»Ich weiß nicht, womit die Menschen im dritten Weltkrieg kämpfen, aber im vierten werden es Keulen und Steine sein.«

ALBERT EINSTEIN

 

 

1. SCHICKSAL

 

Todesangst spiegelte sich in Cassidys saphirblauen Augen, als die Siebzehnjährige die schmale Erdspalte westlich ihres Dorfes entlang hetzte. Sie lehnte sich für einen kurzen Augenblick erschöpft an die Felswand, schon zischten die ersten Kugeln an ihr vorbei. Gut einen Kilometer war sie bereits gerannt, verfolgt von einer barbarischen Gang, die gerade ihre Siedlung überfallen hatte und sie nun wie ein Tier jagte. Ein verzweifelter Blick zum Himmel zerstörte jede Hoffnung auf Flucht. Viel zu steil waren die kahlen Felsen, als dass sie sie gefahrlos hätte erklimmen können. Die tiefe Schlucht war glücklicherweise sehr verwinkelt, so dass die Jäger ihre Beute immer wieder kurz aus dem Sichtfeld verloren.

Cassidy kannte die Spalte gut. Alle Kinder ihres Dorfes spielten hier, geschützt vor Sonne und wilden Raubtieren. Sie kletterte auf einen Felsvorsprung und versteckte sich in einem Loch, gerade groß genug für das drahtige Mädchen. Es dauerte nicht lange, bis die Verfolger an ihr vorbeiliefen und ihr Verschwinden bemerkten. Die meisten von ihnen trugen dunkle Lederkleidung und keuchten vor Erschöpfung, doch die Aussicht auf so ein junges, unschuldiges Ding ließ ihre sadistische Natur über sich hinauswachsen. Zwanzig Minuten suchten sie vergeblich nach ihr. Cassidy konnte sie aus ihrem Versteck sogar beobachten. Kaum ein Kind hatte sie hier je gefunden und auch die Gang schien überzeugt von ihrer Flucht zu sein.

»Die kommt sowieso allein zurück!«, hörte sie einen der Männer rufen. »Wo soll die kleine Schlampe schon hin?«

Er hatte nicht ganz Unrecht. Ihr Heimatdorf lag abgeschieden inmitten der Steppe und die nächste Siedlung befand sich zwei Tagesmärsche weit entfernt. Trotzdem seufzte sie erleichtert, als die Verfolger abzogen und sie ihrem Schicksal überließen. Allmählich gelang es ihrem Unterbewusstsein, Ordnung in das Chaos zu bringen. Ihre Gedanken klarten auf und die Ereignisse, die sie zu der überstürzten Flucht veranlasst hatten, spielten sich erneut vor ihren Augen ab.

Cassidy sah sich selbst über einen Holzeimer gebeugt beim Waschen ihrer hellblonden, strähnigen Haare. In dem trüben Wasser erblickte sie das Spiegelbild ihrer Mutter, die sich bereits mit einem mehrfach geflickten Handtuch abtrocknete. Auf ihrer rechten Gesichtshälfte war deutlich eine tiefe Narbe zu erkennen. Ein Andenken an ihr Dasein in den Großstadtslums zu Zeiten des globalen Zusammenbruchs vor dreiundzwanzig Jahren, ehe Cassidys Eltern den anarchistischen Zuständen in die Steppe entkommen waren. Die Frau schüttelte ihre Kleider in der Morgensonne aus und rief ihrer Tochter etwas zu, aber im Plätschern des Wassers verhallten die Worte ungehört. Cassidy richtete sich auf, um sie besser verstehen zu können. Ihre Mutter rollte mit den Augen, weil sie ihren Satz wiederholen sollte, als sie unterbewusst ein herannahendes Pfeifen vernahm. Ihr Blick wendete sich in die Richtung des Geräuschs, da durchschlug die Gewehrkugel bereits ihren Kopf und ließ sie leblos zusammenbrechen.

