DER RUF

JOSHUA LORENZ

Ich sah Sabine an, dass sie am Ende war, aber trotzdem kam kein Wort über ihre Lippen. Kein Wunder, denn wir waren endlich an unserem Ziel angekommen.

Mainz, die Stadt, die in meiner Vorstellung den Platz des gelobten Landes eingenommen hatte, obwohl sie natürlich genauso verwüstet war wie der Rest Deutschlands. Trotz allem verband ich Hoffnung mit diesem Ort. Nicht nur aus nostalgischer Träumerei, da ich mich an die Stadt am Rhein noch aus der Zeit vor dem Ausbruch der Katastrophe erinnerte, sondern auch aus ganz praktischen Beweggründen.

Mainz war im Vergleich zu den deutschen Metropolen eine eher kleine Stadt. Dadurch hielt sich auch die Anzahl der Leichen, die auf den Straßen auf und ab wankten, in einem überschaubaren Rahmen. Natürlich hätten wir uns auch wieder in einem Dorf einquartieren können, doch unser letzter Versuch, dies zu tun, war letztendlich daran gescheitert, dass wir keine Essensvorräte mehr finden konnten.

Also setzten wir unsere Hoffnungen auf die Stadt, deren Supermärkte und hastig verlassene Wohnungen noch den einen oder anderen Schatz bergen sollten. Als wir also den Rand des Mainzer Stadtgebietes erreichten, war ich mir sicher, dass sich Sabines Gedanken ausschließlich darum drehten, so schnell wie möglich einen Unterschlupf zu finden. Mich allerdings quälte eine ganz andere Sorge, als ich in ihr angespanntes und vom Schmutz des langen Marsches verkrustetes Gesicht blickte. Wir kämpften nun schon seit einem Jahr gemeinsam um unser Überleben. Sabines Züge waren hart geworden, aber ihre Augen hatten den Glanz behalten, in den ich mich verliebt hatte. Damals, bevor die Ersten aus ihren Gräbern stiegen. Aber seit gestern konnte ich nur noch an eines denken: An mein Geheimnis. An das schreckliche Geheimnis, das ich ihr unbedingt mitteilen musste, aber doch nicht über meine Lippen brachte. Mein Geheimnis lag tief verborgen unter meinem schweren, ledernen Stiefel und der dicken Wollsocke. Seit gestern befand sich dort eine kleine Wunde, etwas oberhalb meines rechten Knöchels. Kaum groß genug, um aufzufallen. Ein Kratzer, vielleicht einen Zentimeter lang. Klein, aber doch gefährlich.

Der Zombie hatte mich bei der morgendlichen Wäsche überrascht.

Ich stand im Garten des Hauses, in dem wir die letzten Nächte verbracht hatten, und goss Wasser aus einem Eimer über meine verfilzten Haare. Die Sonne begann gerade über den Horizont zu blinzeln. Sonnenaufgang und Sonnenuntergang. Diese Momente an Morgen und Abend genoss ich am meisten, ja, ich liebte sie regelrecht. Beide waren in dem verfluchten Fleck Erde, zu dem Deutschland verkommen war, etwas Magisches geworden. Ich stand also auf dem wild wuchernden Rasen eines Gartens, auf dem früher einmal Kinder gespielt und gelacht hatten, und verlor mich in diesem Moment. Der Sonnenaufgang tauchte alles in ein wohliges Zwielicht, in dem das Grauen, welches unser Leben heimsuchte, noch verborgen blieb. Unter dem erwachenden Sonnenschein sah ich nur die dunklen Umrisse der mich umgebenden Häuser. Nicht ihre zersprungenen Fenster, nicht ihre verrottenden Fassaden, nicht das getrocknete Blut, das manche Wände wie ein rostroter Pelz überzog. Während das Schauspiel all meine Sinne in Anspruch nahm, kroch er auf mich zu. Ein Exemplar der Sorte Zombie, die man fast noch bemitleiden konnte. Gähnend langsam zog er sich auf dem Bauch liegend voran. Seine Beine hatte er irgendwo auf dem Weg verloren, entweder durch Menschenhand oder durch die Fäulnis, die an seinem Körper nagte. Eine Hand wurde vor die andere gesetzt. Schwarze Fingernägel gruben sich in die Erde. Die lebende Leiche kämpfte sich Armlänge für Armlänge näher an mich heran. Der Geruch verderbenden, faulenden Fleisches, der jeden Untoten begleitete, stieg mir in die Nase. Erschrocken blickte ich mich um. Mein Puls schoss abrupt in die Höhe. Der schreckliche Anblick des sich vor meinen Füßen windenden Leichnams, an den man sich wohl nie vollkommen gewöhnen konnte, und mein erst halb verdautes Frühstück fügten sich zu einer Komposition der Übelkeit zusammen und drohten, mich zu überwältigen. Zeit zu reagieren blieb keine. Mit seinem Gebiss, das nur noch von einigen wenigen Sehnen zusammengehalten wurde, schnappte er nach meinem Fuß. Zu meinem Glück fehlten dem Zombie nicht nur die Beine, sondern auch der Großteil der Zähne. Ich konnte mich befreien und schlug den Kopf des Untoten mit dem Eimer zu Brei. Ein scheinbar endloser Strom von Maden ergoss sich aus dem Hals der Leiche. Mein Knöchel pulsierte schmerzhaft und zog meine Aufmerksamkeit auf sich. Ich sah die Wunde sofort. Es war, als wollte sie meinen Blick auf sich ziehen und nicht mehr loslassen. Nur ein kleiner roter Fleck. Es hatte beinahe etwas Komisches, denn über eine solche Wunde hätte ich vor 2020 nur gelacht. Jetzt aber war jede Verletzung ein Tanz mit dem Tod oder besser dem Untod.

