GONDWANALAND

CAROLIN GMYREK

Die schwüle Hitze machte ihm schwer zu schaffen. Er hatte starke Kopfschmerzen und überall roch es nach Affenpisse. Aber die Arbeit musste getan werden. Für die Zukunft und für eine ausgewogene Ernährung. Der Garten war ohnehin eine willkommene Abwechslung vom langweiligen Alltagstrott. Mechanisch bearbeitete er die kleinen Felder mit einer Hacke, die durch die feuchte Tropenluft eine rostig-rote Färbung angenommen hatte. Die monotone Arbeit, die immer gleichen Bewegungen und dazu das ferne Vogelgezwitscher wirkten fast hypnotisierend. Beinahe konnte er vergessen, in was für einer Welt er lebte und was außerhalb dieser Welt auf ihn lauerte. Schwarze Wolken hatten sich den Himmel einverleibt und drohten mit einem nahen Unwetter. Aber selbst das war in diesem Moment unwichtig. Es ließ sich hier ja auch gut leben, zwischen Farnen und Palmen, Affen und Tapiren. Hier war es warm - zugegeben etwas zu warm -, sicher und es mangelte eigentlich auch nicht an Nahrung.

Zufrieden mit der heutigen Tagesarbeit packte er die Harke zurück zu den anderen Gartengeräten, wischte sich den Schweiß von der Stirn und anschließend mit einem Tuch von Nacken und Schultern. Vielleicht sollte er sich heute Abend wieder unter den Wasserfall stellen, auch wenn sein Schweiß zwischen all den anderen unangenehmen Gerüchen kaum wahrnehmbar sein und es vermutlich niemanden gab, der sich daran stören würde. Und nach der Dusche würde er sich Banane und Ananas gönnen und vielleicht zur Feier des Tages auch einen Schokoriegel aus der Kühltruhe. Endlich war der Garten bestellt und wenn er Glück hatte, dann würden auch die Affen ihre diebischen Finger von dem Gemüse lassen, das dort heranwuchs. Zufrieden pflückte er sich noch einen Tarostängel, auf dem er genüsslich herumkaute, während er sich auf den Weg zu seiner Unterkunft machte. Vielleicht konnte er in den letzten hellen Minuten noch einmal die Maschinen kontrollieren. Prüfend blickte er in den Himmel und fragte sich, welche hellen Minuten er wohl meinte. Es hatte begonnen zu schneien.

***

Tag X + ach … mir doch scheißegal, welch verfluchter Tag heute ist.

Diese Schmerzen sind unerträglich. Verdammt, wie hatte das nur passieren können? Ich habe doch immer aufgepasst, immer darauf geachtet, was ich tue. Bloß keine Risiken eingehen. Nicht einmal bei diesen verfluchten Affen. Aber jetzt sehe ich alles verschwommen und doppelt. Mein Schädel ist kurz vor dem Explodieren und ich glaube, dass ich auf dem Weg hierher etwas zu oft in die Bewusstlosigkeit gefallen bin. Ich habe versucht, die Wunde am Arm mit Palmenblättern und etwas Salbe zu verbinden, aber sie blutet noch immer, hört gar nicht mehr auf und entzieht mir das letzte Fünkchen Leben.

Seit zwei Tagen geht das jetzt schon so. Ich habe Fieber, das spüre ich. Die Haut um die Wunde brennt wie Feuer und ich glaube, der Biss hat sich entzündet. Jetzt wünsche ich mir, ich hätte auch eine Möglichkeit gehabt, Marihuana anzubauen. Es würde mir bestimmt einige Schmerzen abnehmen, den Tod versüßen.

Frage mich gerade, ob es überhaupt noch etwas bringt, zu schreiben. Kann ja meine eigene Schrift kaum mehr lesen, so sehr zittere ich. Und wen interessiert es schon, was ich in meinen letzten Stunden zu denken glaube. Wenn es da draußen überhaupt noch jemanden gibt, der sich für irgendetwas interessieren könnte. Denke ja nicht. Glaube, da ist niemand mehr. Werde es ohnehin niemals erfahren, werde vorher diese beschissene Welt mit einem freudigen Jauchzen verlassen, mit Kopfexplosionen und Wahnvorstellungen. Denn ich kann sie hören, die da draußen. Oh, wie sie sich ärgern werden. Habe ihnen ihren Nachmittagsnack verdorben. Die bekommen mich nicht. Niemals!

Und die Affen auch nicht.

Gott, kann dieser verdammte Arm nicht einfach abfallen? Ich könnte ihn dann als Keule verwenden, während ich verrottend Salsa tanze.

Ich frage mich gerade, was passiert, wenn ich überlebe. Keine Ahnung, wie lange mein letzter Eintrag her ist, aber es müssen Stunden sein. Ich bin mit dem Stift in der Hand in meinem eigenen Erbrochenen wieder aufgewacht, welch Ironie. Ich bin zum Eingang meiner Unterkunft gerobbt und habe die Schäden gesehen, die das Wetter angerichtet hat. Es ist kalt und stickig. Es stinkt … oder kommt das von meiner Wunde? Die Pflanzen lassen ihre Blätter hängen und ich höre den Wasserfall nicht mehr. Selbst die Vögel sind leise, als spüren sie den nahen Verfall. Ohne mich wird das System zusammenbrechen. Alles wird mit mir sterben, aber auch ich werde mit ihnen untergehen. Welch Ironie … oh ja, das ist es. Ob ich den Biss überlebe? Es ist einerlei. Ohne Wartung stirbt diese Welt und ich bin zu schwach. Es ist eh zu spät. Irgendwie auch gut so. Mir wird dauernd schwarz vor Augen, ich huste Blut und spucke Galle. Ich weiß nicht, ob ich noch einmal aufwachen werde. Wäre schön. Will die Affen sterben sehen! Steven aber nicht. Vielleicht kommt er irgendwie durch. Würde es ihm wünschen.

Vielleicht lebt da draußen doch noch jemand. Wenn ja, dann herzlichen Glückwunsch. Ihr seid im Paradies.

***

Unglaublich. Er hätte es beinahe übersehen, diesen ersten Schnee des Jahres. An diesem Ort vergaß man die Zeit und auch die Welt da draußen. Ob er den Jahreswechsel ebenfalls verschlafen hatte und Weihnachten? So viel war ihm genommen worden, so viel Schönes und Unvergessliches. Und er hatte es vergessen müssen. Ganz langsam spürte er, wie ihm die Zeit die Bilder von Vergangenem aus dem Kopf saugte und nur die Alpträume übrig blieben. Er wusste nicht einmal mehr, ob Lina braune oder grüne Augen gehabt hatte. Aber die Leere, an die erinnerte er sich. Wie sie ihn angesehen hatte, bevor er die Welt da draußen verlassen hatte.

Lina hatte Schnee geliebt. Als er diesen Ort fand, hatte es Asche geschneit, doch nun schien ihm die Welt da draußen rein, fast friedlich.

