DIE RÜCKKEHR DER FAULEN SCHLAMPE
HEIKE SCHRAPPER
Tja, wie hat es angefangen? Das ist eine gute Frage. Vielleicht die entscheidende … Denn wenn man die Ursache kennt, kann man doch bestimmt auch ein Gegenmittel finden, oder? Aber ich bin kein Mediziner oder Biologe oder wer auch immer hier zuständig sein könnte. Und über die Ursache habe ich so viele Gerüchte gehört, wie ich Grüppchen wie euch begegnet bin, die sich irgendwo verschanzt haben – übrigens viele davon an wesentlich schlechteren Orten als hier. Wie auch immer ... Die Leute denken sich eine Menge Geschichten aus und die meisten sind totaler Müll. Eigentlich habe ich nur einmal jemanden getroffen, der mir halbwegs glaubwürdig vorkam … und wenn seine Version vom Ursprung dieser verdammten Epidemie stimmt, dann haben uns wieder die üblichen Verdächtigen in die Scheiße geritten: Geilheit und Geldgier. Wollt ihr die Geschichte hören? Na gut. Reich’ doch mal die Flasche rüber …
Also, der Typ hieß Stephan. Den Nachnamen hab ich vergessen, irgendwas mit viel zu vielen Konsonanten und –kowski am Ende. Ist auch egal, unter seinem richtigen Namen kannte ihn sowieso keiner. Sein Künstlername war Brett Hart. Klingelt da was? Nein? Oder wollt ihr es nur nicht zugeben?
Brett Hart, früher mal Pornodarsteller, auch bekannt als »die längste Latte Deutschlands«, später Produzent im selben Genre. Ich glaube, seine Firma war ziemlich klein, aber er konnte wohl ganz gut davon leben. Vor allem, weil er nebenher noch einen besonderen Deal am Laufen hatte. Da gab es diesen schwerreichen alten Knacker, Fabrikant oder Politiker oder beides, jedenfalls ein ganz hohes Tier. Den Namen wollte der gute Stephan nicht verraten, nicht mal, als er so besoffen war, dass er seinen Kopf nicht mehr von seinem Arsch unterscheiden konnte. Hat ihn immer nur »Eddy« genannt. Diese Diskretion war es wohl, die ihm den Deal überhaupt eingebracht hat. Eddy fuhr total auf eine von Stephans Darstellerinnen ab. Divina Deephole nannte sie sich. Noch nie gehört? Is’ klar.
Auf jeden Fall wurde Stephan von Eddy fürstlich dafür entlohnt, dass er ganz exklusive Filme drehte, in denen der alte Lüstling persönlich es dem Fräulein Deephole nach allen Regeln der Kunst besorgte. Das war so Eddys ganz spezieller Fetisch und wohl die einzige Art, wie er überhaupt noch einen hochkriegen konnte. Stephan fuhr mit Divina und einem Kameramann unter strengster Geheimhaltung in Eddys Villa, sie drehten dort ihren Porno und Stephan machte den Schnitt, alles gleich an Ort und Stelle. Sämtliches Material blieb bei Eddy, damit er nicht erpressbar war. Dann war der Alte erst mal für ein paar Wochen oder Monate zufrieden, bis Stephan wieder einen Anruf bekam und die nächsten Dreharbeiten losgingen. Angeblich zahlte Eddy so viel, dass drei Viertel der Einnahmen von »Brett HartCore Productions« allein aus dieser Quelle sprudelten. Bis eines Tages …
***
Stephan angelte verschlafen nach dem Telefon auf seinem Nachtschränkchen. Wer zum Teufel rief ihn denn um diese Zeit an? Es war zwar streng genommen schon Nachmittag, aber sein Business brachte es mit sich, dass er oft nächtelang durcharbeitete – oder auch durchfeierte, wie letzte Nacht. Allerdings hatten nur seine engsten Vertrauten und wichtigsten Geschäftspartner diese Nummer, sodass es wahrscheinlich keine gute Idee wäre, den penetranten Klingelton einfach zu ignorieren. Das Display zeigte den Namen »Mike« – sein Kameramann.
»Was ist?«, krächzte Stephan ins Telefon.
»Hast du´s schon gehört?«, fragte Mike in einem Tonfall, der schwer zu deuten war.
»Ich hab noch gar nichts gehört. Ich schlafe eigentlich noch. Und du hast besser einen guten Grund, warum du mich davon abhältst.«
Mike atmete tief durch. »Sabrina ist tot, Steve.«
»Was?« Schlagartig war Stephan hellwach – und gleichzeitig mit der Verarbeitung des eben Gehörten völlig überfordert.
»Sabrina Schröpcke, auch bekannt als Divina Deephole, auch bekannt als die faule Schlampe, unsere beste Einnahmequelle, ist tot. War wohl ´ne Überdosis, angeblich Koks. Ihre Schwester hat mich gerade angerufen.«
»Ach du Scheiße. Das geht nicht. Wir haben morgen einen Termin mit Eddy. Da kann die blöde Kuh unmöglich –«
»Tja, anscheinend war sie so rücksichtslos, einfach zu verrecken und uns hängenzulassen. Dumm gelaufen. Da wird sich Eddy wohl ´nen anderen Fickschlitten suchen müssen. Biete ihm doch mal Lulu Lovescock an. Ach ja, die Beerdigung von Divina ist am Donnerstag … ich meine: von Sabrina. Falls du hingehen willst … «
Stephan hörte schon gar nicht mehr zu. Wie sollte er das bloß Eddy beibringen?
