DIE DREI MARODEURE
FABIAN DOMBROWSKI
»In your head, they are crying, in your head, in your head: zombie, zombie, zombie-hie-hie!«, plärrte die wütende Melodie der Cranberries aus den kleinen, weißen Kopfhörern in Rolands Ohr. »What’s in your head, in your head, zombie, zombie, zombie-hie-hie?« Sein Kopf wippte im Takt und hinter geschlossenen Augen entfloh er in die Erinnerung an bessere Tage. Doch die Welt nach der Zombie-Apokalypse kannte die Gnade langer Pausen nicht, genauso wenig wie Rolands Schutzengel mit dem seltsamen Namen Aristodemus sie kannte.
»Zeit ist rum!«, teilte er ihm mit.
»Schon?«
»Die Toten ruhen nie.«
»Ja, hab ich bemerkt.«
Seit zwei Jahre fanden die Verstorbenen keinen Frieden mehr und wandelten über die Erde, statt unter ihr ewig zu schlafen. »Ist schwer zu ignorieren.«
»Was war das übrigens, was du eben gehört hast?«
»‚Zombie‘ von den Cranberries.«
»Ah, der Song, an dem jede Schulband scheitert, wie eine Freundin einmal meinte. Tolles Ding, aber es hat neuerdings so einen unglaublich fauligen Beigeschmack bekommen.« Aristodemus reichte Roland eine Hand und half ihm auf die Beine. Gemeinsam verließen sie die Gasse, in der sie kurz verschnauft hatten. Wieder auf der breiten Hauptstraße bewegten sie sich langsam durch das erlahmte Verkehrschaos aus liegengebliebenen Autos, geplünderten Lastwagen und einer umgekippten Straßenbahn. Die Zeit des Verfalls hatte den künstlichen Farben den Glanz geraubt und die Zivilisationsüberreste mit der sich rapide ausbreitenden Pest des Rostes gezeichnet. Die Natur eroberte sich die Stadt allmählich zurück, riss den Asphalt auf und grub neue Wurzeln in den Beton - sogar die Vögel sangen in den Häuserschluchten von ihren Nistplätzen.
Doch die beiden Wanderer täuschte die Idylle nicht. Sorgsam sicherte stets einer nach hinten, während der andere den Weg vor ihnen im Blick behielt - jeder eine Waffe bei der Hand, Roland seine Machete und Aristodemus sein Sturmgewehr. Urbaner Raum war die Hölle für die Überlebenden. Die Toten konnten in jedem Winkel des nicht einsehbaren Labyrinths hocken oder bewegten sich in ihren willkürlichen Mustern durch die Ruinen, meist in Rotten oder ganzen Schwärmen, selten als Einzelne. Im schlimmsten Fall überschwemmten sie einen verlassenen Straßenzug wie diesen in wenigen Minuten, sodass selbst einem gut trainierten und intelligenten Menschen kein Ausweg mehr blieb.
Der Unkundige mag sich fragen, warum sie es dann trotzdem wagten? Warum die Gefahr suchen, wo sie zum unkalkulierbaren Risiko wurde? Die Antwort ist einfach: Hier gab es noch die Ressourcen, die anderswo längst aufgebraucht waren, denn die Zombies bewachten sie gut. Nur die große Bedrängnis zur Neige gehender Vorräte trieb die Lebenden in ihre Städte zurück, obwohl andere ihr Leben geopfert hatten, damit ihnen die Flucht gelang.
Andere, wie die drei Marodeure.
Muse, berichte mir vom Trotz der drei Marodeure, wie sie sich gegen die unendlichen Ströme von Leichen stemmen, die das Leben selbst verschlingen, auf dass es ihnen gleich ewig auf Erden wandle. Zwei Frauen und ein Mann - normale Menschen, nicht zum Heldentum geboren, aber als der Ruf der Gefahr sie ereilt, dazu erwacht! Sie müssen wählen, zu sterben oder zu überleben und sie entscheiden sich, zu kämpfen. In jenem Moment ziehen sie die Blicke aller auf sich - zum ersten, aber nicht zum letzten Mal - und hier erhalten sie ihren Namen, ohne dass heute noch jemand lebt, der wüsste, wer sie als Erstes so nennt: Die drei Marodeure. Verzweifelt verteidigen sie sich, doch auch mutig und mit Inbrunst. Am Ende stehen sie und die Untoten liegen zu ihren Füßen.
