HUNGER

LORA HORST

Es gab nur zwei Möglichkeiten: Entweder sie würde mein Tod sein oder ich der ihre. Obwohl, eigentlich war die zweite Möglichkeit ausgeschlossen, schließlich war sie schon tot.

Augen sind das Fenster zur Seele, heißt es. Als ich jedoch in die ihren sah, fand ich nur gähnende Leere. Und doch konnte ich mich nicht überwinden, sie zu töten.

Sie kauerte vor den Gitterstäben und wartete. Zuvor hatte sie stundenlang an ihnen gerüttelt, geknabbert und zwischendurch vor Wut aufgeheult, bis ihrem faulenden Gehirn endlich dämmerte, dass sie so nicht an mich herankommen würde.

Anni, meine Verlobte.

Es schmerzte, sie so zu sehen. Es schmerzte, zu wissen, dass ich daran schuld war. Dass ich zu langsam und zu schwach gewesen war, um sie zu beschützen.

Die klaffenden Bisswunden an ihren Armen und Beinen, das fehlende Stück Fleisch in ihrem Nacken, das den Blick freigab auf, wie ich glaubte, ihre Speiseröhre. Darin wälzten sich die schleimigen Körper der Maden. Wühlten sich tiefer und tiefer in ihr Gewebe vor.

Der Würgereiz kam augenblicklich. Säure stieg mir in den Hals und brannte. Ich schluckte sie wieder herunter. Mehr hatte ich nicht in mir, was ich hätte erbrechen können. An das getrocknete, schimmelige Futter im Napf wagte ich mich nicht heran. Seit zwei Tagen saß ich in diesem Zwinger. Seit zwei Tagen hatte ich nichts mehr zu mir genommen.

Sie waren wie ein Sturm über uns hereingebrochen. Die Toten. Als die ersten Meldungen in den Nachrichten aufgetaucht waren, hatten wir es für einen Witz gehalten. Doch dann kamen sie in Horden. Unförmiges, totes Fleisch, dem wieder Leben eingehaucht worden war. Das sich über das Land wälzte, getrieben von einem unstillbaren Hunger. Nach uns.

In den Städten war es die Hölle. Zerfressene Kadaver wandelten durch die Straßen. Manche ohne Gliedmaßen schoben sich über den harten Asphalt und leckten die letzten Tropfen Blut aus den Schlaglöchern, Ritzen und Kuhlen. Die Flüchtenden waren in Panik in alle Richtungen gelaufen. Autos blockierten Straßen und versperrten ihnen den Weg. Ihre eigene Panik hatte ihnen die Möglichkeit aufs Überleben genommen. Sie hatten es in den Nachrichten gezeigt. Aus einem Helikopter heraus hatte man sie gefilmt. Es war mir damals wie ein weit entfernter Albtraum erschienen.

Doch auch wir auf dem Land waren nicht verschont geblieben.

Zuerst kamen sie einzeln. Wir schossen sie ab oder zerschlugen ihnen, mit dem, was wir gerade zur Hand hatten, die Köpfe. Auf den Friedhöfen warteten wir auf sie, als sie sich hervorwühlten. Wir fühlten uns stark. Wir dachten, wir könnten das überstehen. Doch es wurden immer mehr. Sie kamen in Gruppen und vor zwei Tagen erreichte uns eine wahre Flut von ihnen. Sie hatten die Städte auf der Suche nach Nahrung verlassen.

Anni. Die Furcht in ihren Augen, als sie die Alarmsirenen der Feuerwehrwagen an der Dorfgrenze aufheulen hörte. Wie sie sich in meinen Armen verkrochen hatte, am ganzen Körper zitternd und bebend. Diese Augenblicke hatten sich tief in meine Erinnerung gebrannt.

Was danach geschah, war verschwommen. Sie waren plötzlich überall. Wir rannten, schlugen wild um uns. Da war Blut, Kreischen erfüllte die Luft. Ich hatte keine Ahnung, wohin mich meine Beine trugen, bis ich vor dem Hundezwinger unseres Nachbarn stand. Stahlgitter, stabil genug, um seine zwei Rottweiler im Zaum zu halten, die jedoch nirgends zu sehen waren. Ich schlüpfte hinein und wollte Anni hinter mir herziehen, als etwas an meiner Hand zog. Sie hing lasch daran, ihr Körper an unzähligen Stellen blutend. Ich brüllte, schlug und rüttelte sie. Endlich öffnete sie die Augen. Doch es war nicht mehr meine Anni.

Sie schnappte nach mir.

Ich trat sie von mir und schloss die Zwingertür.

