DER STOFF, AUS DEM DIE TRÄUME SIND
EBERHARD LEUCHT
Nun wartete er schon über eine halbe Stunde. Aber was sollte es? Zeit spielte momentan keine Rolle, für niemanden. Er hätte nur gerne gewusst, wie es weiterging, ob er eine Chance hatte, hier aufgenommen zu werden. Wenn nicht, dann wäre der lange, gefährliche Weg umsonst gewesen. Dann ginge es wieder hinaus, dem Tod entgegen.
Der bleiche Typ, der wohl so etwas wie einen Wachposten darstellte, hatte sich die ganze Zeit nicht von der Stelle gerührt. Er kauerte in einer Ecke auf dem blanken Betonboden, den Karabiner auf den gekreuzten Beinen abgelegt. Seine Kleidung sah verschlissen aus, mehr noch, erbärmlich - was Eric Hutter wunderte. Er hatte etwas anderes an diesem Ort erwartet.
Da kam Bewegung in den Wachmann. Er legte das Gewehr beiseite und beugte sich auf den Boden hinab. Mit einer Hand sammelte er etwas auf. Als Eric genauer hinsah, fiel ihm auf, dass dieses Etwas sich bewegte, feingliedrige schwarze Beinchen zappelten zwischen den rissigen Fingern des Mannes. Spinnen! Eine Handvoll Spinnen! Und die stopfte sich der Mann jetzt in den Mund, sorgsam darauf bedacht, dass keines der Tierchen seinem Mund entschlüpfte. Laut schmatzend begann er sein opulentes Mahl zu kauen. Fahrig streifte er sich dabei Reste von Spinnweben vom Kinn.
Eric kämpfte tapfer gegen den aufsteigenden Würgereiz an. Er hatte geglaubt, das Schlimmste eigentlich schon überstanden zu haben. Vor gar nicht langer Zeit.
Das Kellerversteck, in dem es penetrant nach gekochten Kartoffeln, gebratenem Rattenfleisch, Urin und Erbrochenem gestunken hatte, schien ihm der absolute Tiefpunkt gewesen zu sein. Wenigstens hatte er dort ein Dach über dem Kopf und schützende Mauern um sich herum gehabt. Sicherheit auf drei Quadratmetern, die man sich mit zwei oder drei anderen Menschen teilen musste. Aber die Sicherheit hatte sich als trügerisch erwiesen. Niemand hatte es voraussehen können. Wie auch?
Plötzlich war Panik ausgebrochen. Alles lief schreiend, brüllend, kreischend und wild um sich schlagend durcheinander; was im Weg war, wurde niedergetrampelt. Vielleicht hatte jemand eine Tür oder ein Fenster nicht richtig verriegelt, genauso gut konnte es sein, dass die Masse der Untoten mit ihrem Gewicht und schier unglaublicher Gewalt eine Tür aus den Angeln gerissen hatten.
Das Fauchen, Grunzen, Heulen, das Schaben von Knochen an Betonwänden und das Zischen, mit dem sich die Flut der Monster in das Kellergewölbe ergoss, erfüllte jeden mit blankem Entsetzen. Der Verstand setzte von einem Moment auf den anderen aus, pure Angst trieb jeden Einzelnen an. Es ging ums nackte Überleben. Vereinzelt fielen Schüsse. Dann die markerschütternden Schreie der ersten Opfer, die den fresswütigen Zombies in die Hände fielen …
Gut die Hälfte der Flüchtenden wurde von den eigenen Leuten totgetrampelt oder eingequetscht. Den Untoten wurde ein reichhaltiges Mahl bereitet. Wer einmal die Todesangst in den Augen der panisch davonrennenden Menschen gesehen hatte, würde diesen Anblick nie im Leben vergessen. Da war das Tier zum Vorschein gekommen. Eric musste sich eingestehen, dass er dabei keine Ausnahme gemacht hatte. Irgendwann lernte man einfach, dass einem in Zeiten wie diesen die niederen Instinkte am Leben erhielten.