Doch sie wissen: Es ist nicht vorbei. Der Kampf beginnt erst. Der Schrecken der Balduinbrücke liegt noch vor ihnen.
»Und was ist unser nächstes Ziel? Das örtliche Einkaufszentrum?«, fragte Roland.
»Nein, das wäre doch etwas topisch«, grummelte Aristodemus ärgerlich, dennoch kräuselte sich ein verkniffenes Lächeln in seinen Mundwinkeln.
»Bitte was? Topisch? Was soll das heißen?«
»Ich meine, es wäre ein klassisches Versatzstück einer Geschichte. Ein Klischee würdest du wahrscheinlich sagen - auch wenn das eine krasse Vereinfachung wäre, die dem Begriff unrecht täte. Du kennst das sicher. Es müssen immer dreihundert Krieger sein und sieben Zwerge und drei Prüfungen.« Roland schaute seinen Schutzengel verwirrt an. Einerseits hatte er ihn schon verstanden, andererseits wusste er mit der Information nichts anzufangen. Ganz abgesehen davon, dass jetzt wirklich nicht die Zeit für solche Diskussionen war.
»Und worauf willst du damit hinaus?«
»Hast du nie die alten Zombie-Streifen gesehen? Die spielen gern in Einkaufszentren, ‚Dawn Of The Dead‘ zum Beispiel. Ist einfach ein perfekter Handlungsort, genauso wie unterirdische Forschungsbasen, Bürokomplexe oder Krankenhäuser.«
»Ja doch, hab ich gesehen. Fand ich langweilig. Aber was hilft uns das?«
»Weil es einen Grund gibt, diese Orte zu wählen. Sie sind plausibel. Du findest in einem Einkaufszentrum alles, was du zum Überleben brauchst. Essen, Klamotten, teilweise Nutzgeräte und sogar Sachen, die man als Waffen nutzen kann. Gerade in den Anfangstagen, als alle noch dachten, die Maden-Epidemie sei bald wieder gegessen, haben sich da ganze Kommunen gebildet.«
»Tja, gegessen war die Sache schon schnell von den Toten.«
Aristodemus lachte trocken. »Dummer Wortwitz, jedoch leider treffend. Heißt aber für uns, dass die Vorräte dort aufgebraucht sein sollten oder die Zombies in Legionsstärke auf uns warten. Vertrau mir einfach. Das wäre eine schlechte Idee.«
Wenn er das sagte, glaubte Roland ihm. Aristodemus hatte offensichtlich eine Menge Erfahrung mit den Infizierten. Er machte den Eindruck eines Mannes, der nicht so lange überlebt hatte, weil er wusste, wie er der Bedrohung durch die Untoten am besten entkam, sondern wie er sie am erfolgreichsten bekämpfte.
Aus dem Norden über die Moselbrücken fällt die Armee der Toten in Koblenz ein. Sie kommen spät. Die großen Metropolen sind bereits überrannt, die Streitkräfte auf Rückzugsgefechten. Ungehindert greifen die madenverseuchten Leichenhorden in die entlegenen Winkel über, wo nur einzelne Fälle oder kleinere Gruppen bisher die Pest verbreitet haben. So stürmt die verwesende Geißel letztendlich auch auf Koblenz zu.
Das langgezogene Raunen aus ausgetrockneten Kehlen, die nach Menschenfleisch gieren, wird an einem Nebelmorgen auf der Balduinbrücke hörbar. Die ersten hundert Leichen stolpern, schlurfen und humpeln an der Statue des alten Kurfürsten vorbei und der Hunger brennt in ihren Augen.
Da schälen sich auch die geisterhaften Silhouetten der drei Krieger aus dem Dunst, der von der Mosel aufsteigt, und hinter ihnen folgen die mutigen Bürger von Koblenz. Es ist nie ihre Bestimmung gewesen, hier zu stehen und eine Schlacht zu schlagen. Doch die Soldaten der nahen Kasernen sind zu dringlicheren Einsätzen abkommandiert. Die Stadt ist im Stich gelassen worden. Sie ist auf sich allein gestellt.
