9. VERBRANNTE ERDE

 

Der nächste Morgen verlief absolut planmäßig, so wie es sich Yuen wünschte. Aufstehen um null-siebenhundert, danach Katzenwäsche unter der Dusche, um null-sieben-dreißig Kaffee mit Dr. Webb, null-achthundert Versammlung vor den Hubschraubern, null-acht-fünfzehn Abflug in Richtung Raytown.

Als Yuen den ersten Fuß in Hawk-one setzte, stockte ihm der Atem. Hatte er wirklich gerade seinen Tagesablauf mit militärischer Präzision durchdacht? So langsam verschwamm die Grenze zwischen vorgetäuschtem Respekt und tatsächlichem Nutzen. In dem Augenblick reichte ihm Chief Fletcher die Hand und zog ihn hinein, wodurch Yuens Gedankengang ein Ende fand.

»Guten Morgen, Doc!«

»Guten Morgen, Chief«, rief Yuen mit einem mulmigen Gefühl in der Magengegend zurück. »Alles bereit?«

»Jawohl, Sir. Die Tanks sind bis unters Dach voll und wir haben jede Menge Extrakanister dabei«, erwiderte Fletcher und schlug mit geballter Faust auf einen Zusatztank, wo gestern noch eine Sitzbank gewesen war. »Nicht bequem aber dafür bleibt uns mehr Zeit für die Suche.«

»In Ordnung Chief. Bringen sie uns nach Raytown.«

»LT!«, rief Fletcher in sein Funkgerät. »Alle an Bord!«

»Verstanden«, knarzte Mitchells Antwort aus den Kopfhörern.

Hawk-one und -two hoben zeitgleich mit lautem Getöse vom Boden ab und gingen auf Südkurs. Danny flog ein paar Extramanöver, die aussahen, als wollte er vor irgendwem angeben. In Wirklichkeit überprüfte er jedoch die Reparaturen an seiner Turbine. Alles funktionierte wieder einwandfrei. Die Rettungsmission konnte beginnen.

 

***

 

»Hundert Klicks bis Raytown!«, meldete Mitchell zwei Stunden später. Sie hatten das Gebirge beinahe hinter sich gelassen. »Wir sollten runtergehen und die Kanister rausschmeißen, um Platz zu machen!«

»Einverstanden!«, rief Yuen zurück.

Die beiden Hubschrauber landeten versteckt auf einer Waldlichtung, gut geschützt vor neugierigen Augen und wachsamen Ohren. Bis auf ein paar reißausnehmende Tiere ließ sich niemand blicken.

Kaum berührten die Räder die grasbewachsene Erde, sprang Yuen aus Hawk-one heraus, um sich die Beine zu vertreten. Inzwischen wartete er gar nicht mehr auf Mitchells oder Fletchers Signal. Er war jetzt ihr Kommandant und fing an, seine Stellung zu genießen. So langsam verstand er die Macken von Colonel Cord, der seinen Untergebenen nur zu gern unter die Nase gerieben hatte, dass er in der Hackordnung über ihnen stand. Yuen musste sich bereits zwingen, um den Piloten Vorrang bei der Ladung zu lassen, eher er nach seiner Thermoskanne mit heißem Kaffee griff.

Irgendwie erinnerte ihn die Landschaft an seinen alten Garten, den er bedingt durch seinen straffen Arbeitsalltag dem kontrollierten Wildwuchs preisgegeben hatte. Er sah den Soldaten entspannt zu, wie sie die Kerosinkanister in die Hubschraubertanks leerten und dann achtlos auf seinen Rasen schleuderten. Einen Augenblick lang war er tatsächlich versucht, den Männern die Leviten für ihre Umweltverschmutzung zu lesen. Die Art ihrer Mission ließ ihnen keine andere Wahl, aber Yuen nahm sich fest vor, in der Biosphäre ein umweltverträgliches Leben vorzuschreiben.

Er legte sich mit dem Rücken ins Gras und starrte auf den hellblauen Himmel. Ein Schwarm Vögel flog laut zeternd über sie hinweg in Richtung Berge. Yuen schloss die Augen und atmete tief ein. Frische, saubere Luft, wie er sie nicht mal aus seinem Garten kannte. Irgendwer in der Nachbarschaft hatte immer gegrillt. Kaum dachte er an ein leckeres Barbecue, schien es, als konnte er die glühenden Kohlen erschnuppern. Nun fehlte nur noch ein saftiges Steak und ...

