10. NOVA
Die Hubschrauber brauchten weitere fünfzehn Minuten Flugzeit, bis der Rauch allmählich nachließ. Auch das Atmen fiel leichter, je näher sie ihrem Ziel kamen. Die Sichtweite vergrößerte sich auf mehrere Kilometer, bis die Ausläufer der Stadt aus den Rußschwaden auftauchten. Anstatt Groombridge jedoch direkt anzufliegen, versteckten sich die beiden Black Hawks in einer Senke. Fletcher hatte Yuen davon überzeugt, zunächst die Lage mit ihrer kleinen Aufklärungsdrohne zu checken, ehe sie möglicherweise mit großem Aufsehen in einem Katastrophenlager voller verängstigter Menschen landeten.
»Da unten sieht‘s aus wie in einem Ameisenhaufen«, meldete Gabriel.
Groombridge erwies sich als letzte Oase vor der Feuersbrunst. Auf den abgeholzten Hängen am Rande der Stadt waren weiße Zeltstädte errichtet worden, in denen zehntausende Flüchtlinge aus den südlichen Regionen vermutlich seit Wochen Zuflucht gesucht hatten. Inzwischen drohte die Feuerwand sie jedoch niederzuwalzen und die Menschen mussten erneut in Sicherheit gebracht werden. Die Zufahrtsstraßen waren längst von flüchtenden Autos verstopft. Zu Fuß würde kaum jemand entkommen können, daher bestand ihre einzige Hoffnung in einer Evakuierung aus der Luft. Auf einem Parkplatz am nördlichen Ende der Stadt stand der Chinook, der ihnen zuvor begegnet war. Ein Dutzend bewaffneter Männer schirmte ihn ab. Der halbe Stadtteil um den Landeplatz war bis auf ein paar Soldaten menschenleer.
»Das sind verdammt viele Augen«, sagte Fletcher.
»Chief?«, fragte Yuen.
»Ist nur so ein Gefühl. Vielleicht sollten wir nicht gleich alle Karten auf den Tisch legen.«
»Wie wär‘s, wenn Danny hier wartet?«, schlug Mitchell aus dem Cockpit vor. »Dann hätten wir noch einen Trumpf in der Tasche, falls was schiefgeht.«
»Gute Idee, LT«, rief Fletcher zurück. »Sagen sie ihm Bescheid und landen sie bei den Zelten!«
Mitchell gab den Plan an den zweiten Hubschrauber weiter, der daraufhin ein paar Kilometer von Groombridge entfernt abtauchte.
Die Menge am Boden hatten derweil den anfliegenden Black Hawk entdeckt und drängte auf den Hang, auf dem sie zur Landung ansetzten. Zu Dutzenden stemmten sie sich gegen die Barrikaden der völlig überforderten Soldaten.
»Ihr beide passt auf, dass sich keiner dem Hubschrauber nähert, klar?«, befahl Fletcher seinen Männern beim Anflug.
»Verstanden, Chief«, bestätigte Alexandros und hängte sich mit Gabriel sein Gewehr um.
Kaum setzte Mitchell auf, sprang Yuen gefolgt von Fletcher aus dem Hubschrauber. Durch die Rotoren und die kreischende Menschenmenge war so gut wie keine Kommunikation möglich, daher marschierten sie mit raschen Schritten in Richtung der Sperrzone um den zivilen Chinook. Unterwegs wurden sie von einem Soldaten aufgehalten, der Fletcher barsch fragte, ob sie zur Evakuierungshilfe hier seien. Yuen überließ dem Chief das Wort, der den Soldaten mit scharfen Antworten davon in Kenntnis setzte, dass sie einem wichtigeren Auftrag folgten. Wie die SAR-Pilotin zuvor, zweifelte auch der Soldat an Fletchers Motiven, wirkte aber weitaus weniger überrascht. Er ließ sie passieren und machte Meldung an seinen Vorgesetzten.
