4. DIE BIOSPHÄRE

 

»Mein Gott, das Ding ist ja nur noch Schrott!«, brach es aus Alexandros heraus, als die Ian-Hawk-Biosphäre eine Stunde später unter ihnen auftauchte.

Die modular aufgebaute Konstruktion aus rostbraunem Stahl schwebte auf massiven Stelzen zwei Stockwerke hoch über dem Boden. Die Elemente nahmen zusammen etwa den Platz von zwei Fußballfeldern ein und wurden mit fünf Meter dicken Röhren untereinander verbunden. Diese Röhren konnten bei Bedarf eingefahren werden; zum Beispiel zur Quarantäne oder dem leichten Ersetzen einzelner Module. Der aufgewirbelte Sand von den Rotoren zeigte den Nutzen der angeschrägten Panzerglasfenster an allen Seiten, dank derer der Komplex vergleichsweise stromlinienförmig jedem extraterrestrischen Sturm standhielt. Gleichzeitig ließen sich die Jahrzehnte des Verfalls deutlich an der Außenhaut ablesen. Kabelverbindungen ragten notdürftig geflickt aus den Wartungsluken, Fensterscheiben fehlten und waren mit Brettern abgedichtet worden.

»Und sie sind sicher, dass hier noch jemand lebt, Doc?«, rief Fletcher bei der Landung durch den Rotorenlärm.

Im selben Moment öffnete sich das schwere Tor zum zentralen Zugangsturm mit einem lauten, metallischen Quietschen. Ihre Ankunft war nicht unbemerkt geblieben. Ein alter, dunkelhäutiger Mann schob seinen Rollstuhl mit Muskelkraft aus dem Aufzug. Kaum war er draußen, erwischte ihn der Staub von den Rotoren. Er blieb stehen und hielt sich die Arme schützend vors Gesicht, bis sowohl der Wind als auch der Lärm nachließen.

»Yuen?«, rief er ihnen heiser entgegen. »Yuen? Bist du das?«

»Seid gegrüßt, Professor Howe«, antwortete der chinesischstämmige Wissenschaftler und verbeugte sich respektvoll.

»Du sollst mich doch nicht mehr so nennen!«, erwiderte Howe. »Was machst du hier? Und wo ist deine hübsche Frau?«

»Saki ist ...«

»Die Waffe runter!«, unterbrach ihn Fletcher auf einmal und zielte dabei mit dem Gewehr in den Aufzug hinein. Seine Männer schwärmten sofort aus und suchten sich Deckung hinter den Hubschraubern.

»Stopp! Stopp!«, rief Howe erschrocken und wippte aufgeregt in seinem Rollstuhl herum. »Adrian, komm raus!«

»Die sehen aus wie die Alphas!«, ertönte eine vorlaute Männerstimme hinter ihm.

»Das ist Yuen! Einer meiner Studenten!«

»Wer sagt, dass die uns nicht auch nur ausrauben wollen?«

»Wir sind von der Army, Bursche!«, fuhr Fletcher dazwischen.

»Das waren die vor zwei Tagen auch!«, entgegnete ihm die Stimme.

»Adrian verdammt! Lass den Unsinn!«, wiederholte sich Professor Howe mit der Autorität einer Respektsperson. »Die sind zu sechst und haben Kinder dabei!«

Dr. Webb hatte sich mit den Männern hinter den Hubschraubern versteckt, blieb aber mit Jiao auf dem Arm in Sichtweite. Leon lag noch immer bewusstlos im Laderaum von Hawk-one.

Adrian schien die Hoffnungslosigkeit seiner Situation einzusehen. Er warf seine Pistole auf dem Boden und kam mit erhobenen Händen heraus. Seine ungepflegten, gekräuselten Haare und sein seit Wochen unrasierter Bart passten hervorragend zum heruntergekommenen Bild der Biosphäre. Er stellte sich neben den Rollstuhl und blinzelte die Soldaten verächtlich an.

»Du erinnerst dich vielleicht noch an meinen Sohn?«, fragte Howe unterdessen Yuen.

»Natürlich. Adrian«, antwortete er, als seine Erinnerung zurückkehrte. »Du warst höchstens zehn Jahre alt, als ich dich zum letzten Mal gesehen habe.«

Auch bei Adrian schien der Groschen zu fallen und er entspannte sich etwas.

»Ich will ihre Wiedervereinigung nur ungern unterbrechen, aber was war das vorhin über Soldaten, die euch ausrauben wollten?«, sprach Fletcher ernst und wies seine Männer gleichzeitig an, die Waffen zu senken.

