6. DIE NEUE HEIMAT
Schon früh am nächsten Tag quälte sich Zhang Yuen aus dem weichen Bett seines neuen Quartiers. Eigentlich ein ungewohnter Luxus in der sterbenden Welt, für Yuen jedoch geradezu ein Folterinstrument. Aufgrund eines angeborenen Rückenleidens sollte er auf einer äußerst harten Matratze schlafen; nahe an einem Holzbrett. In seinem Haus auf der Luftwaffenbasis hatte er eine ärztlich verordnete Liege besessen, die er nun schmerzlich vermisste. Yuen überlegte, ob er das Gestell vielleicht an einen der Hubschrauber hängen könnte. Wäre das nicht möglich, nahm er sich vor, sofort nach seiner Rückkehr ein neues Bett zu zimmern.
Sein erster Blick galt Jiao. Sie lag in einer ausgepolsterten Plastikkiste, die vorerst als Kinderbettchen dienen musste. Auch so eine Sache, die Yuen dringend ändern wollte.
Die Morgenwäsche bestand aus einer Schüssel kaltem Wasser in der Gemeinschaftsdusche. Die unterirdischen Pumpen der Biosphäre funktionierten nur noch im Notbetrieb. Einzig für Jiao hatte man ihm die Nutzung der spärlichen Warmwasserversorgung gestattet.
Im Waschraum traf er auf Fletcher, der sich ebenso wie seine Männer kaum an der fehlenden Hygiene störte, aber großen Wert auf eine gründliche Rasur legte.
»Guten Morgen, Doc!«, rief er ihm zur Begrüßung entgegen.
»Guten Morgen, Chief. Ihr Bett gefunden?«, erwiderte Yuen beim Wechseln von Jiaos Windeln, bei denen es sich um löchrige Handtücher handelte. Zumindest waren sie sauber. Ihm graute bereits bei dem Gedanken an die Handwäsche, denn Wegwerfwindeln gehörten mit Sicherheit der Vergangenheit an.
»Meine Jungs und ich teilen uns erstmal ein Quartier. Die Hälfte der Fenster hier sind undicht und überall ragen Kabel aus der Wand. Weiß Gott, wie viel Spannung da anliegt. Aber wir kommen schon klar.«
»Ich hatte nicht damit gerechnet, dass die Biosphäre dermaßen heruntergekommen sein würde«, gab Yuen zu.
»Wenigstens hat der jämmerliche Zustand die Eierköpfe vor dem Rausschmiss durch die Alphas bewahrt«, rief Alexandros beim Betreten des Waschraums dazwischen.
Fletcher warf ihm einen ernsten Blick zu, woraufhin der frisch beförderte Corporal verstummte und sich am kalten Wasser zu schaffen machte.
»Nach zwei Touren in Zentraleuropa ist das hier das reinste Paradies«, beruhigte Fletcher anschließend Yuens Sorgen. »Ryan hat eine Ausbildung zum Elektriker gemacht und die beiden Piloten verstehen sicher auch was davon. Für den Rest braucht man nur ein paar Männer, die mit anpacken. Wenn sie Recht haben, bleibt uns ja alle Zeit der Welt, um den Laden wieder auf Vordermann zu bringen.«
Erfreut darüber, dass der Chief weiterhin motiviert blieb, streifte Yuen mit seiner Tochter auf dem Arm durch die klaustrophobischen Stahlgänge auf der Suche nach der Kantine. Howe hatte ihnen echten Kaffee versprochen, der seit Wochen in der McKnight Air Force Base streng rationiert worden war. Sein gesamtes Team hatte bereits unter Entzugserscheinungen wie Kopfschmerzen und zittrigen Händen gelitten. Entsprechend schnell schnappte seine Nase den verführerischen Duft frisch gemahlener Kaffeebohnen auf und folgte ihm bis zur Essensausgabe.
Der Koch Maxwell lag noch immer auf der Krankenstation, weshalb Rachel kurzerhand die Küche übernommen hatte.
»Lassen sie mich raten, Doc. Kaffee mit Milchpulver?«, fragte sie leicht gereizt hinter dem Tresen aus gebürstetem Edelstahl.
