DER ACHTE TAG
ALIN RYS
Abgehetzt und vor Erschöpfung schwankend hockte ich in der Krone einer mächtigen Eiche. Unzählige Zweige und Blätter hatte ich bei dem Versuch, Schutz in ihrer sicheren Höhe zu finden, abgeknickt. Und hätte das unter meinem Gewicht bedrohlich knackende Holz mir keinen Einhalt geboten, ich wäre in meiner Panik noch höher hinaufgeklettert. Doch mir blieb nun nichts weiter, als auf den wippenden Ästen, die mich widerwillig davor bewahrten, gute vier Meter in die Tiefe zu stürzen, auszuharren. Redlich darum bemüht, kein Geräusch zu verursachen, klammerte ich mich an die bloße Hoffnung, dieser Baum würde am Ende nicht doch zu einem grausamen Gefängnis, dessen Wächter nichts geringer als ein Haufen stinkender hungriger Leichen wären. Schmatzend und keuchend schlurften eben diese über den belaubten Waldboden. Die Fährte menschlichen und noch warmen Fleisches war durch meine Flucht ins Blätterdach verflogen und so bewegte sich die Horde nur noch schleppend vorwärts. Von meinem Versteck blickte ich auf Dutzende aufgeweichter, mit strähnigen Haaren bedeckter Köpfe hinab. Einige erkannte ich wieder. Sie hatten noch frisches Blut an ihren Mäulern und heraus hingen Stücke von Fleisch und Gedärm. Das alles hatte einmal zu Tobi gehört, der vor vielleicht einer Stunde elendig verreckt war. Keines der Biester hatte ihm einen schnell tödlichen Biss in den Hals verpasst. Sein Bauch war von unzähligen Paaren verwester Hände aufgerissen worden. Er hatte zusehen müssen, wie die fauligen Fingernägel abgebrochen und in seinem Fleisch steckengeblieben waren, wie gierige graue Zungen über seine Innereien leckten und zappelnde Maden aus den Köpfen der Monster fielen, um sich nicht weniger gierig in dem Brei aus roten Organen zu vergraben. Ich hatte wie angewurzelt dagestanden, gefangen vom Schock, der mich erst viel zu spät wieder losließ. Da hatte die Hatz auf mich längst begonnen und ich konnte nur noch laufen. Laufen und denken. Daran, wie ich es herausgefunden hatte. An die Zweifel, es Tobi zu berichten, an meine Entscheidung, es nicht zu tun. Und wie ich seitdem mit dem Geheimnis lebte. Jetzt wünschte ich, ich hätte es getan, hätte es nicht für mich behalten. Vielleicht hätte es etwas geändert, vielleicht wäre er noch am Leben.
Dicke Tropfen begannen auf meinen Schädel zu hämmern. Sie weckten mich aus einer Trance, in die meine Erinnerungen mich gerissen hatten. Es war einige Zeit vergangen, ich hörte nur noch den prasselnden Regen, das Geraschel und Gekeuche unter mir war verstummt. Die Horde hatte sich verzogen und ich war am Leben. Vorsichtig kroch ich einige Etagen hinab. Die Äste wurden stabiler und das Blätterdach lichter. Zu allen Seiten standen Laubbäume, dicht an dicht. Wohin sollte ich? Der Gedanke drängte sich auf, noch einmal zu Tobi zurückzukehren, doch ich schob ihn so schnell fort, wie er gekommen war. Meinen Rucksack hatte ich auf der Flucht abgeworfen, um schneller rennen zu können. Ich sollte ihn wohl suchen. Behutsam kletterte ich den glitschigen Stamm weiter hinab. Mein Körper schmerzte bei jeder Bewegung, doch mein Kopf rotierte unbeirrt zu allen Seiten. Nichts durfte mir entgehen. Ausgezehrt und zudem unbewaffnet, waren meine Sinne der einzige Schutz, den ich noch besaß. Die Umgebung schien sicher, doch ich musste feststellen, ohne jegliche Orientierung zu sein. Nicht einmal die Richtung, die mich hierher geführt hatte, konnte ich bestimmen. Unentwegt blickte ich mich um, überlegte, wieder auf die Eiche zu steigen. Sie war mir im Augenblick der vertrauteste Ort. Doch dann stockte ich. Meine Augen hatten es wohl schon vor Sekunden registriert, doch erst jetzt verstand auch mein müdes Gehirn. Da war etwas zwischen all der Borke und dem Laub, das mich umgab. Eine geometrische Form, leicht zu übersehen und in einiger Entfernung, doch die scharfen Kanten passten nicht in die unberührte Natur des dichten Waldes. Ohne einen weiteren Gedanken darüber, um was es sich handeln könnte, machte ich mich auf den Weg. Ich war dankbar dafür, ein Ziel zu haben, wenn auch nur für kurz. Mit jedem Schritt lichtete sich mein Blick auf das Objekt etwas mehr, es gab eine klare Struktur preis. Vertikal aufgestellte Bretter waren zu einer etwas schiefen Wand gezimmert worden. Darin eingelassen eine gleichartig gearbeitete Tür. Sie war es gewesen, die meinen Augen aus der Distanz aufgefallen war und die ich nun als Eingang zu einem solide wirkenden Verschlag identifizieren konnte. Ungläubig kam ich einige Zentimeter vor meiner Entdeckung zum Stehen. Die Tür war durch ein größeres Vorhängeschloss gesichert. Ich sparte es mir, dennoch einen Versuch zu unternehmen, sie zu öffnen. Die Erfolgschancen waren gering und auf den gefährlichen Krach, der die herumschleichenden Untoten in einem Umkreis dutzender Meter aufschrecken würde, konnte ich gut und gerne verzichten. Ich erforschte die übrigen drei Seiten des Verschlags. Keine