Der Kampf beginnt.
Welle um Welle schlagen sie die Leichen zurück. Der Bleihagel geht nieder, Mündungsfeuer glühen, Klingen zucken in graues, totes Fleisch und die Phalanx der Marodeur-Miliz hält die Brücke mit den drei Helden in der ersten Reihe. Ihre Waffen wüten ohnegleichen unter den Feinden. Die zwei Kampfstöcke brechen Körper, die Axt fährt auf und nieder und das Katana singt sein altes Schlachtenlied.
Der erste Tag auf der Balduinbrücke ist angebrochen.
Roland begegnete Aristodemus zweieinhalb Monate vor ihrem gemeinsamen Plünderungszug ins Stadtgebiet, als ein Zombieschwarm gerade über den Bauernhof herfiel, auf dem er sich mit einer Gruppe Überlebender verschanzt hatte.
Eines Morgens stand direkt vor der Eingangstür ein kleines Mädchen mit seinem Kuschelbären in der Hand. Im Zwielicht von Sonnenaufgang und soeben abziehendem Regenschauer erlag Roland selbst einen Augenblick der Täuschung. Zu spät erkannte er, was vor sich ging.
Jemand öffnete die Tür.
Das Bild kindlicher Unschuld biss sich in die Kehle des wohlmeinenden Gutmenschen und als dessen Leiche zusammensackte und die Maden sich tief in seine Wunden zu fressen begannen, suchten die leeren, gebrochenen Augen des Kindes bereits nach der nächsten Beute. Chaos folgte und mit ihm der durch den Eingang hereinbrechende, scheinbar unendliche Strom der Untoten. Sie kamen hinter dem Mädchen, wie ein Überfallkommando geführt von ihrem Kundschafter. Die Bewohner des Hofes fielen unter ihrem tollwütigen Angriff, Mann um Mann, Frau um Frau, Kind um Kind.
Da tauchte Aristodemus auf, eine Ein-Mann-Armee, die sich den Zombies vom Sonnenaufgang her mit seinem reichhaltigen Waffenarsenal in die Flanke warf. Sein Katana hatte er vor sich in den Boden gerammt und das Gewehr in Anschlag gebracht. Er schoss und jede Kugel war ein Treffer.
Roland glaubte, die Zombies in Furcht erstarren zu sehen und ihren Blick ehrerbietig zu dem Krieger auf seiner Anhöhe heben zu sehen. Doch er täuschte sich. Es war nur ein kurzes Innehalten, bevor sie sich umwandten, um auf ihn loszugehen. Er begegnete ihnen mit einem seltsamen, getriebenen Grinsen.
Kaum eine Leiche schaffte es, ihn zu erreichen.
Nur drei überwanden die Distanz. Aber Aristodemus ließ nur gelassen sein Gewehr sinken, riss das Schwert aus der Erde und trennte die Köpfe seiner Feinde fast beiläufig von ihren Körpern.
Leider war er zu spät gekommen - außer Roland hatte niemand überlebt. Und so blieb ihnen wenig mehr als der furchtbare Gefallen, den jeder Überlebende seinen Kameraden schuldete: sicherzustellen, dass sie nicht auferstehen würden.
Roland fragte nach getaner Arbeit seinen Schutzengel, wo er so gegen die Toten zu kämpfen gelernt hatte.
»Ich habe unter den drei Marodeuren an der Balduinbrücke gekämpft«, antwortete Aristodemus und als Roland das hörte, beschloss er, bei seinem Lebensretter zu bleiben und von ihm zu lernen, denn er hatte von den Marodeuren und der Balduinbrücke gehört. Jeder hatte das.
Warum kommen die Toten über diese Brücke und ignorieren andere Wege über die Mosel, fragt ihr? Weil all diese in den Katastrophen der ersten Tage zerstört oder blockiert worden sind! Und so strömt das Unleben wie durch einen Trichter gen Süden. Jedoch ist dies ihr Verderben. Wie ein Stein steckt in diesem Trichter die Abwehr der Marodeure. Auch am zweiten Tag auf der Balduinbrücke erlahmen weder ihr Wille noch ihre Hände.