»Das ist völlig inakzeptabel, Herr Hart.«
»Eddy, Sie kennen Lulu doch noch gar nicht. Bei allem Respekt, ich habe sowieso nie verstanden, was Sie ausgerechnet an Divina finden. Die hat sich doch kaum bewegt. Wir haben sie intern schon immer nur »die faule Schlampe« genannt. Lulu dagegen, die ist ein richtig heißer Feger. Die ...«
»Herr Hart, was ich an einem Mädchen finde oder nicht finde, das lassen Sie doch bitte meine Sorge sein. Unser Treffen morgen ist selbstverständlich abgesagt. Ich melde mich, sobald ich eine Lösung gefunden habe.«
»Natürlich, Eddy. Dürfte ich vielleicht vorschlagen ...«
Anscheinend durfte er nicht. Sein Gesprächspartner hatte schon aufgelegt.
»Er will was?« Mike hatte wohl etwas zu laut geflüstert. Einige Trauergäste drehten sich zu ihnen um, eine alte Dame zischte erbost: »Psst.«
»Entschuldigung«, murmelte Mike. »Das kann doch nicht sein Ernst sein«, wandte er sich dann deutlich leiser an Stephan. »Ist er jetzt total übergeschnappt?«
»Lass uns nachher darüber reden«, entgegnete Stephan. Dann trat er vor und warf ein Schäufelchen Sand in das offene Grab. Dumpf aufklatschend landete der Sand auf Divinas kitschigem weißem Sarg.
Mike ließ sich auf den Beifahrersitz von Stephans protzigem Sportwagen fallen und lockerte seine schwarze Krawatte. »Eddy will also, dass wir sie ausgraben, zu ihm bringen und filmen, wie er mit der Leiche … Ist der Kerl negrophob, oder was?«
Stephan manövrierte das Auto vom Friedhofsparkplatz. »Das heißt nekrophil. Und ja, er will genau das. Mensch, Mike, du bist doch lange genug im Business, um zu wissen, dass es die abgefahrensten Neigungen und Fetische gibt. Der liebe Eddy geht nun mal so steil auf Divina, dass sie ihm sogar tot noch lieber ist als jede andere lebendig. Ist doch irgendwie rührend, oder? Und wenn man bedenkt, dass die faule Schlampe meistens sowieso gearbeitet hat, als wäre sie schon tot, merkt er wahrscheinlich eh kaum einen Unterschied.«
»Ich find´s absolut krank. Das ist doch ekelhaft. Ich meine, sie ist jetzt tot seit –«
»Du kennst doch das Sprichwort: Geld stinkt nicht. Mann, überleg mal, mit der ganzen Kohle brauchen wir nie wieder zu arbeiten. Wir könnten uns zur Ruhe setzen.«
»Ja, und zwar im Knast, wenn wir Pech haben.«
»Zur Not zieh ich das Ding auch alleine durch. Kassier ich eben deinen Anteil mit ab.«
»Ach komm, Steve, ohne mich bist du doch aufgeschmissen. Deine Kameraführung ist lausig.«
»Na klar, du opferst dich nur für die Kunst. Das Geld spielt gar keine Rolle, was?«
Mike seufzte. »Okay. Heute Nacht noch?«
»Gegen halb eins. Ich hole dich ab.«
»So früh schon? Wäre es nicht sicherer, wenn wir etwas später … Ich meine, sind da nicht noch zu viele Leute unterwegs?«
Stephan schnaubte. »Auf dem Friedhof? Bestimmt nicht. Abgesehen davon, weiß ich nicht, wie lange wir zu zweit brauchen, um den Sarg auszugraben. Schließlich müssen wir nachher auch alles wieder zuschütten, zwischendurch die Leiche ins Auto packen …«
Mike verzog angeekelt das Gesicht.
»Jetzt stell dich mal nicht so an, Alter. Hey, weißt du übrigens, dass ein Kumpel von mir auch mal einen Sarg ausgegraben hat?«
Mikes Augen weiteten sich überrascht.
»Doch, wirklich«, sagte Stephan. »Hat ihn aber nicht aufgekriegt. Und weißt du, warum?« Seine Mundwinkel zuckten.
»Warum?«
»Da war ein Zuhälter drin«, prustete Stephan. »Verstehst du? Ein Zuhälter …« Er kicherte unkontrolliert.
»Sehr komisch«, kommentierte Mike mit versteinerter Miene.
Das riesige Metalltor glitt geschmeidig zur Seite, als sich der Miet-Transporter dem Anwesen näherte. Stephan nahm die rechte Hand vom Lenkrad und rüttelte an Mikes Schulter. »Aufwachen! Wir sind da.«
Schlürfend zog Mike einen Sabberfaden ein, der ihm aus dem Mundwinkel hing. »Hmm?«
»Wir sind da. Eddys Playboy Mansion. Versuch mal, einen ausgeschlafenen Eindruck zu machen.«
»Alter, ich hab fast fünf Stunden lang Erde geschaufelt statt zu schlafen …«
»Ich auch. Und dann hast du fast drei Stunden gepennt, während ich gefahren bin. Also jammer nicht. Wenn wir hier fertig sind, können wir zwei Wochen am Stück schlafen – auf den Bahamas, wenn wir wollen. Aber vorher haben wir noch unsere Arbeit zu erledigen.«
Stephan brachte den Transporter vor der Villa zum Stehen. Wie gewöhnlich wartete Eddy schon an der Tür. Ungewöhnlich war, dass er nicht allein wartete: Neben ihm stand ein großer, korpulenter Schwarzer mit kurzem Kraushaar. Der Anzug, den er trug, war eindeutig nicht in diesem Jahrzehnt hergestellt worden. Normalerweise hätte Stephan über ein so stilloses Outfit eine abfällige Bemerkung gemacht, aber irgendetwas an dem Mann ließ solche Gedanken erst gar nicht aufkommen. Er strahlte eine ruhige Autorität aus, die Respekt einflößte - und den Wunsch, keinesfalls sein Missfallen zu erregen. Also tauschten Stephan und Mike nur einen verwunderten Blick, bevor sie wortlos ausstiegen und auf Eddy und seinen mysteriösen Besucher zugingen.