»Vor gerademal zwei Tagen sind wieder Soldaten in die Biosphäre gestürmt«, erwiderte Adrian verächtlich. »Die nennen sich Alpha Hounds und haben einen von uns erschossen. Und Maxwell ringt seit dem mit dem Tod!«

»Wo sind die jetzt?«

»Was weiß ich!«

»Die Alphas waren schon vier Mal bei uns zu Besuch«, übernahm Howe etwas gesetzter. »Nehmen sich einfach was sie brauchen und verschwinden wieder. Aber vor zwei Tagen ist die Sache eskaliert. Mein Sohn und sein Freund wollten sich nicht länger herumstoßen lassen und haben versucht, sie im Kühlraum in eine Falle zu locken.«

»Du? Wolltest eine Einheit von Soldaten reinlegen?«, spottete Alexandros beim hippieähnlichen Anblick von Adrian. »Kannst froh sein, dass mir dein alter Herr eben noch im Weg stand!«

»Genug!«, raunte Fletcher dazwischen.

»Vielleicht sollten wir drinnen weiterreden«, schlug Yuen vor.

Fletcher nickte ihm zu. »Ryan, check die Gegend und behalt die Hubschrauber im Auge, falls diese Typen uns bemerkt haben. Ich will einen Statusbericht alle dreißig Minuten!«

»Verstanden, Chief!«

»Wo ist euer Verwundeter?«, fragte Dr. Webb.

»Auf der Krankenstation«, antwortete Howe. Nachdem sie allesamt mit dem Fahrstuhl hinaufgefahren waren, wies er seinen Sohn an, Karen den Weg zu zeigen.

Adrian führte die Ärztin mit Leon auf dem Arm durch die schummrigen Stahltunnel. Alle paar Meter klaffte ein Loch in den Bodengittern; wie Schlaglöcher auf einer Straße. Kunterbunte und unverkleidete Kabel bildeten ein Wirrwarr unter der Decke.

»Was ist da draußen los?«, fragte eine junge Frau Mitte zwanzig, als sie die Krankenstation betraten. Auf einem Krankenbett in der Ecke lag ein kleinwüchsiger Patient von der Größe eines zehnjährigen Kindes, aber mit den Gesichtsfalten und grauen Haarspitzen eines reifen Mannes.

»Dad hat Besuch bekommen«, antwortete Adrian ihr mürrisch. Er legte Leon auf eine freie Liege und wandte sich anschließend an Dr. Webb. »Das ist Rachel. Sie kümmert sich um unsere Verletzungen.«

»Du bist Ärztin?«

»Veterinärmedizinerin.«

»So groß sind die Unterschiede nicht«, winkte Dr. Webb ab. Sie musterte die Krankenstation aus den Augenwinkeln. »Humanmediziner lassen ihre Patienten nur bevorzugt bis zum Tod leiden, bevor sie den Stecker ziehen, anstatt sie wie sterbenskranke Tiere einzuschläfern.«

Rachel starrte Adrian mit verwunderten Augen an, als die hochgewachsene Militärärztin den bewusstlosen Zwerg untersuchte.

»Habt ihr die Kugel entfernt?«, fragte sie.

»Ich hab es versucht«, gab Rachel widerwillig zu und holte ein Röntgenbild auf ihren Tabletcomputer. »Aber sie liegt zu nahe an der Aorta, als dass ich sie gefahrlos alleine herausholen könnte.«

»Wir haben schon einen Boten zur Tanner-Farm geschickt«, sagte Adrian. »Dort gibt es noch einen Arzt für Menschen.«

Dr. Webb zoomte das Bild herein und untersuchte die Position der Kugel genauer. »Und wie lange wird es dauern, bis er hier ist?«, wollte sie dabei wissen.

Adrian und Rachel blickten einander hilflos an.

»Er sollte bereits gestern zurückgekehrt sein«, sagte er. »Wahrscheinlich wurde die Farm ebenfalls angegriffen.«

»Okay. Rachel, du assistierst mir. Adrian, wenn du keine medizinische Ausbildung hast, dann raus hier«, befahl Dr. Webb, als stünde sie in ihrem eigenen Lazarett. Inzwischen hatte sie die Lage sondiert und eine Flasche mit Desinfektionslösung sowie eine Packung Latexhandschuhe ausfindig gemacht. »Ich werde die Kugel entfernen.«

 

***

 

Yuen hatte sich mit Jiao auf dem Arm in die Kommandozentrale der Biosphäre führen lassen. Es war der vermutlich futuristischste Teil des Komplexes mit gut erhaltenen Multimediatischen und in die gläsernen Wände eingelassenen Displays. Es gab kaum eine Oberfläche, die nicht zur Eingabe oder Darstellung von Daten genutzt werden konnte. In der Mitte des Raumes stand ein drei Meter breites Glasdisplay auf einer Art Armaturenbrett, das von beiden Seiten gleichzeitig der Einsatzplanung diente.