In ihren myrmidonen-schwarzen Rüstungen aus Kevlar und Stahl ringen sie mit den Leichen. Berserkern gleich führen sie die Schlacht an vorderster Front. Laut schreiend kämpfen sie - fluchend und jubelnd kämpfen sie - schweigend kämpfen sie. Mal preschen sie in die Horden der Untoten und stehen dort Rücken an Rücken, metzeln sich durch den Ansturm wie ein vielarmiger Kriegsgott. Ein andermal drängen sie sich Schulter an Schulter mit den Bürgern und feuern mit ihren Gewehren und Pistolen Kugel um Kugel in Zombie-Köpfe. Kaum eine Pause gönnen sie sich, nur um sich zu erfrischen oder mit Eimern voll Wasser das dicke Blut der Toten und die allgegenwärtigen Maden von ihren Rüstungen abzuwaschen.
An jenem Tag leisten die Helden, deren Geschick ein Leben ohne die Aufregungen des Krieges gewesen ist, Übermenschliches. Sie wachsen über sich hinaus. Sie müssen es. Nur ihr Vorbild hält die Kämpfenden aufrecht und zusammen. Fallen sie, ist es das Ende der Miliz und somit auch für Koblenz. Doch sie fallen nicht. Nicht heute. Sie kämpfen bis zum flammenden Sonnenuntergang - da gewähren die Untoten ihnen eine Atempause.
»Also, wo geht es nun hin?«, fragte Roland zum zweiten Mal.
Aristodemus deutete in Laufrichtung, wo die Hauptstraße auf dem Vorplatz eines großen Bahnhofs mündete. »Ich hoffe, da steht noch ein Güterwaggon mit Lebensmittellieferungen. Im ersten Jahr, als sich rausstellte, dass die Autobahnen zu verstopft mit Wracks und Toten waren, ist man wieder auf das Schienennetz umgestiegen. Aber die Versorgungszüge sind nie losgerollt. Es war zu spät.«
»So viel zur perfekten Organisation der Deutschen Bahn.«
»Ja, man erzählt sich die Geschichten immer noch.«
Vorsichtig begaben sich Roland und Aristodemus auf den Platz hinaus. Die leere Weite vor der monumentalen Bahnhofseingangshalle wirkte befremdlich. Eigentlich hätte man langsam daran gewöhnt sein müssen, dass von den zu ihren Zügen hetzenden Fahrgästen und willkommen geheißenen Ankömmlingen, die zu ihren Taxis, Bussen und Straßenbahnen eilten, jede Spur fehlte. Allein über Pflasterplatten wehende Plastiktüten und Reste von Tageszeitungen waren geblieben und verstärkten den Eindruck, dass die Welt eine andere geworden war - und zwar eine, die den Lebenden nicht länger zustand.
Irgendwo bei der Bushaltestelle schlurften drei Infizierte ihres Weges, doch keiner von ihnen schaute in ihre Richtung. Glücklicherweise stand auch der Wind günstig und so schlichen Roland und sein Schutzengel durch das Hauptportal ins Bahnhofsgebäude. Es erwartete die beiden noch mehr Leere und Stille. Selbst die große Uhr im Deckengebälk war stehengeblieben. Aber sie ließen sich nicht von der Ruhe täuschen - hier gab es genug Winkel, in denen sich die Zombies versteckt halten konnten. Eine unaufmerksame Sekunde konnte ihre letzte sein. Schweigend rückten sie zu den Gleisen vor.
