SIEVERS´ LETZTER AUFTRITT

JAN CHRISTOPH PRÜFER

Das Fauchen riss Peter aus dem Schlaf. Im Traum hatte er in einem Hörsaal voller Erstsemester den Unterschied zwischen Phonetik und Phonologie erklärt. Ein blondes Mädchen mit einer grünen Strähne im Haar hatte sich gemeldet und gefragt, ob er seine Doktorarbeit abgeschrieben habe, wie dieser Politiker. Schließlich habe er nicht einmal gemerkt, dass sie alle längst tot waren.

Peter hatte in die Gesichter seiner Zuhörer gesehen und befunden: Es stimmte. Da war nichts mehr in ihren Augen gewesen, außer Hunger. Hunger und die sich windenden Parasiten, die einigen unter den Lidern hervorkrochen.

Wie das sein könne, hatte er die Studentin gefragt. Seit fast 30 Jahren unterrichte er die Grundlagen der Linguistik in einer Leichenhalle. Hätte er das nicht merken müssen?

Statt einer Antwort kam das Fauchen.

Aus dem offenen Mund fielen der Besserwisserin ein paar der Maden. Sie regneten auf den Tisch, auf dem das Mädchen sich abstützte, als es aufstand. Das bauchfreie Oberteil erlaubte Peter den Blick auf ein blutiges Loch, aus dem das Gedärm baumelte wie die Kletterseile von der Turnhallendecke der Sport-Fakultät. Auf ihrer zerrissenen Haut konnte er die Reste einer Tätowierung erkennen. Der Bauch war ein Kunstwerk, das Vandalen geschändet hatten. Hungrige Vandalen.

Sie kroch über die Tische und die Köpfe der Kommilitonen auf Peter zu. Die anderen Studenten griffen nach ihrem Darm, bekamen ihn zu fassen und kosteten davon, sodass sie den Schlauch aus ihrem Inneren hinter sich herzog wie einen Ariadnefaden.

Peter erwachte. Seine Stirn war nass. Er setzte sich auf und blickte im English Room umher. Die Regale mit den zerfledderten Versionen der Klassiker waren noch da, wo sie sein sollten. Gleiches galt für die Legende des Londoner U-Bahn-Systems, die an der Wand neben einem »Yes, we can«-Plakat aus dem ersten Obama-Wahlkampf hing.

Peters Atem kondensierte. Er setzte sich auf, schaute nach draußen und sah einen grauen Himmel. Es schneite. Auf der Fensterscheibe blühten Eisblumen.

Der English Room war eine Tiefkühlkammer, aber er war noch immer sicher. Keiner von ihnen hatte es hier hoch geschafft, nicht in den sechsten Stock, nicht in diesen Raum. Was Peters Unterbewusstsein in seinem Traum als Fauchen verarbeitet hatte, war das Schnarchen von Ruth auf dem Sofa gegenüber. Einen Moment lang setzte ihr Atem aus. Dann hustete sie, als hätte sie sich verschluckt.

Sie lag mit dem Rücken zu Peter. Ihre Haare waren zu einem strengen, grauen Knoten zusammengebunden, der sich stets bewegte, wenn sie sprach. Seit sie sich nicht mehr wuschen, löste sie das Bündel auch zum Schlafen nicht mehr.Eines Tages war einfach nichts passiert, als sie den Wasserhahn aufgedreht hatten. Also hatten sie beschlossen, ihre Vorräte in Plastikflaschen nur noch als Trinkwasser zu verwenden. Schließlich war ungewiss, wie lange die Krise noch anhalten würde. Wie viele Maden es noch gab.

Ärzte hatten bei einer Autopsie aus einem einzigen von diesen Dingern 600 Stück herausgeholt. Das war in Hamburg gewesen, wo alles angefangen hatte.

600 Stück.

Und das waren nur die gewesen, die sie gefunden hatten. Eine davon reichte, um einen weiteren Träger von 600 Parasiten zu schaffen. Von denen jeweils einer reichte ...

»Peter?«, wippte der Knoten. Ruth sprach seinen Namen englisch aus. Nach dem Aufwachen brauchte die Irin meist ein paar Minuten, um ins Deutsche zu finden. »Ist alles in Ordnung?«, fragte sie.

»Schlecht geträumt«, sagte Peter.