Verzweifelt rief das Mädchen nach ihrem acht Jahre älteren Bruder Caiden, der mit einer Bockflinte bewaffnet und gefolgt von ihrem Vater aus der gemeinsamen Wellblechhütte gestürmt kam. Sie alarmierten die Siedlung, ließen die angeketteten Jagdhunde frei und schrien Cassidy zu, sich in der Hütte zu verstecken. Mit lautem Motorengeheul sprangen vier schwarze Wüstenbuggys über den Erdwall, der das Lager vor den häufigen Steppenwinden schützte. Die Besatzung bestand aus je zwei Männern, einem Fahrer und einem Bordschützen, der wahllos in die panisch schutzsuchende Menge schoss. Dreißig Zentimeter lange Klingen funkelten im Sonnenlicht an ihren Felgen. Nur wenige Bewohner des Dorfes verfügten über stabile Behausungen. Dutzende primitive Zelte übersäten den Boden und nicht alle schafften es, sie rechtzeitig zu verlassen. Die verzweifelte Suche nach ihrem Gewehr wurde einem jungen Paar zum Verhängnis, als einer der Buggys quer durch ihr Nachtlager raste. Während die Frau das zweifelhafte Glück hatte, direkt mit dem Kopf in die scharfen Messer zu geraten, wurde ihr Freund um Hilfe schreiend davongeschleift.

Zwei mit Eisenplatten gepanzerte Pick-ups preschten kurz darauf die östliche Zufahrtsstraße herauf und stoppten am Eingang der Siedlung. Eine Handvoll bewaffneter Männer in schwarzer Lederkluft sprang von den Ladeflächen und schnitt den flüchtenden Menschen den Weg ab. Gezielt erschossen sie wehrhafte Bewohner und stießen anschließend unaufhaltsam in das Dorf vor.

Caiden hockte zusammen mit seinem Vater hinter einem Brunnen aus alten Backsteinen, der nahe ihrer Hütte Schutz vor den Angreifern bot. Schon vor Jahren hatten sich die beiden die mit Sandsäcken verstärkte Defensivstellung gebaut, um den gelegentlichen Übergriffen marodierender Banden effektiver entgegentreten zu können. Durch lautes Gebrüll versuchten sie mit ihren Nachbarn eine wirksame Verteidigung aufzubauen, doch im ohrenbetäubenden Motorengeheul der Wüstenbuggys und dem chaotischen Bellen der Jagdhunde gingen ihre Anweisungen ungehört unter. Cassidy war ins Innere der Wellblechhütte geflüchtet und verfolgte das Geschehen mit einem Auge an der Eingangstür. Als Caiden die Aussichtslosigkeit ihres letzten Aufbegehrens erkannte, klopfte er seinem Vater auf die Schulter und lief anschließend gebückt auf seine eingeschüchterte Schwester zu. Er drückte ihr eine mit Wasser gefüllte Feldflasche in die Hand, die er bereits für die tägliche Jagd vorbereitet hatte. Die Worte, die er ihr dabei zurief, die er ihr ins Gesicht schrie, würde sie nie wieder vergessen können:

 

»Lauf! LAUF, VERDAMMT NOCHMAL! LOS!«

 

Sein Befehl hallte noch immer durch ihren Kopf, zusammen mit dem Geschrei der sterbenden Freunde und Nachbarn. Traumatisiert musterte Cassidy leise schluchzend die Umgebung. Die spärliche Vegetation bestand aus trockenen Gräsern und verdorrten Überresten von Bäumen, die mit Entstehung der Spalte ihre Lebensgrundlage verloren hatten. Eine bedrückende Stille lag in der Luft. Kein Windhauch, keine Menschen oder Tiere, die Geräusche von sich gaben. Nachdem sie sich beruhigt hatte, konnte sie ihren allmählich langsamer werdenden Herzschlag hören.

Cassidy versuchte sich von den grausamen Bildern abzulenken, indem sie sich an die Überlebensstrategien erinnerte, die sie ihr älterer Bruder einst gelehrt hatte. Caiden unternahm hin und wieder Wanderungen zu dem befreundeten Dorf, das zwei Tagesreisen weiter westlich lag. Entgegen dem Willen ihrer Eltern hatte er sich ein paar Mal von seiner Schwester begleiten lassen, doch nun musste sie den Weg alleine finden, wenn sie überleben wollte. Cassidy beschloss sich zunächst einen Überblick zu verschaffen und suchte nach einer geeigneten Stelle, um die Felswand hinaufzuklettern. In östlicher Richtung stieg eine gewaltige Rauchwolke in den Himmel. Die Gang hatte ihre Siedlung in Brand gesteckt. Für einen Moment schloss das Mädchen die Augen in einem erneuten Anfall von Trauer und Verzweiflung, zwang sich anschließend jedoch, dem Überlebenstrieb Vorrang zu gewähren. Sie blickte gen Westen, wo sich ein seltsam anmutender Wald auf einem Hügel erhob, an dessen Fuße es nichts als kahle Steppe gab. Die Wurzeln der toten Bäume erschwerten die Erosion und hielten so auch Jahrzehnte nach ihrem Tod die Erde an Ort und Stelle. Die trotzigen Gewächse stellten außerdem den ersten Wegpunkt auf der Reise in das Nachbardorf dar.

