Kühe und Kälber lagen im verdreckten Stroh, in unterschiedlichen Verwesungsstadien. Hunderte, tausende Fliegen surrten durch den Stall und verwandelten die zugrunde gegangen Tiere in schwarze, sich bewegende Gestalten. Aufgeplatzte Leiber, aus denen vertrocknete Organe hingen, blanke Knochen, abgefressen von Fliegen, Käfern und Maden, die ihre Nachkommen ernährten.
Janne würgte. »Ich bin wirklich keine Tussi, aber ich kann hier nicht schlafen.« Sie lehnte sich gegen die aufgeschwungene Tür, die entsetzlich laut in den Angeln quietschte.
Als hätten sie auf einen Startschuss gewartet, erhob sich ein Meer aus wogenden Insektenkörpern, krabbelnd, fliegend, die zusammengeschmolzen schienen wie ein einziges, riesiges Biest. Sie stoben durch die Tür, neuen Nahrungsquellen entgegen.
Janne schrie, schluckte, spuckte, schlug um sich, traf viele und doch keine, spuckte, spuckte, spuckte, stolperte rückwärts und landete auf ihrem Hintern im Dreck. Immer mehr Insekten flatterten aus dem Stall und das Reiben der Flügelschläge war ohrenbetäubend.
Da humpelte der erste Zombie um die Ecke der Scheune, angezogen vom Lärm, erfreut über das Fleisch. Gierig stöhnte er auf.
»Was ist das für ein Tag heute? Ein Tag aus der Hölle?«, fragte Janne.
Elch half ihr auf die Füße. »Derzeit ist jeder Tag ein Tag aus der Hölle.«
Der zweite und dritte Untote schlurften um die Ecke. Ein ganzes Rudel folgte.Elch rannte zur Eingangstür des Bauernhauses und rüttelte an der Klinke. Abgeschlossen. Er zerrte Janne hinter sich her und versuchte es an der Nebentür. Schwere Eisenschlösser verhinderten ein Eindringen. Janne lugte durch das Fenster der Tür und erschauderte, als die Fratze der toten Bauersfrau Millimeter vor ihr auftauchte, nur getrennt durch die Scheibe. Die Kreatur keuchte, sog scharf den Sauerstoff ein, in Lungen, die den Dienst versagten. Dann öffnete sie den Mund und erbrach im Strahl einen Schwall Maden, die gegen das Glas prallten und auf den Boden fielen. Ein nicht enden wollender Strom ergoss sich aus ihrer Kehle. Schon krochen die Ersten unter der Türschwelle den pochenden Herzen entgegen.
Janne taumelte zurück und folgte Elch, der schon durch das Feld rannte, die Zombies dicht auf den Fersen. Weizenähren schlugen ihnen hart um die Unterschenkel.
Das Atmen fiel Janne immer schwerer. Jeder Atemzug bereitete ihr stechende Schmerzen. Die Luftröhre fühlte sich eiskalt an und der Kopf bleischwer. In den Armen und Beinen kribbelte es. Janne schlug nach den Fliegen, die sich in den Falten ihrer Kleidung versteckten. Dann stoppte sie. »Ich kann nicht mehr.« Ihre Lungen brannten. »Wirklich.«
Elch blickte in ihr kreidebleiches Gesicht, erkannte, dass sie nicht scherzte und kontrollierte die Entfernung zu den stinkenden Verfolgern. Sie stöhnten in einem vielstimmigen Chor in Vorfreude auf das Festmahl.
»Zum Traktor.«
»Was?«
»Wir jagen ihn da raus.« Er deutete auf den Bauern. »Und wenn er nicht raus kommt, kommen die nicht rein.« Jetzt zeigte er auf das Rudel.
Janne war alles recht, Hauptsache, ihre Füße mussten sie nicht länger tragen.
Sie änderten die Richtung.
Die Verfolger holten auf.
Elch packte Janne am Arm und schleppte sie mehr, als dass sie lief.
Endlich am Traktor angekommen, stützte Janne sich auf ihren Knien ab und konzentrierte sich auf die Atmung.
Der Bauer tobte. Nie war er in seinem untoten Leben durchblutetem Fleisch so nah gewesen und er raste vor Gier, schlug mit den flachen Händen gegen die Scheiben und drückte sich die Nase platt.
»Warte hier.« Elch verschwand hinter dem Traktor und kurz hatte Janne die Befürchtung, er würde sie dort zurücklassen. Doch das Vertrauen war größer. Geräuschvoll öffnete sich auf der anderen Seite die Tür und der Zombie fuhr aufgeregt herum. Sofort wich Elch ein paar Schritte zurück, spielte den Lockvogel, alle Muskeln angespannt, bereit, sich mit bloßen Händen zu verteidigen. Wachsam sprangen Elchs Blicke zwischen dem Bauern und dem Rudel hin und her. Die Zeit wurde knapp.
Fast fiel der Zombie aus der Maschine, nachdem er lange Zeit seine Beine nicht gebraucht hatte. In letzter Sekunde fand er sein Gleichgewicht wieder und schwankte auf de Mann zu.
Janne erkannte, wie schwer es Elch fiel, aber er hielt seine Position ohne sich zu bewegen, harrte aus und ließ den Zombie Schritt für Schritt näher kommen.
Janne kletterte auf der anderen Seite mit letzter Kraft in die Fahrerkabine und brach ohnmächtig zusammen.