»Das tut mir leid. Ist wirklich alles in Ordnung?«

»Ja. Wir sind immer noch sicher hier oben.«

Ruth seufzte. »Es ist kalt«, sagte sie nach einer Weile leise und in ihrer Muttersprache. Bald ging ihr Atem wieder regelmäßig. Ohne vom Sofa aufzustehen, streckte Peter sich nach dem Kricketschläger, der auf dem Boden lag. Das Sportgerät mit dem schwarzen Griff und dem kleinen Union Jack darauf gehörte zum Anschauungsmaterial im English Room, zu den Footballs und dem »Shark Attack Area«-Schild, dem Kilt aus billigem Stoff und dem Nummernschild aus Texas (»The Lone Star State«). Jedenfalls hatte er einmal dazu gehört. Jetzt war er eine Waffe. Vor dem Frühstück wollte Peter sich vergewissern, dass er Ruth nicht angelogen hatte.

Den Schläger über die Schulter geschwungen schlich er das Treppenhaus hinab. Gelegentlich blieb er stehen und vergewisserte sich, dass die Geräusche, die er hörte, nur dem schwachen Echo seiner Schuhsohlen auf den Stufen geschuldet waren.

Im Lichtflur des ersten Stocks angekommen zögerte er vor der Tür, hinter der es in die Haupthalle ging. Die Pforte ins Chaos war zum Teil aus Stahl, bestand aber auch zur Hälfte aus dickem, durchsichtigem Plastik. Sollte es jemals brechen, weil sie von der anderen Seite in Massen dagegen drückten, würden sie durchkommen. Einer, zwei, zwanzig. Hunderte irgendwann, so wie sie das ganze Land überrannt hatten. Tropfen um Tropfen würden sie sich zur Flutwelle zusammenfügen und die Reste der Zivilisation davonschwemmen.

Er und Ruth würden oben im English Room in der Falle sitzen, wenn das passierte. Es wäre wie in Flammendes Inferno, einem seiner Lieblingsfilme.

Es war unvernünftig, die Tür aufzuschließen, sie zu öffnen und zu riskieren, dass einer von ihnen sie bemerkte. Aber sie mussten die Haupthalle im Auge behalten. Regelmäßige Proben nehmen. Beobachten, um zu sehen, wann es schließlich zu viele wurden. Beobachten, um zu überleben. Das war jetzt ihre Wissenschaft.

Peter schob die Tür langsam auf. Sein Blick ging nach rechts und nach links, entlang der kleinen Tische, an denen vor gar nicht so langer Zeit Studenten mit ihren Supertelefonen gesessen hatten. Sie hatten hinunter in die Halle geschaut, ob sie jemanden erkannten: einen Kommilitonen, eine flüchtige Bekanntschaft von der Mensaparty, einen Freund aus der Heimatstadt. Das alles war nicht lange her, aber es schien Peter in etwa so weit entfernt wie der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs.

Wie einst die Studenten beobachtete er nun das Treiben unter sich. Er sah einen jungen Mann, der ein T-Shirt mit dem Emblem der Universität trug und sonst nichts. Aus dem linken Ärmel ragte ein blutiger Armstumpf. Peter glaubte, den Jungen schon mal in einem Seminar gesehen zu haben. Lehramt, Zweitfach Sport. Die muskulösen Beine würden dazu passen.

Erschrocken stellte Peter fest, wie viele der Gesichter dort unten ihm ein Déjà-vu gaben. Bei den meisten musste er überlegen, aber Doktor Martin Sievers erkannte er sofort. Er war ein Soziologe, bei dem sich die Medien meldeten, wenn sie ein paar kühle, akademisch distanzierte Worte zum Thema Neonazis brauchten. Sievers hatte den Begriff der »gruppenspezifischen Menschenfeindlichkeit« geprägt. Er war sogar schon im Fernsehen gewesen. Mehrmals.

Jetzt trottete der Rockstar der Universität vor dem Hörsaal sechs vor und zurück, als wartete er auf den Beginn der Vorlesung. Früher war er immer zu spät gekommen. Peter wusste es von Studenten, die Soziologie als Zweitfach gewählt hatten. Sievers tat das, um sich noch interessanter zu machen, keine Frage. Auf diese Art vermittelte er dem Rest der Welt: Freunde, ihr wollt doch wohl was von mir. Die Fernsehteams hatte er ebenfalls stets warten lassen.