Vorsichtig ließ sich Cassidy aus ihrem Versteck an der Felswand zurück auf den Grund des Grabens hinabgleiten und begann ihre Wanderung ins Ungewisse. Ohne Nahrung und mit dem spärlichen Wasservorrat musste sie ihre Kräfte einteilen und konzentrierte sich darauf, gleichmäßig einen Fuß vor den anderen zu setzen. Glücklicherweise spendete die Spalte den ganzen Tag lang kühlen Schatten und reduzierte so ihren Flüssigkeitsverlust.

Erst kurz vor Einbruch der Nacht erreichte Cassidy den bewaldeten Pikahügel. Er verdankte seinen Namen den inzwischen verschwundenen Pfeifhasen, die hier vor der Klimaerwärmung gelebt hatten. Die Bäume selbst waren schon vor Jahrzehnten in der Hitze verdorrt, lediglich am Boden behaupteten sich vereinzelte Gräser und Sträucher. Trotzdem konnte sie nirgendwo etwas Essbares finden, um ihren Hunger zu stillen. Das Wasser aus der Feldflasche hatte den Tag nicht überlebt. Zu anstrengend war die Hetzjagd durch die Schlucht gewesen. Als sich die Dunkelheit wie ein kalter Schleier über die Steppe legte und ihr ausgezehrter Körper vor Erschöpfung zu zittern begann, rollte sich das Mädchen in einer weichen Mulde zusammen und schlief binnen weniger Minuten ein.

Während der Nacht wälzte sich Cassidy von Alpträumen geplagt auf dem Boden hin und her. Gern hätte sie sich mit Zweigen oder trockenen Blättern zugedeckt, doch ihr Bruder lehrte sie bereits als Kind, dass derartige Versteckmöglichkeiten Spinnen und ähnlich nachtaktive Jäger magisch anziehen würden. An eine großflächige Räumung ihres Nachtlagers war bei Dunkelheit nicht zu denken, daher blieb ihr nichts anderes übrig, als die bittere Kälte mit angezogenen Armen und Beinen zu ertragen.

 

***

 

Als am Morgen endlich die ersten Sonnenstrahlen durch die hölzernen Baumkronen fielen, erinnerte Cassidy jeder einzelne Knochen an den unbequemen Lagerplatz. Die Hilflosigkeit stand ihr ins verschmutzte Gesicht geschrieben, während sie sich ächzend erhob und den Staub aus ihren strähnigen Haaren schüttelte. Kaum ein Windhauch, der in den dürren Ästen rauschte. Keine Menschen, die bereits ihrem Tagwerk nachgingen. Sie war allein. Ihre ausgetrocknete Kehle schmerzte, ihre spröden Lippen brannten wie Feuer und ihre taube Zunge fühlte sich wie Sandpapier an.

Ihr vermeintliches Ziel lag nur noch einen Tagesmarsch entfernt, aber die schattige Zuflucht ohne Wasser vor der heißen Mittagszeit zu verlassen, um quer durch die Steppe zu wandern, wäre glatter Selbstmord gewesen. Sie musste die große Hitze abwarten, wenn sie die Wanderung ins Nachbardorf überleben wollte. Ihre blauen Augen starrten apathisch in den toten Wald hinein, während ihre Gedanken unweigerlich zu den Schrecken des vergangenen Tages zurückkehrten. Der leblose Blick ihrer Mutter und das Blut im Sand direkt vor ihr hatte sich in ihr Gedächtnis eingebrannt. Überfälle auf ihr Dorf gab es, seit sie denken konnte, aber nur selten waren die Gangs so brutal vorgegangen. Meist beschränkten sie sich darauf, ihre Wasserbehälter am Brunnen aufzufüllen, die Dorfbewohner etwas herumzustoßen und das abgehangene Fleisch zu stehlen. War vielleicht noch anderen die Flucht gelungen? Ihr Bruder wäre mit Sicherheit in dieselbe Richtung geflohen, wenn er die Chance dazu erhalten hätte!