Seitdem war ich hier, in meinem von mir selbst erwählten Gefängnis, und wartete. Wartete darauf, dass etwas geschah. Dass meine Anni wieder sie selbst wurde. Wartete darauf, dass sich eine weitere, dritte Möglichkeit auftat. Wartete darauf, dass ich die Augen aufschlug und sich alles nur als ein böser Traum erwies.

***

Als ich wieder erwachte, war es Nacht um mich herum. Ich war eingeschlafen, ohne es bemerkt zu haben. Meine Kehle fühlte sich rau an. Sie war völlig ausgetrocknet. Als ich mich räusperte und etwas Spucke zu sammeln versuchte, schoss mir der Schmerz durch den Hals. Meine Zunge lag schwer und pelzig in meinem Mund.

Ich tastete mit meiner linken Hand über den Boden, bis ich fand, was ich suchte. Die Cola-Dose, das einzige Getränk, das sich in meinem Rucksack befunden hatte.

Nachdem ich keuchend mit brennenden Lungen in der Zelle angekommen war, hatte ich sie in einem Zug geleert. Das war jetzt drei Tage her. Oder waren es schon vier? Ich bereute es jetzt jedenfalls.

Der illusorischen Hoffnung anhängend, dass sich vielleicht doch noch ein Tropfen herausschütteln ließe, setzte ich sie an meine Lippen. Vergebens.

»Verdammt!«, fluchte ich und schleuderte sie in die Dunkelheit. Sie schlug an die Wand und fiel zu Boden.

Erschrocken zuckte ich zusammen, als etwas gegen das Gitter vor mir knallte. Mein Herz raste und auch als mir klar wurde, dass es nur Anni war, die der Lärm aufgeschreckt hatte, wollte es sich nicht beruhigen.

Sie kratzte an den Gittern, scharrte am Boden und an den Wänden, dabei heftig schnaufend.

»Sei ruhig!« Der Schreck saß mir noch in den Gliedern. Warum ging sie nicht einfach weg? Die anderen Untoten waren schon längst weitergezogen. Jedenfalls hatte ich lange keine Schreie mehr gehört und die letzten Tage auch keinen mehr zu Gesicht bekommen.

Ich lehnte den Kopf gegen die Hundehütte und schloss die Augen. Mein Magen zog sich zusammen. Die ersten zwei Tage war der Hunger schlimm gewesen, inzwischen spürte ich nur eine große Leere. Krrrrr, krrrr. Der Durst war schlimmer. Und die Hitze des Tages, wenn die Sonne auf das Zwingerdach knallte. Krrrrr, krrrr. Der Zwinger lag im hinteren Teil des Nachbargartens. Von allen Seiten von Mauern umgeben, sodass kein Windhauch sich hierher verirrte. Krrr.

»Verdammt, hör endlich auf damit, du blödes Miststück!«

Sie knurrte und fauchte zurück.

Ihr Scharren und Kratzen machte mich wahnsinnig. Der süßliche Verwesungsgestank nahm mir die Luft.

Ich stützte den Kopf in die Hände und versuchte, gleichmäßig zu atmen. Als ich mich beruhigt hatte, schaute ich wieder auf. Man konnte über diese Untoten sagen, was man wollte, aber dumm waren sie nicht. Anni wusste ganz genau, wo sich der Eingang des Zwingers befand. Sie hatte sich die ganze Zeit über nicht einen Millimeter davon weg bewegt. Zu ihrer Linken stand eine Kommode, Säcke mit Hundefutter standen darin ordentlich aufgereiht. Gleich dahinter waren die Glastüren, die ins Innere des Hauses führten. Und … sie stand offen! Warum war mir das nicht früher aufgefallen?

Wenn Anni doch nur nicht da wäre …

***

»Verschwinde, verschwinde, verschwinde!«

Ich hatte nicht bemerkt, wie meine Lippen die Worte formten.

Ihre toten Augen starrten zurück in die meinen.

»Verpiss dich endlich!« Meine Stimme brach und Schmerz schoss durch meine Kehle.

Anni zuckte nicht einmal.

Ich ballte die Hände zu Fäusten und presste die Zähne zusammen. Diese blöde Schlampe! Immer machte sie mir das Leben zur Hölle. Zu dumm, sich selbst zu schützen und dann noch nicht einmal in der Lage sein, in einer Ecke zu sterben und andere in Ruhe zu lassen. Nein, sie musste als dieses, dieses – Ding! – wiederkommen!

Der Weg ins Haus war nur wenige Schritte entfernt. Dort würde ich Essen und Trinken finden und mich duschen und abkühlen können. Wenn nur sie nicht wäre!

Diese Hitze, mein Körper glühte. Das Hemd und die Jeans klebten an mir und scheuerten meine Haut bei jeder Bewegung auf.

Ich griff nach dem mit getrockneten Futterresten bedeckten Napf und schleuderte ihn ihr entgegen. Auf Höhe ihres Gesichtes klatschte er an das Gitter und fiel scheppernd zu Boden. Reste des Futters klebten in ihrem Gesicht und in ihren Haaren.