»Schwarz, bitte. Und für die Kleine etwas warme Milch.«
Ein Blick über die Schulter verriet, warum sie seinen Wunsch so schnell erraten hatte. Professor Howe und Dr. Webb saßen bereits mit dampfenden Tassen in der Hand an einem der Tische. Beide waren Wissenschaftler wie er und ebenfalls mehr oder weniger süchtig nach dem muntermachenden Heißgetränk.
»Noch irgendwas zum Essen dazu?«
Yuen schüttelte dankend mit dem Kopf und gesellte sich zu seinen Kollegen.
»Was macht dein Rücken?«, fragte Howe frei heraus, als er das Ächzen seines ehemaligen Studenten vernahm. Er wusste von dessen angeborenem Rückenleiden.
Eine schmerzhafte Grimasse war Antwort genug. »Wo habt ihr den Kaffee her?«, wollte Yuen stattdessen wissen.
»Hier sollten mal fünfzig Leute an extraterrestrischen Siedlungsmethoden forschen«, erklärte Howe. »Das allein hat schon dafür gesorgt, dass mehr vakuumverschweißte Kaffeebohnen als Klopapier eingelagert worden sind. Für uns hätte der Vorrat vermutlich bis ans Lebensende gereicht, aber mit euch werden wir uns in ein paar Jahren was einfallen lassen müssen.« Er amüsierte sich mit einer Mischung aus Husten und Lachen über seinen eigenen Scherz.
Im selben Moment betrat das Team von Chief Fletcher die Kantine. Bis auf Specialist Gabriel verlangten ebenfalls alle nach einer Tasse Kaffee. Der Sanitäter begnügte sich stattdessen mit einem Pfefferminzteebeutel. Nacheinander nickten sie den Wissenschaftlern zu und setzten sich anschließend an einen anderen Tisch. Er lag weit genug entfernt, um ungestört voneinander reden zu können, solange sie leise sprachen.
»Wie geht‘s unseren Gefangenen?«, fragte Yuen.
»Körperlich unversehrt«, sagte Dr. Webb. Nach einem kurzen Schulterblick fügte sie fast flüsternd hinzu: »Aber ich bin mir nicht sicher, ob wir sie mit den Soldaten allein lassen sollten.«
Yuen dachte einen Moment nach und rieb sich dabei die Gedankenfalten von der Stirn. »Ich will den Chief ungern schon am ersten Tag als Kommandeur zurückpfeifen. Er wird wissen, was er tut.«
»Dann meinst du das also wirklich ernst?«, fragte die Ärztin. »Du bist jetzt ihr Boss?«
»Irgendwer muss die Führung übernehmen«, nickte Yuen. »Saki hat immer gesagt, ich würde unser Forschungslabor wie eine Kaserne führen.«
»Dafür, dass du nie etwas mit dem Militär am Hut haben wolltest, warst du erstaunlich gut darin, die Offiziere zu imitieren«, stimmte Dr. Webb zu. »Glaubst du, dass jemand den Angriff überlebt hat?«
»Vielleicht«, sagte Yuen. »Wir schulden es ihnen, zumindest sicherzugehen.« Er nahm einen kräftigen Schluck Kaffee und blinzelte zum Nachbartisch. »Außerdem ist es die perfekte Möglichkeit für einen Loyalitätstest meiner neuen Truppen.«
Dr. Webb verzog bei seiner Wortwahl das Gesicht. Niemals hätte sie ihm die Rolle eines Militärgouverneurs zugetraut, doch in genau den schien er sich zu verwandeln. Nur die passende Uniform fehlte noch, um das Bild abzurunden. Yuen bestand weiterhin auf einen weißen Laborkittel, an denen es in der Biosphäre nicht mangelte.
Er stand auf, übergab Jiao behutsam an Dr. Webb und straffte sich, ehe er sich zu den Soldaten stellte.
»Chief?«
»Sir?«, lautete die knappe Antwort. Die Männer nahmen sofort Haltung an, blieben aber sitzen.
»Ich bin der Meinung, wir sollten uns nicht zu lange Zeit lassen, um zur McKnight Air Force Base zurückzukehren«, begann Yuen diplomatisch, ohne seine Autorität zu überreizen. »Falls es noch Überlebende gibt, müssen wir sie rasch finden. Sofern die Drohnen sie nicht bereits getötet haben, werden die Hunde ihnen bald den Rest geben.«
»Wir würden auch gerne herausfinden, was da oben geschehen ist«, stimmte Fletcher zu. »Unsere taktischen Möglichkeiten sind allerdings ziemlich begrenzt.«
»Wir verfügen lediglich über einen Hubschrauber und wenn die Drohnen noch da sind ...«, sagte Gabriel.