In diesem Moment knisterte es plötzlich im Unterholz und riss Cassidy aus ihren Träumen. Sofort legte sie sich flach auf den Boden und presste ihren Körper in die tiefe Mulde hinein. Ihre Hoffnung auf Rettung steigerte sich ins Unermessliche, als sie kurze, schnell aufeinanderfolgende Windstöße vernahm. Ihr Bruder war ihr tatsächlich mit den Jagdhunden gefolgt! Ohne lange nachzudenken, streckte sie den Kopf hoch und wollte gerade laut um Hilfe rufen, da stach ihr ein Adrenalinstoß mitten ins Herz. Vor ihren Augen erblickte sie weder Caiden noch einen Hund aus ihrem Dorf, sondern einen grauen, ausgemergelten und hungrig knurrenden Steppenwolf! In ihren Augenwinkeln tauchte nach und nach ein ganzes Rudel auf; sie war schon längst umzingelt worden. Der lähmende Schock schnürte Cassidy die Kehle zu. Sie versuchte zu schreien, zu weinen, um Hilfe zu rufen, doch die Worte blieben ihr im Hals stecken. Sie konnte nichts anderes tun, als auf die gefletschten Reißzähne zu starren und ihrem grausamen Ende entgegenzusehen! Vor ihren Augen erschienen Bilder ihrer Kindheit, ihres Bruders, der sie gegen eine Hyäne verteidigte, ihre Wunden nach einem Sturz versorgte und ihr Geschichten vorlas, als sie nach einem Überfall nicht mehr einschlafen konnte. Aber diesmal würde Caiden sie nicht retten können. Diesmal war sie allein!

Da donnerte plötzlich ein ohrenbetäubender Knall durch das Unterholz und schüttelte die letzten vertrockneten Blätter von den verdorrten Ästen. Das halb verhungerte Rudel suchte jaulend das Weite. Nur der Leitwolf brach leblos zusammen und begrub Cassidy unter sich. Sie zitterte am ganzen Leib, als der Kadaver ein paar Augenblicke später von ihr heruntergezogen wurde. Es dauerte einen Moment, bis sie die athletische Silhouette einer Frau erkannte, die in der einen Hand den Wolf und in der anderen ein großes Scharfschützengewehr hielt. Sie ließ das Tier fallen und zog Cassidy aus der Mulde heraus.

»Du kannst rauskommen, sie sind weg.«

Eingeschüchtert stand Cassidy auf und musterte überrascht ihre Retterin. Sie trug eine beigefarbene, flickenübersäte Militäruniform, in deren Ausschnitt man eine alte Kevlarweste erkennen konnte. Als sie ihr hellbraun gemustertes Halstuch herunter zog, offenbarte sich ein lateinamerikanisches Gesicht, das trotz der argwöhnischen Miene zusammen mit ihren langen, dunkelbraunen Haaren eine exotische und gleichzeitig bedrohlich wirkende Schönheit ausstrahlte. Die fremde Schützin untersuchte Cassidy gleichermaßen und zog zweifelnd die linke Augenbraue hoch.

»Wer bist du?«

Ihre tiefe, rauchige Stimme klang ernst, aber nicht aggressiv. Cassidy trat einen Moment zurück und schluckte mit trockener Kehle, bevor sie ihren Namen hervorbrachte.

»Cassidy, hm? Und wie bist du hier hergekommen, Cassidy?«, bohrte die angespannt wirkende Kämpferin unbeeindruckt nach.

Cassidy bekam das ungewisse Gefühl, dass sie nicht nur aus Neugier fragte. Sie umschrieb in groben Zügen, wie ihre Siedlung am Vortag überfallen worden war und ihr Bruder ihr zur Flucht verholfen hatte. Als es auf einmal erneut im Unterholz knackte, verstummte sie abrupt.