Als er nach unvorstellbar langer Zeit allein im Nirgendwo wieder einen klaren Gedanken zu fassen in der Lage war, wurde ihm bewusst, dass diese Panik ihn von Carolin getrennt hatte. Das schmerzte. Und zwar ganz tief in ihm drin. Es war dieser Schmerz, gegen den es kein Heilmittel gab. Eric ließ sich auf einen Baumstumpf nieder. Über ihm hüllte sich der Himmel in düsteres Grau. Es sah nach Regen aus. Er hätte in diesem Moment seine Tränen nicht zurückhalten können, aber seine Augen blieben trocken. Seine Seele war leer und ausgebrannt. Das schmale, zerbrechlich wirkende Mädchen mit dem blassen Teint und den feinen blonden Haaren hatte allein kaum Chancen zum Überleben. Es hatte keinen Zweck, sich irgendwelchen Hoffnungen hinzugeben. Er wusste ja nicht einmal, ob sie zu denen gehörte, die das Kellergewölbe lebend verlassen hatten. Wenn sie Glück hatte, fand sie Leute, denen sie sich anschließen konnte. Es gab sie noch, vereinzelt jedenfalls, die Hilfsbereitschaft. Allerdings, wenn sie an die Falschen geriet, bedurfte es nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, was die mit einer jungen, wehrlosen Frau anstellen würden.
Eric blickte sich um. Man ließ ihn weiter warten. Das hier war mal ein Straßenbahndepot gewesen. Zwischen Dreck, Unrat und Bergen von faulem Laub sah man noch vereinzelt die Schienen. Weiter hinten versank das Gerippe einer ausgeschlachteten Straßenbahn im Halbdunkel der Halle. Was sich irgendwie gebrauchen ließ, hatte man entfernt, und gebrauchen konnte man heutzutage so gut wie alles. Der Wind rüttelte an der Wellblechtür. Der Wachmann schien von seiner Spinnenmahlzeit gesättigt und starrte wieder Löcher in die Luft. Seine Aufgabe bestand wohl nur darin, die anderen zu warnen, falls die Untoten hier durchbrachen. Mit seinem Gewehr hätte er gegen die Übermacht, die sich auf dem freien Platz vor dem Depot herumtrieb, nicht viel ausrichten können. Draußen hatte man einen der Zombies an einem Haken vor der Tür aufgehängt. Dort strampelte und fauchte er sich nun der Ewigkeit entgegen, aber der Gestank, den er ausdünstete, verhinderte, dass seine Artgenossen die Witterung von Menschen aufnehmen konnten. Eine simple Art, sich vor einem Angriff zu schützen, aber sehr effektiv. Dass die Füße des Untoten ständig gegen die Blechtür wummerten und er unentwegt fauchte, war der Preis der Sicherheit. Damit konnte man leben.
In diesem Depot und den dahinter liegenden Behausungen, Schuppen und Büros schien man es geschafft zu haben, sich ein halbwegs normales Leben einzurichten. Aber was hieß schon normal? Es war verständlich, dass sie nicht jeden reinließen und wenn, dann erst nach einer peinlich genauen Überprüfung.
Eric war auf seinen Irrwegen heute Morgen auf die drei Typen im Wald gestoßen. Ihre Kleidung wies zwar Flicken auf, aber sie war sauber. Sie wirkten relativ gelassen, manchmal erzählte einer einen Witz, die anderen lachten. Sie würden Pilze suchen, erklärten sie, nachdem Eric aus seinem Versteck getreten war und sich ihnen mit offenen, nach vorn gestreckten Händen näherte. Das hatte ihm die Sprache verschlagen. Pilze suchen! Pilze, die am Abend als Beilage zu einem Braten serviert werden sollten. Wo war er denn hier hingeraten? Konnte man sich etwas vorstellen, das banaler war? Die drei sahen aus wie ganz normale Pilzjäger, wenn sie nicht gerade bis an die Zähne bewaffnet gewesen wären. Sie hatten Eric den Weg zum Depot beschrieben und geraten, dort mal nachzufragen. Leute, die arbeiten konnten, wurden immer gebraucht.
Arbeiten konnte er. Und er würde es. Hier könnte der Traum von einem sinnvollen Leben in einer gewissen Normalität wahr werden.
»Der Sheriff erwartet Sie«, wurde Eric aus seinen Gedanken gerissen.
Ah, die Audienz stand unmittelbar bevor! Seine Exzellenz gab sich die Ehre, ihn, den Neuankömmling, zu empfangen.
Eric wurde in ein spärlich eingerichtetes Büro geführt. Es war nicht zu übersehen, dass der Raum auch zum Schlafen genutzt wurde. Ein abgeschlossenes Zimmer für jemanden ganz allein! Luxus pur.