Das unüberhörbare Geräusch von durchladenden Gewehren schreckte ihn aus seinen Träumen. Um ihn herum hatte Fletchers Team Stellung bezogen. Die Rotoren der Hubschrauber starteten bereits – ohne Yuens Befehl!

»Chief!«, rief er. »Was ist?«

»Bewegung«, meldete Fletcher. »Überall um uns rum!« Er deutete auf die Waldränder der Lichtung. Aus jeder Ecke sprangen Rehe, hüpften Waldhasen oder sprinteten Füchse davon. Alle in Richtung Berge. »Die laufen vor irgendwas weg! Kommen sie, Doc!«

Yuen rappelte sich auf und lief zu den Hubschraubern, doch irgendetwas störte ihn. Der Duft des Barbecues war nicht zusammen mit seinen Träumen zerplatzt.

»Riechen sie das auch, Chief?«

»Hier brennt‘s!«, bestätigte er. »LT, bringen sie uns in die Luft!«

»Take-off in zehn Sekunden. Festhalten!«

Fletcher schnallte Yuen auf seinem Platz fest, so als wollte er auf Nummer sicher gehen, dass ihnen der Doc nicht aus Versehen rausfiel. Dann vibrierte der Hubschrauber kurz und hob vom Boden ab. Mitchell ging sofort auf steilen Südkurs, um Geschwindigkeit aufzubauen, solange sie noch von der Lichtung gedeckt wurden.

»Da vorn!«, rief er. »Ein Uhr!«

»Der verdammte Wald steht in Flammen!«, rief Fletcher. »Davor sind die Viecher abgehauen!«

»Wo liegt Raytown?«, wollte Yuen wissen.

»Direkt dahinter. Hoffentlich kommen wir nicht zu spät.«

»Können sie die Quelle ausmachen?«, fragte Yuen und tippte dabei Specialist Gabriel an, der die Überwachungsmonitore bediente.

»Negativ. Der komplette Wald brennt!«, meldete er. »Sir, sollten wir das nicht irgendwem melden?«

»Wem denn?«, erwiderte Fletcher.

»Ich weiß nicht, Sir. Vielleicht der Feuerwehr?«

»Glaubst du im Ernst, dass ein paar Löschzüge damit fertigwerden!?«

Inzwischen flogen sie bereits über den lodernden Flammen, die vom einen Auge bis zum anderen reichten. Selbst zu ihren Bestzeiten hätte die Feuerwehr Wochen gebraucht, um den Brand unter Kontrolle zu bringen, doch seit dem langsamen Verfall der Gesellschaft wagte es scheinbar niemand mehr, sich der allesverzehrenden Naturgewalt entgegenzustellen.

»Keine Chance, Mann«, seufzte Fletcher beim ohnmächtigen Anblick der Zerstörung. »Lasst uns retten, was zu retten ist, und dann nichts wie weg hier.«

»CH-47 auf neun Uhr!«, schallte Dannys Stimme über Funk.

Gabriel schwenkte die Bordkamera in die angegebene Richtung. Eine Sekunde später tauchte der Hubschrauber mit Tandemrotoren auf, der direkt ins Zentrum des Brandherds flog.

»Was ist das für ein Ding?«, fragte Yuen.

»CH-47 sind schwere Chinook-Transporthubschrauber«, erklärte Fletcher. »Bis zu zwölf Tonnen Ladung. Die können ganze Artilleriegeschütze umherfliegen.« Dann wendete er sich an seinen Beobachter. »Gabriel, ist das ‘ne Militärausführung?«

»Negativ. Keine erkennbare Bewaffnung und viel zu bunt bemalt.«

»Also keine Razors?«, fragte Yuen.

»Eher unwahrscheinlich«, meinte Fletcher.

»Vielleicht ist der auf einer Rettungsmission wie wir«, rief Gabriel. »Sollten wir nicht wenigstens versuchen, um Unterstützung zu bitten?«

Hinter seinem Rücken konnte er nicht sehen, wie Fletcher sich bei Yuen nach dessen Entscheidung erkundigte. Er nickte.

»CH-47, hier Goliath auf drei Uhr«, rief Fletcher in sein Mikrofon. »Erbitte Status und Ziel ihrer Mission.«

Die Lautsprecher rauschten.