»Ich verstehe Ihre Sorgen«, sprach Yuen und hob entwaffnend die Hände. »Aber je länger wir warten, desto geringer wird die Chance auf dringend benötigtes Personal. Außerdem müssen wir in Erfahrung bringen, was den Angriff ausgelöst hat, sonst könnte die Biosphäre das nächste Ziel sein.«
»Wir haben immer noch die Nachtsichtgeräte«, schlug Ryan vor. »Damit sind wir zumindest den Hunden gegenüber im Vorteil. Mit den Munitionsvorräten der Alphas sind die Miniguns wieder voll bestückt und wir können ein kleines Feuerwerk abbrennen, ehe wir überhaupt landen.«
»Gibt es denn keine anderen Stützpunkte in der Nähe, wo wir wenigstens eine neue Turbine herbekommen könnten?«, fragte Alexandros.
Gemeinsam drehten sie die Köpfe zu Howe, der mit Dr. Webb jedes Wort verfolgt hatte.
»Die nächste Basis liegt dreihundert Kilometer westlich«, überlegte der Professor. »Und soweit ich weiß ist das eine ausgemusterte Army Base der Landstreitkräfte.«
»Niemand hätte der Air Force abgekauft, dass McKnight ein Versorgungsstützpunkt ist, wenn im Umkreis noch mehr Basen gewesen wären«, sagte Yuen. »Die Forschungsanlage sollte wohl isoliert bleiben.«
»Okay, dann fliegen wir heute Nacht zurück und sehen uns erst mal um«, entschied Fletcher. »Hoffen wir, dass sich ihre Überlebenden irgendwie bemerkbar machen.«
»In Ordnung, Chief«, sagte Yuen. »Dann also Abflug um null-einhundert.«
Die Soldaten nickten gehorsam und wendeten sich wieder ihrem Frühstück zu.
»Null-einhundert ist ... was?«, fragte Howe nach seiner Rückkehr an den Tisch.
Yuen nahm seine Tochter zurück auf den Arm. »Ein Uhr nachts«, erklärte er. »Militärjargon.«
Howe blickte Dr. Webb verdutzt an.
»Ich versteh es auch nicht«, erwiderte sie schulterzuckend und biss in einen Schokomuffin. Mampfend fügte sie hinzu: »Aber ich werd mich nicht darüber beschweren, dass er die Männer mit ihren Geschützen und Gewehren im Zaum hält.«
***
Um die Zeit bis zum Abflug totzuschlagen, unternahm Yuen einen Spaziergang in der Vormittagssonne. Er wollte sich die Biosphäre in Ruhe von außen ansehen, um wunde Punkte für die Restaurierung zu finden. Laut Howe funktionierten die gewaltigen Stahlscharniere an den Stelzen noch, mit denen die Anlage hoch und runtergefahren werden konnte. Auf die Art würde es über hundert Jahre dauern, bis Sandstürme die Kolonie auf dem Mars unter sich begruben. Yuen stellte die Theorie auf, die Biosphäre im Falle eines Angriffes bis an die Spitzen zu heben, um mögliche Entermanöver mit Leitern oder Wurfseilen zu erschweren.
Danny und Mitchell hatten unterdessen ihre Reparaturversuche von Hawk-two eingestellt und den Hubschrauber mit zusammengefaltetem Hauptrotor unter einer Plastikplane vor der Witterung geschützt. Sie konzentrierten sich nun auf den bevorstehenden Einsatz von Hawk-one. Als Yuen mit seiner Tochter auf dem einen Arm und einer Kaffeetasse in der anderen Hand an ihnen vorbeispazierte, gönnten sie sich eine Trinkpause, um ihm ein paar Fragen zu beantworten.
»Das sind Stricke zum Abseilen«, erklärte Mitchell und deutete auf zwei schwarze Kunststoffseile, die er und Danny an Haken außerhalb des Truppenabteils befestigt hatten. »Damit müssen wir nicht landen, um den Chief und seine Männer abzusetzen.«
»Wo haben sie die her?«, fragte Yuen neugierig.
»Von den Alphas. Die hatten echt geilen Scheiß rumliegen!«, antwortete Danny prompt.