Auf der zerkratzten, aber ansonsten leeren Platte eines Schreibtisches saß ein Mann mittleren Alters mit lässig übereinandergeschlagenen Beinen. Sein Äußeres wirkte eher unscheinbar, ein nichtssagendes Gesicht, das in der Menge unterging, dunkle, perfekt gescheitelte Haare, um sein Kinn der Glanz von Bartstoppeln. Der Buchhaltertyp schlechthin. Der Blick aus den grauen Augen war auf den Eintretenden gerichtet. Ganz anders die Frau zu seiner Rechten, sie zog sofort alle Blick auf sich. Eine blonde Haarmähne, die dringend der Hand eines Friseurs bedurft hätte, wurde von einem Band in ihrem Nacken nur mühsam gebändigt. Ausgewaschene, aber saubere Jeans formten prächtige Schenkel nach. Eric stellte sich in Gedanken schon den dazugehörigen Hintern vor. Ein weiterer Mann hielt sich im Hintergrund, ein massiger Kerl, der so breit wie hoch war. Ein wandelnder Muskelberg mit einem Stiernacken, kahl geschorenem Schädel und martialisch anmutenden Tätowierungen auf den Armen, die den Umfang von Oberschenkeln kräftig gebauter Männer hatten. Er machte den Eindruck, als würde er zur Körperertüchtigung jeden Morgen zehn bis zwanzig Köpfe von Untoten mit bloßen Händen zerquetschen.
»Der Sheriff also«, richtete Eric das Wort an den Unauffälligen, der trotzdem unschwer als Chef im Ring zu erkennen war.
Der Angesprochene nickte. »Solch einen Namen«, erwiderte er nicht ganz uneitel, »sucht man sich nicht selbst aus, man hat ihn mir gegeben. Ansonsten heiße ich Elmar Berg.«
»Eric Hutter«, stellte sich Eric seinerseits vor.
Elmar, der Sheriff, winkte ab. »Namen tun nichts zur Sache. Wir fragen nicht danach. Warum sollten wir? Polizeiliche Meldeformulare sind knapp.« Er lachte als Einziger über seinen Witz. »Wenn Sie sich Max Müller nennen wollen, bitteschön, niemand hat hier ein Problem damit. Sie beabsichtigen also, sich bei uns häuslich niederzulassen?«
»Das war mein Plan, ja - wenn es mir gestattet wird. Selbstverständlich bin ich bereit, meinen Beitrag für die Gemeinschaft zu leisten.«
»Davon gehe ich aus. Es mangelt wirklich nicht an Arbeit. Was haben Sie früher getan? Verstehen Sie zu kämpfen?«
»Nun ja, meine schärfsten Waffen waren Worte.«
»Journalist?«
Eric nickte, obwohl er verstehen konnte, dass es derzeit wenig Bedarf an Zeitungsfritzen gab. »Ich kann aber auch …«
»Es kann nicht schaden«, fiel ihm Elmar ins Wort, »jemanden zu haben, der unfallfrei ein paar Sätze aufs Papier bringen kann. Wissen Sie, die meisten Leute hier leiden noch immer unter dem Trauma, dass sie kaum mehr in der Lage sind, ihren Namen zu schreiben. Es wird sich eine Aufgabe für Sie finden.«
»Heißt das …«
»Ja, ja. Sie sollten sich nur merken, dass hier allein meine Regeln gelten und sich gefälligst jeder daran zu halten hat. Jeder! Diese Regeln besagen, dass alles zu vermeiden ist, was der Gemeinschaft in irgendeiner Form schadet. Ich will das gleich klarstellen, das hier ist keine Demokratie, hier hat nur einer was zu sagen, und das bin ich. Alles andere führt nur ins Chaos. Ich habe mir die Verantwortung für die Gemeinschaft bestimmt nicht ausgesucht. Wer sich hier etwas zuschulden kommen lässt, sollte ja nicht einen fairen Prozess erwarten. Der fliegt raus, den Rest erledigt der Mob da draußen. Und wir sparen uns sogar noch die Kugel.«
Eric nickte. »Klar.«
»Da Sie gerade hier sind, hätte ich sogar schon einen Auftrag für Sie. Und ich frage nicht nach Freiwilligen.«
Eric blickte den Sheriff erwartungsvoll an.
Der sprang vom Tisch, winkte ihn zu sich und deutete auf eine Landkarte an der Wand.