Er war ohnehin bereits auf dem Weg zum Baum gewesen, nun rannte er förmlich. Bei jedem Schritt schlugen ihm Farne gegen die Beine und Lianen in die Augen, aber selbst die Affen, die hysterisch aufschrien, konnten ihn nicht aus seiner Euphorie reißen. Sie rannten und sprangen neben ihm her, brüllten und keiften. Es hinderte ihn nur wenig. Heute würden ihm weder Affen noch Hitze den Mut nehmen. Heute gäbe es keine Dusche, keine Ananas und keine Banane. Heute wollte er nur den Schnee fallen sehen.

***

Tag X+100

Liebes Tagebuch,

interessant. Wir haben ein Jubiläum. Das erste in der neuen Rechnung. Also abgesehen von Tag X+10 und X+50 … oder X+25 und X+75 … aber egal. Ich mache trotzdem etwas Besonderes daraus.

Zur Feier des Tages gebe ich Steven sogar eine Extraration. Das hat er sich verdient, wo er doch immer an meiner Seite ist, wenn ich ihn brauche. Ich glaube, er wird sich darüber freuen. Er war in letzter Zeit so träge und wortkarg. Ich selbst gönne mir vielleicht eine Sternenfrucht und ich glaube, im Restaurant noch eine Flasche Wein gesehen zu haben. Eine, die tatsächlich meine große Sauferei überlebt hat. Ich werde sie nachher holen gehen und gleich einmal die Eingänge kontrollieren. Man kann ja nie vorsichtig genug sein. Nachher schleicht sich doch noch einer dieser untoten Wichser ein und öffnet den anderen Tür und Angel. Der Gedanke bereitet mir eine Gänsehaut. Abgesehen von Affen und Krokodilen habe ich hier nichts, mit dem ich mich verteidigen kann. Vielleicht noch die Schaufel, aber die hat ihre besten, rostfreien Tage schon hinter sich. Wenn die hier reinkommen, bin ich verloren. Umso wichtiger ist die Kontrolle der Türen, auch wenn ich dann wieder nächtelang nicht schlafen kann, weil sich ihr Stöhnen und Kratzen in mein Hirn einbrennt. Tut mir leid. Das hat mir gerade die Feierlaune verdorben. Ich werde später wieder schreiben.

Mein kleiner Raubzug war erfolgreich. Ich hatte damals tatsächlich eine Flasche übersehen. Und nicht nur das. Ich habe im Shop Gemüsesamen gefunden. Karotten und Schoten. Wenn ich nur daran denke läuft mir das Wasser im Mund zusammen. Nicht mehr nur Früchte und Fisch. Nicht nur noch Geflügel und gebratener Affe. Jetzt kann ich auch mal wieder etwas Gemüse essen.

Vielleicht eignet sich der kleine Gewürzgarten zum Anbau. Ich habe zwar keine Ahnung vom Gärtnern, aber so schwer kann das schon nicht sein. Und hier gibt es eh keine Jahreszeiten mehr, keine Monate und Jahre. Hier gibt es nur Hitze und Affengeschrei.

Steven schaut mich gerade mit großen Augen an. Ob er gehört hat, dass … so ein Quatsch. Ich spreche doch nicht, ich schreibe. Wie soll er das bitteschön hören. Ich werde ja langsam paranoid. Darüber war ich doch schon hinaus, oder etwa nicht? Hat mein Hirn das noch immer nicht verarbeitet? Ich wünschte, es würde noch ein Psychiater leben. Aber das wünsche ich mir ja andauernd. In Wahrheit lebt überhaupt niemand mehr. Nur ich und Steven … und all die anderen Tiere, die mit uns hier sind.

****

Sein Herz raste, als er den Baum erreichte. Ganz sicher war er sich nicht, ob es nur vom Rennen und von der Hitze kam. Seine Kondition war eigentlich in der letzten Zeit viel besser geworden. Schwer atmend stützte er sich erst an der kalten Haut des Baumes ab, bevor er seinen Blick in den Himmel richtete. Zwischen Palmenblättern und falschen Ästen sah er noch immer die schwarzen, aufgetürmten Wolken und die dicken, weißen Flocken, die langsam auf das Kunststoffdach fielen. Er lächelte. Es war Schnee, keine Asche. Da entstand etwas Neues zwischen all dem Tod.

Noch immer keuchend schlurfte er um den Baum herum, trat durch das große Loch, das nach innen führte, und genoss für einen Moment die künstliche Kühle. Aus was der Baum tatsächlich bestand, wusste er nicht. Sicherlich aus irgendeiner Kunststofflegierung, die auch für die Wände in Terrarien verwendet worden war. Der Baum war hohl, bis auf eine Wendeltreppe, die bis über die Wipfel auf eine Aussichtsplattform führte oder hinab unter die Erde, wo das Herz dieser Welt kränklich schlug. Dabei war dieses Konstrukt wie eine Lunge, die das gesamte Gebiet belüftete und die Maschinen am Leben erhielt. Der wichtigste Teil des hier existierenden Lebens und doch in diesem Moment nicht mehr als eine Aussichtsplattform, um den Schnee beim Fallen zuzuschauen.

***

Tag X + 64

Irgendwie vermisse ich sie. Ich sehe sie zwischen den Ästen und Blättern toben und singen, aber ich werde niemals wieder so nah an sie herankommen. Vermutlich können sie sich nicht einmal an mich erinnern. Ich bin zwischen Katzen und Affen nur eine weitere Gefahr.

Dennoch bin ich auch ein wenig stolz.

Man vergisst so schnell, in welcher Gefahr man lebt, welch Tod und Zerstörung man hinter sich gelassen hat. Und in diesem kleinen Refugium, in dieser kleinen Utopie entsteht noch immer Leben. Wie melodramatisch, wie ironisch.

Ich beobachte sie gerne, während ich einen Salat esse. Manchmal auch, wenn ich auf die Plattform klettere und sie über die Baumwipfel fliegen sehe. Dabei fürchte ich, dass sie wegfliegen, durch die geöffneten Fenster, wie damals die Kanarienvögel. Da draußen würden sie bestimmt nicht überleben, aber geschlossen kann ich die Fenster auch nicht halten. Ich kann nur für sie hoffen. Meine Kinder sind flügge geworden.

Heute hab ich das letzte Aquarium geschlossen. Der Gestank hätte mich beinahe umgebracht, aber ich habe ja gewusst, dass es auf Dauer keine Möglichkeit für diese Tiere gibt. Ich kann mich nicht um alle kümmern und der Strom reicht nun einmal nicht aus. Zumal ich das Gefühl habe, dass die Leitungen bald sterben werden. Immer wieder kommt es zu Stromausfällen und wenn dann die lange Nacht anbricht, muss ich vorbereitet sein. Der kleine Notstromgenerator kann nicht ewig und nicht alles am Leben erhalten.

Tag X + 29

Sie haben das Nest verlassen. Da schaut man mal drei Tage nicht hin und schon sind sie weg. Zuerst habe ich gedacht, dass die Affen sie schlussendlich doch noch geholt haben, aber dann habe ich sie gesehen. Die zwei kleinen Finken, zwischen all den Farnen. Sie sind wunderschön mit ihren hellroten Schnäbeln und dem grauen Gefieder. Manchmal fehlt mir die Zeit, manchmal die Lust, dieses Theater beizubehalten. Diese schöne, heile Welt und drumherum die Hölle. Dann will ich schreien und schreien und schreien, aber eben nicht schreiben. Aber jetzt sitze ich hier in meinem kleinen Häuschen auf einem Haufen Kuscheltiere und beobachte kleine Finken. Es spielt in diesem Moment keine Rolle, ob es einen Sinn macht.