»Lieutenant!«, ermahnte ihn Mitchell.
»Ähm, Verzeihung ... Sir.«
Yuen überließ Mitchell die Disziplinierung und legte Jiao im Hubschrauber ab, um sich selbst an einen der Stricke zu hängen. Er erwies sich als viel zu dünn zum Festhalten. Bei einem Abseilversuch aus zehn Meter Höhe hätte sich Yuen vermutlich die Finger abgesägt. »Wie soll man daran Halt bekommen?«
»Hiermit«, sagte Danny und holte eine Metallmanschette mit stabilem Griff hervor. »Einklinken und zentimetergenau abseilen.«
Nun verstand Yuen und versuchte es erneut. Tatsächlich bewegte sich die Manschette im geschlossenen Zustand nicht einen Millimeter. Löste er die Verriegelung vollständig, sauste er fast ungebremst in die Tiefe.
»Doc, ich hätte da eine Frage«, begann Mitchell taktvoll im Laufe der Trockenübung. »Wir wissen, warum sie in die Basis zurück wollen, aber wir haben uns gefragt, ob wir vielleicht auch woanders nach Leuten für die Biosphäre suchen sollten.«
»Zum Beispiel?«
»Raytown. Da wo General McQueen das Militärpersonal der Umgebung hinbeordert hat.«
Yuen löste die Manschette vom Seil und gab sie zurück an Danny. »Sie haben dort Familie?«
»Danny hat«, gab Mitchell zu. »Hoffen wir jedenfalls.«
»Ich verstehe«, sagte Yuen respektvoll. Er ging zwischen den beiden Männern hindurch und nahm Jiao auf den Arm, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen. »Sie können darauf zählen, dass ich nichts unversucht lassen werde, um unsere Angehörigen in Sicherheit zu bringen. Aber wir benötigen beide Hubschrauber für eine Rettungsaktion in Raytown.«
»Natürlich, Sir«, erwiderte Mitchell ohne zu zögern. »Die McKnight Air Force Base hat Priorität.«
Yuen nickte ebenso zackig und machte augenblicklich kehrt. Er setzte seinen Spaziergang fort und dachte darüber nach, wie er das Familienproblem seiner Untergebenen lösen könnte. Jeder Angehörige, den sie retteten, hätte weitere Angehörige, die ebenfalls nach Rettung verlangten. Ein grober Überschlag der Lebenserhaltungssysteme der Biosphäre hatte ergeben, dass sie unter extraterrestrischen Bedingungen fünfzig Menschen Platz bot. Dabei handelte es sich nach Yuens Schätzungen um den engsten Verwandtenkreis der jetzigen Besatzung; plus einiger Spezialisten. Selbst mit der Atemluftversorgung der Erdatmosphäre dürfte sich die Zahl nicht besonders erhöhen. Wollte er also einer größeren Menge Menschen Schutz bieten, mussten sie sich nach alternativen Nahrungsquellen umsehen. Darüber hinaus bereitete ihm der soziologische Faktor Kopfzerbrechen. Je zahlreicher die Gemeinschaft, desto komplizierter würde das friedliche Zusammenleben werden.
Yuen atmete einmal tief durch und drückte den Fahrstuhlknopf der Hauptschleuse. Ein Problem nach dem anderen. Der bevorstehende Einsatz könnte jegliche Pläne binnen Stunden wie ein Kartenhaus zusammenfallen lassen. Langfristige Strategien standen vorerst nicht zur Debatte. Zum Glück hatten die Soldaten das erkannt.
***
»Ich glaube, das hat sich entzündet!«, beschwerte Adrian sich derweil auf der Krankenstation.
»Ist nur ein bisschen angeschwollen. Das ist normal«, versuchte ihn Dr. Webb bei einer Begutachtung seiner Schusswunden zu beruhigen.
»Aber das tut verdammt weh!«
»Das sind Einschusslöcher, du Memme!«, gnatzte Rachel dazwischen. »Die sollen wehtun!«
»Wer hat dich eigentlich gefragt!«, rief Adrian zurück. Dabei rutschte er von der Krankenliege und hielt sich den linken Oberarm fest, als drohte er von der Erschütterung abzufallen.