Sievers‘ wild wuchernde Krauslocken hatten ihm unter den jungen Leuten den Spitznamen Tingeltangel-Bob eingebracht, nach einer ähnlich frisierten Figur aus den Simpsons. Selbst aus der Entfernung sah Peter, dass der Tingeltangel-Schopf ein Eigenleben führte. Die Maden suchten darin nach einem Eingang in Sievers‘ Kopf, in dem ein paar ihrer Artgenossen es sich ohne Zweifel bereits schmecken ließen.

Eine Hand legte sich auf Peters Schulter. Er fuhr herum. Um den Kricketschläger angemessen zu platzieren, war der Angreifer schon zu nahe gekommen. Peter stieß einen Angstschrei aus und schubste den Gegner, der zurückstolperte, hinfiel und mit dem Kopf gegen die Tür schlug, durch die Peter die Balustrade betreten hatte. Vor Schreck hatte er den Schläger fallen lassen. So schnell die Knochen eines Mittfünfzigers es zuließen, bückte er sich danach. Er kam wieder hoch und wollte Schwung holen, zuschlagen, so hart es ging. Dann erkannte er sie.

»Ruth!«

Sie schien benommen. Mit einer Mischung aus Schrecken und Unverständnis sah sie ihn an.

»Ruth, bist du wahnsinnig?«, fragte Peter. Er half ihr auf. »Hör zu, es tut mir leid, aber so kannst du dich nicht ranschleichen. Nicht hier draußen.«

Sie rieb sich den Hinterkopf. »Tut mir leid«, sagte sie und versuchte aufzustehen, was erst gelang, als Peter ihr half. »Ich habe nicht nachgedacht«, fuhr sie fort. »Ich wollte dich nicht erschrecken. Aber ich musste auch mal sehen, wie es hier unten ...« Sie schob Peter behutsam zur Seite. »Wie lange wir noch bleiben können.« Ihr Blick schweifte durch die Halle. Der Mund bewegte sich dabei. Ruth zählte. »Werden es mehr?«, fragte sie.

»Jeden Tag«, sagte Peter.

Ruth nickte. Sie schien nicht überrascht. »Ist das der Sievers?« Sie zeigte auf den ehemaligen Kollegen. »Gott, und der Rest. Die sind doch alle von hier.«

Jetzt deutete sie auf einen Wachmann, der durch die Halle schlurfte. Er trug ein Hemd mit dem Schriftzug »Nordmann-Security«. Aus seinen schwarzen, leeren Augenhöhlen baumelten die Stränge, die die Augäpfel einst mit dem Gehirn verbunden hatten.

»Der hat mich mal zum Auto gebracht, als ich mich an einem Essay festgeschrieben hatte und es plötzlich drei Uhr morgens war«, sagte Ruth. »Und der Rest ... Die sehen fast alle aus wie Studenten.«

Peter nickte. Keine Polizisten, Bäcker oder Bauarbeiter stolperten durch die Halle. Obwohl die Welt draußen jetzt voll von ihnen war.

Voll von verwesenden Polizisten, Bäckern und Bauarbeitern, von denen nur Gott wusste, was sie auf den Beinen hielt. Und warum sie so hungrig waren.

»Sie kommen zurück«, sagte Peter.

»Das sehe ich selbst«, erwiderte Ruth. »Aber warum?«

Peter beobachtete den Wachmann, der plötzlich stehen blieb und die Nase rümpfte. »Instinkt vielleicht. Dieser Ort hat in ihrem Leben eine wichtige Rolle gespielt.«

Der augenlose Nordmann drehte sich langsam in ihre Richtung.

»In unserem auch«, meinte Ruth.

Der Nordmann hob den Kopf. Seine Nase zuckte wie die eines Hundes. Möglicherweise roch er sie. Oder die Maden ersetzten ihm die Augen.

»Und wir sind ja auch zurückgekommen«, sagte Peter.

Der Nordmann streckte eine Hand nach ihnen aus. Peter griff Ruth am Oberarm. »Wir müssen wieder hoch.«

Sie verschlossen die Tür hinter sich und klopften sich ab, überprüften, ob eine der Maden sich irgendwo in der Kleidung des anderen versteckte. Regelmäßig unterzogen sie sich dieser Kontrolle. Eine demütigende Prozedur. Peter erinnerte es an das Lausen bei Affen.