»Goliath an den Chinook neben uns!«, versuchte er es erneut. »Status und Ziel ihrer ...«

»Goliath, hier SAR Sechs-Zwo«, unterbrach ihn die kratzende Antwort. Eine aufgeregte Frauenstimme. »Wir befinden uns auf einer Such- und Rettungsmission, um Eingeschlossene aus dem Feuer zu bergen. Wo kommt ihr auf einmal her? Uns wurde gesagt, es gäbe keine SAR-Hubschrauber mehr in der Gegend!«

»Militärischer Sonderauftrag«, erwiderte Fletcher knapp, ohne zu viel zu verraten. »VIP Extraktion aus Raytown.«

»Raytown? Da könnt ihr gleich wieder umdrehen.«

Yuen und Fletcher blickten einander wie versteinert an.

»Erbitte Erklärung.«

»Raytown ist zerstört«, sagte die Frauenstimme. »Der Feuersturm ist vor zwei Tagen über die Stadt gefegt.«

Die Nachricht schlug wie eine Bombe ein. Im Hubschrauber herrschte Totenstille.

»Leute?«, meldete sich die SAR-Pilotin erneut. »Wenn ihr nichts Besseres zu tun habt, wir könnten hier eure Hilfe gebrauchen!«

Es dauerte einen Moment, bis Yuen aus seiner Stockstarre erwachte. Dann griff er persönlich zum Mikrofon. »Negativ, SAR Sechs-Zwo. Wir haben unseren Auftrag.«

»War ja klar«, erwiderte die Pilotin mit enttäuschter, aber nicht überrascht klingender Stimme.

Yuen verstand ihre Abneigung zum selbstbezogenen Militär nur zu gut, doch diesmal stand er auf der anderen Seite. Diesmal war er derjenige, der Zivilisten die Unterstützung versagte.

»Sir?«, fragte Fletcher vorsichtig.

»Glauben sie etwa jedem eintreffenden Funkspruch, Chief?«, entgegnete ihm Yuen. »Wir kehren erst um, wenn wir Raytown mit eigenen Augen gesehen haben!«

Fletcher nickte zustimmend und drehte sich zum Cockpit um. »LT! Machen sie ein bisschen Dampf!«

Die Nase von Hawk-one neigte sich zur Beschleunigung nach vorn. Gabriel starrte dabei weiterhin auf den Monitor, bis der Chinook von den Rauchschwaden verschluckt wurde.

»Den Hubschrauber hätten wir gut gebrauchen können«, murmelte er. »Ebenso wie die Besatzung.«

»Ihre Familien gehen vor«, sagte Yuen.

 

***

 

»Zehn Klicks«, meldete Lt. Mitchell eine Viertelstunde später. »Sollten wir das nicht langsam sehen können?«

»War schon mal jemand von ihnen da?«, fragte Yuen.

»Nein«, antwortete Fletcher. »Unsere Heimatbasis war die McKnight Kaserne.«

»Ich hab hier ein paar Gebäude«, sagte Gabriel. Er justierte die Kameras, um ein besseres Bild zu bekommen. »Das müsste Raytown sein.«

»Oder was davon übrig ist«, kratzte Mitchells Stimme aus dem Bordfunk.

Die Männer blickten durch die Seitenfenster der verschlossenen Schiebetüren. Unter ihnen tauchten die verkohlten Ruinen einer Kleinstadt aus den Rauchwolken auf. Schwarze, verrußte Wohnblöcke erhoben sich wie Grabsteine aus den Trümmern; wie eine Mahnung, diesem verfluchten Ort fernzubleiben. Auf den Straßen reihten sich ausgebrannte Autowracks aneinander, denen die Flucht nicht mehr gelungen war. Bei genauerem Hinsehen erkannte man tausende eingeäscherte Leichen, die sich wie umgefallene Hölzer eines Mikadospiels willkürlich verteilt hatten. Manche waren allein gestorben, andere stapelten sich, als wollten sie einander vor den herannahenden Flammen schützen. Einige Gebäude sahen aus wie nach einem Bombentreffer; vermutlich zerstört von Gas- oder Öltankexplosionen in den Kellerräumen.

Stumm schwebten die beiden Militärhubschrauber über dem Massengrab. Die Besatzungen starrten mit Entsetzen und Unglauben auf das grausame Chaos.

»Waren das Razors?«, fragte Alexandros. Seine Stimme klang wie eine Anklage, so als interessiere ihn die Antwort gar nicht.

»Kaum«, brummte Fletcher. »Dann hätten wir hier Spuren einer Schlacht gefunden, aber ich seh nicht mal ein Anzeichen von unseren Fluchtkonvois.«

»Vielleicht sind die gar nicht in Raytown eingetroffen?«, fragte Gabriel.