weiteren Eingänge, keine Fenster, keine Hinweise auf seine übliche Verwendung. Einige Male umrundete ich das provisorische Bauwerk, nicht aus reinem Forscherdrang. Ich wollte hinein, wollte meine Kleidung trocknen, mich hinlegen, ausruhen, schlafen, vergessen. Vielleicht gab es Vorräte oder wenigstens etwas, das mir als Waffe dienen konnte. Ich war mittellos und mein Weg, wohin auch immer er gehen sollte, würde ohne jegliche Ausrüstung ein baldiges Ende nehmen. Aber die Latten waren dicht an dicht miteinander verbunden worden, nur eines der Bretter wies mehrere Astlöcher auf und stellte die einzige offensichtliche Verbindung zum Inneren des Häuschens dar. Ich musterte den umliegenden Wald noch einmal nach sich nähernden Kreaturen, bevor ich mein Gesicht an die kleinen Öffnungen führte. Doch etwas war seltsam. Licht und nicht Dunkelheit begegnete meinen Augen. Woher kam es? Aufgeregt schleppte ich einen bemoosten Baumstumpf heran, mit dem ich hoffte, die sicherlich mehr als zwei Meter hohe Rückwand des Verschlags überwinden zu können. Ich konnte nur knapp auf das Flachdach schauen, erkannte aber eine mittige, quadratförmige Öffnung. Mit den letzten Reserven an Energie, die meine müden Glieder noch aufbringen konnten, erklomm ich umständlich das Dach. Ebenfalls aus einzelnen Holzbrettern bestehend, knarrte es bei jeder meiner schleppenden Bewegungen. Bäuchlings robbte ich bis zum Zentrum, um endlich einen Blick ins Innere werfen zu können. Ich steckte meinen Kopf in die großzügige Luke, nur um ihn noch im selben Moment ruckartig wieder herauszuziehen. Ein übler Gestank hatte mir ins Gesicht geschlagen. Mein Würgereiz meldete sich umgehend. Zwar bewirkte die frische Waldluft eine schnelle Linderung, doch beruhigen konnte ich mich nicht. Unter mir hörte ich es röcheln und kratzen, das ins Leere schnappende Klappern eines Kiefers ließ mich augenblicklich erstarren. Ein hungriger Leichnam wetzte sich die morschen Nägel, während ich über ihm auf einem klapprigen Dach ausharrte. Meine Hände verkrampften sich zu Fäusten. Ich hatte Angst, aber noch viel stärker brodelte eine riesige Wut in mir. Diese Hütte hätte mir gehören sollen, ein tröstender Unterschlupf nach all den Schrecken, die der heutige Tag gebracht hatte, und nun hauste dort dieses tote Vieh. Doch ich wollte nicht einfach aufgeben. Vorsichtig rollte ich mit angehaltenem Atem noch einmal über die Öffnung und spähte hinein. Ein verstörender Anblick traf mich. Was ich gehört hatte, waren tatsächlich die Laute eines zappelnden Kadavers gewesen. Nur streckte er sich mir nicht gierig entgegen, wie ich es erwartet hatte, darum bemüht, mir das Gesicht in Fetzen herunterzureißen. Nackt lag er angebunden auf einem breiten Holztisch, sich windend unter den Fesseln und mit festem Blick auf die Beute, die dort verlockend über ihm baumelte. Es war wohl erst wenige Tage her, dass dieses Ding noch ein Mensch gewesen war, eine junge Frau genauer gesagt. Ihre Bewegungen waren kräftig und flink, der Körper zeigte intaktes Fleisch. Und aus dem linken Auge blitze mir ein überraschend lebendiger Blick entgegen, das rechte dagegen war zu einem schwarzen Loch verkommen. Zuckende Maden krochen hinein und hinaus, wie auch aus jeder anderen Körperöffnung. Ich war den Anblick lebender Toter gewohnt. In den meisten Momenten der vergangenen Monate war es mir vorgekommen, als hätte es nie ein anderes Leben gegeben. Ihre Bedrohung war zur Routine geworden. Ich wich ihnen aus, versteckte mich vor ihnen, stieß ihre knorrigen Körper von mir, tötete sie. Sie waren keine Menschen, keine Tiere, sie waren nichts. Ich empfand nichts. Doch das hier war anders. Diese Frau war dort gefesselt worden, vielleicht, als sie noch am Leben war, vielleicht, als sie bereits im Sterben lag. Doch wer auch immer es getan hatte, ihm war bewusst gewesen, was passieren würde. Er hatte entschieden, die Person, die sie einmal gewesen war, zu einer kümmerlichen Existenz verkommen zu lassen, sie nicht von diesem schrecklichen Schicksal zu befreien. Und wozu? Ich ließ mich neben der Luke auf den Rücken fallen und stieß die zurückgehaltene Luft aus. Wenn ich nur gekonnt hätte, ich hätte Tobis Schädel sofort mit der kleinen Axt, die ich stets am Gürtel trug, entzwei gespalten. Und es wäre nicht grausam gewesen, sondern richtig. Doch ich hatte ihm das Werkzeug nur zuwerfen können; es hatte ihm nicht geholfen. Mir fehlte es nun. Ich versank in einem Strudel der Erschöpfung und wirre Erinnerungen an den vergangenen Tag jagten durch meinen Kopf. Das alles erschien mir jetzt wie ein Traum. Mein letzter Gedanke galt dem elenden Wesen unter mir und wie ein Blitz durchfuhr mich die verstörende Befürchtung über die Rückkehr seines Halters. Doch die Müdigkeit war zu erdrückend und so schlief ich dort auf diesem Dach, bedeckt von einem Himmel aus Blättern, während sich neben mir der süße Geruch von Verwesung in der frischen Waldluft verlor.