Fletcher und Yuen wollten sich zunächst einen Überblick der Lage verschaffen. Howe rief dazu für sie eine Karte der Umgebung auf dem großen Display auf. Die Biosphäre selbst befand sich versteckt im Gebirgsmassiv. Eine relativ guterhaltene Asphaltstraße verlief in westlicher Richtung davon weg bis zu einer stählernen Bogenbrücke, die über eine tiefe Schlucht führte, in die mehrere Einfamilienhäuser nebeneinander passten. Etwas weiter südlich der Biosphäre lag die Farm von einem gewissen Winston Tanner, von der sich Rachel medizinische Hilfe für ihren angeschossenen Patienten erhofft hatte. Schon seit Jahren kaufte die Biosphärenbesatzung dort einen Großteil ihrer Lebensmittel.

Zum Schluss zeigte Professor Howe auf eine Lichtung im Norden, in der sich die Alpha Hounds verschanzt hielten. Sie legten keinen großen Wert darauf, nicht aufzufallen. Die einfache Landbevölkerung mit Bärenfallen und Jagdflinten stellte für sie kaum eine Bedrohung dar, daher blieben sie wie ein Löwenrudel immer in der Nähe ihrer Beute.

»Alles, was wir brauchen, liegt da«, überlegte Fletcher und zeigte auf das Lager der Alphas. »Nur vierzig Kilometer von hier.«

»Ho-ho!«, bremste ihn Howe. »Ich hab euch doch gesagt, dass sich die Militärs dort aufhalten!«

»Wir sind das Militär, Professor«, brummte Fletcher.

»Das sind echt üble Typen!«, unterstützte Adrian seinen Vater nach der Rückkehr von der Krankenstation. »Die machen Kleinholz aus euch!«

»Hättest du deine Waffe vorhin mal abgefeuert, Kleiner«, spottete Alexandros. »Dann würdest du jetzt nicht so einen Scheiß labern!«

»Chief!«, rief Mitchell über den glimmenden Tisch und winkte ihn zu sich, um ein paar Worte unter vier Augen zu wechseln. »Was war überhaupt ihr Auftrag in der Basis?«, fragte er etwas leiser.

»Sondereinsatzkommando auf direkten Befehl von General McQueen«, erklärte Fletcher. »Experimente überwachen, Material besorgen, Sabotage verhindern – oder durchführen.«

»Ihre Männer sind also ...?«

»Einsatzbereit«, vollendete Fletcher den Satz. Dann setzte er seinerseits zu einer Frage an. »Wie ist der Treibstoffstatus der Hubschrauber?«

»Dreißig Minuten«, antwortete Danny.

Lieutenant Mitchell nickte zustimmend. Sein Tank war ebenfalls fast verbraucht. »Habt ihr hier irgendwo Kerosin rumliegen?«

»Du liebes bisschen ... nein!«, erwiderte Howe mit erhobenen Armen. »Wir sind eine Forschungsanlage für den Bau extraterrestrischer Habitate und keine Luftwaffenbasis!«

»Die Alphas haben Treibstoff«, dachte Adrian laut. Als ihn die Soldaten verwundert ansahen, fügte er wie selbstverständlich hinzu: »Beim ersten Überfall sind sie mit einem Hubschrauber gelandet, um uns ihre Überlegenheit zu demonstrieren.«

»Und das fällt dir erst jetzt ein!?«, schnauzte Alexandros ihn an.

»Über was für einen Hubschrauber verfügen die?«, wollte Mitchell wissen, bevor der Streit eskalieren konnte.

»Keine Ahnung. Kleiner als eure und mit festen Kanonen an den Seiten. Die Männer saßen draußen auf den Kufen.«

»Little Birds«, fasste der Lieutenant zusammen. »Die wurden vor Jahren außer Dienst gestellt. Und die haben nur den einen?«

»Wir haben nur einen gesehen«, bestätigte Howe die Aussage seines Sohns.