Ich hatte es gesehen, ganz deutlich. Und doch versuchte ich es zu leugnen. Ich hatte gesehen, wie eine der Maden sich durch diese kleine Schwachstelle in meiner Haut ihren Weg in mein Inneres gebahnt hatte. Für mich war alles vorbei. Doch dafür war ich noch nicht bereit, ich hatte mich noch lange nicht zum Aufgeben entschlossen. In diesem Moment setzte mein Hirn aus und die Verzweiflung übernahm das Steuer. Ich wusste, dass das, was durch meinen Kopf schoss, egoistisch war. Aber das war mir egal. Auch wenn wir dafür durch die Hölle gehen mussten, hatten Sabine und ich noch nicht genug Zeit zusammen gehabt. Ich wollte weiterhin an ihrer Seite kämpfen. Also durfte sie es nicht erfahren. Sabine musste den Krach, den ich mit dem Eimer verursacht hatte, gehört haben. Sie würde also gleich da sein ... Und mich töten, so wie wir es schon vor Wochen vereinbart hatten. Nein, das konnte ich nicht zulassen. Hastig zog ich mir meine Klamotten über, und als sie aus dem Haus gestürmt kam und die Leiche auf dem Boden bemerkte, sagte ich nur grinsend: »Nichts passiert, er hätte es besser wissen müssen, als mich schon so kurz nach dem Aufstehen zu provozieren.«

Meine Gedanken kehrten wieder in die Gegenwart zurück. Wir befanden uns noch immer im Randgebiet der Stadt. Es war besser, außerhalb zu bleiben, um nötigenfalls schneller fliehen zu können. Aber trotzdem brauchten wir eine Unterkunft, in deren Nähe wir uns mit Vorräten versorgen konnten, vorzugsweise also mit einem Supermarkt nebenan. Die Häuser links und rechts der Straße schienen verlassen zu sein. Weder das Stöhnen und Schlurfen der wandelnden Leichen war zu hören noch konnte ich in einem der Fenster das typische Glitzern eines Fernglases im Licht der Nachmittagssonne erkennen. Dieses Glitzern war oft ein Zeichen dafür, dass man schnell das Weite suchen sollte, wenn man das Schauspiel der aufgehenden Sonne noch einmal erleben wollte. Viele Überlebende gingen über Leichen, um ihr Revier zu sichern und machten dabei keinen Unterschied zwischen Toten und Lebenden. Denn was sich bewegte, war eine Gefahr. Wir kamen an einer Bushaltestelle vorbei, an der ein schimmelndes Werbeplakat hing. Das Plakat war Teil einer Kampagne zur Bekämpfung von Geschlechtskrankheiten gewesen. Über dem Bild eines nett lächelnden Kerls im Alter von ungefähr zwanzig prangte in bunter Farbe der Schriftzug »Ich bin krank, aber ich stehe dazu. Verheimliche deinem Partner keine Krankheit. Geh zum Arzt!«

Ein gut gemeinter Ratschlag, an den ich mich halten sollte, nur dass ärztlicher Beistand in meinem Fall höchstens den kalten Stahl von Sabines Machete in meinem Hals bedeutet hätte. Ich musste es ihr sagen. Sie bitten, mich zu töten. Aber ich wollte es nicht wahr haben und redete mir ein, dass ich mir die Made nur eingebildet hatte, die in die Wunde an meinem Bein gekrochen war. Ich wusste es besser.

Die Wunde begann zu jucken und zu pulsieren. Mein ganzes Bein fühlte sich auf einmal heiß an. Zu heiß. Als würde man es in kochendes Wasser tauchen. Aber es war noch zu früh, ich wollte meine Zeit mit Sabine bis zum letzten Augenblick auskosten.