Es war ein lautes Krachen, das mich aus der ruhigen Zuflucht des Schlafes riss. Ich hörte schwere Schritte, begleitet von aufgeregtem Grunzen und Knurren. Ich verstand sofort. Er musste es sein, dem mein letzter klarer Gedanke gegolten hatte.
»Gesegnet und gegrüßt seist du«, drangen seine bedächtig gesprochenen Worte zu mir empor. Galten sie mir? Ich fühlte mich ertappt. In dem Bemühen, mich möglichst unauffällig zu verhalten, begann ich vor Anspannung zu zittern.
»Sechs Tage sind verstrichen, der siebte wird nun deine Erlösung bringen. Deine Sünden werden dir nie vergeben werden. Doch gebe dich den göttlichen Worten hin und du wirst nicht länger eine Sklavin des Teufels sein.«
Was geschah dort unter mir? In Zeitlupe rollte ich mich auf die Seite, um auch das leiseste Knarren zu vermeiden. Meinen Kopf legte ich ganz an den Rand der Luke, um nicht entdeckt zu werden. Wieder sah ich die Untote. Auf ihrer Stirn lag die Hand des Predigers, der ihren Kopf auf die Unterlage presste. Provoziert durch die direkte Nähe des warmen Fleisches tobte der übrige Körper. Die Stricke an Händen und Füßen waren von der Reibung blutig, Knochen krachten bei jedem Mal, wenn der Torso in die Höhe schleuderte, um sich endlich zu befreien.
»Er stehe dir bei mit der Kraft des Heiligen Geistes ...«
Immer energischer wurde die Stimme im Kampf, sich gegen das laute Fauchen und Schnauben durchzusetzen. Ich konnte den Initiator des Rituals aus meiner Position nicht erkennen, nur ein schwarzes Gewand erahnte ich, sein Gesicht blieb mir verborgen. Doch der Widerstand des vor ihm liegenden Leichnams kannte kein Ende. Der Tisch ächzte und wankte unter den hektischen Bewegungen. Der Prediger unterbrach seine Rede und löste die Hand von der kalten Stirn der ehemaligen Frau. Sofort schnellte der Kopf empor und schnappte mit klapperndem Kiefer um sich. Der Mann schritt zur gegenüberliegenden Seite des Raumes. Nun konnte ich einen kurzen Blick auf ihn erhaschen. Er war von hochgewachsener Statur, der schwarze Talar, den er trug, war gepflegt, ebenso wie das braune, mit grauen Strähnen durchzogene Haar. Er kam zurück, ein weiteres Seil in den Händen. Direkt unter dem Dachfenster machte er sich daran, auch den Oberkörper der widerspenstigen Kreatur zu befestigen. Doch dann passierte alles ganz schnell. Ein blutverschmierter Arm war blitzartig befreit von der Fessel und verkrallte sich hektisch am Kragen des weiten Gewands. Überwältigt von der Schnelligkeit des Angriffs drohte der eben noch Überlegene ins aufgerissene Maul seiner Gefangenen zu fallen. Hätte ich zuvor abgewägt, vielleicht wäre ich in meinem Versteck geblieben und hätte den Dingen ihren Lauf gelassen. Doch ich dachte nicht klar, ich handelte. Bisher war ich skeptisch darüber gewesen, ob die Dachluke wohl als Einstieg geeignet wäre. Nun ließ ich mich ohne weiteres Zögern hineinfallen und landete zwischen den gespreizten Beinen der hungrigen Untoten, die unbeirrt und wild keuchend an dem auf ihr liegenden Körper zerrte. Ich schaute mich kurz um. Der Raum war bis auf die improvisierte Pritsche und ein schmales Regal unmöbliert. Von der Decke hingen verschiedene Kräuter, möglicherweise um den Gestank der Verwesung zu überdecken. Eine nur mäßig wirksame Taktik. Auf einem Regalbrett erspähte ich eine Rundsichel, wohl zum Ernten der Duftgräser und der einzige Gegenstand weit und breit, der als Waffe taugte. Mit einem Satz stand ich auf dem Boden und griff das Gartenwerkzeug, bevor ich ans Kopfende des Tisches hastete. Ich war nicht sicher, ob die dünne Sense geeignet war, die noch intakte Schädelplatte zu durchbrechen, daher schlug ich sie mit geübter Bewegung in den Unterkiefer. Mit aller Kraft zog ich an dem wackeligen Holzgriff. Mit jedem Ruck versank die Klinge tiefer im Schädel der zappelnden Leiche. Bis endlich das grelle Gurgeln aus ihrer Kehle verstummte und der hagere Frauenkörper regungslos herabsank. Ich ließ die Sichel los und richtete meine Augen auf den Mann in Schwarz. Er schien unbeschadet, doch würdigte mich keines Blickes. Behutsam löste er die tote Hand, die ihn noch immer im Griff hielt, und schüttelte einige der gefräßigen Maden ab, die den Weg auf den dicken Stoff seines Gewandes gefunden hatten. Dann wandte er sich mit sorgenvoller Miene an die nun friedlich ruhende Tote. Aus einer Tasche zog er eine Phiole hervor, gab etwas aus dem darin befindlichen Wasser auf ihre Stirn und verwischte anschließend die kleine Pfütze mit dem Daumen zu einem Kreuz. Scheinbar unbeeindruckt von den Ereignissen der letzten Sekunden, murmelte er andächtig ein weiteres Gebet. Erst nach dessen Abschluss richtete er seine Augen auf mich und streckte mir die Hand zum Gruß entgegen. Perplex vom Geschehen konnte ich nicht anders, als gewohnheitsgemäß zu reagieren. Fest umschloss er meine Hand mit den seinen. ›Mein Sohn, Gott segne und grüße dich. Er schickte dich um meinetwillen und ich danke dafür, dass du seiner Stimme gefolgt bist.‹
Unwillig, auf das seltsame Gerede einzugehen, blieb ich sprachlos. Ich musterte sein sauberes Gesicht. Er war wohl nicht älter als fünfzig und besaß den Gleichmut eines Menschen, der ohne jede Furcht in dieser vom Grauen beherrschten Zeit lebte.