Yuen hörte den beiden stumm zu und fühlte sich beinahe wie ein Außenseiter, der auf Rettung wartete und ohnmächtig zusehen musste, wie das totalitäre Militär über seinen Kopf hinwegentschied. Trotzdem blieb er bei seiner Entscheidung, dass die Familien seiner Leute vorgingen. Er brauchte diesen emotionalen Erfolg, um ihrer aller Zukunft zu sichern. Gleichwohl vermied er den Blick auf die verzweifelte Menschenmenge. Männer, Frauen und Kinder, die nur dem Feuer zu entkommen versuchten, das sich unaufhaltsam näherte. Sein Herz wollte jeden von ihnen retten, aber sein analytischer Verstand behielt die Oberhand.
Ihr Weg führte sie zu einem versperrten Checkpoint, der als Schleuse für die Evakuierung diente. Aufgrund der vielen Menschen dauerte es eine Weile, bis sie sich zur Behelfsschranke zwischen zwei Wohnhäusern durchgekämpft hatten. Ehe sie sich zu erkennen geben konnten, kam ihnen die SAR-Pilotin aus Richtung ihres eigenen Landeplatzes bereits entgegen.
»Hey! Ihr da!«, rief sie durch die laute Menge. »Habt euch wohl selbst überzeugt, was?« Dann reichte sie ihnen nacheinander die Hand. »Ich bin Penny.«
»Chief Warrant Officer Aaron Fletcher. Wer hat hier das Kommando?«
»Wie jetzt? Ihr seid echtes Militär?«
Fletcher warf Yuen einen unschlüssigen Blick zu. »Meine Männer und ich, ja. Doktor Zhang ist Zivilist.«
»Ein Möchtegerncaptain namens Richard Van Zandt hat in Groombridge das Sagen«, erwiderte die Pilotin. Ihr abwertender Tonfall ließ keinen Zweifel am fehlenden Respekt. »Gehört nicht mal zur Armee, sondern zu ‘nem privaten Safariverein, der hier euren Job machen soll!«
»Privat–?«, begann Yuen.
»Black Razor Company?«, fragte Fletcher ernst.
»Nee, Richards Bande nennt sich anders. Die sind vor ein paar Tagen aufgetaucht, um uns alle zu retten«, zeterte Penny weiter und setzte dabei das Wort retten in Gänsefüßchen. »Sind inzwischen aber völlig überfordert und nur noch damit beschäftigt, ihren eigenen Arsch rauszuschaffen.«
»Wo finden wir diesen Captain Van Zandt?«
»Die haben sich im Krankenhaus einquartiert. Ich führ euch hin«, bot sie an. »Will ihm sowieso sagen, dass ich nur noch einen Flug hier raus mache!«
»Warum nur noch einen?«, fragte Yuen.
»Weil bei meiner Rückkehr keiner mehr am Leben sein wird!«, erwiderte die Pilotin und zeigte auf die herannahende Feuersbrunst. »Ich seh doch von oben genau, wie schnell sich die Wand auf uns zubewegt. In vierundzwanzig Stunden ist von Groombridge nichts weiter als Asche übrig!«
***
»Penny, verdammt!«, schnauzte ihnen ein mittelgroßer Offizier mit kahlgeschorener Glatze und kurzgeschnittenem Henriquatrebart entgegen, als sie ein paar Minuten später den Konferenzraum des Krankenhauses im obersten Stock betraten. »Ich hab dich schon vor Stunden rufen lassen!«
»Ja ja, bin erst vor dreißig Minuten gelandet, musste auftanken, bla bla, nicht interessiert. Ich bin nur gekommen, um mich zu verabschieden. Ich lad jetzt meinen Hubschrauber voll und hau ab.«
»Okay, Cooper hat eine Liste mit Material und ...«
»Leck mich, Richard! Ich schlepp nicht noch mehr von eurem Zeug raus und lass dafür Leute verrecken!«
»Das war keine Bitte«, raunte ein uniformierter Mann im Türrahmen und verstellte Penny den Weg. Sein Namensschild las E. Cooper.
»Geh mir aus dem Weg ... HEY!«
Penny versuchte erfolglos, sich an ihm vorbeizuzwängen. Dann fasste ihr Cooper unter die Achseln und verdrehte ihr den rechten Arm, so als wolle er sie festnehmen. Sie quiekte und wehrte sich weiter wie eine Löwin. Fletcher und Yuen hatten sich bislang zurückgehalten, doch nun schritt der Chief affektartig ein. Er neutralisierte Cooper mit einem Tritt in die Knie und einem festen Griff an den Armen.