»Fahr zur Hölle.« Jedes Wort riss eine Wunde in meinen Rachen.

***

Sie war wunderschön. Die Sonnenstrahlen, die Hitze machten ihr nichts aus. Ihre Muskeln waren unter der schlaffen Haut kaum zu sehen. Ein Tacker! Das war es, was ich brauchte! Wenn ich ihre Haut ein wenig straffer spannte, wäre sie wieder ganz meine alte Anni.

Hunger.

Ein wenig Schminke. Das war es, was fehlte. Ihr fehlte das allmorgendliche Schönheitsritual im Bad! Kein Wunder, dass sie so aussah.

Schmerz.

Wo war ich? Ich sollte reingehen, ich hatte in Nachbars Garten nichts zu suchen. Sonst würde er Ares auf mich hetzen.

Schwer, mein Körper war so schwer.

Ich hörte Schluchzen. Ich weinte? Meine Wangen waren trocken.

Wer war das? Eine Gestalt hockte vor mir und streckte mir ihren Arm entgegen, soweit es die Gitter zuließen. Was tat ich hier?

Dunkelheit.

***

Zwielicht herrschte und es war merklich abgekühlt, als ich wieder zu mir kam. Ein angenehmer Geruch lag in der Luft.

Regen!

Beim Gedanken an Wasser öffnete ich den Mund, was vom Brennen der trockenen, rissigen Lippen begleitet wurde. Doch das war nichts im Vergleich zum Kopfschmerz. Mein Schädel schien von innen heraus zu platzen. Druck drohte meine Augen aus ihren Höhlen herauszupressen. Meine Sicht war verschwommen und ich hatte Schwierigkeiten, etwas zu fokussieren. Erst nach einer Weile wurde mein Blick klarer.

Wenigstens war ich wieder bei Verstand. Fieber hatte mich den letzten Tag in seinen Klauen gehabt und die letzten Tropfen Flüssigkeit als Schweiß aus mir herausgezogen.

Der Regen hatte bereits aufgehört, doch die Fliesen vor dem Zwinger waren noch nass, ebenso Anni.

Ich konnte nicht sagen, ob es Morgen oder Abend war. Oder wie lange ich hier schon saß. Fünf Tage? Ganz gleich, lange würde ich es nicht mehr machen.

Mein Körper war steif. Nur mit Mühe schaffte ich es, mich zum Sitzen aufzurichten. Meine Bewegungen hatten Anni aufhorchen lassen.

Sie stand noch genauso vor der Zwingertür wie zuvor. Scheinbar ermüdeten Untote nicht. Selbst wenn sie tagelang keine Nahrung hatten.

Ich erkannte kaum noch etwas von meiner Verlobten in ihr. Die Verwesung war unter der Hitze der Sonne schnell fortgeschritten. Jetzt hing ihre nasse Haut schlapp an ihren Knochen, in ihren Wunden hatte sich das Blut grün-schwarz verfärbt. Maden tummelten sich darin, die klebrige, warme Masse als Brutplatz für ihre Eier nutzend. Ich konnte sie weiß und glänzend zwischen den zerfallenden Muskelfasern sehen.

Unter anderen Umständen wäre mir übel geworden, doch mein Geist war durch die letzten Tage zu abgestumpft. Mit einer Gleichgültigkeit, die ich nicht erwartet hatte, musterte ich sie. Und auf einmal war alles ganz klar. Es war einfach. Ich musste sie nur töten. Im Haus befand sich Nahrung und Wasser. Medizin würde auch nicht weit sein. Ich würde wieder zu Kräften und über die Runden kommen. Ich musste sie nur töten. Und zwar jetzt, solange ich noch bei Verstand war und das Delirium mich nicht zurückforderte und damit in den Tod riss.

Nur wie? Ich trug keine Waffen bei mir und auch im Zwinger befand sich nichts, was ich hätte verwenden können. Suchend schaute ich mich um. Hinter mir befand sich ein großer Schrank. Vielleicht fand ich dort etwas? Doch um dorthin zu gelangen musste ich erst einmal an Anni vorbeikommen, und was, wenn sich nichts Nützliches im Schrank befand? Dann säße ich in der Falle. Nein, das war zu riskant.

Mein Blick ging weiter. Da! Ein Holzgriff lugte hinter der Kommode hervor. Ein Spaten? Eine Hacke? Ganz gleich, es würde für meine Zwecke reichen. Jetzt stellte sich nur noch die Frage, wie ich Anni von dort wegbekam. Wie sollte ich sie locken? Das Einzige, was sie interessierte, war ich, mein Fleisch, das sie verschlingen wollte. Ich schluckte, als mir dämmerte, was ich zu tun hatte. Die Kanten der hölzernen Hundehütte waren scharf genug für meine Zwecke. Das einzige Problem war, mich zu überwinden.