»Herr Hart. Mike. Schön, dass Sie es einrichten konnten.« Eddy drückte beiden kurz die Hand, dann ruckte sein Kinn in Richtung des Transporters. »Haben Sie Divina dabei?«
»Das haben wir«, sagte Stephan. »Sind Sie sicher, dass–«
»Vollkommen sicher. Darf ich Ihnen Herrn Beauvoir vorstellen? Er hat freundlicherweise die lange Reise aus Haiti auf sich genommen, um mir bei meinem speziellen Vorhaben behilflich zu sein.«
Der Schwarze nickte den beiden kurz zu, aber weder er noch Eddy machten irgendwelche Anstalten, zu erklären, was für eine Rolle er bei dem »Vorhaben« spielen sollte.
»Dann schlage ich vor, dass wir sie zunächst ins Studio bringen«, fuhr Eddy fort. »Würden Sie bitte die Heckklappe öffnen? Der … Assistent von Herrn Beauvoir übernimmt den Transport.«
»Jean!«, zischte Beauvoir und aus dem Halbdunkel des Hausflurs trat ein zweiter dunkelhäutiger Mann, den weder Mike noch Stephan bisher bemerkt hatten. Er war mager und sehnig, trug ein zerschlissenes Hemd, ausgeblichene Jeans und abgetragene Turnschuhe. Die Haut des Mannes hatte eine graue, ungesunde Farbe. Mit schlurfenden Schritten stellte er sich neben Beauvoir. Sein glasiger Blick ging ins Leere, der Mund war leicht geöffnet. Stephan wollte zu einer Begrüßung ansetzen, aber Eddy unterbrach ihn.
»Er versteht Sie nicht. Und er reagiert sowieso nur auf Herrn Beauvoir. Am besten, Sie beachten ihn gar nicht weiter. Wenn Sie jetzt bitte…« Eddy wies auf den Transporter.
Stephan öffnete die Heckklappe. Zwischen den Kisten und Koffern mit der Filmausrüstung lag eine in schwarze Teichfolie gewickelte, mit Klebeband verschnürte Rolle, deren Form überhaupt nicht nach einem menschlichen Körper aussah – darauf hatten Stephan und Mike peinlich genau geachtet. Auf einen gemurmelten Befehl von Beauvoir zog Jean die Rolle aus dem Wagen, wuchtete sie über seine Schulter und trug sie hinter seinem Meister und Eddy her ins Haus. Stephan und Mike folgten mit den ersten Ausrüstungsteilen. Das »Studio«, von dem Eddy gesprochen hatte, war ein großzügiger Raum neben Sauna und Schwimmbad im Souterrain, der speziell für Eddys besonderes Hobby hergerichtet worden war. Eine schmale, gewundene Treppe führte hinunter.
Stephan hatte noch lebhaft im Gedächtnis, wie Mike und er sich abgemüht hatten, Divinas Leiche vom Grab in den Transporter zu schleppen – dasselbe Gewicht, das der schmale Jean jetzt über einer Schulter die Treppe hinunterbugsierte.
»Er scheint zwar nicht der Hellste zu sein, aber Kraft hat er«, raunte er Mike zu.
Im Studio blieb Jean mit seiner Last stehen und stierte weiter ins Leere. Beauvoir bellte ein paar Worte auf Französisch, worauf Jean das Paket auf den gefliesten Boden legte. Beauvoir ging in die Hocke und begann, das Klebeband abzureißen. Eddy sah stumm zu.
»Wir holen dann mal die restlichen Sachen«, murmelte Stephan. Mike folgte ihm nach oben.
»Hast du Eddys Neuanschaffung gesehen?«, fragte Stephan, als sie die nächsten Kisten aus dem Transporter luden.
»Den Gynäkologenstuhl? Klar. Zumindest was sein Spielzeug angeht, liebt Eddy die Abwechslung … Mann, Steve, ich weiß wirklich nicht, ob wir das hier mitmachen sollten. Und was haben überhaupt dieser Tahiti-Typ und sein geistig behinderter Sidekick hier zu suchen?«
»Haiti, nicht Tahiti. Keine Ahnung, was das soll. Aber ich vertraue Eddy. Er ist schließlich derjenige, der am meisten zu verlieren hat, falls unser spezielles Filmprojekt auffliegen sollte. Also mach dir keinen Kopf. Komm, wir rauchen erst mal eine.«
Als sie wieder ins Studio kamen, war Divinas Leiche nicht nur ausgewickelt, sondern bereits in den neuen Gynäkologenstuhl gesetzt worden, dessen Metallsockel ziemlich genau in der Mitte des Raumes im Boden verankert war. Jemand hatte ihr einen schwarzen Spitzen-BH, Netzstrümpfe, einen Strapsgürtel und silberfarbene High Heels angezogen. Ihre Lippen waren grellrot geschminkt. Mit milchigen Augen starrte sie auf eine Weise ins Leere, die dem Blick von Jean nicht unähnlich war, der bewegungslos in einer Ecke stand. Divinas Arme lagen auf den Armlehnen, die gespreizten Beine in den dafür vorgesehenen Stützen. Alle ihre Gliedmaßen waren mit Lederriemen an dem Stuhl festgeschnallt, ein weiterer Riemen fixierte ihren Hals.
Beauvoir strich gerade prüfend mit zwei Fingern über den Unterarm der Leiche. In der Luft lag ein süßlicher Geruch. Stephan unterdrückte ein Würgen.
»Meine Herren«, wandte Eddy sich an die beiden, »ich glaube, es ist an der Zeit, Sie in die Einzelheiten meines Vorhabens einzuweihen. Sie wissen, dass ich sehr festgelegt bin, was das Objekt meiner fleischlichen Begierde angeht. Daher stellt Fräulein Deepholes momentaner Zustand für mich definitiv keine annehmbare Option dar, wie Sie sicherlich verstehen werden.«
Stephan nickte beflissen. Mike überprüfte kurz, ob Eddy ihn auch nicht ansah, dann verdrehte er demonstrativ die Augen.