Roland war die fehlende Unterhaltung im Moment ganz recht. Wenn er Aristodemus´ Auswahl an Gesprächsthemen betrachtete, dann zweifelte er manchmal daran, ob er die Apokalypse überhaupt ernst nahm. Obwohl ihm diese Variante noch besser gefiel als diejenige, in der sein Schutzengel einfach ein Irrer mit Waffen war. Doch schon am ersten Abend hatte er ihn mit einer Diskussion über alte Zombie-Geschichten überrascht; offenbar eines seiner Lieblingsthemen. Er meinte, bevor sie von Fiktion zu Fakt wurde, hätten sie als Metapher so viel hergegeben: Die Auflehnung des Lumpenproletariats gegen die Konsumgesellschaft zum Beispiel oder die Angst vor unkontrollierbaren Krankheitsepidemien, ebenso waren sie immer ein beliebtes Werkzeug gewesen, Figuren in Krisensituationen zu bringen, um soziale Mechanismen an ihnen darzustellen. Roland war das alles egal. Für ihn waren die Zombies keine Metapher, keine Versuche, eine versponnene gesellschaftliche Theorie vorzuführen. Sie waren real und bestimmten seinen täglichen Kampf ums Überleben. Aber die Partnerschaft mit Aristodemus hatte auch ihre Vorteile. Das professionelle Waffentraining zum Beispiel, selbst wenn sein Lehrer am Ende stets zu seiner Hymne auf die drei Marodeure anhob - manchmal mit unterschiedlichen Details gewürzt, aber fortwährend mit den gleichen Worten beginnend: »Muse, berichte mir vom Trotz der drei Marodeure, wie sie sich gegen die unendlichen Ströme von Leichen stemmen, die das Leben selbst verschlingen, auf dass es ihnen gleich ewig auf Erden wandle.« Er schien besonders stolz auf diesen Anfang zu sein, was es nur noch nerviger machte. Doch was sollte Roland tun? Gute Gesellschaft war rar geworden.
Als sie auf die Bahnsteige kamen, konnte Roland sich ein kleines Jubeln nicht verkneifen. Dort stand tatsächlich ein langer Güterzug mit dem Abzeichen der Bundeswehr. In großen, weißen Lettern hatte jemand »Nahrungsmittel-Lieferung« darauf gepinselt.
Weiter geht der Kampf um die Balduinbrücke. Die erkämpfte Position von Lebenden und Toten hält sich immer in der Waage. Nie gewinnt einer lange die Oberhand. Jeder errungene Meter geht schnell wieder verloren. Die Marodeure stehen ihren Truppen ohne Unterlass vor. Sie ruhen keine Sekunde. Doch langsam wird klar, dass sie nicht ewig weitermachen können. Irgendwann wird auch ihnen die Kraft ausgehen.
Also rufen sie am Abend des dritten Tages den Rat der Überlebenden zusammen. Sie finden unter dem Eindruck des in Armeen marschierenden Todes zerrüttete Gemüter vor. Einer kräht, die Untoten wären die Strafe Gottes und sein Gegenüber rollt mit Spott und Hohn über ihn hinweg. Eine Tyrannis mit fester Hand des idealen Herrschers geführt, proklamiert er, eine Gemeinschaft mit festen Regeln gebaut auf gemeinsame Verpflichtungen und Werte. Doch die Marodeure weisen die Streithälse in ihre Grenzen. Für das Überleben der Übrigen gilt es, erst einmal dringendere Maßnahmen zu ergreifen, als die Gesellschaftsstrukturen eines Neustarts zu debattieren.
Die Marodeure erklären, sie werden sich noch einmal mit ihren Milizen gegen die Toten stellen, einen weiteren Tag mit aller Kraft erkämpfen. Und diese letzte Chance soll jeder nutzen, um aus der Stadt zu fliehen.
Sie zogen die Reihe der Güterwaggons entlang. Auf jeden hatte jemand in schlampiger Schrift den Bestimmungsort geschrieben. Die Ziele reichten von der Lutherstadt Wittenberg über Berlin bis nach Rostock. Die ersten verladenen Container waren bereits alle geöffnet. Natürlich. Es wäre dumm gewesen, anzunehmen, sie wären die Einzigen mit dieser Idee. Aber offensichtlich gab es nicht genug Wagemutige, als dass der Zug komplett ausgeraubt wäre. Auf halber Strecke den Bahnsteig hinunter waren einige Container aufgebrochen, jedoch waren Teile ihres Inhaltes verblieben.
»Heute ist unser Glückstag, würde ich sagen!«, rief Aristodemus aus, als er in den Waggon sprang und ihn sicherte. »Sieht aus, als könnten wir eine Weile auf Katzenfutter und Sauerfleisch verzichten!«
»Was gibt es stattdessen?«, fragte Roland.