Mein letzter Eintrag ist etwas länger her. Sind auch nur wenige Worte oder Sätze. Manchmal steht auch nur das Datum, dann nichts mehr. Als wären diese Tage nicht vorhanden gewesen. Vielleicht waren sie es auch nicht. Ich kann mich nicht erinnern. Diese Tage, egal was dort geschehen sein mag, werden nicht mehr existent sein, sobald ich nicht mehr existiere …

Laut diesen Büchern, die ich in der langen Zeit an diesem Ort gelesen habe, wird circa ein Monat vergangen sein. Zwei Wochen für den Schlupf und noch einmal zwei Wochen, bis sie das Nest verlassen konnten. Gott, waren sie hässlich, aber irgendwie auch etwas Besonders. Das Nest der Finkenfamilie war in einen der größeren Bäume nahe der Plattform erbaut worden. Ich könnte nun meine noblen Absichten der Rettung dieser kleinen vier Eier anbringen und von meiner Heldenhaftigkeit schwärmen, als ich gegen die Affen kämpfte. In Wahrheit hatte ich nur Hunger auf ein Omelett. Es war nicht das erste und würde auch nicht das letzte Mal sein, dass ich ein Nest plündere. Die Affen standen also nicht meiner Nächstenliebe im Weg, sondern meinem Mittagessen.

Es war jedoch der Kampfeswille der Eltern gewesen, der mich so berührte. Die Vogelmutter kämpfte unerbittlich um ihre vier Kinder. Dieser Mut erinnerte mich an Annemarie und an Lina. Mehr will ich darüber nicht schreiben. Es soll weder meine Handlungen erklären noch einen vielleicht doch noch lebenden Psychologen dazu anhalten, ein mentales Bild meines Charakters zu erschaffen. Ich habe Fehler gemacht, ok! Es ist vorbei! Die Vögel leben, Annemarie und Lina nicht.

Sie haben mir Mut gegeben. Diese zwei geschlüpften Küken. Dass es vielleicht besser wird. Steven ist zwar ein guter Freund, aber nachdem, was mit Karl und Margareth geschehen ist, kann ich ihn nicht mehr ernstnehmen. Es fühlt sich nun nicht mehr richtig an, was ich hier tue. Als wäre ich aus einem langen Traum erwacht. Ich erwache dauernd aus Träumen, aus Alpträumen.

Vielleicht sollte ich wirklich aufhören, zu trinken.

***

Die Stadt brannte noch immer. Es war die untergehende Sonne, die diese Inszenierung so real werden ließ. Der Schnee spielte die vom Wind gepeitschte Asche und die schwarzen Wolken stellten den Qualm. Ein vom Schicksal geplantes Déjà-vu, dachte er. Alles nur, um ihn zu quälen und zu demütigen. Manchmal glaubte er sogar, ihr Stöhnen zu hören. Sie riefen nach ihm und den Tieren. Sie riefen nach den Finken und Steven und nach dem Leben, das sie selbst nicht mehr hatten.

Er stand auf der Plattform und beobachtete es schweigend. Von hier aus konnte er nur die Ruinen sehen, aber nicht die Straßen, auf denen sie wankten.

Am Anfang waren noch ab und an Flugzeuge über die Stadt geflogen und hatten Hoffnung gebracht. Nun kamen keine mehr und die Stadt und die Welt da draußen versank.

Dennoch war diese vom Himmel gespuckte Reinheit atemberaubend schön. Sanft legten sich die weißen Flocken auf die künstlichen Kissen und schmolzen in der abgegebenen Wärme des Tropenhauses. Wie kalt es wohl draußen war? Der Schnee deutete eher auf einen milden Winter hin, aber er würde sich auf diese alte Erinnerung nicht verlassen. Einen Moment noch.

Die Zeit zog dahin, er wusste nicht, wie schnell. Die Sonne war längst untergegangen, als er das leise Schnurren der Motoren hörte. Der Strom wurde umgeleitet und speiste nun anstatt des Wasserfalls die Fensteranlage und die Lüftungen. Wenn er sich genau erinnerte, wurde die über den Tag gespeicherte Wärme nun zum Heizen der Anlage genutzt. Demnächst sollte er schauen, wie viel Strom dafür verwendet wurde, seit er die Aquarien abgetrennt hatte. Vielleicht konnte er eine leichte Verbesserung der Versorgung feststellen, die er für eine weitere Kühltruhe verwenden konnte.

Schade. Er konnte einfach nicht loslassen. Selbst bei diesem wunderschönen Anblick der Naturgewalten. Mit einem Seufzer wandte er sich vom Himmel ab, als er das leise, mechanische Klicken wahrnahm. Unweit und es kam von oben. Als würde jemand ganz sachte gegen Kunststoff klopfen. Er drehte seinen Kopf in die Richtung, aus der das Geräusch kam und erstarrte. Eins der Fenster hatte sich nicht geschlossen und der Schnee rieselte hinein.

***

Tag X

Liebes, liebes Tagebuch,

ich habe schon wieder die Zeit vergessen. Ich habe alles vergessen und vergessen wollen. Der Alkohol half dabei. Welcher Tag ist heute? Die Kalender helfen mir nicht mehr.

Ich habe beschlossen, da der letzte Eintrag bei Tag 98 stattgefunden hat, dass heute Tag X ist. Morgen dann Tag X + 1. Sollen doch andere im Nachhinein herausfinden, welcher Tag es sein könnte. An Wetterphänomenen oder Sternstellungen oder was weiß ich.

Aber ich will versuchen, die Tage zusammenzufassen, die ich hier übergangen habe.

Karl und Margareth sind tot. Ich habe keine Ahnung, was mit ihnen geschehen ist. Jeden Tag habe ich mit ihnen gesprochen, durch das kleine Telefon. Jeden Tag habe ich ihr freudiges Klicken und Keckern gehört und am letzten die Melodie von »The show must go on«. Ich war so dumm, so verblendet. Wahnsinnig von alldem, was geschehen ist. Das beschreibt es ganz gut.

Margareth und Karl, Karl und Margareth, die mir so gute Freunde gewesen waren. Wie lange sie wohl schon tot waren? Tatsächlich kann ich es nicht sagen. Am Tag zuvor hatte ich noch durch den kleinen Holzhörer mit ihnen gesprochen. Ich habe sie gefragt, ob es ihnen gutginge und sie haben mir geantwortet. Und dann, am nächsten Tag, war ich wieder da, auf meinem täglichen Rundgang. Ich nahm den Hörer ab und lauschte dem freudigen Quieken ihrer zarten Stimmen. Sie sprachen zu mir und ich zu ihnen, bis ich es bemerkte. Im Becken des Geheges, in dem Karl und Margareth lebten, schwamm etwas im Wasser. Zuerst dachte ich, es wären Blätter und Algen, die sich vom Boden gelöst hatten, doch dann erkannte ich die leeren Augenhöhlen, das Gebiss, die Knochen. Es war ein toter Otter. Der zweite war bereits vom Wasser ans Ufer getrieben worden. Kein Wunder, dachte ich, dass ich sie so lange schon nicht mehr gesehen habe. Sie sind tot und ich rede mit ihnen. Mit Toten, die meine Freunde waren. Ich habe Steven nichts davon gesagt.