»Aus diesem Grund habe ich Herrn Beauvoir kommen lassen«, fuhr Eddy fort. »Er ist ein Spezialist, ein sogenannter Bokor. Sagt Ihnen das etwas?«
Stephan und Mike schüttelten die Köpfe.
»Nun, man könnte ihn als eine Art Heiler oder auch Hexer bezeichnen. Er ist in der Lage, tote Körper zu beleben.«
Weder Mike noch Stephan hatten eine Entgegnung auf diese offensichtlich völlig verrückte Behauptung parat. Beide sahen Eddy sprachlos an.
»Mir ist klar, wie das klingt. Und Sie können sicher sein, dass ich gründlich recherchiert habe, bevor ich«, er stockte kurz, »eine nicht unerhebliche Summe für Herrn Beauvoirs Dienste geboten habe. Nehmen Sie zum Beispiel Jean da drüben: Er ist ein zonbi. Ein willenloser Sklave, bloßes Werkzeug, ohne jegliche Persönlichkeit. Diesen Zustand hat Herr Beauvoir hervorgerufen. Es scheint, dass Jean versucht hat, ihn bei einer Transaktion zu hintergehen. Zur Strafe hat Herr Beauvoir ihn verhext. Oder sagen wir vergiftet, wenn das Ihrer rationalen Logik annehmbarer scheint. Jean starb, wurde beerdigt und lag einen Tag lang in seinem Grab, bis Herr Beauvoir ihn in einem Ritual unter Einsatz eines Gegenmittels wieder zu dieser besonderen Art von Leben erweckte.«
Stephan räusperte sich. »Bei allem Respekt, Eddy, ich glaube, der Tod von Divina hat Ihnen … ist ja auch verständlich … der Schock …« Er schielte zu dem angeblichen Hexer, der ihnen den gebeugten Rücken zugewandt hatte, während er sich an der Leiche zu schaffen machte. »Aber Sie können doch nicht ernsthaft glauben … Das ist doch bestenfalls ein überzeugender Schauspieler, der ein paar Tricks aus dem Zauberkasten draufhat. Und einen schwachsinnigen Kumpel.«
Beauvoir richtete sich auf und drehte sich langsam um. Seine stechenden Augen fixierten Stephan. »Du nicht glauben«, sagte er ruhig.
»Oh, Entschuldigung«, stammelte Stephan. »Ich wusste nicht, dass Sie Deutsch verstehen. Tut mir leid, falls ich – «
»Du nicht glauben«, wiederholte der Bokor unbeirrt, »aber du wirst sehen. Dann du glauben. Oder ich mache zonbi auch aus dir. Ist möglich … Er auch nicht geglaubt.« Beauvoir deutete mit einer lässigen Geste auf den teilnahmslosen Jean. »Jetzt mein Diener für immer. Bokor kapab, yo gen pouvoua sekré.«
Er nahm die Plane, in die Divinas Leiche eingewickelt gewesen war, und warf sie über den angeblichen lebenden Toten. Jean rührte sich nicht.
»Wird nicht gebraucht«, sagte der Bokor. Dann hob er einen altmodischen, abgewetzten Reisekoffer vom Boden hoch. »Mein Werkzeug. Für Ritual. Résurrection kann gemacht werden, aber schwierig. Jean, il était facile … einfach; ich ihn getötet, ich ihn erweckt. Diese«, er zeigte auf Divina, »difficile. Ich nicht getötet und … sehr lange tot.«
»Ich habe größtes Vertrauen in Ihre Fähigkeiten«, versicherte Eddy. »Und Sie wissen ja: Die zweite Rate erfolgt nach Vollzug.«
Der Bokor sah ihn an. »Oh, zurückkommen sie wird, wenn du wollen. Aber wirklich wollen?«
»Ich kann Ihnen versichern, dass ich mir diesen Schritt reiflich überlegt habe.«
»Ah, vraiment? Alors … du wirst sie bekommen.«
Beauvoir wies Eddy, Stephan und Mike an, sich auf eine mit schwarzem Leder überzogene Liege zu setzen, die an einer Wand des »Studios« stand, bevor er seinen Koffer öffnete. Diesem entnahm er eine zerknitterte Plastiktüte, aus der er ungefähr zwanzig dicke weiße Wachskerzen holte. Sie waren alle schon benutzt und unterschiedlich weit abgebrannt. Beauvoir verteilte sie scheinbar wahllos im Raum. Einige stellte er auf den Boden, andere auf Eddys spezielle Möbelstücke und Sexspielzeuge. Links und rechts von dem Gynäkologenstuhl platzierte er je ein Bündel Räucherstäbchen in alten Marmeladengläsern. Als Nächstes entfaltete er ein weites buntbemaltes Gewand und zog es über seinen Anzug. Das fast bodenlange Kleidungsstück war mit naiven figürlichen Darstellungen verziert, die größtenteils zeigten, wie sich Leute auf sehr farbenfrohe Weise gegenseitig umbrachten. Beauvoir griff in eine Tasche des Gewands, holte ein Feuerzeug heraus und zündete die Kerzen und Räucherstäbchen an, wobei er einen monotonen Singsang von sich gab. Als alle Kerzen brannten, deutete er auf Mike, dann auf den Lichtschalter. Mike knipste gehorsam das Licht aus. Die Atmosphäre erinnerte Stephan an die Kifferpartys seiner Jugend – mal abgesehen von dem Leichengeruch, den auch die Räucherstäbchen nicht überdecken konnten.