»Komm morgen wieder, dann wechsel ich den Verband und seh mir das noch mal genau an«, verordnete Dr. Webb und drückte ihm eine orangefarbene Plastikdose mit Tabletten in die Hand. »Das sind Schmerzmittel. Alle sechs Stunden eine. Ich hab sie gezählt!«
Adrian nickte ihr zu und verließ mit grimmigem Gesicht das medizinische Abteil.
»Sorry für Adrians nerviges Auftreten«, sagte Rachel abwertend, als er außer Hörweite war. »Er war schon immer ein Weichei. Letztes Jahr sollte ich nach einem Kratzer unbedingt sein Blut untersuchen, weil er dachte ...«
»Jetzt hör mir mal gut zu, Kleine!«, fiel ihr Dr. Webb mit der Autorität der Chefärztin eines supergeheimen Forschungskomplexes ins Wort. »Das hier ist ab sofort mein Territorium und so lange Yuen dir keine Hühnerfarm anschafft, erwarte ich von dir einen professionellen Umgang mit unseren Patienten, sobald sie durch diese Tür da kommen.«
Das verschlug Rachel den Atem. Ein paar Sekunden stand sie wie gelähmt da, bis sie sich zu einer Antwort durchringen konnte.
»Dein Territorium? Bis gestern wusstet ihr doch noch nicht mal, dass wir überhaupt existieren! Ich hab die Leute hier die ganze Zeit am Leben erhalten!«
»Und du hast gute Arbeit geleistet«, gab Dr. Webb offen zu. »Aber wenn wir aus der Biosphäre eine Zuflucht für die nächsten Jahre, vielleicht Jahrzehnte machen wollen, braucht es mehr als eine Veterinärmedizinerin mit vorlautem Mundwerk!«
Rachel ballte die Fäuste neben ihren Hüften. Sie lief rot an und sah es gar nicht ein, dass die arrogante Ärztin aus einer weltfremden Militärbasis ihr plötzlich den Job stahl. Erst als ihr Blick auf Maxwell fiel, den noch immer bewusstlosen Koch, begann sie zu verstehen, wie wichtig Dr. Webb in der düsteren Zukunft für sie alle sein würde. Rachel hätte Maxwell allein nicht retten können. Die vergleichsweise simplen Verletzungen von Adrian hatten sie bereits an ihre Grenzen geführt.
»Okay«, knirschte sie hervor. »Ich werde versuchen, mich etwas zurückzuhalten.«
Dr. Webb streifte ihre Latexhandschuhe ab und griff sich einen Notizblock von Rachels Schreibtisch. »In Ordnung«, sagte sie gönnerhaft. »Und jetzt gib mir mal eine Liste, wer in der Gegend noch alles an Hypochondrie leidet.«
***
Nach dem Mittagessen aus trockenem Brot mit Dosenfleisch besuchte Yuen das Kommandozentrum der Biosphäre, wo sie am Vortag die Einsatzplanung gegen die Alphas durchgeführt hatten. Jiao schlummerte friedlich in ihrer Plastikkiste auf der Krankenstation. Dr. Webb hatte sich als gute Freundin bereiterklärt, hin und wieder auf sie aufzupassen.
Ein Großteil der Technik in der Zentrale funktionierte noch, aber mit dem Niedergang des Internets und der Satellitenkommunikation vermochten die meisten Terminals nicht viel mehr als einen Bildschirmschoner abzuspielen.
»Ich hab mich schon gefragt, wann du dich an unseren Computern zu schaffen machst«, hustete Howe hinter seinem Rücken. Der dunkelhäutige Rentner kam mürrisch aus seinem Büro gerollt, das direkt an die Kommandozentrale grenzte.
»Ist ja kaum noch was übrig«, maulte Yuen enttäuscht. »Haben die euch ausgeschlachtet, bevor ihr zum Museum wurdet?«
Professor Howe war selbst studierter Informatiker. Immerhin hatte er Yuen einst Vorlesungen gehalten. Entsprechend melancholisch blickte er auf die vielen nutzlos gewordenen Hightechoberflächen. »Dieser Raum hat seit – was weiß ich – zwei oder drei Jahren keine Aufgabe mehr«, krächzte er hervor. »Mails checken und zusehen, wie die Welt zugrunde geht, war doch alles, wofür das Internet noch gut war.«
»Vielleicht können wir das ändern«, überlegte Yuen und zeigte auf seinen Quantenkern, den er auf den zentralen Planungstisch gelegt hatte.