Die Tage darauf verbrachte ich wieder mit Saufen. Es war so einfach, alles aus dem Kopf zu löschen, wenn man einfach nichts mehr denken wollte, seine eigene Verrücktheit vergessend.

Ich hätte mich zu Tode gesoffen, wenn ich die Gelegenheit gehabt hätte. Ich habe in der Zeit Gehege zerlegt, Beschriftungstafeln zerstört und drei Affen getötet, deren Köpfe ich aufgespießt habe. Die anderen Affen beeindruckt dies jedoch nur wenig. Das war jedoch noch, bevor sie mir das Leben retteten. Volltrunken bin ich durch dieses falsche Paradies gestolpert, ohne auf meine Schritte zu achten. Alles war zerbrochen, meine Träume und Hoffnungen, ohne Karl und Margareth. Dann fiel ich. Ich fiel und landete tief auf kaltem, nassem Stein. Mein Kopf schmerzte und alles drehte sich, bevor ich merkte, dass ich quer durch die Zeit gefallen war. Direkt von einer Apokalypse zur nächsten in das geöffnete Maul eines Urzeitriesen. Das Krokovieh lag unweit von mir. Träge hatte es mich wahrgenommen und trottete nun auf mich zu. Es musste ausgehungert sein und es war riesig. Köstritzer hieß das Vieh. So habe ich es genannt, damit ich zu Steven sagen kann, dass mich Köstritzer beinahe getötet hatte. Ich konnte mich kaum bewegen. Ich warf meine Flasche nach ihm, doch Köstritzer schien schon daran gewöhnt. Es schnappte nur kurz nach dem Glas, bevor es sein weites Maul aufriss, um mich zu verschlingen. Diesen Eintrag würde es nicht geben, wenn nicht ein Affe gewesen wäre, der vom Himmel wie ein Engel fiel und als Ablenkung diente, während ich aus dem Gehege fliehen konnte. Mir zittern noch immer die Knie. Zur Beruhigung brach ich die Spendenbox am Eingang des Tropenhauses auf. So ein großes, rundes Ding, bei dem die Kinder auf einen Elefanten einen Kreuzer steckten und dieser dann Runde für Runde seine Kreise drehte, bis er im ewigen Schwarz verschwand. Ich saß wohl Stunden da und tat genau das. Schaute den Geldstücken zu, wie sie verschwanden, bis ich sie wieder herausholte und erneut in den Abgrund schickte. Dabei dachte ich nichts und alles und vergaß, welcher Tag wohl sein könnte.

***

Der Versuch, das sich nicht schließende Fenster zu ignorieren, erwies sich als schwieriger als erwartet. Noch war er nicht zu seiner heimischen Unterkunft zurückgekehrt und vermutlich würde er es heute Nacht auch nicht mehr tun. Stattdessen war er in die Räume unterhalb des Tropenhauses gestiegen, um die Anzeigen zu kontrollieren. Soweit er sich erinnerte, wurde in den vergangenen Wintern, als die Welt noch funktionierte, dieses Tropenhaus in besonders kalten Nächten durch Fernwärme am Leben erhalten. Jedoch bezweifelte er, dass die Stadtwerke den Zoo überhaupt noch mit Wärme beliefern konnten. Er wusste ja nicht einmal, wie lange diese Hauptstromleitung noch versorgt wurde. Sicherlich war da draußen niemand mehr, der Strom benötigte, außer vielleicht das Militär, das für die noch halbwegs funktionierende Leitung verantwortlich sein könnte.

Ob dieses gebrechliche Konstrukt und der Notstrom ausreichen würden, um das riesige Gelände klimatisch zu regulieren? Genau das musste er nun beobachten. Es konnte doch nicht sein, dass nur ein einziges, sich nicht schließendes Fenster ausreichte, um den mühsam aufgebauten Kreislauf zu zerbrechen. Aber die Anzeigen schienen von klarer Deutlichkeit. Die Maschinen kämpften gerade gegen ein großes Problem. Irgendetwas blockierte die Hydraulik und das sollte schnellstens behoben werden, bevor die Motoren heiß liefen.

Mit einem Seufzen löschte er die kleine Taschenlampe und beobachtete im Dunkeln die blinkenden Lichter. Erst dachte er darüber nach, ob er den Strom für diese Nacht komplett abstellen sollte, aber zu groß war die Angst, dass er danach überhaupt nicht mehr anspringen würde. Also konnte er nur auf den neuen Tag und die Sonne warten, bevor er versuchte, die Tropenhauswand zu erklettern und den Störfaktor zu entfernen. Hoffentlich hatte es dann aufgehört zu schneien.

***

Tag 98

Ich bin über den Zaun geklettert und habe mich neben Steven gesetzt. Er knabbert genüsslich an ein paar Zweigen, während ich eine Kiwi löffle. Nebenher beobachten wir die fiesen Mistaffen, die sich um ein trockenes Brot streiten und wir lachen. Oder ich lache. Keine Ahnung. Wir versuchen beide mit der neuen Situation dieser WG zurechtzukommen. Steven ist ein Zwergflusspferd und heißt eigentlich anders. Aber ich kann mir seinen Namen nicht merken, weshalb ich ihn nach einem Kollegen aus dem Büro nannte. Ob der Kerl lebt? Vermutlich nicht.

Jedenfalls ist Steven sehr kuschelbedürftig. Vielleicht macht es die Einsamkeit. Alle anderen Tiere haben irgendwelche Partner, nur Steven nicht.

Neben all den Gefahren stellte sich mittlerweile eine Art Tagesablauf ein. Es ist schön, etwas zu tun zu haben. Etwas anzupacken und zu überleben. Ich kann ausschlafen. Das ist das Gute an einer entmenschlichten Zivilisation. Danach mache ich mir ein schönes Frühstück und dann einen Rundgang durch die Anlage. Es ist schwer und traurig. Immer mehr Tiere verenden, besonders die Fleischfresser, aber ich kann mich nicht um sie alle kümmern. Vegetarier zehren so lange sie können von den Pflanzen, die über die Absperrungen der Gehege wachsen. Allein die freilaufenden Affen und die Echsen scheinen keine Probleme zu haben. Ich versuche, so viele Tiere wie möglich zu versorgen. Sie sind doch meine Freunde, meine Gefährten. Aber es reicht nicht. Die Katzen bekommen Fisch, genauso wie Karl und Margareth. Ab und an werfe ich die Reste von meinen Essen in die Gehege, aber das reicht nicht.

Oft kontrolliere ich auch die Anlagen und Generatoren, einmal in der Woche reinige ich die Lüftungen. Das ist wichtig, damit alles funktioniert und am Laufen bleibt.