»Die hätten trotzdem die Route durch den Wald genommen«, zerschlug Yuen ungewollt seinen Hoffnungsschimmer.

»Stimmt«, murmelte er und konzentrierte sich wieder auf seinen Bildschirm.

»Irgendwelche Lebenszeichen?«, fragte Fletcher.

»Nein. Nichts.«

»Was nun?«, überlegte Fletcher. »Runter und zu Fuß die Stadt durchkämmen?«

»Glauben sie wirklich, das bringt was?«, zweifelte Yuen.

»Davon würde ich abraten«, rief Mitchell dazwischen. »Selbst beim Abseilen wirbeln die Rotoren genug Asche auf, dass sie ohne Atemmaske keine Luft mehr kriegen. An eine Extraktion in der Staubschleuder will ich gar nicht denken.«

Fletcher sah zu Yuen auf der Suche nach einem Plan. Er wollte nicht derjenige sein, der die Familien seiner Männer einfach so aufgab.

»Hier können wir nichts mehr tun, Chief«, sprach Yuen laut und deutlich, so dass ihn alle hören konnten. »Vielleicht ist unser Konvoi vor dem Feuer gewarnt und umgeleitet worden.«

»Könnte sein«, schloss Fletcher sich bereitwillig an. »Wir sollten uns in den nächsten Tagen etwas umhören.«

»Genau und dann ...«

»Was ist mit dem Chinook?«, fiel ihnen Gabriel ins Wort. »Verzeihung, Sirs, aber vielleicht wissen die was von Straßensperren?«

Yuen verspürte ein Stechen in der Brust. Hatte er wirklich vor fünfzehn Minuten seine vielversprechendste Informationsquelle einfach so davonfliegen lassen? »Gute Idee«, brachte er hervor. »Kriegen sie die noch geortet?«

»Negativ, Sir.«

»Dann müssen wir umdrehen«, entschied Fletcher und wendete sich ins Cockpit. »LT, bringen sie uns zurück zum Chinook!«

»Verstanden.«

Der Hubschrauber neigte sich nach backbord und vollführte eine scharfe Linkskurve. Diesmal brauchte Mitchell niemand sagen, dass er sich beeilen sollte. Er ging ganz von selbst in den Sturzflug und beschleunigte auf Höchstgeschwindigkeit.

Ohne Satellitennavigation dauerte es eine Weile, bis sie den Treffpunkt mit dem Chinook erreicht hatten. Das Einheitsschwarz des verbrannten Waldes unter ihnen half auch nicht gerade bei der Orientierung.

»Keine Spur vom SAR«, übersetzte Specialist Gabriel die Informationsleere seines Displays.

»Haben sie sich gemerkt, in welche Richtung die geflogen sind?«, fragte Yuen.

»Nach Osten, glaube ich. Einen Moment.« Gabriel rief die automatische Aufzeichnung der Kameras auf, mit deren Hilfe nach Einsatzende das abschließende Debriefing erleichtert wurde. »Okay, ich hab ihn. Hier sind wir und da ...« Der Bildschirm zeigte die bekannten Aufnahmen, in denen die Black Hawks abdrehten und den Zivilhubschrauber zurückließen. Anhand der eingeblendeten Statusanzeigen ließen sich Daten wie Kurs und Geschwindigkeit ablesen. Daraus berechnete Gabriel die Flugrichtung des Chinooks. »Kurs eins-zwo-null, Südost!«

»Verstanden«, bestätigte Mitchell und schwenkte in die angegebene Richtung.

»Ruf mal die Karte auf«, sagte Fletcher. »Mal sehen, was es da gibt.«

»Ein paar Dörfer, ein Sägewerk.«

»Was ist das da oben?«, fragte Yuen.

»Groombridge«, antwortete Gabriel. »Eine Kleinstadt samt Holzfabrik. Da versammeln sich bestimmt keine Flüchtlinge. Brennt doch alles wie Zunder.«

»Vielleicht«, überlegte Yuen. »Aber die Karten sind alt. Wahrscheinlich ist der Wald im Umkreis kilometerweit abgeholzt worden. Dann wäre das der perfekte Ort für eine Flüchtlingsstation.«

»Siehst du eine bessere Möglichkeit?«, fragte Fletcher seinen Untergebenen.

»Negativ, Chief.«

»Okay«, entschied Yuen. »Kurs auf Groombridge!«