Beauvoir hatte inzwischen noch zwei Marmeladengläser aus seinem Koffer geholt, die im Gegensatz zu den Räucherstäbchengefäßen mit Deckeln versehen waren. Stephan kniff die Augen zusammen. Bewegte sich da etwas in den schmuddeligen Gläsern? Der Bokor stellte eins davon vorsichtig auf den Boden, schraubte den Deckel des anderen auf und unterbrach seinen Singsang kurz, um hineinzuspucken. Dann griff er abermals in seine Gewandtasche, förderte eine goldfarbene Pinzette zutage und entnahm dem Marmeladenglas damit eine fette Made. Stephan hörte, wie Mike neben ihm scharf die Luft einzog. Eddy sah lediglich mit wachem Interesse zu, wie Beauvoir jetzt die Pinzette mit der Made in Divinas linkes Nasenloch einführte. Nachdem er noch drei weitere der ekeligen, sich windenden Viecher hineingeschoben hatte, wiederholte sich die Prozedur mit vier Maden aus dem anderen Glas, die ins rechte Nasenloch gesetzt wurden.
»Kranker Scheiß«, flüsterte Mike, was ihm einen tadelnden Seitenblick von Eddy einbrachte.
Beauvoir verstaute die Madengläser sorgfältig in seinem Koffer und holte stattdessen ein Porzellanschälchen und zwei angelaufene kleine Glasflaschen heraus. Diese entkorkte er und gab zunächst aus der einen, dann aus der anderen Flasche ein wenig Puder in das Schälchen. Mit einer Feder rührte er darin herum, dann strich er damit über Divinas Unterarme und ihre Lippen. Sein Singsang war lauter geworden. Stephan musste sich schon zusammenreißen, die einfache, sich ständig wiederholende Melodie nicht mitzusummen. Beauvoir trat zwei Schritte von der Leiche zurück und beobachtete sie konzentriert. Plötzlich hörte er auf zu singen.
»Klappt wohl nicht mit der Totenerweckung«, flüsterte Mike sarkastisch in Stephans Ohr. »Na, wer hätte das gedacht?«
»Psst«, zischte Eddy.
Beauvoir ging zu der kleinen Bar, die ebenfalls Bestandteil von Eddys Hobbykeller war, und wählte eine Flasche Rum aus. Er nahm einen tiefen Schluck direkt aus der Flasche, bevor er etwas von dem Rum zu dem restlichen Pulver in das Porzellanschälchen laufen ließ. Er schwenkte das Schälchen vorsichtig, dann schüttete er den gesamten Inhalt in Divinas Mund. Ein Teil der Mischung lief ihr aus den Mundwinkeln, über das grauweiße Kinn den fleckigen Hals hinunter. Aus ihrem Rachen hörte man ein schlürfendes Geräusch. Während Stephan, Mike und Eddy kollektiv zusammenzuckten, spie Divina dem Bokor einen Schwall stinkender, schwarzgrüner Brühe über sein farbenfrohes Gewand. Ihre Gliedmaßen zuckten unkontrolliert in der Fixierung und mit dem Hochrucken des Kopfes stieß sie ein kehliges Knurren aus. Doch im nächsten Moment sackte der Körper wieder zusammen.
»Merde«, brummte Beauvoir.
»Alter, was war das denn?«, stammelte Mike. »Ich hab mir fast in die Hose geschissen.« Eddys Hände hatten sich um die Kante der Liege gekrallt.
»Was ist mit ihr?«, fragte er. Von der ruhigen Beherrschtheit, die seine Sprechweise sonst auszeichnete, war nichts mehr zu hören.
»Ta gueule! Ich muss …« Beauvoir wühlte hektisch nach den Madengläsern und der Pinzette und ließ sechs weitere Maden in Divinas Nase verschwinden. Dabei brachte er seinen Kopf so nah an das Gesicht der Leiche, als wolle er hinterherkriechen. Wieder gab er Beschwörungsformeln von sich. Immer lauter. Schneller. Eindringlicher. Stephan schluckte hart, während sich Eddy nach vorn beugte und scheinbar versuchte, Divina nur mit seinem Starren ins Leben zurückzuholen. Die Stimme des Bokors dröhnte in Stephans Ohren und verursachte ihm Kopfschmerzen. Trotz des Umstandes, dass noch keine der Kerzen heruntergebrannt war, erschien ihm Eddys »Studio« mit einem Mal dunkler, erdrückender. Am liebsten hätte Stephan sich bei jemandem festgehalten und konnte seine Hand gerade noch davon abhalten, das bei Mike zu tun. Jetzt war die Stimme des Haitianers fast zu einem Schreien angeschwollen. Einzig Jean unter seiner Plane und Divina blieben von alldem völlig unberührt. Doch nicht lange. Unvermittelt krampfte der Körper der Toten erneut. Beauvoir fuhr fluchend zurück. Divina warf ihren Kopf hin und her, stemmte sich abermals mit aller Macht gegen die Lederriemen.
Stephan konnte nicht sagen, wie lange sie brauchte, um sich zu beruhigen, aber er hatte schließlich wohl doch nach Mikes Hand gegriffen. Peinlich berührt gab er sie frei. Mike bemerkte es nicht, ebenso wenig wie die Tatsache, dass sein Mund weit offenstand. Er hatte nur Augen für den Bokor und seine »Schöpfung.« Die starrte mit trüben Pupillen erst auf den Mann im besudelten Gewand und dann zum geschockten Trio auf dem Ledersofa. Wollten ihre bleichen Lippen Worte formen? Sie brachten lediglich ein Stöhnen zustande, das alles andere als freundlich klang.
»Du müssen nun vorsichtig sein«, wandte sich der Bokor an Eddy. »Sie gefährlich.«
»Aber das ist doch wieder meine Divina … oder nicht?« Man hörte, wie schwer es ihm fiel, seine Worte zu ordnen.
»Nur ein Teil.«
»Und der Rest?«
»Etwas anderes.«
»Aber es war abgemacht, dass Sie Divina zurückholen würden.«
»Frau war zu lange weg von hier. Zu lange tot. Mehr konnte ich nicht tun.« Über seiner Nase bildete sich eine scharfe Falte. »Du müssen sehr, sehr vorsichtig sein«, wiederholte er. »Am besten, wir machen gleich wieder tot. Für immer.«
»Auf keinen Fall«, gab Eddy erregt zurück. »Meine Herren! Auf Sie wartet Arbeit«, wandte er sich an Stephan und Mike und verließ eilig den Raum.