Die Affen sind die größte Gefahr. Nachdem ich die Elektrozäune und automatischen Schließanlagen vom Netz genommen habe, sind sie überall. Sie sind nervös und aggressiv. Ohne einen Knüppel kann ich nicht mehr herumlaufen. Aber das ist ok. Besser lebende Affen als tote Menschen, irgendwie.

Tag 91

Ich lebe. Das Geräusch aus dem Tunnel war nur die Luft. Dennoch werde ich noch heute diesen elenden Tunnel endgültig verschließen und ihm den Strom nehmen. Sollte da doch etwas sein, so wird es elendig darin verrecken.

Tag 90

Hey Tagebuch,

ich versuche, einen klaren Kopf zu behalten. Der Alkohol ruft und mein Körper fühlt sich matt an. Jede Nacht werde ich von Alpträumen geplagt. Ich wache schreiend auf, weiß nicht, wo ich bin. Ich glaube, in solchen Situationen ist Paranoia aber ok.

Bald habe ich den Umzug geschafft. Ich werde den Shop und das Restaurant vermissen, aber ich könnte in der Nähe dieser Türen nicht mehr schlafen.

Heute war ich wieder angeln. Diese Fische sind riesig und lecker. Sie heißen Ara … Ara … ach, keine Ahnung. Das muss ich mir auch nicht merken. Wer weiß, wie lange diese Tiere überhaupt noch leben. Einige Aquarien sind bereits umgekippt, andere stinken erbärmlich. Aber ich kann sie nicht reinigen. Wie es wohl den Tieren in der Vulkangrotte geht? Vermutlich sterben sie auch gerade. Aber ich brauche den Strom. Ansonsten geht doch hier alles zugrunde. Kollateralschaden, oder nicht?

Ich liebe es, mit den Ottern zu sprechen. Manchmal habe ich das Gefühl, stundenlang bei ihnen zu sitzen, das hölzerne Telefon an mein Ohr zu halten und ihrem Gesang zuzuhören. Sie sind immer fröhlich und glücklich und aufmunternd. Sie erzählen mir Witze, hören sich meine Sorgen an und befreien mich von meinen Bedenken. Ich glaube, sie sind neben Steven meine besten Freunde an diesem Ort.

Es ist spät. Ich habe mir eine Kerze angezündet, um noch ein paar Worte schreiben zu können. Vielleicht werde ich diese Nacht endlich sterben. Die Geräusche aus diesem elenden Tunnel werden immer lauter und lauter. Das Stöhnen dieser Bestien brennt sich in meinen Schädel ein und verpestet meine Abende.

Ich höre sogar die da draußen. Die, die nicht an mich herankommen, aber auf mich warten. Sie sind in einer völlig anderen Welt. Das hier drin ist eine Gefahr. Ich kann nur hoffen, dass ich mich irre. Morgen gehe ich mit einem Knüppel los und schaue nach. Vermutlich mein letzter Eintrag. Es tut mir leid, Annemarie, es tut mir leid, Lina.

Tag 83

Mit Nachdruck arbeite ich an der Anlage. Wenn ich den Stromfluss beeinflussen und umlegen kann, dann kann ich unwichtige Versorgungen komplett unterbinden. Eine Liste habe ich schon angefertigt. Wichtig sind die Lüftungsanlagen, die Fenster, der Wasserfall, die Heizungen und die Türen. Alles andere könnte entbehrlich sein. Wenn noch etwas an Strom übrig bleibt, kann ich in ein paar Tagen noch eine Kühltruhe aus dem Restaurant verlegen und vielleicht auch ein Kabel für eine Lampe.

Tag 79

Ich versuche mich abzulenken. Das Zusammentreffen mit diesem Wesen hat mich kaputt gemacht. Die Augen dieser Frau werden mich für ewig verfolgen, genau wie Linas. Kurz war ich versucht, wieder zur Flasche zu greifen, aber ich darf nicht. Dann hätte das hier alles keinen Sinn mehr.

Der Umzug war gut, auch wenn es nicht viel gebracht hat. Ich habe nun Freunde, Mitbewohner sozusagen. Das Flusspferd und diese kleinen Tropenrehe sind tolle Tiere, die einem ein Lächeln ins Gesicht zaubern können. Die verfluchten Meeraffen aber rauben mir den Verstand. Es sind bösartige, zähnefletschende Tiere, die rumkreischen und zetern. Gestern habe ich gesehen, wie eine Ente ihren Kopf durch den Zaun gesteckt hat. Seitdem frage ich mich, ob auch Tiere diese Krankheit bekommen können. Ich hoffe nicht. Menschen bringen einen emotional auf einen Tiefpunkt, aber diese Affen als lebende Tote wären einfach zu viel. In so einer Welt würde nicht einmal mehr ich leben wollen.

Ich lese nun viel. Jedes Buch, das im Shop auslag, habe ich verschlungen, in der Hoffnung, Hinweise auf die Funktionsweise dieses Tropenhauses zu finden. Der zentrale Punkt ist der riesige Baum im Zentrum. Er führt nicht nur den lebenswichtigen Wärmeaustausch durch, sondern führt direkt ins Herz der Anlage, wo die Maschinen sind. Ich habe mir alles genau angeschaut und mit den Werkzeugen aus dem Lager und den Stadtwerken konnte ich einiges umbauen. Manchmal frage ich mich, ob ich nicht zu viel Glück hatte. Ein Jahr zuvor hat der Zoo wegen eines längeren Ausfalls einen Notstromgenerator angebaut, der jetzt durch ein verwinkeltes Lüftungssystem aus brennbaren Stoffen – und davon gibt es hier mehr als genug – Strom erzeugt. Aber das wird keine Lösung auf Dauer sein. Sobald ich die Hauptleitung gefunden habe, kann ich das Tropenhaus daran anschließen, in der Hoffnung, dass die Welt da draußen noch lange existiert und vielleicht gerettet werden kann.

Ich noch mal. Habe ein Flugzeug gehört. Bin mir sicher. Draußen ist etwas explodiert. Hoffentlich schießen sie das Tropenhaus nicht ab. Es wäre ein großes Ziel. Bitte nicht.

***

Wieder und wieder kontrollierte er den Knoten des Seils. Wie hatte er nur so werden können? Er war kein Abenteurer, aber dennoch fühlte er sich jetzt wie Indiana Jones. Die ganze Nacht hatte er nicht schlafen können, aber was hatte es gebracht? Die Anlage hatte kränklich gestöhnt und geschrien, wälzte sich im Fieber der überlasteten Motoren. Irgendwann hatte er entschieden, den Stecker zu ziehen, um am nächsten Tag das Fenster zu reparieren. Sicherlich hätte es vor Zeiten einen Notmechanismus gegeben, der solche Defekte verhinderte, aber seine kleinen Basteleien hatten jegliche Zusatzfunktionen abgestellt. Jetzt musste er eben diese Fehler berichtigen, indem er an der Seitenwand des Tropenhauses bis zum Fenster kletterte und die Blockade entfernte.