»Was ist das?«, fragte Howe. Mit kindlich anmutender Neugier griff er danach.
»Hoffnung«, sagte Yuen.
Eigentlich war er vom Militär zur Geheimhaltung verdonnert worden, aber das spielte inzwischen keine Rolle mehr. Mit einer Menge Fachausdrücke, die selbst Howe noch nie gehört hatte, erklärte Yuen ihm, dass er den Prototypen der ersten, echten künstlichen Intelligenz auf Erden bei sich trug. Alles, was er brauchte, um seine Forschung fortzuführen, war ein Rechenzentrum mit genügend konventioneller Kapazität und eine Kühlung nahe dem absoluten Nullpunkt.
»Ich hatte gehofft, dass ihr vielleicht über einen Mainframe wie den der McKnight Air Force Base verfügt, aber dafür war die Biosphäre wohl nie vorgesehen«, beendete Yuen deprimiert seinen Vortrag.
Professor Howes milchige Augen glühten stattdessen wie die eines Kindes zu Weihnachten. Er löste die Bremsen seines Rollstuhls und machte sich auf den Weg hinaus.
»Schieb mich an!«, befahl er. »Rechts ... noch mal rechts ... jetzt links ... stopp!«
Sie hatten den zentralen Zugangsturm erreicht, der ihre Verbindung zur Außenwelt darstellte.
»Ich war heute schon spazieren«, meinte Yuen mit unterdrücktem Keuchen, als Howe den Aufzug rief.
»Wart‘s ab!«
Der Fahrstuhl öffnete die Schotten und ließ sie hinein. Yuen wollte auf die Taste zum Erdgeschoss drücken – die einzig andere Adresse, da wischte ihm Howe die Hand vom Touchscreen.
»Finger weg!«, keuchte er vor Aufregung und rief ein verstecktes Fenster auf, das drei weitere Stationen ermöglichte.
»Wo fahren wir hin?«, fragte Yuen überrascht, als sich der Fahrstuhl tiefer als bis zum Ausgang senkte.
»Die alte Dame hat noch ein paar Überraschungen auf Lager«, beschwor ihn Howe. »Ein kleiner Fuhrpark für die Mondfahrzeuge, eine Maschinenabteilung und ...«
Ein Klingeln signalisierte die Ankunft auf Ebene B, zwei Etagen unter dem Erdgeschoss. Als sich die Schotten öffneten und die LED-Lichter an der Decke einschalteten, vergaß Yuen glatt seinen Professor im Aufzug. Mit heruntergeklappter Kinnlade starrte er auf zwei Meter hohe Serverracks, die sich in einem Raum so groß wie die Kommandozentrale aneinanderreihten. Ein riesiger Supercomputer, wie ihn Firmen, Geheimdienste und Universitäten seit über einem Jahrhundert einsetzten. Konventionell, aber ausgesprochen leistungsstark.
»Funktioniert das alles noch?«, fragte er perplex.
»Glaubst du vielleicht, ich lass meine Schätzchen hier unten vergammeln?«, erwiderte Howe mit einem Anflug von Kränkung.
»Wo kommen die her? Was will deine Biosphäre mit einem Supercomputer?«
»Wissen bewahren«, sprach Howe prophetisch. »Wir sollten nicht einfach nur Leben zu den Sternen bringen, sondern es für alle Zeit sichern. Wie ein Backup auf dem Mond, falls die Erde zusammenbricht.«
»Dann sind die Speicher voll mit dem Wissen der Menschheit?«
»Nein, leider nicht. Die Ian-Hawk-Biosphäre sollte nur ein Test sein. Die Systeme funktionieren, sind aber leer«, erklärte Howe unfreiwillig. »Irgendwann hätte man uns ein Backup geschickt, aber dazu kam es nicht mehr. Ich dachte auch eher an einen Spielplatz für deine Amy.«
Yuen blickte ihn an und zeigte zum ersten Mal seit seiner Ankunft ein aufrichtiges Lachen. Er hatte gehofft, seine Arbeit fortsetzen zu können. Zwar im kleineren Stil, aber dafür ungestört vom Militär. Eine oberflächliche Inspektion bestätigte, dass die Computer weitaus älter als die der McKnight Air Force Base waren, doch hier würde Yuen sie nicht mit Dutzenden anderer Ressorts teilen müssen.