»Verzeih meine Offenheit, aber deine Erscheinung lässt vermuten, dass du seit Tagen keinen Ort der Ruhe finden konntest.«
Ein harter Kern in meinem Innern sträubte sich, der Annahme dieses Geistlichen, der in meinen Augen dermaßen unverständliche und scheußliche Dinge tat, offen zuzustimmen. Doch meine schwache Hülle sehnte sich nach nichts mehr als einem solchen Ort und so bejahte ich mit resigniertem Nicken.
»Dann möchte ich dich bitten, mit mir zu kommen und du wirst ein Bett, Verpflegung und frisches Wasser erhalten.«
Seine Aufforderung klang weder freundlich noch besorgt. Er hatte mich in Gänze durchschaut und nun leitete er mit fester Überzeugung meinen weiteren Weg. Ganz väterlich. Seine Autorität war einnehmend, wenn auch nicht beängstigend, Widerworte schienen unerheblich. Ich wusste nicht recht zu reagieren, also griff ich abermals auf die alten Gewohnheiten der Höflichkeit zurück. »Ich heiße Henri.«
Er musterte mich kurz, dann entgegnete er: »Ein herrschaftlicher Name. Pater Josua ist der meine.« Der geschwollene Ton war Programm. Wie aus einer anderen Zeit, mimte er den souveränen Gottesdiener. Doch ich hatte meine Zweifel. Entschlossen langte Pater Josua nach dem Griff der Rundsichel und hebelte sie rabiat aus dem entstellten Kopf. So blutbeschmiert wie sie war, legte er sie zurück an ihren Ursprungsort. »Ich werde mich hierum später kümmern. Nun folge mir.«
Zu meiner Überraschung wandte er sich nicht der in die Holzwand eingelassenen Tür zu, um den Verschlag zu verlassen. Stattdessen bückte er sich unter den Tisch, wo er quietschend eine Falltür aufzog. Trotz seiner kräftigen Gestalt, ließ er sich gewandt hineinfallen und forderte mich bald auf, es ihm gleichzutun.
Ich blickte noch einmal auf die Tote, dann setzte ich mich zögerlich an den Rand der schwer zu ergründenden Öffnung. Schummriges Licht drang zu mir empor. Meine Fußspitzen berührten die Stufen einer Stiege, die einen bequemen Abstieg in das Erdloch ermöglichte. Ich fand mich in einem niedrigen Gang wieder, mein Begleiter reichte eine altmodische Petroleumlampe an mich weiter, bevor er selbst sich daran machte, die Luke über uns zu schließen.
Plötzlich war es finster. Die Funzel in meiner Hand beleuchtete nicht mehr als grobe Umrisse. Ich hörte das Klicken eines Vorhängeschlosses.
»Behalte du das Licht, ich finde den Weg auch ohne seine Hilfe. Bleib nur dicht hinter mir, mein Sohn.« Mit eingezogenem Kopf verschwand Pater Josua rasch im Dunkel des Untergrunds. Unsicher begann ich, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Eine halbe Ewigkeit verstrich, in der ich jeden Moment damit rechnete, im Schein der kleinen Flamme würde eine verfaulte Fratze auftauchen und mich zu Tode erschrecken, bevor sie sich in meinem Fleisch verbissen hätte.
»Was ist das hier?«, fragte ich aus ehrlichem Interesse und um nicht länger allein mit meinen beunruhigenden Gedanken sein zu müssen.
Pater Josua beeilte sich nicht mit einer Antwort. »Dies ist ein heiliger Ort, der unserer Stadt seit Jahrhunderten Schutz vor den Sünden und Schrecken der Welt gewährt. Und auch nun, in der qualvollsten Zeit, zeigen uns die Gänge den Weg aus dem Verderben.«
Und tatsächlich, noch im selben Moment lichtete sich die Dunkelheit vor meinen Augen. Wir verließen den engen Schacht und betraten einen kleinen Raum, der durch einfallendes Tageslicht erhellt wurde. Noch drei weitere Durchgänge konnten von hier aus betreten werden und eine abgenutzte Steintreppe führte zu dem lichtspendenden Ausgang. Doch Pater Josua dachte noch nicht daran, die unterirdische Kammer zu verlassen. Er blieb stehen und wandte sich an mich. »Gestatte mir, dass auch ich dir eine Frage stelle.«
Ich wartete, welches Interesse der Kirchenmann wohl an meiner Person hatte.
»Der Herr lässt dich allein in diesen dunklen Zeiten wandeln?« Erstmals gab seine Mimik Hinweis auf die Intention hinter dem gesprochenen Wort. Argwohn und Ungläubigkeit spiegelten sich in ihr. Ich überlegte, welche wohl die für den weiteren Umgang mit mir richtige Antwort wäre. Die Erinnerung an Tobi schoss brennend durch meine Brust. Sollte ich vom Schicksal meines einzigen Freundes berichten, das mich erst vor einigen Stunden zu einem einsamen Flüchtling hatte werden lassen? Doch alles in mir sträubte sich, meinen persönlichen Schmerz vor diesem Fremden zuzulassen, der mir so distanziert begegnete, obwohl ich ihn vor einem qualvollen Tod bewahrt hatte. Daher lief meine Erwiderung auf ein einfaches ›Ja‹ hinaus.