»Sehen Sie«, erklärte er und tippte auf einen Punkt auf der Karte, »wir befinden uns genau hier, in unmittelbarer Nähe zur tschechischen Grenze. Und hier«, der Finger rutschte ein kleines Stückchen nach unten, »führt eine Art unterirdischer Gang direkt ins Nachbarland. Wir denken, es handelt sich um die Überreste eines ehemaligen Stollens. Hier wurde in der Vergangenheit ja überall Erz abgebaut. Der größte Teil ist natürlich verschüttet, aber dieser Gang ist begehbar. Vielleicht wurde er früher, während des Zweiten Weltkriegs oder des Kalten Kriegs von Schmugglern benutzt. Heute jedenfalls dient er dem gleichen Zweck.«
Eric nickte. »Warum hauen wir durch diesen Tunnel nicht einfach ab? Dann wären wir frei und in Sicherheit.«
»Keine Chance. Glauben Sie, das wurde noch nicht versucht? Niemand ist weiter als zehn oder zwanzig Meter gekommen. Ich schätze, dank satellitengestützter Abwehr. Dazu die Patrouillen der tschechischen Armee nebst den NATO-Verbänden. Außerdem gibt es noch einen Minengürtel, dessen Breite wir nicht einmal ahnen können.
Uns ist es aber gelungen, Verbindung mit Leuten von drüben aufzunehmen. Die schicken über diesen Kanal Sachen zu uns, die wir brauchen, Nahrungsmittel und Medizin zum Beispiel. Da ich mich für die Leute hier nun mal verantwortlich fühle, nutze ich jede Möglichkeit, sie mit dem Lebensnotwendigen zu versorgen.«
»Und die Tschechen?«, fragte Eric. »Die können von ihrer Seite aus den Tunnel betreten und das lässt man zu?«
»Ja, so ist es. Der EU scheint nicht daran gelegen, dass wir alle draufgehen. Ein Zeichen humanitärer Hilfe auf der Basis von Privatinitiative, wenn man so will. Ich halte die Verbindung am Leben, in unser aller Interesse.«
Elmar öffnete einen Koffer, der randvoll mit Geldscheinen gefüllt war. »Sehen Sie«, machte er Eric darauf aufmerksam, »wir haben etwas, womit wir augenblicklich nichts anfangen können, die da drüben aber sehr wohl. Was soll ich sagen, wir sind sozusagen im Geschäft.
Vor einiger Zeit hat es auch einen Banker zu uns verschlagen, einen von denen, die früher das ganz große Geld gemacht haben. Ich habe ihn davon überzeugen können, dass es unter den gegenwärtigen Umständen mit der unbegrenzten Geldvermehrung erst mal vorbei ist und dass seine Millionen nur noch dafür gut sind, sich den Arsch abzuwischen. Diesen Argumenten hatte er wenig entgegenzusetzen, wenn ich auch nicht weiß, ob es ihm leichtgefallen ist, sich von all den schönen Scheinchen zu trennen.«
Elmar entnahm dem Koffer ein dickes Bündel Geldscheine und packte es in einen Lederbeutel.
»Sie werden mit Lydia«, er deutete auf die Blondine, »die neue Lieferung in Empfang nehmen.« Er winkte Eric noch einmal an die Landkarte. »Die Straße ist bis zu dieser Stelle befahrbar. Gleich hinter der folgenden Ortschaft ist die Brücke eingestürzt. Deswegen geht es von da zu Fuß weiter durch den Wald. Niemand kennt den Weg besser als Lydia, sie ist sozusagen unser Chefkurier. Im Wald streunen übrigens nur vereinzelt Untote herum, aber keine größeren Gruppen, die Ihnen gefährlich werden könnten. So weit alles klar?«
Eric nickte.
»Wie sieht’s mit Waffen bei Ihnen aus?«
Eric zog eine Makarow aus der Tasche, entriegelte das Magazin und ließ es herausfallen. »Drei Schuss«, erklärte er lakonisch, »und noch ein volles Magazin.«
»Nicht gerade viel. Alfred«, Elmar wandte sich an den Tätowierten, der die ganze Zeit über reglos im Hintergrund gestanden hatte, »besorg dem Herrn ausreichend Munition. Neun Millimeter, nicht wahr?«
»Genau.«
Der Muskelberg setzte sich in Bewegung.
»Mein Bodyguard«, fügte Elmar unnötigerweise hinzu.