Reflexartig drehte er sich zum Ausgang und wollte Saki die gute Nachricht überbringen. Sie dazu einladen, mit ihm an Amy weiterzuarbeiten. Aber statt des unbeschwerten Lächelns seiner wunderschönen Frau erwartete ihn nur das eingefallene Gesicht von Howe, der in dem stählernen Aufzug geblieben war.
Da erinnerte er sich wieder und ihr Tod traf ihn erneut, als würde sie in genau diesem Augenblick kreischend mitsamt dem Förderkorb in die Tiefe gerissen werden. Seine Beine gaben nach und er wankte zu Boden. Irgendwer schaltete das Licht ab. Howes besorgte Rufe hallten wie in einem endlosen Tunnel und wurden immer leiser. Dann empfing ihn kalte Leere und er verlor das Bewusstsein.
***
Als Yuen die Augen öffnete, blendete ihn die grelle OP-Leuchte der Krankenstation. Seinem affektartigen Zetern nach zu urteilen hatte sein Schwächeanfall keine ernsten medizinischen Gründe gehabt. Er schickte Dr. Webb auch sofort davon, als die ihn genauer untersuchen wollte, denn schon nach ein paar Sekunden kehrten seine Gedanken zurück zu seiner Frau; zu Saki.
Minutenlang saß er stumm auf dem Operationstisch, dann brach seine Gefühlswelt über ihm zusammen. Zuerst lief eine einzelne Träne an seiner Wange entlang, dann eine zweite aus dem anderen Auge. Dem folgte eine Mischung aus keuchenden Atemgeräuschen und verzweifeltem Schniefen durch die Nase.
Dr. Webb ließ die Krankenstation auf der Stelle räumen. Sowohl Fletcher und Mitchell hatten von Yuens angeblichem Kreislaufkollaps gehört und waren herbeigeeilt. Auch Professor Howe musste seinen alten Studenten auf ärztliche Anweisung hin verlassen. Am Ende verwies Dr. Webb sogar Rachel des Raumes. Die zeigte dafür zwar wenig Verständnis, wollte sich aber nicht zwei Mal am selben Tag mit ihr anlegen.
Als er allein mit Dr. Webb war, hob Yuen den Kopf. Seine angeschwollenen, roten Augen blickten sie hilfesuchend an. Seit ihrer Flucht aus der McKnight Air Force Base hatte er den Verlust seiner Frau beiseitegeschoben und sich aufs Überleben konzentriert. Anstelle von Trauer hatte er sich mit den Soldaten sogleich ins nächste Gefecht gestürzt, um nicht über den Schicksalsschlag nachdenken zu müssen. Aber jetzt, wo sie für den Moment in Sicherheit zu sein schienen, holte ihn das Trauma eiskalt ein.
»Ich hätte sie nicht zurücklassen dürfen«, wimmerte er.
»Du musstest zu deiner Tochter zurückkehren«, baute ihn Dr. Webb auf. »Saki hätte nicht gewollt ...«
»Sie war noch am Leben!«, schniefte Yuen dazwischen. »Du hättest sie retten können!«
»Chief Fletcher hat gesagt ...«
»Der verdammte Hundesohn hat mich von ihr weggezogen!«, unterbrach Yuen sie abermals. Er rutschte von der Liege und deutete zornig auf die Tür. »Er hat sie einfach sterben lassen. Er hat sie umgebracht!«
»Yuen ...«
»Ich hab sie schreien gehört, als der Fahrstuhl abgestürzt ist!«
Dr. Webb suchte nach den richtigen Worten. Als ihre Suche erfolglos blieb, legte sie schlicht ihre Arme um seine Schultern und drückte ihn fest an sich. Da sie einen Kopf größer als er war, presste sie sein verträntes Gesicht dabei wie das eines traurigen Kindes an ihre Brust.
»Sie ist tot, Karen«, schluchzte er völlig aufgelöst. »Saki ist tot!«
Dr. Webb schwor sich, ihn so lange festzuhalten, bis er wieder der selbstbewusste Doktor war, der sie mit Intelligenz und Selbstdisziplin aus der Hölle befreit hatte; und wenn es bis ans Ende aller Tage dauern würde. Yuen gab derweil keinen Laut von sich, sondern kämpfte gegen die Tränen. Er konnte sich nicht mehr erinnern, wann er das letzte Mal geweint hatte. Irgendwann in seiner Kindheit, bis ihm derartige Schwächen vom eigenen Vater ausgetrieben worden waren. Die ganze Welt brach in diesem Augenblick über ihm zusammen. Es dauerte einige Minuten, bis er sich aus ihrer Umklammerung zu lösen begann.