»Vornehmlich Tortellini in fünf möglichen Geschmacksrichtungen«, kam die Antwort, während die Konserven aus den Kisten in den Rucksack wanderten. »Was ganz anderes, Junge. Was hast du eigentlich gemacht, bevor die Untoten uns von unserem Olymp gestürzt haben?«
Die Frage verwunderte Roland. Sie waren seit zweieinhalb Monaten zusammen unterwegs, da hatten sie doch sicher solche Banalitäten der Bekanntmachung erledigt. Aber jetzt aufmerksam nachgedacht merkte er, dass sie tatsächlich nie darüber geredet hatten.
»Ich war noch Schüler. In der elften Klasse!«
»Du siehst gar nicht so jung aus.«
»Hinderliche Umstände für Hautpflege und gesunde Ernährung sind vermutlich dem Idealbild des ewig bart- und augenringlosen Teenagers abträglich und der klassischen Kurzhaarfrisur hab ich schon vor der Apokalypse entsagt.«
»Alles andere wär auch langweilig gewesen.«
Die Anmerkung ließ Roland grinsen. Manche seiner Mitschüler hatten ihm unterstellt, sich absichtlich zum Außenseiter zu stilisieren, aber ihm war das nie wie eine Wahl vorgekommen. Er war einfach so.
»Wo warst du denn?«
»Ich war Dozent für Latein und Griechisch und habe geholfen, Lehrer auszubilden, damit diese Schüler unterrichten und hoffentlich soweit begeistern, dass auch sie Lehrer werden wollen und wir weiterhin einen Job haben.«
»Aha«, machte Roland nur mäßig überzeugt.
»Ja, ich weiß. Ist nicht besonders spannend. Habe meistens lieber an meiner Doktorarbeit gesessen.«
»Worum ging‘s?«
»Krisensituationen und wie Menschen anfangen, in ihnen Geschichten zu erzählen, um sich mit ihnen zu motivieren, weiterzumachen und in der neuen Situation zurechtzufinden.«
»Klingt schon nützlicher.«
»Tja, ich hätte nicht gedacht, wie nützlich«, meinte Aristodemus geheimnisvoll und schloss seinen Rucksack.
Jetzt war Roland an der Reihe. Er sprang in den nächsten Waggon und öffnete seine Tasche. Erst als er faulig warmen Atem in seinem Nacken spürte, bemerkte er, was er vergessen hatte: Den Raum abzusichern.
Noch in derselben Nacht rufen die Marodeure ihren besten Mann zu sich. Sie befehlen ihm, den Konvoi der Flüchtenden zu bewachen. Er weigert sich. Er will an ihrer Seite kämpfen. Aber sie machen klar, wie viel wichtiger seine Aufgabe sein wird.
Als Zeichen ihrer Anerkennung geben sie ihm ihre Waffen, jene Werkzeuge der Verteidigung, mit denen sie sich zwischen die Monster und ihre Schützlinge gestellt haben. Und so nimmt er das Sturmgewehr an sich und die Weltkriegspistole, die beiden kurzen Kampfstöcke und das Katana sowie die Axt. Dann macht er sich bereit, am nächsten Tag die Stadt zu verlassen und den Anweisungen der Marodeure zu folgen, wie auch Aristodemus auf Leonidas Befehl hin bei den Termophylen der Schlacht den Rücken kehrte, um die Kunde von ihrem spartanischen Martyrium ins Land zu tragen.
Er weiß nicht, ob er die ihm anvertrauten Schützlinge gut behüten können wird. Einige Schäfchen hat er schon im Morgengrauen verloren. Sie verschanzen sich bei seinem Auszug aus der Stadt lieber in ihren Wohnungen oder einem nahen Einkaufszentrum. Doch er wird sein Möglichstes tun.