Lydia erwartete ihn vor einem SUV, dessen Typ nicht mehr zu erkennen war. Man hatte sein Äußeres der neuen Zeit und den Gegebenheiten angepasst. Die auffälligsten Veränderungen waren die starken Metallgitter vor den Scheiben und die verstärkten Stoßfänger. Die Türen hatte man mit Metallplatten verkleidet und vorn einen stählernen Rammsporn angebracht, wie ihn einst antike Galeeren benutzten. Lydia stützte sich auf einen Stiel aus massivem Holz, an dessen oberem Ende eine lange Metallklinge befestigt war.
»Wir benutzen alle möglichen Hieb- und Stichwaffen«, erklärte sie auf Erics fragenden Blick, »um erstens Munition zu sparen und zweitens mit dem Knallen von Schusswaffen nicht noch mehr Untote auf uns aufmerksam zu machen. Ich halte die Monster mit dem Ding hier lieber auf Distanz. Ich mag es nicht, wenn sie mir zu nahe kommen.«
»Ich hatte ein Küchenmesser mit einer langen, stabilen Klinge«, erwiderte Eric. »Irgendwann ist es aber im Kopf einer dieser Kreaturen abgebrochen.«
»Warte!« Lydia eilte davon.
Wenig später kehrte sie zurück und überreichte Eric einen Dolch mit verziertem Griff und geschwungener Klinge.
»Ich habe Manuel, einen meiner Freunde, überzeugen können, dass er dir das gute Stück leihweise überlässt«, lachte sie. »Er hat den Dolch aus einem Museum mitgehen lassen, als dort gerade geplündert wurde. Egal, er erfüllt seinen Zweck.«
Ihr Atem streifte sein Gesicht, gleichzeitig wehte ihm der zarte Duft von Veilchen entgegen. Lydia roch einfach angenehm und frisch. Und auf gewisse Weise aufregend. Noch ehe er den Gedanken zu Ende gedacht hatte, saß sie schon hinter dem Steuer und ließ den Motor an. Eric kletterte auf den Beifahrersitz und zog die Tür hinter sich zu.
Jeder Griff schien eingeübt und hundertmal geprobt. Das große stählerne Tor in der massiven Mauer, die das Gelände des Depots umschloss, wurde blitzschnell geöffnet, der SUV jagte hindurch, zwei, drei Schüsse wurden abgefeuert, dann krachten die schweren Flügel auch schon wieder zu. Ein spürbarer Ruck ging durch den Wagen, als eine heranstürmende Kreatur gegen die Motorhaube prallte und mit voller Wucht zur Seite geschleudert wurde.
Lydia trat das Gaspedal voll durch. Der Motor heulte auf. Die Beschleunigung drückte Eric in die Polster des Sitzes. Lydia riss das Lenkrad herum und wich einem Zombie aus. Wenn sich der Zusammenstoß nicht vermeiden ließ, rammte sie die umherwandelnden Leichen mit dem Wagen. Binnen weniger Minuten waren die Scheiben ringsum mit Blutspritzern übersät. Ein abgerissener Arm flog durch die Luft, krachte gegen das Gitter der Seitenscheibe und fiel zu Boden. Lydia steuerte den Wagen durch den Strom der Untoten wie ein Kapitän sein Schiff durch die raue See. Konzentriert blickte sie durch die Windschutzscheibe, lavierte mit Brems- und Gaspedal durch ein Meer torkelnder Leiber.
»Wird gleich besser«, presste sie durch die zusammengekniffenen Lippen, ohne den Blick von dem, was mal eine Straße gewesen war, zu wenden. »Am Ende der Ausfahrt wird der Weg frei sein. Die verdammten Biester sammeln sich hier, weil sie Menschenfleisch wittern.«
Erics Hände krallten sich in den Haltegriff an der Tür, während er bei jedem Ausweichmanöver hin- und hergeschleudert wurde.
Wie Lydia gesagt hatte, leerte sich die Straße, kaum dass die letzten Häuser der Ansiedlung im Rückspiegel verschwanden. Nun galt es einzig, den vielen Schlaglöchern auszuweichen. Die ehemalige Bundesstraße hatte die Konsistenz eines Streuselkuchens. Nur vereinzelt fielen ihnen die schmutzig grauen Silhouetten auf, die durch die Landschaft torkelten. Kam ihnen auf der Straße einer der Untoten entgegen, wich Lydia ihm gekonnt aus. Die durchdrehenden Reifen wirbelten Splitt und Dreck auf, wenn sie wieder Gas gab. Je weiter sie fuhren, desto mehr machte die Natur einen unberührten Eindruck, als schliefe die Welt still und friedlich. Einzig die zerfallenen Häuser und die ausgebrannten Autowracks, die an manchen Stellen die Straße säumten, störten die Idylle. In dieser Trostlosigkeit gab es selbst für Untote nichts mehr zu holen.