Das würde sicherlich nicht leicht werden, aber es war lebensnotwenig. Jeden Tag, an dem sich das Haus weiter abkühlte, würde es schwieriger werden, es wieder zu erwärmen. Er musste jetzt handeln.

Mit klopfendem Herzen testete er den Halt der Eisenleiter, die in der Wand eingelassen worden war, dann begann er den Aufstieg.

Seine Beine zitterten, genau wie seine Arme. Vor der neuen Welt hatte er nicht einmal eine Treppe ohne Schnaufen ersteigen können, nun erkletterte er Tropenhauswände. Auch hier machte ihm die Hitze und die schlechte Luft schwer zu schaffen, aber er musste weiter. Sobald er den oberen Rand der Wand und damit den Sockel des Kunststoffdaches erreicht hatte, band er das andere Ende des Seils an eine der Stützen und hangelte sich dann am Rand bis direkt unter das kaputte Fenster. Das Seil spannte sich und hielt ihn in einer aufrechten Position, während er versuchte auszumachen, was das Fenster offen hielt. Zwischen Schnee und Sonne erkannte er tatsächlich irgendwas Kleines und Dunkles, das sich dort verkeilt hatte. Wenn das schon alles war, dachte er, dann brauchte er sich doch keine Sorgen mehr zu machen. Er würde es entfernen und dann den Strom wieder anstellen. Das war alles.

An seinem Gürtel hatte er einen Stock befestigt, den er nun dafür nutzen wollte, die Blockade zu entfernen, doch er kam nicht richtig heran. Der Stock war zu kurz, sein Arm ebenfalls. Vielleicht auch das Seil. Aber nur eins davon konnte er nun ändern. Mit einem flauen Gefühl im Magen löste er vorsichtig den Knoten, versuchte aber zuvor noch einmal mit Strecken und Stemmen näher an das Übel heranzukommen. Sein Gesicht lief bereits rot an, aber es änderte nichts. Er musste sich von dem Seil lösen. Bisher hatte er sich auch so sicher auf dem Sockel bewegt, warum sollte sich das nun ändern?

Stück für Stück schob er einen Fuß nach dem anderen vor, bis er nah genug heran war, um mit dem Stock gegen das Etwas zu stoßen. Es war weich und stank. Die Federn waren vom Regen und Schnee verklebt. Es war ein Vogel, vielleicht eine Amsel, die sich im Flug im Fenster verkeilt hatte und damit ihr Leben ließ. Armes Tier, dachte er, aber jetzt musst du da weg. Er stocherte so lange auf den Kadaver ein, bis er sich endlich von dem Fenster gelöst hatte und hinab in das unter ihm liegende Gehege fiel. Jetzt musste er nur noch zurückklettern und den Strom wieder anstellen. Draußen schneite es noch immer.

***

Tag 63

Mir zittern noch immer die Knochen. Ich habe unglaubliche Angst, aber ich darf nicht warten. Weder mit den Arbeiten noch mit dem Umzug. Ich muss hier weg, so schnell wie möglich. Bei meinen Rundgängen habe ich ein kleines Häuschen bei den Zwergflusspferden entdeckt. Im Übergang zur Vulkangrotte steht eine Liege, die ich holen könnte. Ich muss hier weg.

Tag 61

Ich höre noch ihr Stöhnen. Sie ist noch da draußen und wartet auf mich. Seit diesem Tag schlafe ich nicht mehr. Ich kann nicht. Alpträume … überall diese Toten. Wenn sie hier reinkommen. Wenn sie es schaffen, dann bin ich verloren und von draußen höre ich ihr Stöhnen.

Tag 58

Oh Gott, oh Gott, oh Gott. Ich habe es geschafft. Ich bin da raus und wieder rein. Oh Gott. Die sind da noch. Alles noch da, keine Einbildung. Ich bin raus, wie ich es gesagt habe. Hätte nicht gedacht, dass es so viele sind. Oder gar keiner. Es war keiner da, wie immer, aber auf dem Rückweg … ich kann nicht, ich will nicht.

Es ist spät. Ich habe mich ein wenig beruhigt. Irgendwie. Im Lager stinkt es wieder nach meiner Kotze. Ich habe mich gleich übergeben, nachdem ich es rein geschafft habe. Wieso habe ich nicht besser aufgepasst? Ich war wieder draußen, um die Läden und die Überreste der Stadtwerke zu plündern. Ich brauche Materialien, Aufzeichnungen und Werkzeug, aber die Kosten dafür sind zu hoch. Sie hat mich überrascht. Eine Frau oder das, was von einer übrig war. Sie trug die Reste eines Tierpflegeroutfits und hat auf mich gelauert. Ich habe sie nicht gesehen, weil ich mich zu sicher fühlte, aber als ich die Tür öffnete, hat sie nach mir gegriffen. Ein Teil ihres Kiefers hat gefehlt und ein Auge. Maden und Käfer sind aus den Überesten ihres Gesichts gefallen. Es war furchtbar. Annemarie, Lina. Ist es das, was aus euch geworden ist? Nein, bitte nicht. Bitte nicht! Ich muss hier weg.

Ich werde die Tür zum Lager und das Restaurant verbarrikadieren. Sobald ich Strom habe, mache ich hier dicht. Morgen ziehe ich um. Ich muss hier weg.

Tag 53

Ich glaube, das Schlimmste habe ich hinter mir. Der Entzug brennt sich in meine Knochen, aber ach, es ist so einfach. Nachdem ich mich wieder gefangen habe, lässt es sich hier ganz gut leben. Es gibt Nahrung im Überfluss, eine riesige Küche und mit den im Shop befindlichen Kuscheltieren konnte ich mir ein weiches Bett bauen. Sie haben hier sogar diese afrikanischen Wurzelmöbel. Ich kann etwas lesen und mich mit dem Spielzeug ablenken. Ich versuche, nicht an den Alkohol zu denken, der eine magische Wirkung auf mich ausübt. Stattdessen bereite ich mich darauf vor, wieder rauszugehen. Ich war schon ein paar Mal draußen. Ich habe Läden geplündert. Bald muss ich mich zu den nahen Stadtwerken aufmachen, um Werkzeuge zu holen. Das ist kein Problem. Sie haben damals in den Nachrichten gesagt, dass der Osten nicht so schlimm betroffen ist, weil die ihre Toten verbrennen. Das ist gut. Das ist sehr gut und macht Hoffnung. Ab und an höre ich auch noch Autos oder Flugzeuge. Da draußen ist noch Leben, Gott sei Dank. Die Stadt brennt zwar, aber das ist bestimmt normal in einer Apokalypse. An den orangenen Horizont werde ich mich wohl gewöhnen müssen.

Der Entzug dagegen ist schwieriger. Ich habe versucht, den Shop wieder herzurichten und wohnlich zu machen. Es gibt hier fast alles, sogar Äste vom Zahnbürstenbaum. Damit kann man sich tatsächlich die Zähne putzen. Und es gibt auch Duschgel und Düfte. Im Restaurant gibt es Eis, Früchte, Fleisch, Öle und Gewürze und Pommes. Das Radio ist zwar ausgefallen, aber das stört mich nicht. Waren eh nur schlechte Nachrichten, die sie brachten. Das Internet vermisse ich ein wenig. Mehr noch vermisse ich den Alkohol. Den brauch ich zum Schlafen. Und ich vermisse meine Schwester und meine Nichte.