»Ich wundere mich nur. Du trägst nichts bei dir, vertraust nur auf den Schutz des Herrn«, formulierte er herausfordernd.
Wahrheitsgetreu schilderte ich, in einen Hinterhalt geraten zu sein, dass ich schnell hatte fliehen und meine wenigen Habseligkeiten zurücklassen müssen.
Er nickte kritisch, schob seine Skepsis jedoch im nächsten Moment beiseite. »Nun, in Anbetracht dieser Umstände wird dich der friedliche Flecken Erde, den wir uns hier mit Gottes Hilfe erhalten haben, in besondere Glückseligkeit versetzen.« Nun wandte er sich ab und schritt der Treppe entgegen.
Für mich allerdings war unser Austausch noch nicht beendet, eines brannte mir noch auf der Seele. »Was war das da in der Hütte mit der Untoten?«
Pater Josua setzte seinen Weg in Richtung Ausgang unbeirrt fort. Erst als er die steinerne Treppe erreicht hatte, drehte er sich noch einmal um. »Therese war ein sündiges Mitglied unserer Gemeinde, das der Herr verlassen hat. Die Zeremonie in der Kapelle diente der Austreibung des Teufels, den sie in sich eingeladen hatte. Doch nun folge mir bitte.«
Ohne ein weiteres Wort stieg er an die Oberfläche und auch ich sehnte mich nach frischer Luft. Dem Erdloch entstiegen, fand ich mich am Rande eines Pflastersteinwegs wieder. Akkurat umschlang er geputzte Fachwerkhäuser mit Blumenkästen vor den ausgebreiteten Fensterläden.
Anstandslos folgte ich Pater Josuas schnellen Schritten. Rechts von uns ragte eine massive Steinmauer empor. Sie schien das gesamte Städtlein zu umschließen. Hier und da waren Schießscharten oder Ausgucke in die mittelalterliche Wehranlage eingelassen.
Eine Gruppe schüchterner Mädchen kam uns entgegen. Sie trugen Körbe mit Brot und Obst. »Grüß Sie Gott, Pater!« Mich bedachten sie mit verstohlenen Blicken und einem verhaltenen Lächeln. Das alles erschien mir wie eine Traumwelt. Mir kam der Gedanke, ob ich nicht noch immer paralysiert in der Eiche hockte und mich halluzinierend der Wirklichkeit entzog. Pater Josua kam vor einem modernen Backsteinhaus zum Stehen. Er öffnete die Tür und deutete mir, einzutreten. Ich betrat ein kleines gepflegtes Zimmer. Ein Tisch, ein Bett, ein Stuhl, ein gerahmtes Heiligenbild an der Wand, mehr befand sich nicht darin.
»Es wird jemand kommen, der dir Wasser und etwas zu essen bringt.« Damit war er verschwunden. Neugierig schaute ich aus dem Fenster. Ich stand erst einige Minuten so, da klopfte es leise an der Tür. Ich öffnete und erblickte ein junge Frau. Mit gesenktem Kopf stand sie vor mir, einen Krug klares Wasser in der einen Hand, ein mit Speisen gefülltes Körbchen in der anderen.
»Der Pater schickt mich.«
Ich machte den Weg frei und sie stellte beides auf dem Tisch ab. Dann ging sie zum Bett und zog eine Waschschüssel darunter hervor. »Möchten Sie sich waschen?« Es war weniger eine Frage als eine Annahme. »Ich helfe Ihnen.« Mit flinkem Schritt näherte sie sich mir und begann mit zittrigen Fingern die Knöpfe meines Hemds zu öffnen. Es war mir unangenehm. Ich musste stinken, war dreckig, unrasiert und seit einer Ewigkeit keiner Frau so nahegekommen. Ich erschrak, als sie zu flüstern begann. »Hören Sie mir zu, aber lassen Sie sich nichts anmerken. Er beobachtet uns.«
Ich war geneigt, mich umzublicken, doch befolgte ihre Worte und blieb regungslos stehen.
»Ich glaube, Sie sind in Gefahr. Bleiben Sie einfach hier und stärken sich. Ich komme in einer Stunde zurück, dann hält er seine nachmittägliche Andacht.« Sie hatte den letzten Knopf geöffnet und wollte mir das Hemd von den Schultern streichen. »Danke. Von jetzt an schaffe ich es allein.« Ich schaute sie an und sprach so freundlich wie ich eben konnte, um ihr mein Vertrauen zu signalisieren. Nicht einen Augenblick zweifelte ich an dem, was sie mir offenbarte. Viel mehr passte es zu der bizarren Figur des Pater Josua und den Abstrusitäten, die er von sich gab. Kurz erwiderte sie meinen Blick besorgt, dann verließ sie eilig das Zimmer.
Aufgewühlt blieb ich zurück. Meine Gedanken kreisten um die Frage, wo ich hier hineingeraten war. Noch immer in Schock und Trauer über Tobis Tod fiel es mir schwer, mich auf die Ereignisse der letzten Stunden zu fokussieren, sie als wirklich zu erfassen. Das alles war einfach geschehen. Versunken wusch ich Gesicht und Hände, nahm mir das bunt gefüllte Körbchen und stopfte seinen Inhalt auf dem Bett hockend in mich hinein. Regelmäßig starrte ich zur Tür, in unruhiger Erwartung, die junge Frau käme zurück, um mir endlich zu offenbaren, was dieser Ort war. Und endlich kam sie. Doch sie war nicht länger das schüchterne Mädchen von vorhin. Aufgeregt riss sie die Tür auf, die Wangen rot und etwas außer Atem. Ihre weit aufgerissenen braunen Augen fixierten mich. »Mein Name ist Sofie. Wir haben nicht viel Zeit.«
»Henri«, antwortete ich schnell. »Was ist das hier?«
Sie schien überfordert von der Frage, schaute mich nur wirr an.