»Danke«, keuchte er heiser. »Dass du die anderen weggeschickt hast.«
Die Ärztin zog die Mundwinkel hoch und drückte ihn gleich nochmal. Diesmal als freundschaftliche Umarmung. Sie verstand, dass er nur einen Moment absoluter Ruhe gebraucht hatte, in der er alle Barrieren fallenlassen konnte.
***
Nach einem gemeinsam Tee, den Dr. Webb auf der Krankenstation aufgebrüht hatte, damit Yuen nicht mit seinen vertränten Augen durch die Biosphäre laufen musste, zog er sich mit Jiao auf dem Arm in sein Quartier zurück. An eine Rückkehr zum Rechenzentrum war nicht zu denken. Yuen fürchtete, dass er abermals kollabieren würde, sobald er einen Schritt in die allzu vertraut wirkende Sektion wagte.
Völlig ausdruckslos hockte er auf seinem weichen Himmelbett. Er hatte nicht mal ein Bild von Saki mitgenommen. Seine Brieftasche lag noch bei ihm zu Hause, zusammen mit den Familienfotos. Er machte sich eine gedankliche Notiz, heute Nacht wenigstens einen kleinen Teil seiner persönlichen Habe mitzunehmen.
Es war vierzehn Uhr. Noch acht Stunden bis zum Aufbruch. Acht Stunden, die er mit seinen Erinnerungen allein fertigwerden musste. Der Tee mit Karen hatte ihm sehr geholfen, aber er konnte seine gute Freundin nicht pausenlos in Beschlag nehmen. Sie redete den ganzen Tag ununterbrochen von dringend benötigten Hilfsgütern und Medikamenten, die Yuen unbedingt beschaffen sollte. Ihr fiel die Umstellung besonders leicht, da sie keine Familie zurückließ und Yuen ihr einziger verbliebener Freund war.
Er legte die Beine hoch und schloss die Augen. Vielleicht würde ihm etwas Ruhe helfen. Ein Mittagsschlaf. Schon fühlte er, wie sein Hintern in der weichen Matratze versank und sich Sekunden später sein Rücken schmerzhaft zu Wort meldete.
Yuen sprang auf und starrte verbissen auf das Bett. Keine zehn Pferde könnten ihn dazu bringen, noch eine Nacht auf dieser Folterliege zu verbringen. Er schob den danebenstehenden Couchtisch beiseite und breitete seine Bettdecke auf dem Metallfußboden aus.
Viel besser, stellte er bei einem Test kurz darauf fest, doch nach einer Weile spürte er die Kälte des Stahls sogar durch die Decke. Außerdem bohrte sich immer irgendeine Schraube in seinen Rücken, sobald er sich etwas bewegte.
Sein Blick fiel auf den Couchtisch. Der bestand aus einer Stahlplatte mit vier angeschraubten Stahlbeinen; gebaut für die Ewigkeit im Weltraum. Yuen verließ sein Quartier und machte sich auf die Suche nach einer der vielen Baustellen, an denen seit Jahren niemand mehr irgendetwas repariert hatte. Das spielte für ihn jedoch keine Rolle, denn er brauchte lediglich einen passenden Schraubenzieher.
Schon nach fünf Minuten war er fündig geworden und in sein Quartier zurückkehrt. Kurz darauf schob er die Tischbeine mitsamt Schrauben unter die Couch und legte die Tischplatte auf den Metallfußboden. Sie passte nicht ganz zwischen die Nieten des Bodens, aber er sah keinen Grund, warum seine Liege nicht leicht angeschrägt sein durfte. Dann breitete er sein Bettzeug auf der Tischplatte aus und unternahm ein Probeliegen.
Was für andere Folter gewesen wäre, sorgte bei
Yuen für ein entspanntes Seufzen. Endlich eine Schlafgelegenheit,
die ihn nicht binnen weniger Nächte umbringen würde. Eigentlich
wollte er nur für ein paar Minuten die Augen schließen, aber noch
ehe er den Gedanken zu Ende gebracht hatte, schlief er tief und
fest.