Als sie wieder oben waren, machten sie Frühstück. Sie füllten das Wasser aus den Plastikflaschen in ihre Tassen und hingen Teebeutel hinein. Dann warteten sie, bis der Tee durch die kalte Flüssigkeit gezogen war und spülten damit die Kekse hinunter. Es war eine der letzten Packungen aus dem Raum neben dem Sekretariat im dritten Stock, wo die Gebäckmischungen für Konferenzen und Tagungen bereitgehalten worden waren.

Die Tüte knisterte. Peter fischte darin nach seiner Lieblingsvariante. Als er schließlich eine der mit Schokolade überzogenen Waffeln gefunden hatte, hielt er sie Ruth hin, die bis dahin nur ein Stück Gebäck gegessen hatte.

Die Irin saß auf dem Sofa, auf dem sie auch geschlafen hatte. Sie hielt ihre Tasse mit beiden Händen, als könnte sie sich an dem kalten Tee wärmen, und starrte auf den Boden. Ihr Atem war unruhig.

»Ruth?«

Sie starrte weiter.

Peter räusperte sich. »Ruth?«

Erschrocken blickte sie auf.

»Du musst ein bisschen mehr essen, Ruth.«

Sie grinste. »Das sagt der Richtige.« Sie sagte es in der englischsprachigen Variante: »Look who‘s talking.«

Peter war immer schlank gewesen, sein flacher Bauch ein Quell des Neids unter Kollegen, deren Abdomen mit zunehmendem Alter immer deutlicher über die Gürtellinie traten. Aber seit seinem Zusammenbruch war er nicht mehr dünn, sondern regelrecht dürr gewesen, und niemand hatte ihn mehr beneidet. Mit viel Mühe hatte er sich ein paar Pfunde wieder drauf gefressen, kurz bevor das große Fressen draußen losging.

»Ich habe meine Lektion gelernt.« Peter tätschelte sich den Bauch, als gäbe es da etwas zu tätscheln.

Ruth lächelte. Bedauernd, bemitleidend, irgendwie mütterlich. Sie hatte ihn damals gefunden, als ihm der Kreislauf kollabiert war und er mit vollgepinkelten Hosen vor dem Kopierer gelegen hatte, umgeben von Multiple-Choice-Fragebögen für die Zwischenprüfung.

Sie hatte ihn im Krankenhaus besucht und er hatte ihr vom Heilfasten erzählt und davon, dass er es vielleicht etwas übertrieben hatte.

Was eine Untertreibung gewesen war.

Ein neutraler Beobachter hätte Peters wenige Glas Wasser mit einem Reiskeks am Tag wohl als Versuch gewertet, sich zu Tode zu hungern.

Er hatte Ruth davon erzählt, weil niemand sonst ihn besucht hatte. Schon lange hatte ihm niemand mehr zugehört, wenn er über etwas anderes als Linguistik sprach.

Eines Nachts im Krankenhaus hatte er an die Decke gestarrt, und das gleichmäßige Schnarchen eines Zimmergenossen, der fast so schlimm gewesen war wie Ruth, hatte ihm eine Epiphanie beschert.

Du bist einer von denen, die gerade genug Schlaftabletten nehmen, um im Krankenhaus zu landen, hatte er gedacht. Eigentlich willst du nicht sterben. Du suchst jemanden, der dir sagt, warum du weiterleben sollst.

Ruth hatte sich um ihn gekümmert, weil sie ihrerseits niemanden hatte. Ihre Eltern ruhten auf demselben idyllisch gelegenen Friedhof in der Nähe von Cork wie ihre Schwester, die mit 46 an Bauchspeicheldrüsenkrebs gestorben war. Einen Mann gab es nicht. Zwar war Peter sich, wie die meisten in der Fakultät, relativ sicher, dass Ruth Frauen ohnehin mehr abgewinnen konnte, aber eine Frau gab es eben auch nicht. Peter war kaum überrascht gewesen, Dr. Ruth Namara in ihrem Büro sitzen zu sehen, während draußen die Welt zur Hölle fuhr.

Wenn alle noch ein letztes Mal ihre Lieben an sich drücken, was macht man, wenn man keine Lieben hat?

»Was macht dein Buch?«, fragte Peter.

Ruth zuckte kaum merklich zusammen, als fühlte sie sich ertappt.

»Ich habe nicht so viel dran gearbeitet«, sagte sie. Sie sah Peter schuldbewusst an. »Dabei bin ich hierhergekommen, weil ich nicht aus dem Leben gehen wollte, ohne einen Roman geschrieben zu haben.«

»Und was ich davon gelesen habe, war doch auch wirklich gut«, log Peter.