»Was sind das für unterirdische Gänge?«, fügte ich hastig hinzu.
»Die Erdställe? Die sind noch aus dem Mittelalter. In Bayern gibt es ganz viele davon. Aber unser System hier ist das Größte. Der Pater hat noch viele weitere Gänge und Räume anlegen lassen. Er ist besessen davon. Vor zwei Jahren noch ...« Verärgert brach Sofie ihre Erklärungen ab. »Das ist jetzt nicht wichtig.« Sie verstummte, schien um die richtigen Worte zu ringen. »Sag mir, ist es dort draußen wirklich, wie er es erzählt? Ist die ganze Erde von den Dämonen der Unterwelt bevölkert und verspeisen sie jeden Ungläubigen bei lebendigem Leib, der sich weigert, das ewige Bündnis mit dem Teufel einzugehen?« Erwartungsvoll schaute sie mich aus bangen Augen an.
»Nun ja …«, setzte ich zögerlich an. »... also diese Dämonen gibt es wohl. Die würden aber jeden fressen, da gibt’s eher keine Kriterien. Und soweit ich weiß, ist nur Deutschland von ihnen bevölkert. Die anderen Länder haben uns unter Quarantäne gesetzt und das hat für die wohl funktioniert.« Ich war mir nicht sicher, ob ich es für sie verständlich formuliert hatte.
Sofie drehte mir den Rücken zu. »Ich wusste es. Ich wusste, dass er lügt«, murmelte sie vor sich hin, wandte sich dann wieder mir zu und ergriff hektisch meine Hand. »Ich muss dir etwas zeigen.« Mich energisch hinter sich herziehend, öffnete sie die Tür, steckte den Kopf hinaus und sah sich nach allen Seiten um, bevor sie mit mir im Schlepptau die Straße betrat. Eilig ging sie einige Schritte an der Hauswand entlang. Vor der nächsten Tür blieb sie stehen, zog einen Schlüssel aus der Tasche ihres langen Rockes und verschaffte uns Zutritt. Der Raum, den wir betraten, war weit großzügiger als mein Kämmerchen nebenan. Erlesener Parkettboden, antike Möbel, doch für eine genauere Betrachtung blieb keine Zeit. Sofie zog mich weiter hinter sich her, bis in den äußersten Zimmerwinkel. Hier klaffte ein Loch in der edlen Holzdiele, darunter befand sich eine steile Wendeltreppe. Es ging wieder in den Untergrund. Sofie schritt voran. Sie war gezwungen, meine Hand in dem engen Gewölbe loszulassen. Flink glitt sie die schmalen Stufen hinab, während ich jeden Schritt mit Bedacht wählte. Als auch ich unten angelangt war, hatte sie bereits zwei Petroleumleuchten entzündet. Sie reichte mir eine von ihnen. »Jetzt komm. Schnell.« Der Gang hier war weit großzügiger als derjenige, der aus dem Wald in die Stadt geführt hatte. Wir mussten nicht kriechen, sondern konnten aufrecht gehen. Das Ausmaß des Schachtsystems war erstaunlich. Sofie lotste uns kundig durch immer neue Gänge. Irgendwann wurde sie langsamer und hob die Schürze ihres Rockes vors Gesicht. Ich verstand sofort. Der leicht modrige Geruch des Erdreichs wurde allmählich vom beißenden Gestank verwesenden Fleisches abgelöst. Ich atmete flach und versuchte, meinen vollen Magen im Zaum zu halten. Mit jedem Meter wurde es schlimmer und ich musste wieder an die Fratzen denken, die ich jeden Moment im schummrigen Schein der Lampe erwartete. Endlich schien unser verworrener Weg ein Ende zu nehmen. Sofie vor mir bog noch einmal um die Ecke, dann blieb sie stehen, ich neben ihr. Ein Meer aus Kerzen erstreckte sich vor uns und beleuchtete ein hohes, mit kleinen Ziegelsteinen beschlagenes Gewölbe. Mir stockte der Atem. An der Rückwand lehnte ein überdimensionales Kreuz, darauf ein schlaffer Körper. Die ausgebreiteten Arme und übereinander geschlagenen Beine waren fest mit den zwei Balken verschnürt. »Was ...«, setzte ich mit schwacher Stimme an.
»Er ist auch ein Fremder, den der Pater mit in unsere Stadt brachte.«
Schauder ergriff mich bei Sofies Worten. »Lebt er noch?« Als hätte es mich gehört, hob das elendige Geschöpf den Kopf. Und da erkannte ich es. Die ledrige Haut hing ihm in Fetzen vom Kopf, Nase und Ohren waren abgefallen, sein Unterkiefer baumelte nur noch herab, sodass sein Gesicht zu einer grusligen Grimasse verzogen war. Es lebte, aber ein Mensch war dieses Ding schon lange nicht mehr. Als es uns erblickte, begann es zu keuchen.
»Er hatte sich der Probe unterziehen müssen, weil er doch fremd war. Hat sie aber nicht bestanden«, erklärte Sofie leise.
»Was für eine Probe?« Es gelang mir nicht, die Augen von der grässlich entstellten Leiche zu wenden.