Noch einmal zögert er, doch letztlich folgt er dem Befehl der Marodeure. Er wird ihr Herold sein und ihre Geschichte erzählen. »Wanderer«, sagt er zu sich selbst, »triffst du einem Fremden, berichte ihm, du habest die Marodeure bei der Balduinbrücke selbstlos kämpfen sehen, wie keiner sonst es tat.«
Roland drehte sich um und sah in die roten Augen eines Toten. Die gelben Zähne im grauen, verwesten Fleisch streckten sich gierig nach ihm aus. Scheinbar hunderte Maden tummelten sich in der fauligen Mundhöhle. Der Zombie war schon viel zu nah. Doch plötzlich - wieder einmal! - war da Aristodemus, der den Zombie rammte und wegtrieb. Gemeinsam stürzten sie in eine Konservenkiste. Roland sah, wie sein Schutzengel versuchte, an einen seiner zwei Schlagstöcke zu kommen, aber sobald er einen zu fassen bekam, entglitt er ihm wieder unter einer schnellen Attacke des Untoten. Das Biest erkämpfte sich die Oberhand. Roland wollte etwas tun. Doch wie gelähmt, konnte er sich unmöglich rühren. Wenn er jetzt losschlug, würde er vielleicht Aristodemus ernsthaft verletzen - ein Todesurteil im Reich der Zombies. Seine Gedanken rasten, während der Lebende mit dem Toten rang. Gab es eine Lösung? Einen Ausweg?
Zu spät.
Die Kiefer des Monsters öffneten sich weit und gruben sich in Aristodemus’ Schulter. Da half es auch nichts mehr, dass dieser seine zweite Schusswaffe, eine Weltkriegspistole, in die Hand bekam und sich mit drei hart im Container widerhallenden Schüssen von dem Infizierten löste. Eine vierte Kugel hämmerte er seinem Todesbringer in die Stirn. Roland klingelte es in den Ohren.
Zitternd sackte Aristodemus zusammen. Ungläubig betastete er seine Verletzung. Die Maden hatten sich bereits tief im Wundfleisch eingefressen. Selbstverständlich hatte er immer gewusst, dass so etwas passieren konnte, aber Roland sah ihm an, wie wenig er daran geglaubt hatte. Sein Feldzug ums eigene Dasein, der ihn von der Balduinbrücke hierher geführt hatte, fand sein Ende. Dem Herold der drei Marodeure, der überall von ihrem Trotz berichtete, selbst unter dunkelsten Vorzeichen zu kämpfen, sodass andere einen nächsten Morgen erleben würden, hatte die letzte Stunde geschlagen.
»Junge, du musst jetzt gehen«, forderte Aristodemus Roland erstaunlich gelassen auf.
»Ja«, antwortete er schlicht. Irgendwo in seinem Inneren wusste er, dass er früher an diesem Moment zerbrochen wäre. Er hätte daran zerbrechen sollen. Aber diesen Luxus konnte er sich nicht erlauben.
Eine Zeitlang hatte ein Psychiater auf dem Bauernhof Unterschlupf gefunden, wo Roland gelebt hatte. Der hatte gemeint, die Überlebenden litten alle an einer posttraumatischen Gefühlsverarmung. Roland meinte, es besser zu wissen: Er war nicht krank, denn es war nur gesund, den Schmerz runterzuschlucken und sofort weiterzumachen. Er hörte damit auf seinen Überlebensinstinkt. Zögern war in dieser neuen Welt tödlich. Ganz abgesehen davon würde er Aristodemus‘ Andenken kaum würdigen, wenn er hier wartete und gebissen wurde. Wie die drei Marodeure einst bei der Balduinbrücke gekämpft hatten, so hatte sein Schutzengel sein Leben für ihn aufgegeben. Das durfte nicht umsonst sein.
Roland drehte sich um und wollte schon aus dem Waggon springen, da öffnete Aristodemus noch einmal den Mund: »Warte einen Moment.«
Roland hielt inne und blickte zu seinem ehemaligen Schutzengel zurück.
»Nimm meine Waffen.«
Und so nahm Roland das Sturmgewehr an sich und die Weltkriegspistole, die beiden kurzen Kampfstöcke und das Katana sowie die Axt. Als letztes griff er Aristodemus‘ Rucksack mit den Vorräten und der sonstigen Ausrüstung. Das Einzige, was dieser für sich behielt, war eine Granate, von der Roland gar nicht bewusst gewesen war, dass sich so etwas in seinem Arsenal befand.
