MAGNOLIEN

MARINA HEIDRICH

Stuttgart, April 2022

Sie müssen jetzt wunderschön sein. Die Magnolien im Garten des Stuttgarter Zoos, der Wilhelma. Rosa, wie zartes Fleisch, rosa, mit einem Hauch weiß. Gestern Nacht habe ich von ihnen geträumt. Von den wundervollen Magnolienbäumen in der Wilhelma. Ich bin vor zwei Stunden aufgewacht und wollte Eva von meinem Traum erzählen.

Sie ist tot. Die Schmerzen, das Fieber, alles vorbei. Blinddarmentzündung – vor drei Jahren wäre sie nicht daran gestorben. Ich hätte meine kleine Schwester in ein Krankenhaus gebracht. Wahrscheinlich ins Katharinenhospital. Ich hätte ihr gesagt, dass alles gut wird, dass der Eingriff eine Lappalie ist. Und bei ihrer Entlassung wären wir zur Feier des Tages in die Wilhelma gegangen, zu den Elefanten. Eva mochte Elefanten. Und Pistazieneis. Obwohl sie schon 16 war, ging sie gerne in den Zoo.

Vor drei Jahren waren Magnolien rosa. Die ganze Welt war rosa, wie zartes Fleisch. Seit dem 06. Mai 2020 ist Fleisch grau. Grünlich-grau. Und schwarz. Und manchmal bläulich. Es bewegt sich, langsam, scheinbar unbestimmt. Es hängt in Fetzen herunter. Es torkelt und schwankt. Das graue Fleisch. Ich kann es sehen, wenn es draußen durch die Straßen wankt. Es ist still. So still. Gibt keinen Laut von sich. Die Welt ist ohnehin still geworden. Gelegentlich höre ich über der Stadt die Flugzeuge und Hubschrauber. Die Welt behält uns im Auge. Deutschland ist nicht vergessen. Ja, sie beobachten uns. Damit keiner das Unmögliche wagt. Damit niemand die Saat des Verderbens in die Welt hinausträgt. Ist das nicht ein Satz aus einem uralten Vampirfilm?

Meine Gedanken laufen um die Wette, stottern, kreisen, stolpern, überholen sich, als ich Evas dünnen Körper wasche. Ihre Haut ist weiß. Warum bin ich eingeschlafen? Warum hat sie sich nach Tagen voller Fieber und Schmerzen ausgerechnet diese Nacht zum Sterben ausgesucht? Ich bin einfach eingeschlafen. Ich war so müde. Und nun wasche ich die weiße Haut meiner toten Schwester. Wie lange wird es dauern, bis weiß zu grau wird? Zu schwarz? Sie wird hier auf unserer Matratze im ehemaligen Wohnzimmer unserer Wohnung liegen bleiben. Eva wird nicht wieder aufstehen. Sie wird grau und dunkel und schwarz werden. Sie wird hier liegen und verwesen und ich lächle, während ich sie wasche. Ich bin froh, dass sie an einer simplen Blinddarmentzündung gestorben ist. Denn sie wird nicht mehr aufstehen. Aufstehen und durch die Straßen schlurfen. Auf der Suche nach rosa Fleisch, nach weichem, lebendigen rosa Fleisch. Sie wird hier in unserer 3-Zimmer-Wohnung im 2. Stock eines Hauses in der Stuttgarter Innenstadt liegen und ganz einfach tot sein. Auf der Matratze, die im ehemaligen Wohnzimmer auf dem Boden liegt. Die anderen Räume sind gefüllt mit Wasserflaschen. Mit Konservendosen und Kerzen. Pflaster, Batterien, Papier. Mit allem, was wir heranschaffen konnten, als vor zwei Jahren das graue Fleisch wie ein unaufhaltsamer Tsunami durch die Straßen schwappte.

Wir waren damals zu sechst. Eva, ihr Freund Andreas, Tante Regina. Mario, mein Kollege. Und Ralf aus dem fünften Stock. Andreas haben sie als Ersten erwischt. Wie alle 16jährigen hat er sein Glück bei unseren seltenen Beschaffungsausflügen überstrapaziert. Das graue Fleisch ist langsam. Doch es wurde täglich mehr. Es wucherte, vermehrte sich mit der Rasanz von Krebszellen. Wir wollten aus einer Apotheke Arzneimittel herausholen, sie war noch nicht geplündert. Wir hatten schon mehrere Tüten voll. Ich drängte zum Aufbruch. Andreas entdeckte das Nebenzimmer. Der Apotheker trug noch seinen weißen Kittel über all dem grauen Fleisch. Ich kann die Schreie nicht vergessen. Die Schreie, die sich nicht wie die eines menschlichen Wesens anhörten, als der Untote im weißen Kittel ein großes Stück aus Andreas Nacken biss. Immer wieder Stücke aus ihm herausfetzte. All das rubinrote Blut auf dem weißen Kittel. Spritzer, die seltsame Graffitimuster bildeten und schnell zu großen leuchtendroten Flecken wuchsen. Andreas Schreie gingen scheinbar endlos weiter, es dauerte eine Ewigkeit, bis ich merkte, dass sie durch meine eigenen abgelöst worden waren.