»Hey Angel! Butch meint, der Wagen läuft wieder, wir können – das gibt‘s ja nicht! Du hast schon wieder eine gefunden?«

Grinsend schritt ein gut dreißig Jahre alter Mann mit einer Kalaschnikow in den Händen auf sie zu. Er sah ein wenig schmächtig aus, hatte sich die dunkelbraunen Haare im militärischen Stil abrasiert und trug ebenfalls eine zusammengeflickte Uniform, die sich allerdings durch eine gelbe, mit drei schwarzen Punkten versehene Armbinde von der seiner Kameradin unterschied. Eine Sandschutzbrille mit poröser Gummidichtung verdeckte seine zusammengekniffenen, braunen Augen. Während der Fahrten durch die Wüste oder inmitten heftiger Sandstürme war dieses Utensil zweifelsohne eine große Hilfe, wirkte jedoch genau wie die Armbinde eines Schwerbehinderten nicht besonders kleidsam.

»Ihr Name ist Cassidy«, begann Angel mit genervtem Unterton, ohne auf seine Anspielung zu reagieren. »Sie stammt aus einer Siedlung hier in der Nähe, die gestern überfallen wurde.«

»Überfallen?«, fragte ihr Kamerad, dessen Grinsen augenblicklich verschwunden war. »Von wem denn?«

»Das weiß sie nicht«, antwortete die athletische Frau und wendete sich wieder dem Mädchen zu. »Kannst du dich an irgendwas Besonderes erinnern? Symbole auf ihren Fahrzeugen oder Kleidungen? Auffällige Frisuren?«

Cassidy schüttelte den Kopf. Sie war viel zu ängstlich gewesen, um auf solche Details zu achten, doch plötzlich erinnerte sie sich an die Bilder des Buggys, der durch das Zelt raste und dabei den jungen Mann mitgerissen hatte.

»Messer«, murmelte sie verstört. »Lange Klingen. An den Rädern!«

»Vultures«, sprachen die beiden im Chor und in einem Tonfall, der Cassidy innerlich zusammenzucken ließ.

»Victor«, begann Angel nach einer kurzen Pause. »Sag Butch, dass Vultures in der Gegend sind. Er soll zusehen, dass der Wagen an der nächsten Ecke nicht gleich wieder auseinanderfällt. Sie ist hierher gelaufen, es kann also nicht weit weg sein. Die dürfen uns nicht mit runtergelassenen Hosen erwischen.«

Mit bleichem Gesicht nickte der Mann und stolperte den Pikahügel hinab. Angel hockte sich auf den Boden, untersuchte den Wolf und lächelte zufrieden. Ein Blattschuss! So blieben Fell und Fleisch erhalten.

»Du kommst erstmal bei uns mit«, entschied sie und drückte Cassidy die Hinterpfoten ihrer Beute in die Hand. »Na los, hilf mir tragen!«

Gemeinsam schleppten sie das Tier den Hang hinunter. Am Waldrand parkte der Wagen, von dem Victor gesprochen hatte. Ein alter Pick-up mit vergitterter Frontscheibe und Stahlplatten an den Seitenfenstern, die bei Bedarf an notdürftig aufgeschweißten Scharnieren hochgeklappt werden konnten. Er ähnelte stark den Transportern, die von den Angreifern in Cassidys Dorf verwendet wurden, wirkte aber durch seine ausgeblichene, orange Farbe deutlich einladender. Das geräumige Platzangebot bestand aus einer großen Ladefläche, auf der sich dutzende Kanister für Benzin und Wasser, alte Auspuffrohre, Tierfelle, ein Schlafsack und Unmengen weiteren Gerümpels stapelten. Dazwischen befand sich ein festinstalliertes Maschinengewehr, das von einer grauen Kunststoffplane vor Staub geschützte wurde. Eine zweite Sitzreihe hinter dem Fahrer ermöglichte außerdem den bequemen Transport von bis zu fünf Passagieren. Vor der geöffneten Motorhaube stand ein großer, breitschultriger Mann mit kurz geschorenen, braunen Haaren. Er trug ein ölverschmiertes Hemd und hielt Werkzeug in den schmutzigen Händen. Ohne Zweifel war das Butch, der versuchte, den Pick-up vor dem nächsten Motorschaden zu bewahren. Als Angel und Cassidy sich dem Wagen näherten, hob er den Kopf und blinzelte freundlich.