Yuen stand die ganze Zeit neben dem leuchtenden Kartentisch und versuchte, Jiao in den Schlaf zu schaukeln. Wie schon im unterirdischen Verlies gab sie keinen Laut von sich und betrachtete stattdessen ihre Umgebung mit großen Augen.

»Die Kugel ist raus«, rief Dr. Webb im Türrahmen der Kommandozentrale. »Rachel näht ihn gerade zusammen.«

»Ihn?«, fragte Yuen.

»Maxwell«, erklärte Howe krächzend. »Unser Koch.«

»Ihr könnt euch nicht mal einen richtigen Mechaniker leisten, aber habt einen Koch?«

»Lange Geschichte«, hustete der alte Mann und hob die Hand in Dr. Webbs Richtung. »Danke.«

»Keine Ursache, aber beim momentanen Zustand eurer Krankenstation, sollte hier lieber niemand mehr angeschossen werden«, empfahl die Ärztin und warf einen Blick auf die Umgebungskarte. »Wir müssen nach Apotheken oder Krankenhäusern in der Gegend Ausschau halten.«

»Chief«, murmelte der Sanitäter Gabriel und zog seinen Vorgesetzten zur Seite. »Sollten wir nicht zumindest versuchen, den Überlebenden der Air Force Base zu helfen?«

»Die sind doch längst alle tot«, rief ihm Danny zu. »Ihr habt doch gesehen, was die aus Lloyds Python gemacht haben! Und das war ein brandneuer Kampfhubschrauber. Da brauchen wir uns mit unseren Black Hawks aus der Reserve gar nicht erst blickenlassen.«

»Dann setzt ihr uns eben außerhalb ab«, sagte Gabriel. Er wischte auf der Karte herum, bis die McKnight Air Force Base auftauchte und deutete auf ein paar Lichtungen im Umkreis des Stützpunkts. »Zwanzig Klicks nördlich. Wir schlagen uns bei Nacht durch den Wald und kommen am Tag mit den Zivilisten zurück.«

»Na klar!«, raunte Alexandros. »Während diese Mistviecher um uns rumhängen! Hast du etwa geschlafen, als die uns den Arsch aufgerissen haben?«

»Private!«, verwarnte ihn Fletcher scharf.

»Verzeihung, Chief, aber bei allem nötigen Respekt ...«

Fletcher hielt den rechten Zeigefinger hoch, woraufhin Alexandros endgültig verstummte.

»Ein Rückflug zur Basis wäre ohnehin ein Einwegunternehmen«, sagte Mitchell. »Zurück reicht der Treibstoff nicht.«

»Wir schalten diese Alphas zuerst aus«, entschied Yuen trocken. Er hatte inzwischen verstanden, dass weder Lieutenant Mitchell noch Chief Warrant Officer Fletcher das Kommando übernehmen wollten. Yuen hatte sie in die Biosphäre geführt und nun hielt er es an der Zeit, ihren Einzug zu zementieren. Als Erstes wandte er sich an Dr. Webb. »Die Black Hawks führen Medikamente zur Notversorgung von Gefechtsverletzungen mit sich. Nimm dir, was du brauchst, Karen.«

»Meinetwegen«, gab sich die Ärztin geschlagen, zielte aber gleichzeitig mit dem Zeigefinger auf die Männer. »Behauptet später nicht, ich hätte euch nicht gewarnt.«

»Specialist Gabriel«, fuhr Yuen fort. »Ich danke ihnen für die Anteilnahme am Schicksal meiner Kollegen, doch für den Moment sind uns die Hände gebunden.« Er drehte sich zum Kartentisch herum und zoomte das Gebiet heran, indem die abtrünnigen Soldaten vermutet wurden. »Der Chief hat Recht. Wenn wir die momentane Krise überstehen wollen, müssen wir zunächst für unsere eigene Sicherheit sorgen. Diese Leute stellen die größte Bedrohung und die gleichzeitig beste Chance auf dringend benötigten Treibstoff dar.«

Mitchell und Fletcher blickten einander an, ehe sie sich zuerst gegenseitig und dann Yuen zunickten.