Ich werde mir jetzt erst einmal eine Liste schreiben, was ich brauche, dann gehe ich wieder raus. Bin schon ein richtiger Abenteurer geworden, wie in den Spielen. Fühle mich etwas wie in Day Z, finde nur leider keine Waffen. Dummes, dummes Deutschland.

Tag 47

Das Licht ist aus. Einfach ausgegangen. Alles aus … ich bin tot, oder? Der Strom ist weg oder bin ich blind? Höre sie da draußen stöhnen. Gott, das soll aufhören. Das muss aufhören. Weg damit, weg mit dem Alkohol. Ich muss was machen, sonst ist alles vorbei.

Der Notstrom ist an. Ich werde leben. Danke! Wenn es da draußen einen Gott gibt, dann will er, dass ich überlebe.

Tag 45

Lina … Lina … Mein Herzchen. Habe hier einen Affen für dich. Habe ihn ausgestopft. Kannst ihn haben und fressen.

Annemarie. Bist meine Schwester, auch so. Auch ohne Nase und Gedärme.

Tag 42

Die Alpträume fressen mich auf. Die Menschen fressen mich auf. Alles frisst mich auf. Fuck …

Tag 40

Kuckuck … hihi … lebe noch immer. Brumm, Brumm, Hubschrauber. Da draußen brennen Libellen.

Tag 38

Es stinkt hier überall nach meiner Kotze und Pisse. Dabei sind die Toiletten gar nicht so weit. Ich sollte mit dem Trinken aufhören.

Seit Tagen habe ich nicht mehr geschlafen. Tag 38. Jetzt bin ich schon seit über einem Monat hier, aber ich kann mich nicht an die Tage erinnern. Meine Aufzeichnungen sind verwaschen und undeutlich. Das ist schlecht, sehr schlecht. Jetzt begreife ich den Wert eines Tagebuchs. Man kann sich betrinken und dennoch erinnern. Ich werde versuchen, meine Tage besser aufzuzeichnen.

Tag 23

Ich habe meinen Rundgang abgeschlossen. Die Tiere sind unglaublich nervös, aber darauf kann ich keine Rücksicht nehmen. Wie das alles wohl funktioniert? Wie dieser Kreislauf wohl am Laufen gehalten wird? Ich sollte mir das irgendwann einmal genauer anschauen.

Nun, es sieht so aus, als könnte man hier eine Weile leben. Ich koche und brate im Restaurant mein Essen. Es gibt riesige Fische in den Aquarien und das Obst wächst an den tropischen Bäumen. Ich sollte mir Pläne für Fallen machen, um vielleicht die Vögel zu fangen. Ich weiß zwar noch nicht, ob ich sie auch schlachten könnte, aber irgendwann würden auch die Reserven im Restaurant zur Neige gehen. Darauf sollte ich mich vorbereiten. Apropos Reserven. Sie haben Wein. Viel Wein. Und Bier und Sekt. Vielleicht hilft es mir, endlich zu schlafen.

***

Die kalte Luft von draußen machte seine Finger taub. Noch immer hing er an der Wand unter dem Fenster. Der Rückweg war schwerer, als er gedacht hatte. Immer wieder rutschte er ab, aber bisher hatte er sich halten können. Wie ein Affe klammerte er sich in die Ritzen zwischen Wand und Sockel. Seine Hände bluteten und krampften unter der Anstrengung.

Unter ihm lagen die zerschmetterten Überreste des Vogels. Ob er auch nur dem kalten Winter und dem Grauen dort draußen entfliehen wollte? Dieses Paradies war schließlich zur persönlichen Hölle des Tieres geworden.

Sein Paradies. Von hier oben sah es traumhaft aus. Diesen Blickwinkel hatte er noch nicht allzu oft gehabt. Ein wenig drehte er sich, bis er alles überblicken konnte. Die hohen Bäume und den Fluss, der auf einer Seite in den Tunnel floss, durch den damals die kleinen Boote gefahren waren. Er konnte sich noch genau daran erinnern. Lina war so glücklich gewesen. Der Anbeginn der Welt, die Entwicklung allen Lebens und hier ist ihr Ende. Von seinem Standpunkt aus konnte er auch die Totenkopfaffeninsel sehen, mit diesen elenden Viechern. Und das Restaurant und den Zooshop. Eigentlich eine schöne Aussicht auf alles, dachte er und dann verlor er den Halt.

Er konnte sich nicht mehr erinnern, wie es geschehen war. Er hatte einfach losgelassen. Als hätte sein Körper gesagt, dass es jetzt gut sei. Er könne loslassen. Auch das Fallen und Aufprallen war nicht von Bedeutung. Er hatte sich nicht einmal wirklich verletzt. Etwas benommen war er, neben ihm lagen die Reste des Vogels. Eigentlich gut, dachte er, so musste er den schweren Abstieg nun doch nicht meistern. Das Seil hing noch immer an den Pfosten und baumelte im Winterwind hin und her. Zu weit weg, um es zu erreichen. Wo war er überhaupt gelandet? In einem Gehege, das war soweit klar, aber in welchem? Seit damals war er nicht mehr in der Nähe des Restaurants gewesen und beim besten Willen, er konnte sich nicht erinnern, was hier drin gefangen war. Aber vermutlich war es eh bereits tot. Vorsichtig richtete er sich wieder auf. Sein Bein schmerzte doch ein wenig, aber er konnte noch laufen. Nun musste er nur den Ausgang aus diesem Gefängnis finden und den Strom wieder anstellen.

Er klopfte sich den Dreck von der Kleidung und trat danach auf einen Baum zu, der an der Seite stand. Von diesem aus konnte er über die Absperrung klettern. Er war müde, aber dafür würde seine Kraft noch reichen. Mit einem kleinen Sprung konnte er einen halbwegs starken Ast erreichen und sich daran hochziehen. Mit einem beherzten Schwung schaffte er es recht einfach, Halt zu finden. Er, aber nicht der Ast. Es knarrte verdächtig. Er wagte es nicht einmal mehr, sich zu bewegen. Ganz still war er. Aber es half nichts. Der Ast brach und er fiel erneut. Nur folgte dieses Mal Schmerz. So durchdringend und atemraubend, dass er für einen kurzen Moment glaubte, das Bewusstsein zu verlieren. Er war dumm gefallen. Hatte er sich den Arm gebrochen und der Knochen war durchs Fleisch gestoßen? In der kleinen Höhe? Er wagte kaum, nachzuschauen, spürte nur die warme Flüssigkeit, die über seine Haut lief. Stöhnend drehte er den Kopf, versuchte, sich zum Schauen zu zwingen und erstarrte im gleichen Moment. Er hatte sich den Arm nicht gebrochen. Er war gebissen geworden. Von einer riesigen Echse. Er war auf sie gefallen, neben sie … was auch immer. Sie hatte sich vermutlich erschrocken und sich in seinem Arm verbissen. Das Tier hatte bereits wieder losgelassen und zischte bedrohlich. Ihm blieb nichts anderes übrig, als den Schmerz zu schlucken und flüchten. Der Arm war vollständig taub und mit Blut überzogen, sein Herz raste. Er musste hier raus. In seiner Panik warf er sich immer und immer wieder gegen den Drahtzaun. Es riss ihm die Haut auf und brannte sich in seine Schultern. Aber er schaffte es. Der Zaun gab nach. Er taumelte raus und landete in den Farnen der gegenüberliegenden Pflanzen. Dann wurde alles schwarz.