»Scheint als hätten wir keinen Moment zu früh eine Panne gehabt!«, rief er den beiden zu. Cassidy zog gezwungen die Mundwinkel hoch, obwohl ihr der Schock noch immer in allen Gliedern saß.

»Wir nehmen die Kleine mit«, entgegnete ihm Angel. Butch brummte eine Bestätigung und verschwand wieder unter der Motorhaube. Unterdessen kehrte Victor mit blassem Gesicht von einem der felsigen Hügel der Umgebung zurück.

»Da vorn steigt Rauch auf, etwa zwanzig Kilometer von hier, die Schlucht entlang, wie sie gesagt hat«, meldete er nervös.

»Hm, Rauch bedeutet, dass sie abgezogen sind. Vielleicht finden wir trotzdem noch was Brauchbares«, murmelte Angel, bis sie den bleichen Gesichtsausdruck ihres drahtigen Kameraden bemerkte. »Nun schau nicht so verstört. Die haben sich längst aus dem Staub gemacht! Butch, wie sieht der Wagen aus, hält er mal ein paar Tage durch?«

»Ich denk schon, irgendwas hat uns letzte Nacht die Bremsleitungen durchgekaut. Ich hab sie geflickt und provisorisch aufgefüllt. Wer hatte da eigentlich Wache?«

Angels braune Augen funkelten schuldzuweisend in Victors Richtung.

»Ich hab nichts gehört, oder gesehen – da war nichts!«, stammelte er.

»Das kennen wir ja. Hast dich wie üblich auf deine Spielzeuge verlassen, anstatt aufzupassen«, brummte Butch und schlug die Motorhaube zu.

»Also gut«, seufzte Angel, um die Gruppe zurück auf Kurs zu bringen. »Ich nehm den Wolf auseinander, dann fahren wir zu dem Dorf von der Kleinen und sehn uns da mal um. Und du schläfst demnächst nicht wieder ein, wenn du Wache hältst!« Sie strafte den ertappten Faulpelz mit einem verärgerten Blick, bevor sie auf die Ladefläche kletterte, eine glänzende Aluminiumfeldflasche aus ihrem beigefarbenen Armeerucksack hervorholte und sie Cassidy zuwarf. »Langsam trinken!«

Wasser, endlich Wasser! Cassidy spürte, wie sich wieder Leben in ihr ausbreitete. Zunächst befeuchtete sie vorsichtig ihre spröden Lippen, begann anschließend zögernd zu schlucken und leerte schließlich die ganze Flasche auf einmal. Victor sah sie aus dem Augenwinkel heraus etwas vorwurfsvoll an, behielt aber jeglichen Kommentar für sich. Angel weidete unterdessen den Wolf mit wenigen, groben Schnitten aus und verteilte das Fleisch in transparente Kunststoffdosen. Auf besondere Qualität kam es nicht an, denn die rohen Portionen hielten sich in der heißen Sonne ohnehin höchstens einen Tag. Viel war von dem abgemagerten Raubtier auch nicht zu holen. Kurz darauf setzte sich die kleine Gruppe in Bewegung und Angel reichte ihrem Schützling ein Stück gebratenes Rattenfleisch. Keine Delikatesse, doch Cassidy war so ausgehungert, dass sie es vermutlich sogar roh verschlungen hätte.

Eingeschüchtert verfolgte sie während der Fahrt die vorbeiziehende Steppenlandschaft und versank dabei in Gedanken. Auf der einen Seite wollte sie Gewissheit über das Schicksal ihrer Familie, auf der anderen hatte sie Angst davor, nur ihre Leichen vorzufinden. Außerdem könnte die Gang noch in ihrem Dorf sein. Vielleicht gefiel ihnen der Luxus des tiefen Brunnens, denn Wasser war in dieser Welt viel mehr wert als Benzin. Doch aus irgendeinem Grund fühlte sie sich sicherer als je zuvor in ihrem Leben. Angel machte auf sie einen vertrauenswürdigen Eindruck. Diesmal bekämen es die Vultures wenigstens nicht mit wehrlosen Dorfbewohnern zu tun! Diese Menschen wussten sich zu verteidigen und kannten die Angreifer. Cassidy lehnte sich erschöpft zurück und hoffte, dass es ab jetzt nur noch bergauf gehen konnte.

 

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