»Wer zum Henker seid denn ihr Typen?«, rief Van Zandt. Hinter ihm hatten zwei Männer ihre Pistolen gezogen und zielten auf Fletcher.
»Das sind echte Soldaten!«, keifte Penny zurück. Sie rieb sich das Schultergelenk und wandte sich direkt an Fletcher. »Wenn ihr fertig seid und ich noch nicht abgehauen bin, kommt bei mir vorbei. Glaubt mir, ihr wollt nicht mit dem Sauhaufen hier zusammenarbeiten!« Sie boxte Cooper auf den nach wie vor festgehaltenen Oberarm und stampfte aus dem Konferenzraum heraus.
»Lassen sie den Lieutenant los«, sagte Van Zandt ernst.
Fletcher sah sich um und wartete, bis Yuen ihm zunickte, ehe er Cooper aufstehen ließ. Die Männer steckten ihre Pistolen weg und entspannten sich etwas. Ihr Anführer straffte sich und reichte Fletcher die Hand.
»Captain Richard Van Zandt, Vanguard Division, Dread Nova Mercenary Guard.«
»Klingt ja fast echt«, sagte Fletcher, nahm aber den Händedruck an. »Chief Warrant Officer Aaron Fletcher, U.S. Army Special Forces unter dem Kommando von General McQueen.«
»McQueen?«, wunderte sich Van Zandt. »Ich dachte, dem seine Truppen wären in der McKnight Base aufgerieben worden?«
»Sie sind erstaunlich gut informiert, Captain.«
»Eure Geheimhaltung ist in demselben Zustand wie der Rest der Army. Darum wurden wir ja auch bezahlt, um die Scheiße hier auszubaden.«
»Söldner im humanitären Rettungseinsatz? Solltet ihr nicht irgendwo auf der Welt was in die Luft jagen?«
»Da ist nicht mehr viel übrig, was man noch hochjagen könnte«, sagte Van Zandt. Dann winkte er Cooper zu. »Beginnen sie mit der Verladeoperation, Lieutenant. Drei Stunden bis zur Evakuierung.«
»Verstanden, Sir!«
Cooper salutierte nicht wie ein echter Soldat, sondern stand kurz stramm und machte kehrt zur Tür. Die anderen Männer im Raum folgten ihm nach einem Wink von Van Zandt und schlossen hinter sich die Tür. Als er mit Fletcher und Yuen allein war, setzte sich Van Zandt mit verschränkten Armen auf seinen Schreibtisch.
»Warum sind sie hier, Chief?«
»Zur Evakuierung von ...«
»Sparen sie sich den Mist«, winkte Van Zandt ab. »Diese Diskussion wird um einiges schneller vorbei sein, wenn sie mich nicht länger für bescheuert halten. Die McKnight Air Force Base wurde vor achtundvierzig Stunden von der Black Razor Company aufgeraucht. Ihr könnt mir nicht erzählen, dass ihr plötzlich bei der Räumung von diesem Kaff helfen sollt.«
»Sie wissen vom Angriff der Razors?«
»Hat es irgendjemand bis nach Groombridge geschafft?«, fragte Yuen.
Van Zandt warf ihm einen abschätzenden Blick zu. Yuen war mit einer Pistole bewaffnet und trug eine Flakweste, wirkte aber alles andere als ein Soldat. »Wer ...?«
»Doktor Zhang Yuen. Ich war in der Basis angestellt.«
»Als ... Militärarzt?«
»Korrekt«, antwortete Fletcher rasch. Van Zandt wusste offenbar nichts von dem unterirdischen Forschungskomplex und dabei sollte es bleiben, ehe Yuen sich aus Versehen verplapperte.
»Verstehe«, sagte Van Zandt, blieb aber misstrauisch »Nein. Euer alter Black Hawk ist der erste Militärflieger, den wir seit Tagen zu Gesicht bekommen haben.«
»Und aus Raytown?«
»Raytown? Was ist damit?«
»Raytown war der Evakuierungspunkt für die Stützpunktbesatzung«, erklärte Fletcher. Die Stadt existierte nicht mehr und musste daher nicht länger geheim gehalten werden.