Ruth schrieb entsetzlich verkopften Quatsch voller historischer Bezüge und sich windender Bandwurmsätze. Peter hätte nicht sagen können, worum es eigentlich ging. Irgendwas mit dem Ende der Kutschenära in drei unterschiedlichen Ländern. Mindestens einer der Protagonisten war Alkoholiker. Ruth hatte wohl das Gefühl, als Irin sei sie ihren Lesern das schuldig.

»Aber wofür?«, fragte sie. »Ich habe immer geglaubt, ich könnte der Welt mehr geben, als Aufsätze über die Syntax des Gälischen, die kein normaler Mensch liest. Aber für wen soll ich denn schreiben, wenn es keine Welt mehr gibt?«

Peter betrachtete die Eisblumen am Fenster. Sie waren wunderschön, aber echte Blumen starben zu dieser Jahreszeit draußen. »Als es noch Radio gab«, sagte er, »hieß es, es passiere nur in Deutschland und sie seien gerade dabei, die Grenzen dicht zu machen.«

Ruth lachte spöttisch auf. »Und wie lange ist das her? Und selbst wenn es nur hier passiert, was dann? Schicken die Yanks ihre Rambos, wie bei Bin Laden? Einen Scheiß werden die tun. Wozu denn der Stress? Ihr habt doch nicht mal Öl. Nein, Peter. Mein Manuskript wird erst einen Zweck erfüllen, wenn uns das Klopapier ausgeht.«

Bei den letzten Worten hatte ihre Stimme begonnen, zu brechen.

»Ruth ...«

Ihr Lachen ging in ein Schluchzen über. Sie ließ die Tasse fallen. Peter überlegte lange, ob er sich zu ihr setzen und den Arm um sie legen sollte.

»Oh my goodness!«

Ruth schlug die Hände vor ihren entsetzt offen stehenden Mund. Es waren jetzt so viele von ihnen in der Halle, dass sie nicht aneinander vorbei konnten, ohne sich anzurempeln. Sievers wurde mehrere Male mitgerissen. Mühselig kämpfte er sich immer wieder zurück zu seinem Platz vor dem Hörsaal.

Über den Boden robbte eine schwergewichtige Frau, die Peter als Mitarbeiterin der Mensa erkannte. Sie hatte ihm oft freundlich lächelnd Soße über die Nudeln gegossen. Jetzt griff sie die anderen an den Knöcheln und zog sich so vorwärts. Ihre eigenen Beine waren knapp unterhalb der Knie abgenagt worden.

»Wir werden hier nicht bleiben können«, meinte Ruth.

Peter starrte wortlos in die überfüllte Halle. Er hatte damit gerechnet, dass der eine oder andere von ihnen auf dem Campus auftauchen würde. Einzelfälle, vielleicht ein paar kleinere Gruppen. Aber jetzt kamen sie zu Hunderten, vielleicht sogar zu Tausenden durch den Haupteingang herein. Sie schlurften herein und brachten die Maden mit sich. Jeder von ihnen 600. Mindestens. Wahrscheinlich viel mehr.

Es erinnerte ihn an die Bilder von der Tsunami-Katastrophe auf den Philippinen. Da hatte es keine gigantische Welle gegeben wie aus einem Hollywood-Labor für Computereffekte. Das Wasser hatte sich einfach nur immer weiter ins Land geschoben, unspektakulär und todbringend. Genau so würden diese Wesen – Peter weigerte sich, sie als Menschen oder gar tote Menschen anzuerkennen – sich immer weiterschieben, bis sie bei ihm und Ruth waren. Sogar Sievers hatten sie jetzt mitgerissen. Peter konnte ihn nicht mehr vor dem Hörsaal sehen. Er versuchte einen Moment lang vergebens, den blutig blonden Schopf zu entdecken, doch Sievers war nur noch einer von vielen. Peter spürte Genugtuung.

»Willst du dir was zum Schreiben mitnehmen?«, fragte er Ruth.

Tatsächlich wollte Ruth die rund einhundert handgeschriebenen Seiten ihres Romans nicht zurücklassen. »Nur für den Fall«, sagte sie und fügte mit bitterem Schmunzeln hinzu: »Für welchen auch immer.«

Mit viel mehr kamen sie nicht aus dem kleinen Nebeneingang, der direkt in den Turm der Fakultät führte. Was sie brauchten, würden sie entlang des Weges finden, in fluchtartig verlassenen Tankstellen und Supermärkten.