Regina wurde letztes Jahr erschossen. Vom Hubschrauber aus. Die Vereinten Nationen haben nach der Ausrufung des Notstandes im Sommer 2020 immer wieder Säuberungen und Aktionen aus dem Luftraum gestartet. Hubschrauber kreisten über Stuttgart, Scharfschützen versuchten, gezielt die Gehirne der grauen Gestalten zu treffen. Wenn man ihre Gehirne zu Brei schießt, bewegen sie sich nicht mehr. Sie haben Regina erwischt. Friendly fire nennt man das. Menschlichen Kollateralschaden. Ich versuche fest daran zu glauben, dass es wirklich ein Versehen war. Die Säuberungsaktionen sind mittlerweile seltener geworden. Manchmal hört man wochenlang keinen Hubschrauber. Vielleicht werden sie in anderen deutschen Städten eingesetzt. Vielleicht haben sie Stuttgart aufgegeben. Oder Deutschland.

Mario ist nach einem nächtlichen Ausflug vor sechs Monaten nicht mehr zurückgekehrt.

Und Ralf hat sich ganz in den fünften Stock zurückgezogen. Er rezitierte tagelang aus der Bibel. Er meinte, jeder sei für sein eigenes Seelenheil verantwortlich. Auf mein Klopfen reagiert er schon lange nicht mehr.

Vor einer Woche musste Eva sich übergeben. Ich dachte erst, es liegt an dem Gestank, der wie eine Bleiglocke über der Stadt hängt. Der unsere Lungen zusammenpresst. Eva kann sich einfach nicht daran gewöhnen. Ich weiß noch, wie ich im August, vier Monate nach dem ersten Erwachen des grauen Heeres, losgezogen bin, um Eva eine Freude zu machen. Sie hatte Geburtstag. Ich nahm eine kleine Haushaltsaxt mit, zum Schutz. Wir sind in Stuttgart, nicht in Amerika, und dies ist kein Hollywoodfilm, bei uns hat so gut wie niemand geladene Waffen im Schrank. Regina wartete damals hinter der gesicherten Haustür. Unsere Handys funktionierten zu dem Zeitpunkt noch. Sechs Wochen später gab es keinerlei Kommunikationsmöglichkeit mehr. Ich schaffte es irgendwie zwei Straßen weiter. Es gelang mir, in einem Laden Rasierwasser und Parfüm zu finden. Sogar zwei Dosen Deospray. Ich war fast acht Stunden unterwegs, musste mich immer wieder verstecken, Umwege machen. Acht Stunden für zwei Straßen Entfernung. Fast hätte mich das graue Fleisch noch kurz vor der Haustür erwischt. Ich rief Regina an, als ich knapp 200 Meter entfernt war. Sie brauchte fast eine Ewigkeit, um die verbarrikadierte Haustür zu öffnen. Ich habe es gerade so geschafft. Vor Angst hatte ich mir in die Hose gepinkelt. Die Welle der Untoten wogte gegen die massive Tür. Regina schloss ab, wir schoben keuchend unsere zusätzlichen Sicherungsvorrichtungen vor. Das Strahlen meiner kleinen Schwester, als sie ihre Geburtstagsgeschenke sah, ließ mich für einen kurzen Moment alles andere vergessen. Sie lächelte, als sie den ersten Flacon öffnete. Das Parfüm hieß Magnolia. Wir haben das leere Fläschchen aufgehoben, weil es so schön ist. Ich vermisse sie dermaßen, die Schönheit der Dinge: den Duft der Blumen, den Geruch aus den zahlreichen Imbissen in der Stuttgarter Innenstadt. Die Musik in den Einkaufspassagen, die Straßenmusiker, die an jeder Ecke der Königsstraße sitzen. Die jungen Leute, die sich im Sommer mit knapper Bekleidung im Schlossgarten sonnen, ihre golden gebräunte Haut, ihr Lachen. Die Punks, mit den bunten Irokesenfrisuren und ihren tragbaren CD-Spielern. Die eleganten Damen, die mit schicken Einkaufstaschen aus den Nobelboutiquen kommen. Die regenbogenbunte Fülle an Farben. Heute gibt es nur noch Grau.

Auch Eva, deren Körper sich unter meinen Händen kalt und steif anfühlt, wird zu grau verblassen. Alles ist grau. Alles, bis auf die Magnolien in der Wilhelma. Es ist April. Sie müssen jetzt blühen. Sie sind da draußen und warten auf mich. Gestern Nacht, in meinem Traum, haben sie mir ihre Botschaft geschickt. Wir warten auf dich. Wir werden dich in einen Regen aus weichem rosa Licht hüllen. Und alles wird gut. Komm zu uns.

Ich streichle Evas kalte Hände. Meine Hände sind warm und rosig. Es fühlt sich falsch an. In einer grauen kalten Welt fühlt es sich falsch an. Die Magnolien – sie sind rosa. Sie sind echt. Sie warten auf mich, in ihrer sanften Schönheit. Ich muss sie sehen. Ich brauche es so sehr. Was sind schon ein paar Kilometer. Wenn ich jetzt gehe, kann ich in zwei Stunden bei ihnen sein. Wenn ich immer geradeaus gehe, mich nicht mehr verstecke. Ich küsse Eva zum Abschied auf die Stirn. Ich werde jetzt rausgehen. Ich werde die Magnolien sehen. Ein letztes Mal ist meine Welt rosa. Mit einem Hauch weiß.