»Der Sünder muss sich dem Dämon hingeben und wenn sein Biss ihn verwandelt, hat auch er sich mit dem Teufel verbündet«, erwiderte Sofie, als hätte sie diese Worte schon hundertmal gesprochen. »Und hat je ein Mensch diese Probe bestanden?«
Traurig schüttelte sie den Kopf. »Meine Schwester wurde vor einer Woche geprüft. Sie hatte ein missgebildetes Kind zur Welt gebracht und da meinte der Pater, sie hätte es nicht von ihrem Mann, sondern vom Teufel empfangen. Aber sie war kein sündiger Mensch, Gott hat sie nicht verlassen. Und trotzdem hat der Dämon sie verwandelt. Doch Therese war so ein guter Mensch. Viel frommer als jede andere Frau. Da wusste ich, er lügt.«
Ich begann zu begreifen, dass diese Gemeinde nur auf den ersten Blick ein friedlicher Flecken Erde war. Beherrscht wurde sie von einem sadistischen Tyrannen, der blutrünstiger war, als jedes verrottende Monster außerhalb der schützenden Stadtmauer. Eine gewaltige Wut überkam mich, auf diesen gewissenlosen Schlächter und auf mich, der ihn nicht einfach in der Waldhütte hatte verrecken lassen. »Dieser perverse Bastard ...« Ein erschrockener Schrei unterbrach mein Fluchen. Sofie zappelte, eine dunkle Gestalt hatte sie am Arm gepackt und hielt sie fest im Griff.
»Ich sehe, du gibst unserem Gast eine kleine Führung.« Es war Pater Josua. »Henri, mein Sohn. Ich hatte geglaubt, du wärst ein Diener Gottes, doch nun stelle ich fest, dass es doch der Teufel war, der dich geschickt hat.«
Ohne groß zu überlegen, hob ich eine der dicken Kerzen auf, die vor mir standen und schleuderte sie dem höhnischen Priester brennend ins Gesicht. »Ich bin nicht dein beschissener Sohn.« Erschrocken ließ er von Sofie ab.
Ich ergriff ihre Hand und begann zu laufen. »Wo müssen wir hin?« Die Lampe in meiner Hand wankte zu allen Seiten. Sofie übernahm die Führung. Wir eilten durch die Gänge. Ein jeder glich dem vorangegangen und ich fragte mich, ob wir jemals einen Ausgang aus diesem Labyrinth der Dunkelheit finden würden. Doch irgendwann stoppte Sofie; sie hatte die Orientierung zu keinem Zeitpunkt verloren und zog mich eine steinerne Treppe hinauf. Mit aller Kraft drückte sie die Luke auf, die uns wieder in die Freiheit führen sollte. Das grelle Tageslicht blendete mich, blind erklomm ich die restlichen Stufen. Endlich frische Luft. Doch Sofie ließ uns keine Zeit, um durchzuatmen. Immerfort zerrte sie an mir und drängte mich zum Weiterlaufen. Erst, als sich meine Augen wieder an das helle Licht gewöhnt hatten, erkannte ich, wo wir uns nun befanden. Es musste der Marktplatz sein, eine breite, mit Pflastersteinen bedeckte Fläche, an dessen Ende eine Kirche aufragte. Überall spazierten Menschen. Wenn sie uns erblickten, hielten sie erschrocken an.
»Haltet sie auf!«, hörte ich in meinem Rücken die tiefe Stimme Pater Josuas.
Umgehend stellte sich vor uns eine Reihe Männer und Frauen auf, um uns den Weg zu versperren. Wir wollten ausweichen, doch aus allen Richtungen eilten Menschen herbei, bis sich ein dichter Kreis um uns gebildet hatte. Noch einmal öffnete er sich, doch nur, um auch den Pater in seine Mitte zu lassen. Sofie rückte in ihrer Furcht nah an mich heran und umklammerte fest meinen Arm. Dutzende Augenpaare waren auf uns gerichtet und hörten auf die Ansprache ihres Anführers, die er mit lauter Stimme verkündete: »Diese beiden fand ich, wie sie unter unseren Füßen sich verschwören wollten gegen unsere heilige Gemeinde. Der Satan hat diesen Fremden in unsere Stadt geschickt, um die Schwächsten aus unserer Mitte zu sich zu holen.« Er zeigte auf Sofie. »Erst wenige Tage sind vergangen, da sahen wir, wie ihre Schwester sich zu einem der Dämonen verwandelte und nun ist auch sie der Sünde verfallen. Was also sollen wir mit ihnen tun?«
Sofie vergrub ihr Gesicht weinend im Ärmel meines Hemdes.
»Sie sollen geprüft werden!«, rief die Masse. »Prüft sie!«
Pater Josua nickte zufrieden. Kurz darauf winkte er ein kleines Mädchen zu sich heran. »Marie, bringe doch bitte herbei, worum du dich in den letzten Tagen so tapfer kümmertest.« Liebevoll strich er ihr übers geflochtene Haar, bevor sie aufgeregt davoneilte.