Sekunden später kam sie wieder zu Bewusstsein. Ihr Körper tat weh, fühlte sich so schwer an. Besorgt beobachtete sie Elch.
Er wartete und ließ den Wurmwirt näher und näher kommen. Kaum eine Armeslänge entfernt schlug er einen Haken, legte in Windeseile die wenigen Schritte zum Traktor zurück und sprang, selbst überrascht über die Einfachheit seines Plans und das Gelingen, in die Fahrerkabine und schlug die Tür zu.
Der Gestank war unerträglich, kaum besser als im Stall, und raubte ihm für Sekunden die Sinne. Sofort zerstampfte er die noch lebenden Maden, die in der Kabine einen neuen Wirt suchten. Mit dem Ellbogen zermatschte er eine auf dem Tacho.
»Janne!« Elch schlug ihr ins Gesicht. »Janne!«
Es knallte laut, als ein Zombie gegen die Scheibe schlug. Elch ignorierte ihn. Der Traktor war umzingelt, geschüttelt von unzähligen Händen, die Einlass forderten.
Elch schüttelte Janne an den Schultern und schrie ihren Namen. Jannes Augenlider flatterten. »Mir ist schlecht.« Schon legte sie den Kopf auf die Seite und erbrach schaumig grüne Galle.
»Was ist los?« Elch legte seine Hand auf ihre Stirn. »Wie lang hast du schon Fieber?«
Janne zuckte die Schultern. »Weiß nicht.«
Elch holte tief Luft. Beobachtete die Zombies, wie sie vor der Maschine wüteten.
Stockend hielt Janne ihm das Knie entgegen und schob den Stoff zur Seite. »Weißt du, manchmal gewinnen die Guten nicht.«
Ihr Körper erschauderte vor Schüttelfrost.
Mit dem Zeigefinger strich Elch über das aufgeschürfte Knie. Die Wundränder waren ausgefranst, dunkelrot geschwollen und heiß. Nach allem, was sie erduldet hatten, erlebte Janne zum ersten Mal, wie ihm Tränen in die Augen stiegen.
»Janne ...«
»Auf dem Steg. Ich bin durch Zombieschleim gerutscht. Wahrscheinlich ist eine Larve oder ...« Ihre Stimme brach. »Der aufgeplatzte Schädel.« Sie sah in der Ferne, wie sich die Weizenähren im Wind bogen, ignorierte das Keuchen. »Hier endet es also.« Janne lächelte.
Elch zog sie in seinen Arm. Minutenlang schwiegen sie.
»Kümmerst du dich um Ida?«
Elch nickte, konnte kaum sprechen. Er räusperte sich. »Ich verspreche es.«
Janne krümmte sich und erbrach dunkelbraunen Magensaft, gemischt mit geronnenen Blut. Ihr Magen rumorte laut. »Wird es weh tun?«
»Ich weiß es nicht.«
Elch drehte den Schlüssel und versuchte zu starten. Der Motor gab nicht ein Geräusch von sich. Die Benzinanzeige stand auf Null. Die Batterie war leer. Keine Chance, den Traktor in Gang zu bringen. Der Bauer hatte bis zur letzten Minute gekämpft.
»Ich spüre meine Beine nicht mehr.«
Elch strich mit seinen rauen Händen über ihre Oberschenkel und versuchte, ihre Durchblutung in Gang zu bringen, doch spürte er nur die sich windenden Maden unter der Haut.
Sie hielt seine Hände fest und schüttelte den Kopf, Tränen liefen ihr über die Wangen. Dann schlang sie ihre Arme um seinen Hals und drückte ihn fest. »Danke. Danke, für alles.« Sie schluchzte. »Und sag ihr, dass ich sie liebe«, flüsterte sie ihm ins Ohr. Sie legte die Hand an die Klinke.
Draußen grunzten die Zombies.
Jannes Blick wurde glasig. Ihr zerrannen die Sekunden. Es wurde Zeit für den letzten Akt.
Das Schloss knackte, öffnete sich und doch hielt sie mit letzter Kraft die Tür zu, während ledrige Finger sich in den Spalt wühlten, nach ihr suchten.
»Mach’s gut.«
Die Tür schwang auf und die Zombies wichen zurück, hießen sie in ihrer Gruppe willkommen. Janne sprang aus der Fahrerkabine. Sofort verschwand ihr Körper in ihrer Mitte. Zähne schlugen sich in ihr Fleisch, Finger gruben sich in ihren Körper, zerrten an ihr, schmatzten.
Janne sah in die Sterne. Sie erkannte das Sternenbild der Kassiopeia und den großen Wagen.
Die wandelnden Toten rupften an ihrem Körper, Knochen brachen und sie zogen sie ein Stück durch das Feld. Die scharfen Halme zerschnitten ihr das Gesicht, doch es blutete nicht. Es überraschte sie, dass sie keine Schmerzen hatte. Als die Untoten von der anderen Seite des Traktors dazustießen, gönnten die anderen ihnen keinen Happen und wachten eisern über ihren Anteil. Das Mahlen der Zähne war unerträglich. Janne hatte das Bewusstsein verloren und bald hörte ihr Herz auf zu schlagen.
Elch öffnete die andere Tür der Fahrerkabine und atmete tief unverbrauchte Luft ein. Ohne sich noch einmal umzusehen sprintete er in die Nacht.