»Okay, Doc«, sagte der Lieutenant. »Wir erarbeiten einen Angriffsplan und sie stellen uns eine Liste mit Dingen zusammen, die wir brauchen.«

»Moment mal!«, hielt Adrian ihn zurück. »Ihr wollt doch nicht etwa alle hierbleiben?«

Sein Vater blinzelte Yuen aus den Augenwinkeln heraus an. »Unsere Reserven reichen höchstens für eine Woche.«

»Ich dachte, das hier sei eine Biosphäre?«, fragte Alexandros. »Sollten hier nicht irgendwo Glaskuppeln voller Gemüseplantagen stehen?«

»Du siehst zu viel fern, Junge«, erwiderte Howe mit einer Mischung aus Husten und Lachen. »Die Module zum Anbau von Pflanzen sind zwar vorhanden, aber bis auf ein experimentelles Habitat leer. Und selbst das eine haben wir bisher nur zum Zeitvertreib bewirtschaftet.«

»Dann fangen wir eben jetzt damit an«, sagte Yuen. »Sobald wir die Alphas ausgeschaltet haben, können wir uns nach ein paar talentierten Farmern umsehen.«

»Eins nach dem anderen Doc«, antwortete Fletcher und beugte sich zusammen mit Lieutenant Mitchell über die Karte. »Wir lassen es sie wissen, wenn der Plan steht.«

 

***

 

»Mein Sohn hat das Taktgefühl seiner Mutter, aber er spricht die Wahrheit«, brachte Howe notgedrungen hervor, während er mit Yuen die Gänge der Biosphäre entlangrollte. »Karen, die Kinder und dich könnte ich aufnehmen, aber diese Soldaten ...« Er stoppte seinen Rollstuhl vor einer klapprigen Treppe, deren Geländer gebrochen danebenlag. »Die Anlage steht kurz vorm Auseinanderfallen, seit uns die Mittel gestrichen worden sind. Es würde Jahre dauern, hier eine Kolonie zu errichten.«

»Und was ist mit den Alphas?«, entgegnete Yuen bei einem Blick auf die tiefergelegene Ebene. »Die werden sicher nicht die Letzten sein, die hinter euren Toren eine Schatzkammer aus Tubennahrung und Wasserpäckchen wittern.«

»Sie sind auch nicht die Ersten«, brummte Howe. »Drei Männer haben wir seit Jahresbeginn verloren.«

»Ein Grund mehr, uns nicht abzuweisen.«

»Du weißt, was man über Soldaten sagt, deren Kantine schlechtes Essen serviert.«

»Bei den Piloten bin ich mir noch nicht sicher«, überlegte Yuen. »Aber mit Chief Fletcher hab ich ein gutes Gefühl. Der hat seine Männer im Griff. Über kurz oder lang werden sie sich selbst versorgen und da wäre es klüger, sie gleichzeitig zur Verteidigung um uns zu scharen.«

»Dein kleines Hobby, die Ränge der Militärs auswendig zu lernen, scheint sich ja endlich bezahlt zu machen.«

»Abwarten«, sagte Yuen. »Erstmal müssen sie lebend von den Alphas zurückkehren. Wer weiß, vielleicht lösen sich ja beide von deinen Problemen auf einen Schlag.«

»Immer noch der Zyniker«, brummte der dunkelhäutige Rentner. »Erst willst du sie hier einziehen lassen, jetzt hoffst du, dass sie nicht heil zurückkommen.«

Yuen antwortete nicht sofort, sondern gab seiner Tochter liebevoll eine Flasche warmer Milch. Adrian hatte ihm das Pulver dazu aus dem Lager geholt. »Jiao ist alles, was für mich zählt«, sagte er. »Sie braucht einen Ort zum Aufwachsen und Schutz vor der zusammenbrechenden Welt.«

Howe verstand ihn. Immerhin hatte er seinen eigenen Sohn vor nicht allzu langer Zeit aus ähnlichen Gründen vom Bleiben überzeugt. Seine Biosphäre sollte dieser Ort sein und die Soldaten ihr Schutzschild.

»Also gut«, gab er sich geschlagen. »Ihr könnt alle hierbleiben, sobald die Alphas aus dem Weg sind. Ich werde mich mit meinen Leuten zusammensetzen und in der Umgebung nach Bauernhöfen und Krankenhäusern Ausschau halten, um Leben in den alten Stahlkasten zu bringen.«

 

***

 

Yuen marschierte mit neuem Mut zurück in die Kommandozentrale. Professor Howe hatte die Biosphärencrew zur Versammlung in die Kantine gerufen. Wie versprochen, wollte er Informationen über die umliegenden Ortschaften zusammentragen. Eine Stunde war seitdem vergangen.

»Chief?«, rief Yuen beim Eintreten. »Wie sieht‘s aus?«

Fletcher hielt die flache rechte Hand in der Luft und wackelte damit herum, um zu zeigen, dass sie sich noch nicht ganz sicher waren.