Lydia stellte den Wagen im Schatten einer mächtigen Eiche ab und verschloss ihn. »Wir sollten uns beeilen, damit wir vor Einbruch der Dunkelheit den Stollen erreichen«, drängte sie. »Bei Nacht möchte ich diesen Kreaturen nicht begegnen, da sind sie uns leider überlegen. Sie werden einzig von ihrem Fressinstinkt geleitet, aber wehe, wenn sie einmal Witterung aufgenommen haben.«
Lydia führte. Eric zog seine Pistole, um ihr den Rücken freizuhalten.
»Steck das Ding weg!«, zischte sie. »Wir sollten es möglichst vermeiden, zu schießen. Damit locken wir sie nur an.«
»Okay.« Die Makarow wanderte wieder in die Jackentasche. Stattdessen riss Eric den Dolch aus der verzierten Lederscheide.
»Siehst du, alles ruhig«, verkündete Lydia zufrieden.
Sie hatten ihr Ziel erreicht. Eric entspannte sich.
Der Eingang in den unterirdischen Gang war gut getarnt. Hätte Lydia ihn nicht darauf aufmerksam gemacht, hätte Eric die stählerne Tür zwischen einem Erdwall, dichtem Gestrüpp und meterhoch wucherndem Grases übersehen.
»Wir haben eine provisorische, aber sehr stabile Tür angebracht«, erklärte sie nun, »um zu verhindern, dass sich diese Biester in den Stollen verirren. Das bewahrt uns vor Überraschungen der unangenehmen Art. Es kommt nämlich vor, dass man hier ein oder zwei Tage auf die Lieferung warten muss. Nun ist’s da drin sicher.«
Der Angriff kam unvermittelt. Aus einem Haufen welken, modrigen Laubes kam eine Hand geschossen und packte Eric an der Kehle. Ihr folgte sogleich der Rest des Körpers. Eric, verzweifelt nach Luft ringend, blickte in tote Augen. Bleiche, verwesende, mit Schorf übersäte Haut konturierte einen Totenschädel wie altes, brüchiges Papier. Heißhungrig klappte der Kiefer mit den schwarzen Zahnstümpfen auf und zu. Eine tiefe Wunde klaffte von der Kehle bis in die Brust und faulendes Fleisch, auf dem Madenkolonien nisteten, quoll daraus hervor.
Ein sirrendes Geräusch, ein heißer Luftzug streifte die Haut von Erics Gesicht. Eine stählerne Klinge bohrte sich in das rechte Auge des Untoten, spaltete den Schädel und trat aus dem Hinterkopf wieder aus. Das Fauchen der Kreatur ging in ein Röcheln über, das langsam erstarb. Der Griff an Erics Kehle löste sich. Er schnappte wie ein Ertrinkender nach Luft. Die spröde Haut um das Auge des zu Boden stürzenden Zombies platzte auf; ein blassweißer Strom aus Maden brach daraus hervor, die an Blättern und Grasstängeln kleben blieben. Eric machte einen großen Schritt, um der schleimig glänzenden Masse auszuweichen. Es war nicht ratsam, mit dem abstoßendem Zeug in Berührung zu kommen. Ekel schüttelte seinen ganzen Leib, als er sich endlich von dem aufgedunsenen Leichnam entfernt hatte, dabei war ihm der Anblick alles andere als neu gewesen.
«Das ist Elvis«, grinste Lydia und zog ihren Speer aus dem Schädel des nun Toten zu ihren Füßen. Schmutzig graue, von Maden zerfressene Gehirnmasse bahnte sich einen Weg aus der schwarzen Öffnung, die gerade eben noch ein Auge gewesen war. »Hinter dem bin ich schon lange her. Er ist mir doch tatsächlich immer wieder entwischt. Für einen Zombie war er verdammt schnell.«
»Das war knapp«, keuchte Eric und stützte sich mit den Händen an einem Felsstück nahe des Tores ab. Die Knie wollten die Last seines Körpers nicht mehr tragen.