Stephan hatte schon eine Menge abartigen Scheiß mitgekriegt. Richtig kranken Mist, der andere hätte kotzend und schreiend abhauen lassen. Doch er hatte es durchgezogen wie ein Profi. Das hier … das war das Erste, was ihm seit langem so richtig an die Nieren ging. Trotzdem stieß er Mike an und sagte: »Los geht´s. Aufbau.«
Während Stephan und Mike ihr Equipment aufbauten, baute Beauvoir seines ab. Er löschte die Kerzen und Räucherstäbchen, zog sein besudeltes Gewand aus und verstaute zu guter Letzt die angebrochene Flasche Rum aus Eddys Bar in seinem Koffer.
»Ich gehe in mein Zimmer. Dormir. Wenn Problem, ihr kommen.« Der Bokor warf einen letzten Blick auf Divina. Sie knurrte leise vor sich hin und sabberte dunkles Zeug aus. Dann zog er die Plane von Jean herunter, der ihm auf ein gemurmeltes Kommando hin aus dem Raum folgte.
Dafür tauchte Eddy jetzt wieder auf. Er hatte sich umgezogen. Statt der hellen Leinenhose und des edlen Oberhemds trug er ein schwarzes Netzshirt und glänzende Latexshorts, die hinter dem Reißverschluss eine deutliche Wölbung zeigten. An den Füßen hatte er schwarze Socken. Stephan und Mike hatten oft über Eddys Spleen gelästert, jedes noch so abgefahrene Sex-Outfit mit Socken zu kombinieren, aber heute fiel es ihnen gar nicht auf.
»Ist alles bereit?«, fragte ihr Auftraggeber knapp.
Stephan checkte noch kurz den Ton. »Alles klar«, antwortete er. »Sie können loslegen.«
Eddy leckte sich über die Lippen. Vorsichtig näherte er sich dem Gynäkologenstuhl. Je näher er kam, desto mehr geiferte die angeschnallte Divina. Er öffnete seinen Reißverschluss und Mike zoomte auf das, was Eddy als seinen »Großen« zu bezeichnen pflegte. Dies hatte Stephan immer ein kleines Schmunzeln abgenötigt; andererseits hatte er seine Ex auch meistens »Mausi« genannt, obwohl sie nicht wirklich ein kleines graues Nagetier gewesen war.
Mit unübersehbarer Leidenschaft machte sich Eddy jetzt daran, das Objekt seiner Begierde zu begatten. Er stand zwischen Divinas gespreizten Beinen vor dem Stuhl und drang mit einem Stöhnen in sie ein. Stephan wunderte sich, dass dies ohne Gleitmittel möglich war, verdrängte aber schnell die Frage aus seinen Gedanken, was in einer Leichenmuschi wohl für die nötige Feuchtigkeit sorgen mochte. Mike sah aus, als müsse er ein Würgen unterdrücken, doch er filmte tapfer weiter. Stephan richtete seine eigene Kamera auf Divinas Gesicht – falls man das überhaupt noch so bezeichnen konnte. Wo sie früher versucht hatte, so viel leidenschaftliche Begeisterung zu heucheln, wie es mit ihrem bescheidenen Maß an Schauspieltalent eben möglich gewesen war, konnte er jetzt in den entstellten Zügen eine animalische Gier erkennen. Er fragte sich bloß, wodurch diese ausgelöst wurde. Sexuell motiviert war sie offensichtlich nicht, eher erinnerte die wütend verzerrte Fratze an den Ausdruck eines abgerichteten Kampfhundes, der sich auf den Konkurrenten seines Zuhälter-Herrchens stürzt.
Eddys Becken bewegte sich in einem langsamen, stetigen Rhythmus. Dabei beugte er seinen Oberkörper weit nach vorne, sodass sein Gesicht gefährlich nahe an die schnappenden Zähne der lebenden Leiche kam, die ihren Hals mit aller Macht gegen den Lederriemen stemmte. Beide an dem bizarren Akt Beteiligten stöhnten laut, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Eddy schien ein besonderes, perverses Vergnügen daran zu finden, seinen Kopf und Hals immer gerade so nahe an das wutschäumende Maul zu bringen, dass die Zähne ihn knapp verfehlten. Sein Becken bewegte sich nun immer schneller. Aus Erfahrung wusste Stephan, dass es nicht mehr lange dauern konnte – schließlich war sein Auftraggeber kein Profi und nicht mehr der Jüngste –, da gab Eddy prompt einen gutturalen Laut von sich. Sein Körper zuckte, die Augäpfel drehten sich nach oben und für einen kurzen Moment vergaß er alle Vorsicht und ließ seinen Kopf ein Stück zu weit nach vorne fallen. Sofort gruben sich Divinas Zähne in Eddys Hals. Der stieß einen schrillen, gurgelnden Schrei aus.
Während Mike seine Kamera fallen ließ und sich suchend nach einer Waffe umsah, stand Stephan wie versteinert da und konnte nicht anders, als weiter zu filmen. Mike griff sich eine Whiskyflasche von der Bar und schlug damit auf Divinas Hinterkopf ein. Nach dem vierten Schlag zerbarst die Flasche und man sah den offenliegenden Schädelknochen, ansonsten zeigten die Schläge keinerlei Wirkung. Eddy versuchte verzweifelt, sich zu befreien, während Divinas Zähne immer tiefer in seinen Hals sanken. Schließlich gab es ein reißendes Geräusch, ihr Ober- und Unterkiefer schlossen sich, und Eddy taumelte zurück. Zwischen den Fingern der Hand, die er gegen seinen Hals gepresst hielt, quoll Blut hervor.