»Eine Frage, Aristodemus.«
»Natürlich.«
»Haben die Marodeure eigentlich wirklich existiert? Ich meine, jeder hat Geschichten von der Balduinbrücke und der Schlacht gehört. Und jeder kennt auch das Märchen, wie sie irgendein Café praktisch ohne Waffen gegen die ersten Untoten verteidigt haben. Aber da gibt es ja allerhand wildes Seemannsgarn, wie sie zum Beispiel Kandiszucker als Munition verwendet haben ... Wer‘s glaubt!«
»Sie haben existiert. Kein Zweifel. Vielleicht nicht genauso, wie du sie dir vorstellst, aber existiert haben sie.«
»Glaubst du, sie haben überlebt?«
»Ich hoffe es.«
Dann lächelte Aristodemus breit, doch ihm fehlte der getriebene Zug, der ihm früher immer dabei ins Gesicht geschrieben gestanden hatte. »Geh jetzt.«
Und das tat Roland.
Am vierten Morgen treten die drei Marodeure wieder auf der Brücke an.
Die Milizen bringen einen Panzer, ein armselig repariertes Stück Arbeit, jedoch haben sie nicht mehr Kriegsgerät vor der Schlacht aus den nahen Kasernen evakuieren können. Noch ist keiner der Untoten zu sehen. Gemeinsam stehen die drei auf ihrem Gefährt und betrachteten die Röte über den Bergen, bis das fahle Licht des Tages sie ablöst. Zwei von ihnen schweigen, aber einer singt ein albernes Lied über einen Zombie namens Bob.
Dann sieht man die erste Leiche am anderen Ufer.
Überall entsichern die Truppen der Marodeure ihre Waffen, heben ihre Knüppel und prüfen die Schärfe ihrer Klingen. Stumm und stolz sehen sie ihren Feinden entgegen, die erneut zum immer gleichen Angriff blasen, denn dem einen Toten folgen bereits viele weitere. Sie werden standhaft sein - sie werden nicht weichen - mutig werden sie für ihre Mitbürger streiten und fallen.
Das Signal erklingt und der Panzer rollt die Brücke hinunter. Auf dem Gesicht der Marodeure steht das getriebene Lächeln jener Helden, die sich aufopfern und den Horror der Schlacht und des Todes auf sich nehmen, sodass andere es nicht müssen. Dann beginnt der letzte Waffengang auf der Balduinbrücke.
Roland zuckte zusammen, als hinter ihm der Container von einer Granatenexplosion zerrissen wurde. Eine Wolke aus Flammen und anschwellender Hitze jagte über Teile des Bahnsteigs. Grelles Licht zuckte. Das hatte sicher alle Zombies der Umgebung auf ihn aufmerksam gemacht. Doch es war besser, als Aristodemus‘ untotem Spiegelbild zu begegnen. Diese Gefahr war ein für alle Mal ausgeräumt.
Mit dem Sturmgewehr im Anschlag, für das sein Schutzengel ihn glücklicherweise ausgebildet hatte, schritt er durch die Eingangshalle. Übervorsichtig sicherte er jede Ecke. So eine Blöße wie eben im Waggon wollte er sich nicht noch einmal geben. Aristodemus sollte nicht umsonst gestorben sein, genauso wie die Marodeure nicht umsonst ihre Schlacht geschlagen haben sollten. Roland fragte sich zwar immer noch, ob es sie tatsächlich gegeben hatte, aber er meinte mittlerweile auch zu wissen, dass das eigentlich egal war. Darum ging es doch letztlich nicht, oder? Es waren düstere Zeiten, ein wenig Licht mochte da nicht schaden. Egal, wie es beschaffen war.
Plötzlich wurde Geschrei vor ihm laut. Roland merkte auf. Zombies schrien nicht. Drei Jugendliche, ein wenig älter als er, stürmten in die Bahnhofshalle. Ein gutes Dutzend Untoter folgte ihnen. Roland wusste, was zu tun war. Er ging in die Hocke und zog sein Katana, um es direkt vor sich griffbereit auf dem Boden liegen zu haben. Er entsicherte sein Gewehr und schaltete von Automatik auf Einzelschuss, als wäre es die natürlichste Geste der Welt. Dann legte er auf die Zombies an.
Ein getriebenes Grinsen schrieb sich in sein Gesicht.