Ruth trug ihre Seiten, Peter den Kricketschläger.

Als sie die Straße überquerten, fiel sein Blick auf die Brücke, die den Campus der Uni direkt mit der Stadtbahnhaltestelle verband. Er zog Ruth hinter einen ausgebrannten Lastwagen, zeigte auf die Brücke und sagte leise: »Sieht wirklich nicht so aus, als würden es weniger werden.«

Ruth entfuhr ein derber irischer Fluch beim Anblick der Studenten, Dozenten, wissenschaftlichen und nicht-wissenschaftlichen Mitarbeiter, die sich auf der Brücke zielstrebig in Richtung des Haupteingangs bewegten. Einige sahen aus, als hätte sie lediglich eine besonders harte Grippe erwischt, andere trugen deutliche Spuren des Angriffs, der sie verändert hatte.

Peter sah einen erstaunlich adrett gekleideten jungen Mann, der wohl Wirtschaftswissenschaften oder Jura studiert hatte. Er hatte keinen Unterkiefer. Die Zunge baumelte auf sein blutbeflecktes Polohemd herunter.

»Gut, dass wir raus sind«, sagte Ruth. »Weißt du, ich denke, du bist in die Uni gegangen, weil du sonst nichts hattest.«

Look who‘s talking, dachte Peter.

»Weil du niemanden hattest«, erklärte Ruth weiter. »Irgendwie hast du bestimmt gedacht, ich setze mich einfach in mein Büro und mache weiter wie bisher, und wenn ich sterbe, dann sterbe ich. Ist doch völlig egal.« Sie drückte ihr Manuskript fest an die Brust. »Es ist nicht egal, Peter. Ich bin nicht egal und du bist es auch nicht.«

Peter sah Ruth an und spürte etwas in seinem Bauch, in seiner Brust. Es fühlte sich gut an. Ihm wurde warm, trotz der Kälte, die seine Zehen langsam taub werden ließ. Wenigstens gingen die Maden in Schnee und Eis relativ schnell ein, wenn sie keinen Wirt fanden. Jedenfalls vermutete er das.

Liebe wäre ein viel zu großes Wort gewesen für das, was er für Ruth empfand. Wo sie doch mit Frauen ohnehin mehr anfangen konnte. Das Gefühl war schön, machte ihn aber auch wütend. Wo warst du nur die ganze Zeit?, durchfuhr es Peter.

Er hatte weiter die Rückkehrer auf der Brücke angestarrt, während Ruth geredet hatte. Gerade, als er sich ihr zuwenden und sie umarmen wollte, schrie die Irin. Peter machte einen Satz zurück.

Sievers hatte Ruth an den Oberarmen gepackt und sich in ihrem Hals verbissen. Die Manuskriptseiten fielen in den Schnee, der die herannahenden Schritte gedämpft hatte.

Plötzlich griente diese arrogante Visage Peter an, fast wie früher, wenn er spätabends von Kanal zu Kanal wechselte und auf einmal saß er da, zwischen Journalisten und Politikern, die auf seine klugen Worte hin anerkennend nickten.

Peter ließ den Kricketschläger mit Wucht auf Sievers‘ Kopf niedersausen. Der Soziologe stolperte zurück, löste aber den Biss nicht. Seine Zähne rissen ein Loch in Ruths Hals, aus dem das Blut der Schlagader sprudelte und in den Schnee tropfte.

Oh Gott!, durchfuhr es Peter. Sein Mund! Sein dummes, eingebildetes Drecksmaul! Es ist doch voll von den verdammten Dingern, genau wie bei den anderen!

Nach einem zweiten und dritten Schlag fiel Sievers mit dummem Gesichtsausdruck auf den Hintern, wie ein Kind, das die ersten Schritte gelernt und sich überschätzt hatte. Peter schlug ein weiteres Mal zu und noch einmal, immer wieder. So oft, bis Sievers‘ Gesicht nur noch ein deformierter Klumpen zersplitterter Knochen war, die seinem Antlitz eine grotesk verschobene Form gaben. Ein Auge war geplatzt. Graue Hirnfetzen hingen in der Tingeltangel-Frisur, und überall fielen die elenden Maden in den blutigen Schnee. Peter hoffte, dass sie darin zu Tode froren, langsam und schmerzhaft.