Verzweifelt suchte ich nach einer Lösung. Sofie hing wimmernd an meiner Seite. Sie schien sich ihrem Schicksal bereits ergeben zu haben. Die tuschelnde und glotzende Menge Gottesfürchtiger um uns schien unbelehrbar. Hätte ich eine große Rede über die wahren Zustände in unserem Land geschwungen, sie hätten es wohl kaum geglaubt, gar nicht glauben wollen. Pater Josua begann, sich mit einigen der Umstehenden zu unterhalten, hielt ihre Hände und stimmte dem entrüsteten Kopfschütteln zu. »Ah, da ist ja das Mariechen wieder.« Mit freundlichem Gesicht nahm der Kirchenmann das kleine Mädchen, das angestrengt einen schweren Holzkasten vor sich hertrug, in Empfang. Er schien förmlich euphorisiert, als wäre dies sein liebster Zeitvertreib auf Erden. Beherzt ergriff er die Truhe und stellte sie vor uns auf. Ich war mir nicht sicher, was darin lauern würde und auch Sofie beobachtete mit großen Augen das Geschehen. Pater Josua nahm eine Kette vom Hals, an ihr baumelnd ein kleiner Schlüssel, der den Kasten öffnete. Ein winziger Spalt reichte aus und ein hohes Krächzen drang aus der massiven Holzkiste. Noch bevor ich überhaupt registriert hatte, was dort vor meinen Augen zappelte, hatte Sofie einen grellen Schrei ausgestoßen und schluchzend ihr Gesicht in meinem Rücken vergraben. Der Körper eines deformierten Säuglings, wimmelnd von kriechenden Maden, lechzte nach dem Geschmack warmen Menschenfleisches, das ihn umgab. Ein kleiner Rumpf, an dem zwei kurze Stümpfe zuckten, wo Beine hätten sein sollen, wippte von der einen auf die andere Seite. Der kahle Kopf reckte sich uns gierig entgegen und zwei zierliche Ärmchen fuchtelten in der Luft. Pater Josua ergriff den Strick, der um den Hals des jämmerlichen Geschöpfes gelegt war und zog es in die Höhe. Zappelnd hing es nun vor uns. Mein Körper bebte vor Entsetzen und ich fragte mich, welche schrecklichen Geheimnisse diese Gemeinde wohl noch verbarg.
»Nun, Sofie ...«, sprach der Geistliche in hämischem Ton. »Du warst bisher so um unseren Gast bemüht, führe ihm doch auch noch vor, wie wir diese Kleinigkeit handhaben.«
Sofie wich aus, verbarg sich schluchzend hinter mir. Pater Josua deutete zwei jungen Männern, sie zu greifen.
»Wartet!«, schrie ich. Tatsächlich hörten sie auf mich und blieben zurück.
»Oh, verzeih! Welch ein Affront. Natürlich sollte dir, unserem Gast, das Vorrecht gelten.« Den baumelnden, nach Fleisch schreienden Säugling am ausgestreckten Arm, kam Pater Josua auf mich zu. Unter seinen lobenden Blicken, krempelte ich bereitwillig den linken Ärmel meines Hemdes hoch. Doch nur, um ihm zu offenbaren, was sich darunter verbarg. Es war die vernarbte Wunde eines Bisses. Das süffisante Grinsen wich aus seinem Gesicht. Auch Sofie hatte das Mal gesehen und warf sich mir zu Füßen.
»Wie in Gottes Namen ...?« Ungläubig starrte der Pater auf den deutlichen Abdruck zweier Zahnreihen. Die alte Verletzung begann zu pochen und es war, als spürte ich noch einmal den Biss des fauligen Kiefers, der damals in meinem Fleisch versunken war. Tage, Wochen und noch Monate hatte ich auf den Tod gewartet, doch nichts war geschehen. Es schien, als hätte keine der heimtückischen Maden unter meine Haut dringen können, um dort ihr entsetzliches Werk zu verrichten. Ich wusste nicht, ob es schieres Glück oder etwas anderes gewesen war, das mich davor bewahrt hatte, zu einem wandelnden Leichnam zu mutieren. Ich wusste nur, ich würde mein Schicksal kein weiteres Mal herausfordern.
Der Kreis aus Menschen, der uns umschloss, kam dichter zusammen. Die anfangs bedrohliche Front hatte sich in eine neugierig gaffende Schar verwandelt, die mich nun eingehend beäugte. Fassungslos und von Zorn erfüllt wendete Pater Josua seinen Blick nicht für eine Sekunde von mir. Den sich windenden und keifenden Säugling noch immer zwischen ihm und uns emporhaltend, brach es urplötzlich aus ihm heraus: »Satan!« Ein Raunen ging durch die Menge. Fordernd richtete sich der selbsternannte Souverän an seine Anhänger. »Tötet ihn! Tötet ihn!«, schrie er den Umstehenden mit schriller Stimme zu. Ein paar wenige traten unsicher hervor, vereinzelt trugen sie Äxte und Spaten bei sich. Ich wusste mir nicht anders zu helfen. Bereits zuvor hatte ich einen schmächtigen Jungen ins Auge gefasst, der auf eine Heugabel gestützt in meiner Nähe stand. Mit einem Satz war ich bei ihm und entriss seiner Hand das spitze Gerät. Ohne weiteres Zögern stürmte ich Pater Josua entgegen. Der Dreizack durchbohrte ohne Widerstand den in der Luft baumelnden Rumpf des krächzenden kleinen Biestes. Als die Zinken auf die Brust des hochgewachsenen Klerikers trafen, brauchte es einen energischen Stoß, um sie zu versenken. Ich hörte Schreie, doch niemand aus der Menge machte Anstalten, in das Geschehen einzugreifen. Kopf an Kopf waren der Dämon und sein Schöpfer aufgespießt. Der zahnlose Mund saugte an dem ihm dargebotenen Gesicht, während die winzigen Hände es unbarmherzig zerkratzten. Röchelnd taumelte die einst einnehmende Gestalt des Pater Josua noch einige Schritte, dann sank der schlaffe Körper zu Boden. Dutzende, vor Schock starre Augenpaare blickten auf den leblosen Mann und das schmatzende, von Zacken durchbohrte Geschöpf, das sich an ihn klammerte. Niemand sprach, niemand regte sich. Sofie hatte meine Hand ergriffen, schmiegte sich an meine Seite und schenkte mir dankbare Blicke. Schon jetzt stieg in mir der furchtbare Gedanke auf, irgendwann auch sie zu verlieren, so wie es erst am Morgen diesen Tages mit Tobi geschehen war.
Dann plötzlich durchdrang ein bösartiges Fauchen die angespannte Luft. Es war erwacht und erhob sich zähnefletschend aus einer tiefroten Blutlache.