Wenig später hatten wir ein Versteck gefunden, das uns geeignet erschien. Der nächste Supermarkt, den wir erspäht hatten, war nur circa 200 Meter entfernt und das Haus besaß nur wenige Fenster, was das Verbarrikadieren erleichterte. Wir ließen im Erdgeschoss alle Rollläden herunter und vernagelten die Fenster von innen zusätzlich mit einigen Brettern, die wir im Keller gefunden hatten. Mittlerweile juckte mein ganzer Körper. Es war ein Gefühl, als bewegten sich Millionen winziger Insekten unter meiner Haut. Mein Hals fühlte sich beim Schlucken so rau und blutig an, als hätte ich mit Sand gegurgelt. Sabine war offenkundig müde. Also sagte ich ihr, sie könne sich hinlegen und ausruhen, während ich etwas zu essen aus dem Supermarkt besorgen würde.

Mir war natürlich klar, dass das nur ein Vorwand war, um allein zu sein; ich musste weg von ihr. Kaum war ich hinter dem nächsten Haus in Richtung Supermarkt verschwunden und sicher, dass Sabine mich nicht sehen konnte, brach ich zusammen. Ich fühlte das, was bereits Millionen von Menschen in wandelnde Leiber auf der Suche nach dem nächsten Bissen Fleisch verwandelt hatte, durch jede einzelne meiner Adern pulsieren. Aus meiner Hosentasche zog ich meinen wertvollsten Besitz: Ein Foto von Sabine und mir, wie wir uns auf dem Jahrmarkt küssten. Es war aus einer anderen Zeit. Einer guten Zeit.

Unter Schmerzen schaffte ich es, mich wieder aufzuraffen. Das Denken fiel mir immer schwerer. Als ich es endlich bis zum Supermarkt geschafft hatte, suchte ich mir einen schweren Stein und schlug damit die Glastür ein. Im Geschäft strebte ich ohne anzuhalten auf die ersten Regale zu. Ein stechender Schmerz wie von einer Bohrmaschine wand sich durch meine Gedärme. Ich hatte Hunger. Großen Hunger. Ich kontrollierte die Chipstüte auf ihr Ablaufdatum, dann riss ich sie ohne zu zögern auf und stopfte mehrere Hände voll in meinen gierig aufgerissenen Rachen. Seltsam, obwohl sie noch mehrere Wochen haltbar sein sollten, waren die Chips ungenießbar. Ich musste sie ausspucken. Als ich an dem Regal mit den Konservendosen, dem echten Essen eines Überlebenden, vorbei kam, trieb mich ein Instinkt dazu, weiterzugehen. An den schon seit langem nicht mehr mit Strom versorgten Kühltruhen blieb ich stehen. Fleisch. Rohes Fleisch lag in den Truhen. Ich spürte es. Ich öffnete die erste Truhe mit erheblich mehr Schwung als nötig. Meinen Körper komplett unter Kontrolle zu halten, erforderte eine Kraft, die ich nicht mehr hatte. Da lag es. Das Fleisch. Ich schnappte mir zwei Rindersteaks. Beide waren von flaumigem Schimmel überzogen. Es war mir egal. Gleichgültig stopfte ich sie in meinen Mund. Ein erleichtertes Stöhnen drang aus mir. Es klang nicht menschlich. Ich raffte mich auf und machte mich auf den Weg zurück zu Sabine. Am Ausgang des Supermarktes verharrte ich kurz, weil sich mein Gesicht in den Fenstern spiegelte. Blutunterlaufene Augen. Leerer Blick. Ich wischte die Reste des Schimmels aus meinem Mundwinkel und ging weiter.

Im Haus war es still, doch als ich das Knarzen im Stockwerk über mir hörte, wo Sabine lag, zuckte mein Kopf unkontrolliert in Richtung des Geräusches und ich starrte an die Decke. Abermals zog ich das Foto aus meiner Hosentasche und betrachte es lange und voller Liebe für die Frau, deren Lächeln mich in dieser Hölle Tag für Tag am Leben gehalten hatte.

Ich besann mich wieder und ging hinauf. Kurz bevor ich das Zimmer betrat, setze es ein. Mit der rechten Hand an der Klinke blieb ich stehen. Das Foto fiel mir aus der sich verkrampfenden Linken. Ich fiel auf die Knie. Mit dem letzten Würgereiz meines Lebens erbrach ich einen Schwall Maden auf den Boden. Dann schlug mein Herz noch einmal und ich kippte zur Seite.

Meine Augen öffneten sich. Ohne von einem menschlichen Hirn gesteuert zu werden, erhob sich mein Körper. Es war, als würde er durch einen unsichtbareren Ruf durch die Tür gezogen. Es war der Ruf des Fleisches. Meine Hand drückte die Klinke nach unten und öffnete die Tür.