Van Zandt runzelte die Stirn, so als fielen bei ihm gerade eine Reihe von Puzzlestücken ineinander. »Verstehe«, sagte er. »Ihr wollt also retten, was zu retten ist, hm?«
»Präzise.«
»Ihr kommt zu spät. In Raytown hat die ganze Scheiße angefangen. Von da ist keiner entkommen.«
»Wie meinen sie das?«
»Ist euch der brennende Wald da draußen etwa entgangen? Der Ursprung liegt irgendwo in der Nähe von Raytown. Da ist was in die Luft geflogen und hat den Flächenbrand ausgelöst. Kann ein überhitzter Tanklaster oder eine Bombe gewesen sein. Wir wissen‘s nicht.«
Fletcher wartete nicht auf Yuens Reaktion, sondern trat mit der Hand an seiner Pistole einen Schritt auf Van Zandt zu. Mit der Grabesruhe eines Elitesoldaten stellte er die einzig wichtige Frage: »Arbeiten sie mit der Black Razor Company zusammen, – Captain?«
Eine halbe Minute lang lieferte er sich ein Duell im Anstarren mit Van Zandt. Keiner der beiden Männer zeigte auch nur die geringste Regung, bis der Söldneroffizier seine bärtigen Mundwinkel hochzog.
»Nein«, sagte er überzeugt. »Ein Deal mit den Razors ist wie ein rostiger Dolch im Rücken. Ich hab genug Kameraden an die verloren, nachdem sie ihren Zweck erfüllt hatten. Coopers Bruder haben sie vor Neu-Delhi verrecken lassen, weil ihr Ziel kurzfristig eine andere Route gewählt hatte.« Er griff nach einer Zigarettenpackung auf seinem Schreibtisch und bot sie Fletcher an. »Wenn die Bastarde hinter dem Inferno stecken, ist das nur noch ein Grund mehr für meine Männer und mich, uns aus diesem Loch zu verziehen.«
Fletcher nahm sich eine Zigarette und ließ sich Feuer geben, ehe er seinen Kopf zu Yuen umdrehte und ihm zunickte. Van Zandts Reaktion glich der von Fletcher, als er in der Basis von den Razors erfahren hatte. Er glaubte ihm vorerst.
»Hat Penny nicht gesagt, dass Raytown vom Feuer überrannt worden ist wie der Rest des Waldes?«, fragte Yuen.
»Penny fliegt seit Tagen irgendwelche armen Schlucker aus der heißen Zone, von denen jeder eine andere Geschichte erzählt«, sagte Van Zandt. »Meine Informationen sind bestätigt.«
»So eine Scheiße«, knurrte Fletcher.
»Ihr außerdem solltet wissen, dass die Razors ein beachtliches Kopfgeld auf euch ausgesetzt haben. Ganz besonders für Offiziere und leitende Zivilisten.«
Yuen sah besorgt zu Fletcher, den die Neuigkeiten scheinbar nicht aus der Ruhe bringen konnten.
»Als wenn sich mit der Kohle noch irgendwas kaufen lassen würde«, spottete er.
»Ich weiß nicht«, meinte Van Zandt. »Hab gehört, es gibt auf den Ozeanen noch ein paar Inselparadiese ohne Gesetze aber mit vielen Titten.«
Fletcher ließ sich auf den Scherz ein und lachte, behielt aber gleichzeitig die Hand in der Nähe seiner Pistole. So ganz schien er dem Frieden nicht zu trauen. Yuen hingegen konnte der Diskussion keinen Humor abgewinnen.
»Und was wird aus den Flüchtlingen da draußen, wenn sie ihre Männer evakuieren?«, fragte er und zeigte auf die Fenster zum Hof.
»Die sind nicht unser Problem«, erwiderte Van Zandt. »Dread Nova sollte hier nur für die Sicherheit sorgen. Seit Tagen warten wir auf die Nationalgarde oder irgendeine andere Katastrophentruppe, aber bis auf den Chinook von Penny ist niemand aufgetaucht. Wir wissen nicht mal wohin mit den Menschen. Die paar Übertragungen, die uns noch erreichen, sprechen von Aufständen und Unruhen im ganzen Land.«
»Wohin hat Penny die Leute gebracht?«, fragte Fletcher.