Er hieb noch einige Male wutschnaubend zu, als Sievers sich schon nicht mehr rührte. Dann fiel er auf die Knie und nahm Ruth in den Arm. Ihr Blut spritzte angenehm warm in sein frierendes Gesicht.

»Wir müssen das abbinden!«, rief er. Er drückte auf die Wunde und spürte den Druck des Blutes, das zwischen seinen Fingern hindurch lief. »Sind welche reingekommen?«, fragte er. »Ist egal, wir holen sie wieder raus! Und dann müssen wir das abbinden!«

Ruth lächelte ihn an und schüttelte den Kopf.

»Doch!«, rief Peter. »Doch, natürlich! Wer soll denn sonst das Buch fertig schreiben?«

Sie berührte seine Wange. Das Blut sprudelte jetzt nicht mehr so stark. Peter sah, wie etwas hinter Ruths Augen einfach verschwand.

»Wer schreibt denn jetzt das scheiß Buch fertig?«, schrie er. Er drückte Ruths schlaffen Körper an sich und weinte in ihre Brüste. Über die Brücke trotteten sie weiter in Richtung des Haupteingangs, als wäre nichts passiert. Als wäre alles wie immer.

Er wollte sie in den Armen halten, bis sie zurückkam. Bis ihre Glieder begannen, zu zucken. Dann würde er ihren Schädel einschlagen. Wahrscheinlich würde ihr grauer Haarknoten dabei wippen. Der Gedanke daran, wie sie idiotisch durch die Uni schlurfte, tat ihm weh. Immerhin war sie Schriftstellerin.

Die Bewegung ihres Kopfes war unmerklich. Peter war nicht sicher, ob er es sich vielleicht nur eingebildet hatte. Er wusste nicht, wie lange er schon hier kniete und sie in den Armen hielt, während das Leben rot aus ihr herauslief, um für etwas anderes Platz zu machen.

Ein leises Stöhnen drang an sein Ohr. Ihre tastenden Finger berührten seine Hüfte. Wenn er leben wollte, musste er sie loslassen und mit dem Kricketschläger auf sie eindreschen, als wäre sie nur ein weiterer Sievers.

Doch sie war Ruth. Sie zu erschlagen bedeutete zwar, weiterzuleben. Es bedeutete aber auch, wieder allein zu sein. Dabei könnte er mit ihr zurück in die Uni gehen. Die hatte immer eine wichtige Rolle gespielt, auch in seinem Leben. Und Sievers war nicht mehr da, um mit falscher Bescheidenheit so zu tun, als wäre es nichts Besonderes, dass er gestern schon wieder im Fernsehen gewesen war. Ruth und er. Keine Einsamkeit. Kein Sievers. Es wäre fast perfekt.

Der Laut, den Ruth in sein Ohr grunzte, klang wie ihr Schnarchen. Ihre Finger an seiner Hüfte tasteten nicht länger, sie griffen zu. Die Maden auf ihren Lippen kitzelten an seiner Wange.

Ruths Mundgeruch war der von jemandem, der lange nichts gegessen hatte. Ein bisschen Pfefferminz schwang darin mit, vom Tee. Und Blut, vom Sterben. Peter war bereit, mit ihr zu gehen.

Jedenfalls hatte er das gedacht. Aber bevor sie ihn beißen konnte, erlangte etwas die Kontrolle in ihm. Etwas schrie in seinem Kopf, er solle sich zusammenreißen. Er war nicht egal. Er war es nie gewesen.

Als er die wiedererwachte Ruth von sich stieß, als er sich selbst ein paar Mal ohrfeigte, um eventuell zu ihm gekrochene Parasiten loszuwerden, war es, als führe er die instinktiven Schwimmbewegungen eines Babys aus. Er sah ihr kurz bei ihren tollpatschigen Versuchen zu, wieder auf die Beine zu kommen. Vielleicht würde sie sich ganz normal benehmen. Vielleicht käme Ruth zurück, die echte Ruth, nicht nur ihr Körper. Das Loch in ihrem Hals lachte ihn an, lachte ihn aus, wegen seiner Tagträume. Peter nahm den Schläger und ließ das Lachen verstummen.

Bevor er sich auf den Weg machte, sammelte er jede einzelne Seite ihres Manuskriptes ein.