»Wir müssen das verbinden«, schrie Mike. »Ich hole den Verbandskasten aus dem Wagen.« Damit rannte er aus der Tür.
Eddy sackte langsam zu Boden, während Stephan immer noch in Schockstarre seine Kamera auf ihn gerichtet hielt. Wie verwundert blickte Eddy ihn an, dann nahm er die Hand von seinem Hals und starrte auf das Blut. Aus dem Loch spritzte stoßweise immer mehr Blut hervor. Schnell bildete sich eine dunkelrote Pfütze um den am Boden Knienden, der den Mund öffnete, aber zur Seite kippte, bevor er ein Wort sagen konnte. Als Mike mit dem Verbandskasten in den Raum gestürzt kam, sah er sofort, dass er die Mullbinden gar nicht mehr auszupacken brauchte. Stattdessen riss er Stephan die Kamera aus den Händen. »Scheiße, Steve, was machst du denn?«
Stephan glotzte verständnislos auf die Szene, die jetzt ungefiltert auf ihn eindrang: Eddy, leblos in einem See von Blut, Divina, die sich mit fauliger Zunge gierig die Lippen leckte, und Mike, sich hektisch umblickend und Satzfetzen ausstoßend.
»Was sollen wir jetzt bloß – Scheiße … Eddy – wenn das die Bullen – wie sollen wir denn – Scheiße … «
Stephan löste sich aus seiner Starre, beugte sich zu Eddy hinunter und fasste sein Handgelenk, um den Puls zu fühlen. Nichts. Er versuchte, seinen Blick von der klaffenden Halswunde zu lösen, schaffte es aber nicht. Was war das für eine Bewegung? Wand sich etwa eine Made darin? Ein Schauer lief ihm über den Rücken.
Abrupt richtete Stephan sich auf und ging zur Bar. Mit zitternden Händen öffnete er die nächstbeste Flasche, nahm einen tiefen Schluck, dann reichte er sie an Mike weiter. Der seufzte, setzte die Flasche an die Lippen – und ließ sie im nächsten Moment mit einem Aufschrei fallen. Eddy – der tote Eddy – hatte sich von hinten an Mike herangerobbt und sich in seinem Unterschenkel verbissen. Mike schrie wie am Spieß, während er versuchte, sein Bein zu befreien.
»Steve! Mach ihn weg!«, brüllte er.
Stephan packte Eddy an den Fußgelenken und versuchte, ihn von Mike wegzuzerren, der sich krampfhaft an der Bar festkrallte. Aber Eddy hielt seinerseits Mikes Bein mit beiden Händen umklammert. Ein Stück hatte er bereits herausgebissen und offenbar verschlungen, jetzt schlug er seine Zähne zum zweiten Mal hinein. Mikes panisches Schreien wurde lauter und schriller.
Beauvoir, schoss es Stephan durch den Kopf. Er rannte die Kellertreppe hoch, durch die Eingangshalle und in den ersten Stock. Da Mike, Divina und er bei früheren Filmprojekten ab und zu in Eddys Villa übernachtet hatten, wusste er, wo sich die Gästezimmer befanden. Bereits hinter der ersten der in Frage kommenden Türen waren Stimmen zu hören, eine davon schien die von Beauvoir zu sein. Aber mit wem unterhielt er sich? Egal! Stephan riss die Tür auf.
Der Bokor und sein untoter Diener saßen einträchtig auf dem Bett. Jean hatte eine Hand nach der Rumflasche ausgestreckt, die Beauvoir gerade absetzte. In der anderen hielt der angebliche zonbi einen dicken, formvollendet gedrehten Joint. Die ungesunde graue Hautfarbe wirkte um seine Lippen herum irgendwie verschmiert, wie abgewischt, und auch seine Augen waren nicht mehr unfokussiert glasig, sondern überrascht auf Stephan gerichtet. Er hustete eine imposante Rauchwolke aus, legte den Joint auf den Rand eines Aschenbechers, sein Blick flackerte kurz zu seinem Meister, dann kehrte der leere, teilnahmslose Ausdruck abrupt zurück.
»Qu´y a-t-il?«, fragte Beauvoir, der inzwischen eine dunkelblaue Jogginghose und ein weißes T-Shirt mit der Aufschrift Real HipHop Is Not On The Radio trug, mit mühsam beherrschter Stimme.
Stephan sammelte sich. Keine Zeit für Vorhaltungen. Auch wenn die beiden offensichtlich Betrüger waren – die Totenerweckung hatte definitiv funktioniert. Und höchstwahrscheinlich war der falsche Hexer der Einzige, der Mike jetzt helfen konnte.
»Sie müssen kommen! Eddy ist tot. Und jetzt beißt er Mike.«
Beauvoir sah unschlüssig zu Jean.
»Schnell!«, drängte Stephan. »Ich weiß nicht, was da abgeht, aber Divina hat Eddy in den Hals gebissen. Er war tot, ganz sicher. Und nun versucht er … Mike zu fressen oder so. Sie müssen ihn aufhalten!«
Er packte den widerstrebenden Beauvoir am Arm.
»Verfickte Scheiße!«, kam es jetzt von Jean. »Ich hab doch gleich gesagt, das wird nicht klappen, Phil. Lass die Finger von den Scheiß-Maden, hab ich gesagt, aber du musstest ja …«
Er griff nach dem Joint und nahm noch einen tiefen Zug.
Der »Bokor« seufzte, dann ließ auch er seine Rolle fallen.
»Moment, Alter, ich brauche meine Wumme«, erklärte er völlig akzentfrei und holte eine Pistole aus der Schublade des Nachtschränkchens. »Kevin, leg die Tüte weg. Nimm den Koffer und komm mit!«
Kevin, aka Jean, holte gehorsam den Bokorkoffer unter dem Bett hervor.
»Und den Basie!«, rief der falsche Hexer noch über die Schulter zurück, während er schon aus dem Zimmer eilte. Kevin griff sich einen Baseballschläger, der hinter der Zimmertür an der Wand lehnte, dann rannten alle drei in den Keller.