***

Tag 8

Hallo Tagebuch,

oder … hey Tagebuch,

ehm, Hallo Leser …

keine Ahnung. Das ist doch lächerlich.

Lieber Finder dieses Tagebuchs,

ich weiß gar nicht, ob ich was schreiben soll. Habe dieses Buch und Kulis in Hülle und Fülle gefunden und dachte, ich sollte das hier aufschreiben. Damit Überlebende wissen, was geschehen ist. Wie damals die Anne Frank … oder Anna Frank? Keine Ahnung. Kann auch nicht mehr nachgucken. Es gibt kein Internet mehr und ich werde einen Teufel tun, da rauszugehen, um die Bibliothek aufzusuchen.

Ich … das ist doch Scheiße.

Dritter Versuch.

Also … ich sollte von vorne anfangen.

Ich kann das wirklich nicht gut. Noch nicht jetzt. Das ist zu früh.

Vierter Versuch.

Vielleicht doch. Nur etwas, um mich abzulenken. Also wieder von vorne.

Wie bin ich eigentlich hierher gelangt ... Es war Zufall. Ich bin ein Feigling. Ein riesiger, feiger Hund. Sie sind alle tot. Alle! Annemarie und Lina, Karl, Margareth, Steven. Alle sind weg. Draußen explodieren Dinge. Ich weiß nicht, was es ist. Mir auch egal. Hier drin bin ich sicher, ich habe nachgeschaut. Keiner da, weder tot noch lebendig. Ich bin allein und sicher.

Lina war meine Nichte, Annemarie meine Schwester. Ich bin der Loser, der keinen Job hat und bei seiner Schwester leben musste. Ich saß oft zu Hause, zockte und schaute fern. Lina nicht. Lina war schlau für ihr Alter, aber das wusste ich nicht zu würdigen. Sie wollte immer in den Zoo, aber ich hatte keinen Bock darauf, mich zu bewegen, ich fauler Drecksack. Jetzt bin ich hier und Lina tot.

Ich habe keine Ahnung, wie es angefangen hat. Ich lese keine Zeitung und höre kein Radio. Im Fernsehen haben sie kurz von einer Seuche berichtet, aber das klang mir zu sehr nach Vogelgrippe und BSE. Eben nach Massenpanik, weil sie nichts anderes zu berichten hatten. Die Aussagen waren kurz und vage und dann kam wieder was über Supermodels oder Mitten im Leben. Irgendwas halt, bei dem man nicht nachdenken muss.

Ich lebe in einer großen Stadt, in einer Studentenstadt. Die vielen Sirenen machten mich nicht nervös, ich war auf Standby. Alles um einen herum wird ignoriert, es zählte nur die eigene, kleine Welt. Spät aufstehen, Fressen, Fernsehen, Internet und Facebook. Abends vielleicht mit Freunden saufen gehen. Das war mein Leben. Jetzt vermisse ich die Streitereien mit Annemarie. Scheiße, heule ich? Kotze ich? Alles zusammen?

Vor acht Tagen brannte dann die Stadt. Ich war zuhause, meine Schwester auf Arbeit und Lina in der Schule. Im Fernsehen … ich kann mich nicht erinnern, was im Fernsehen kam. Es ist auch nicht so wichtig. Ich zockte gerade und durch die Kopfhörer konnte ich die Lautsprecheransagen des Militärs nicht hören. Meine Realität war eh schon lange nicht mehr die der anderen. Vermutlich fand da draußen gerade ein Krieg statt, aber es hätte genauso gut in meinem Spiel sein können. Irgendwann klingelte es an der Haustür. Ich ignorierte es, doch der Besucher war penetrant. Also schleppte ich mich zur Haustür. Es war das Militär. Sie räumten die Stadt. Ich war verwirrt, schimpfte und zeterte. Ich wollte nicht ohne meine DVDs gehen, ich Idiot. Als sie mich gewaltsam rausschleppten, wollte ich meine Schwester anrufen. Nicht, weil ich mir Sorgen machte, sondern weil ich mich beschweren wollte. Wie konnte sie es wagen, mich in dieser Situation allein zu lassen. Sie hätte da sein müssen. Ich nahm das Handy und war wütend. Fast siebzig Anrufe. Alle von Freunden und Verwandten. Dreißig allein von Annemarie. Ungeduldiges Miststück.

Ich höre mir dauernd ihre letzte Nachricht von der Mailbox an und heule. Der Akku ist bald leer und ich habe kein Ladekabel, aber ich muss es hören.

»Wir lieben dich!«, ruft sie. Ich höre, dass sie weint und dann schreit. Ich höre das Stöhnen, dann stirbt die Leitung.

Aber damals wusste ich es nicht. Ich war nur sauer, nicht weiter spielen zu können. Wir Lebenden wurden in einem Konvoi auf die Autobahn gedrängt. So viele Menschen und die Studenten haben ja kein Auto. Sie liefen oder fuhren Fahrrad. Das Militär war vollständig überfordert. Die Evakuierung war ein reines Chaos. Wer nicht mithalten konnte, wurde zurückgelassen. So auch ich. Ich Fetti McFettfett brach schon nach fünf Schritten zusammen. Aber das war mir egal. Ich erkannte die Gefahr nicht, glaubte nicht. Ich dachte, wenn ich zur Schule meiner Nichte ginge, würde ich dort auch meine Schwester finden und gemeinsam würden wir dann aus der Stadt fahren.

Der Weg war sogar frei. Dieser untoten Wichser waren nirgends zu sehen. Ich erreichte die Schule und traf meine Schwester und …

Es tut mir leid, wenn ich hier abbrechen muss. Ich will und kann nicht darüber nachdenken. Ich bin jetzt hier, das ist, was zählt. Durch den Personaleingang direkt in den Zooshop hinein. Hier sitze ich schon seit Tagen und traue mich nicht in die Halle hinein. Sie lassen die Tiere verrecken, denke ich. Hier kommt keiner hin und holt mich. Ich sitze hier fest. Scheiße …

Annemarie, Lina. Es tut mir leid. Vielleicht seid ihr nun an einem besseren Ort. Ich wünsche es mir für euch. Ich habe kein kleines Paradies gefunden, glaube ich. Und wenn ich aufhöre, zu kotzen und zu heulen, kann ich vielleicht auch überleben. Ich habe ja Tiere schon immer gemocht. Für Lina habe ich auch ein schönes Kuscheltier gefunden. Das würde ihr gefallen.

Ich versuche jetzt zu schlafen, irgendwie, aber ich höre noch immer ihr Stöhnen.

Sie rufen nach mir.