Wo ich es tun würde, war einfach. Der linke Arm. Ich war Rechtshänder und konnte es mir nicht leisten, ihn zu benachteiligen und meine Beine kamen schon gar nicht in Frage. Sie würden das Einzige sein, das mich in freier Wildbahn am Leben erhalten würde. Also würde es der linke Arm sein.

Ich krempelte den Ärmel meines Hemdes bis über die Schulter hoch und richtete mich auf die Knie auf. Doch bevor ich zur Tat schritt, riss ich mir ein Stück meiner Hose ab und legte es auf meinen Schoß. Ich stieß einen Fluch aus, als ich mir den Arm aufritzte. Splitter steckten in der Wunde.

Anni heulte augenblicklich neben mir auf.

»Das gefällt dir, du Miststück, was?«

Schnell tränkte ich den Stofffetzen in meinem But und schmiss ihn hinter mich durch die Stäbe.

Annis Kopf ruckte herum und sie jagte hinterher.

Ich verschwendete keine Sekunde. Mit voller Kraft stieß ich die Zwingertür auf und in ihren Rücken. Sie stolperte und stürzte zu Boden. Ohne sie zu beachten hastete ich zur Kommode und griff nach dem Holzstiel. Ein Spaten! Der würde es tun.

Ich wirbelte herum und sah Anni entgegen, die sich wütend aufheulend aufrappelte. Bei ihrem Sturz hatte sie sich nicht abgefangen und war direkt auf ihr Gesicht gefallen. Die Nase war zerquetscht und eingedrückt, die geleeartige Haut schälte sich von ihrer Stirn. Mit einem Schrei stürzte sie sich auf mich. Fast zu spät holte ich mit dem Spaten aus und knallte ihn ihr ins Gesicht. Das erste Geräusch war das von Gummistiefeln im Schlamm. Dann folgte ein Knacken. Ich hatte ihr das Genick gebrochen. Ihr Körper sackte leblos zu Boden. Dieses Mal für immer.

Die Schaufel glitt mir aus den Händen und kam scheppernd auf den nassen Fliesen auf. Meine Knie gaben unter mir nach. Was hatte ich getan? Was hatte ich nur getan?!

Zitternd kroch ich zu Annie. Sie lag auf dem Rücken, der Kopf in einem unnatürlichen Winkel abgedreht, ebenso ihr rechter Arm, den sie unter ihrem Körper begraben hatte.

Vorsichtig stupste ich sie an. Keine Bewegung. Sie war wirklich tot.

Ich schlang ihr die Arme um die Taille und zog sie an mich heran. Sah weder ihr verrottendes Fleisch noch roch ich den Verwesungsgestank. Auch die Maden, die aus ihren Wunden gefallen und in meinem Schoß gelandet waren, bemerkte ich nicht.

»Es tut mir so leid, es tut mir so leid.« Ich hielt sie in meinen Armen und wog sie vor und zurück. Sie war federleicht, nur Haut und Knochen. Allein der animalische Hunger hatte ihren Körper in Bewegung gehalten.

Nach einer Weile ließ ich sie zärtlich von meinem Schoß auf den Boden gleiten. Ich strich ihr die Haare aus dem Gesicht und faltete ihre Hände vor ihrer Brust. Als ich ihr die Augen schließen wollte, blieben die Lider an meinen Fingern kleben und rissen. Angeekelt wedelte ich mit meiner Hand, bis sie davonflogen.

»Ich liebe dich, Anni«, flüsterte ich und hauchte ihr einen Kuss auf die Stirn, darauf bedacht, sie nicht zu berühren. Mit schmerzenden Gliedern erhob ich mich, strich mir dabei die Maden von der Jeans, sah noch ein letztes Mal auf meine Verlobte hinab und wandte mich dann dem Haus zu. Mein Überlebenskampf hatte gerade erst begonnen.

Ich trat einen Schritt vorwärts. Mit wild rudernden Armen versuchte ich mich an der Kommode festzuhalten, als mein Schuh plötzlich auf den nassen Steinen unter mir wegrutschte. Meine von Annis Blut glitschige Hand rutschte über die Kommode. Über mir sah ich das Vordach des Hauses. Zu meiner Seite flogen die Gitter an mir vorbei. Ich schlug mit dem Hinterkopf auf und Dunkelheit umfing mich.

***

Licht. Kein Schmerz. Bewegen. Sehen. Blut an ihrem Kopf. Blut auf dem Boden. Blut an meinen Händen. Hunger. Blut lecken. Hunger. Altes Blut. Frisches. Gehen. Suchen. Hunger.