»Nein, war es nicht«, widersprach Lydia, derweil sie die schwere Stahltür aufwuchtete. Ein triumphierendes Grinsen zuckte um ihre Mundwinkel. »Ich war darauf vorbereitet.«
»Du hättest mir …«
»Nein«, schnitt sie ihm das Wort ab, »denn dann hättest du nur alles vermasselt und er wäre wieder davongekommen. Du hättest dich anders und viel vorsichtiger bewegt, das hätte ihn gewarnt.«
»He«, brach nach der Angst der Zorn über Lydias Leichtsinn aus Eric heraus. »Diese Hohlköpfe können nicht denken und demzufolge auch keine Strategie …«
»Aber sie haben Instinkte«, unterbrach Lydia ihn ungeduldig, »die verdammt gut funktionieren und die zu unterschätzen man sich hüten sollte. Und nun komm endlich, ehe du mit deinem Geschrei noch mehr von denen anlockst!«
Eric warf einen letzten Blick auf die Kreatur. Eine schwarze, mit Blut, Dreck und Eiter verklebte Haarsträhne kringelte sich in die hohe, käsige Stirn des Toten. Nein, mit dieser aufgequollenen Visage und den zerfressenen Lippen tat man dem King Unrecht.
Mit einem dumpfen Knall fiel die Stahltür hinter ihm zu. Im gleichen Augenblick zitterte der Lichtkegel einer starken Taschenlampe durch die Dunkelheit um sie herum.
»Bleib dicht hinter mir«, riet ihm Lydia. »Dann kann dir nichts passieren.«
Das war leichter gesagt als getan. Lydia war nicht mehr als eine Silhouette, die schwankend dem Lichtkreis, den die Lampe auf den Boden warf, folgte. Eric stolperte mehrmals über Unebenheiten und hätte dabei Lydia mehr als nur einmal beinahe mit zu Boden gerissen. Außerdem stieß er sich immer wieder den Kopf an steinernen Hindernissen.
Das Licht kroch schließlich in eine Nische, in der zwei zusammengeknüllte Decken lagen.
»Unser Nachtlager«, tauchte Lydias scharfgeschnittenes Profil im Lichtschein der Taschenlampe auf. »Leg dich hin und versuche zu schlafen. Ich übernehme die erste Wache.«
Die Decken waren feucht und rochen muffig wie das modrige Laub, auf dem sie ausgebreitet waren. Sicher trieb sich auch allerlei Getier in dieser Nische herum, mit dem Eric nur ungern Bekanntschaft gemacht hätte. Aber er konnte der Verlockung, die inzwischen bleischweren Glieder auf das weiche Lager zu betten, nicht widerstehen. Als die Taschenlampe erlosch, versank die Welt in absoluter Dunkelheit. Da er nichts mehr sehen konnte, schienen alle anderen Sinne geschärft, vor allem das Gehör. Irgendwo raschelte etwas und da war das Echo eines Tropfens, der in eine Pfütze fiel. Nicht weit entfernt war ein Schaben zu vernehmen, das bald von einem Rauschen übertönt wurde. War da nicht das Trippeln von kleinen nackten Füßchen? Ratten vielleicht? Eric zweifelte, dass er unter diesen Umständen in der Lage war, einschlafen zu können, in dieser Dunkelheit, die jedes noch so kleine und weit entfernte Geräusch um ein Vielfaches verstärkte, dass man das Atmen einer Fliege zu hören glaubte.
Als ihn irgendwann jemand unsanft rüttelte, wurde ihm bewusst, dass er doch weggedöst war. Das hatte gut getan. Verdammt gut! Aber nun war es vorbei damit. Geblendet vom grellen Licht der Taschenlampe kniff er die Augen zusammen. Lydia half ihm aus den Decken und drückte ihm die Lampe in die Hand. Der Stein, auf den er sich nun niederließ, war hart und unbequem. Und die Augenlider waren noch immer so schwer!
»Schlaf nicht ein!«, ermahnte Lydia ihn. »Weck mich in drei Stunden.«
Also in einer Ewigkeit.
Eric war enttäuscht. Er hatte irgendwie mehr und etwas anderes erwartet. Sie hatten vier nicht allzu große Stoffbeutel aus der Kipplore entnommen, die mit etwas Grobkörnigem wie Sand oder Zucker gefüllt waren. Schnell wurden die Beutel in ihren Rucksäcken verstaut. Auf ein geheimes Zeichen hin setzte sich die Lore mit der Geldtasche in Bewegung. Eine Winde zog sie in Richtung tschechische Grenze. In die Freiheit; Eric hatte ihr sehnsüchtige Blicke hinterhergeschickt.
Ohne Zwischenfall hatten sie den Weg durch den Wald bis zum Auto zurückgelegt.