Als sie sich dem »Studio« näherten, konnte Stephan über Beauvoirs Schulter hinweg eine schwankende Gestalt im Türrahmen erkennen.
»Mike! Bin ich froh, dass du –« Ein ohrenbetäubender Knall schnitt ihm das Wort ab. Beauvoir hatte Mike in die Brust geschossen. Der sackte zusammen. Beauvoir stieg über den Körper und sah sich im Studio um. Mit seltsam unkoordinierten Bewegungen kam Eddy knurrend auf ihn zu, Divina wand sich immer noch geifernd in ihren Fesseln. Beauvoir schoss zuerst auf Eddy, dann auf Divina. Die Schüsse in dem kleinen Raum ließen Stephan fast die Trommelfelle platzen. Mit klingelnden Ohren sah er zu Mike hinunter. Auf dessen T-Shirt breitete sich rasch ein dunkelroter Fleck aus.
»Sie haben Mike erschossen«, sagte Stephan tonlos. »Warum?«
»Keine Zeit«, erwiderte Beauvoir. »Kevin! Gib mir den Koffer.«
Kevin, der so blass geworden war, dass man ihm den lebenden Toten jetzt auch ohne Schminke abgenommen hätte, reichte seinem Chef das Verlangte mit zitternden Fingern.
Der hockte sich mit dem Koffer auf den Boden, öffnete ihn und wühlte fieberhaft darin herum.
»Das Zeug tötet angeblich die Maden. Ich hab die Viecher von so ´nem Wissenschaftler-Typen in Hamburg, der mir ab und zu mal … was verkauft hat. Er wollte selbst nicht mit der Sache in Verbindung gebracht werden, also hat er mir und Kevin einen Deal angeboten. Meinte, es würde unheimlich Eindruck schinden und den Preis hochtreiben, wenn da ein echter Bokor aus Haiti ankommt, noch dazu mit ´nem Zombie im Schlepp. Na ja, meine Eltern sind aus Kamerun, deswegen kann ich Französisch.«
Schließlich schien er das Gesuchte gefunden zu haben: einen unscheinbaren Tiegel, dessen Deckel er abschraubte. Eine bräunliche Paste befand sich darin, die einen stechenden, seltsam chemischen Geruch verströmte. Er richtete sich auf.
»Wenn was schiefgeht, soll ich das hier mit Alkohol verdünnen und der Leiche in Mund oder Nase schütten. Reich’ mir mal schnell ´ne Flasche möglichst harten Stoff, okay?«
Kevin umklammerte mit beiden Händen den Baseballschläger und machte nicht den Eindruck, als habe er die Anweisung wahrgenommen.
Wie betäubt wankte Stephan zur Bar und griff nach einer Flasche. Als er sich herumdrehte, sah er Mike hinter Kevin und dem »Bokor« stehen.
»Beeilung, Alter!« Beauvoirs Augen trafen Stephans und folgten dessen Blick. »Kevin! Pass auf!«, rief er. Kevin fuhr herum, gerade als Mike sich mit Schaum vor dem Mund auf ihn stürzen wollte, und holte mit dem Baseballschläger aus, traf aber Beauvoir. Der taumelte zwischen die gespreizten Beine von Divina und rutschte auf dem blutverschmierten Boden aus. Sein Oberkörper kippte vornüber, sodass er direkt auf dem ihren landete. Ohne Vorwarnung schnappten ihre Kiefer zu und verbissen sich in Beauvoirs Wange. Jetzt schrie auch Beauvoir. Er versuchte mit bloßen Händen die Kiefer der Toten auseinanderzubringen, aber vergebens – bis seine Wange schließlich abriss. Divina verschlang den blutigen Lappen Fleisch, dann schlug sie ihre Zähne sofort in Beauvoirs linke Hand, die er nicht rechtzeitig aus ihrer Reichweite gebracht hatte. Stephan starrte auf Beauvoirs zerstörte Gesichtshälfte und musste ausgerechnet an eine Anatomiezeichnung in seinem alten Biobuch denken: Blick in den Kiefer (Aufriss). Der Geschmack von Kotze im Mund war ihm in den letzten Stunden so vertraut geworden wie einer Bulimiekranken an den Weihnachtstagen.
Kevin schlug wieder und wieder mit dem Baseballschläger auf Mike ein, konnte aber nicht verhindern, dass der sich in seinem Unterarm verbiss. Zusammen gingen sie zu Boden.
Entsetzt nahm Stephan aus den Augenwinkeln noch eine andere Bewegung wahr: Eddy stützte sich aus seiner liegenden Position langsam auf die Ellenbogen.
»Die Pistole!«, schrie Kevin. »Schieß doch! Schieß!«
Aber Stephan war nicht zum Helden geboren. Durch das Knurren und Schmatzen der Untoten und die Schreie der noch Lebenden rannte er, so schnell er konnte, aus dem Studio, die Kellertreppe hoch, aus der Villa und sprang ins Auto.
***
So habe ich es gehört. Keine Ahnung, ob der Typ sich bloß wichtigmachen wollte oder ob tatsächlich was dran ist. Angeblich ist er dann abgehauen, hat sich in irgendeinem Hotel verkrochen und tagelang durchgesoffen, bis er glaubte, es wäre alles nur ein Traum gewesen. Tja, kann sein. Höchstwahrscheinlich ist an der Geschichte nicht mehr dran als an dem Gerücht, die Russen wären schon unterwegs, um uns alle zu retten. Aber wenn doch … und dieser Gedanke lässt mich einfach nicht mehr los … wenn es diesen Keller wirklich gibt … dann liegt da womöglich immer noch diese Paste rum. Und vielleicht – nur vielleicht – ist sie genau das Gegenmittel, nach dem alle so verzweifelt suchen. Denkt mal drüber nach ...