»Wir sind am debattieren, ob wir nur einen Hubschrauber mit einer Stunde Treibstoff oder beide mit einer halben Stunde einsetzen sollen«, erklärte Mitchell.

»Ihrem Kollegen zufolge handelt es sich um zwanzig bis dreißig Soldaten«, sagte Ryan, der seine Patrouille außerhalb der Biosphäre beendet hatte und zur Einsatzbesprechung zitiert worden war. »Zehn Minuten für den Hinflug, zehn Minuten Bodeneinsatz und zehn Minuten Rückflug. Mit gerademal vier Männern auf unbekanntem Gebiet. Das wird verdammt eng, selbst wenn die alle schlafen.«

»Der Rückflug ist unwichtig«, entgegnete ihm Yuen. »Die Alphas haben Kerosin. Wäre es nicht sinnvoller, unsere Hubschrauber die ganze Zeit zur Luftdeckung zu nutzen?«

»Damit wir nach zwanzig Minuten einfach vom Himmel fallen?«, knurrte Danny.

»Nicht, wenn wir gewinnen«, hielt Yuen dagegen. Als er die Blicke der umstehenden Soldaten bemerkte, die verständnislos bis zornig auf die Leichtfertigkeit reagierten, mit der er über ihre Leben sprach, setzte er noch einmal nach. »Es ist völlig irrelevant, ob wir nach zehn Minuten erfolglos zurückkehren oder nach zwanzig Minuten mit trockenen Tanks zu Boden sinken. Sofern wir die Alphas nicht beim ersten Angriff zerstören, ist die Biosphäre als Nächstes dran.«

»Warum warten wir dann nicht einfach, bis die Howe und seine Leute wieder überfallen?«, schlug Danny vor.

»Das konnte ja nur von dir kommen«, spottete Alexandros.

»Ein Hinterhalt ist an sich keine schlechte Idee«, belehrte ihn Ryan. »Aber die waren hier schon mehrmals drin und wissen, dass in dem Laden nichts mehr zu holen ist.«

»Und wenn wir anfangen, die Lager aufzustocken?«, fragte Danny abermals. »Dann kehren die bestimmt zurück.«

»Zur selben Zeit kriegen sie mit, dass Howe nicht länger allein ist.«

»Das endet in einem Blutbad«, pflichtete Gabriel ihm bei. »Wir können keine Zivilisten als Köder missbrauchen.«

»Schon gar nicht, sofern wir anschließend mit ihnen leben wollen«, sprach Yuen hinter vorgehaltener Hand.

»Der Doc hat Recht«, stellte Fletcher klar. »Ein Präventivschlag ist die beste Option.«

»Nachdem wir ihr Team abgesetzt haben, Chief, sind unsere Hubschrauber nur noch riesige Zielscheiben«, warf Mitchell ein. Dann wandte er sich an Yuen. »Hat irgendjemand von diesen Menschen Erfahrung im Umgang mit Waffen? Wir könnten ihnen einen Crashkurs an den Miniguns geben.«

»Bei allem nötigen Respekt, LT«, erwiderte Ryan. »Haben sie den Verstand verloren? Eine Bande von Zivilisten an Geschütze mit sechstausend Schuss pro Minute zu setzen, während wir unter ihnen herumrennen?«

»Die sollen ja keine Präzisionsangriffe ausführen, sondern befestigte Stellungen niederhalten«, beschwichtigte Mitchell. »Außerdem wissen sie selbst, wie einschüchternd der Lärm von den Gatlings sein kann, Corporal.«

»In Ordnung«, sagte Yuen. »Bilden sie mich aus.«

»Sie, Doc?«, wunderte sich Fletcher. »Wir dachten eher an ...«

»Ich schicke sie zu den Alphas, also komme ich auch mit«, unterbrach ihn Yuen. »Und glauben sie bloß nicht, mir wären ihre Blicke von vorhin entgangen. Ich weiß selbst, dass diese Mission das Zeug zum Himmelfahrtskommando hat. Wenn meine Anwesenheit also unsere Chancen vergrößern kann, dann bilden sie mich an ihrem Bordgeschütz aus!«

Die anfängliche Sorge der Soldaten aufgrund Yuens leichtfertigem Umgang mit ihrer Gesundheit wich einem Respekt für den couragierten Wissenschaftler. So langsam dämmerte den Männern, dass er lediglich die Zeichen der Zeit korrekt deutete und einem Plan folgte, der von ihnen allen Opfer verlangte.