Eric warf seinen Rucksack auf den Rücksitz und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Was ist da eigentlich drin?«, wollte er wissen.
»Sieh doch nach«, meinte Lydia.
Eric riss die Naht eins Stoffbeutels auf. In seinem Inneren fanden sich mehrere in transparentes Plastik verpackte Päckchen mit einer kristallinen Substanz.
Ein Verdacht stieg in Eric auf. »Ist es das, was ich vermute?« Er hob den Kopf und blickte in die Mündung von Lydias Revolver. Ein breites Grinsen war ihre Antwort.
»Methamphetamin«, ließ sie sich schließlich zu einer Erklärung herab. »Besser bekannt als Crystal Meth. Ja, du hast richtig vermutet.«
»Und was soll das? Dafür haben wir unser Leben riskiert?«
»Ach, weißt du, das Zeug ist sehr hilfreich, wenn die Nahrungsmittelvorräte zur Neige gehen. Die Droge sorgt dafür, dass die Leute trotzdem gut gelaunt, ja, euphorisch ans Tageswerk gehen und nicht nach Essen fragen. Sie kommen lange ohne Nahrung aus. Man muss nur für genügend Nachschub sorgen. Hier wurde noch nie etwas anderes als Crystal geliefert.«
»He, das Zeug ist gefährlich und in solch einer Situation, in der die Menschen empfindlich auf alles reagieren, ganz besonders. Du willst doch nicht sagen, dass es bisher keine Opfer gefordert hat?«
»Nennen wir es natürliche Auslese.« Lydias Augen funkelten wie Eiskristalle an einem frostigen Wintertag. »Umso mehr bleibt für die, die überleben.«
Eric schluckte. Der Lauf des Revolvers setzte seinem Traum von einem besseren Leben ein jähes Ende. Alles was blieb, war Hoffnungslosigkeit. Der schöne Schein hatte getrogen. Nicht zum ersten Mal in seinem Leben. Dass Lydia nicht ohne Grund auf ihn zielte, sollte er sogleich erfahren.
»Natürlich darf im Depot niemand erfahren, was hier gespielt wird. Das gäbe einen Aufstand. Ja, wir haben einen hohen Verschleiß an Kurieren, denn es kehrt immer nur einer zurück, und zwar der, der eingeweiht ist. Wem kann man in solch einer heiklen Angelegenheit auch vertrauen? Am besten niemandem. Nein, ich bin keine eiskalte Killerin, falls du das glauben solltest. Normalerweise läuft das anders. Jedes Mal hat sich hier um das Auto eine Horde von Untoten versammelt. Hangabwärts befindet sich ein Gehöft, in dem sie sich aufhalten. Wahrscheinlich riechen sie den Diesel, ihr Instinkt sagt ihnen, dass da Menschenfleisch zu erwarten ist. Deswegen kommen sie hoch. Um die Lieferung für die Gemeinschaft zu retten, muss sich einer der beiden Kuriere opfern, indem er die Untoten ablenkt, damit der andere mit dem Auto abhauen kann. Welche Rolle mir zugedacht ist, dürfte keine Frage sein, nicht wahr? Heute sehe ich mich leider gezwungen, die Sache auf andere Art zu klären.«
Die Sache klären nannte sie das! Erics Pistole befand sich in der Jackentasche. Damit er sie nicht verlor, hatte er den Reißverschluss geschlossen. Ehe er an die Waffe herankam, hätte er längst eine Kugel abbekommen. Im günstigsten Fall in den Kopf.
»Das ist Elmar Bergs Gesetz«, fuhr Lydia ungerührt fort. »Ach ja, der Banker, den er erwähnte, hat seinen Safe natürlich nicht der klugen Worte wegen für Elmar geöffnet. Dazu bedurfte es schon einer vorgehaltenen Pistole. Ja, so sind sie, diese Banker, freiwillig rücken die kein Geld raus, selbst wenn es für sie völlig wertlos geworden ist. Immerhin hat Elmar ihm versprochen, ihn vor den Zombies zu schützen. Er hat sogar Wort gehalten und zwar, indem er ihn in den Safe sperrte. Vor den Untoten war der Banker zweifellos sicher, aber du kannst dir vorstellen, wie hoch die Lebenserwartung in einem luftdicht verschlossenen Tresor ist.«
Genauso hoch wie die seine vor Lydias geladenem Revolver, war sich Eric sicher. Aus der Traum …