»Einfach nur nach Norden an die Waldgrenze, aber da oben sind sie wieder gestrandet.«
»Haben sie einen besseren Plan?«
»Nein«, antwortete Van Zandt knapp. Er nahm einen kräftigen Zug an seiner Zigarette. »Auf die Gefahr hin, wie ein Razor zu klingen, hier zählt das Überleben des Stärkeren. Wenn das Feuer bis auf einen Kilometer an Groombridge herankommt und die Stadt einzuschließen beginnt, werden die fünfzigtausend Menschen da unten anfangen durchzudrehen. Haben sie schon mal eine Massenpanik erlebt, Chief?«
Fletcher rieb sich am Kinn und nickte abermals. Nun war auch ihm der Spaß wieder vergangen.
»Dann verstehen sie hoffentlich, warum wir in drei Stunden abhauen.«
»Wie wollen sie denn hier rauskommen?«, fragte Yuen.
»Sie meinen, außer in Pennys Hubschrauber?« Van Zandt ließ etwas Asche auf den Boden fallen und lachte. »Meine Männer räumen seit gestern die Straße nach Norden frei.«
»Es gibt einen Fluchtweg?«
»Korrekt, aber sobald wir den Flüchtlingen davon erzählen, werden die sie binnen Minuten erneut verstopfen. Also fahren wir zuerst und wer es mit uns schafft, hat gewonnen. Was danach passiert, liegt nicht in meiner Macht.«
»Sir, wir haben hier ein Problem an der Alpha Site!«, meldete sich Lt. Cooper über Funk.
»Verstanden. Bin unterwegs«, antwortete Van Zandt und wendete sich noch einmal an Fletcher. »Ich werde gebraucht, aber fühlen sie sich wie zu Hause. Meinetwegen können sie das Büro und sogar die ganze Stadt übernehmen.«
Er legte eine weitere Zigarette auf den Schreibtisch und verließ entspannt den Raum. Als sie allein waren, griff Fletcher danach und bot sie Yuen an.
»Nein danke, Chief. Meine Kaffeesucht genügt mir.«
»Wie sie meinen, Doc«, sagte Fletcher und steckte die Kippe hinter sein rechtes Ohr. »Die Dinger werden bald Gold wert sein. Vielleicht sollten wir selbst Tabak anbauen. Bei all den riesigen Modulen der Biosphäre wird doch sicher etwas Platz ...« Beim Reden bemerkte er, wie Yuen teilnahmslos aus dem Fenster starrte. Fletcher hatte vermutet, dass er sich auf die Suche nach der nächsten Kaffeemaschine machen würde, und gesellte sich verwundert zu ihm. »Alles in Ordnung?«
»Warum sind wir hier, Chief?«, fragte Yuen.
»Um Angehörige unserer Leute in Sicherheit zu bringen.«
»Korrekt, aber warum?«
»Weil es ... das Richtige zu tun ist?«
Yuen blickte ihn geknickt an, so als fürchtete er, sich in Fletcher getäuscht zu haben.
»Weil wir eine solide, emotionale Grundlage brauchen, auf der wir den Weltuntergang überleben können. Jetzt kehren wir mit leeren Händen heim und unsere Leute werden monatelang nichts anderes im Kopf haben, als weitere sinnlose Rettungsmissionen zu starten.«
Fletcher nahm einen tiefen Zug an seiner Zigarette und blies den Rauch aus dem Nachbarfenster, um Yuen nicht zu sehr zu belästigen. »Ich versteh nicht viel von Psychologie«, gab er zu. »Aber ich würde ihnen nahelegen, in der näheren Zukunft keine Missionen wie diese mehr zu starten.«
»Okay«, sagte Yuen andächtig. »Jetzt bin ich dran, nach dem Warum zu fragen.«
»Die Razors haben Raytown zerstört.«
»Sie glauben nicht an Zufälle?«
»Nicht, wenn es die Razors betrifft. Ihr Auftraggeber will offenbar um jeden Preis verhindern, dass irgendjemand mit Kontakt zur Basis entkommt. Warum setzen die sonst ein Kopfgeld auf uns aus? Das muss über sämtliche Kanäle der Gegend gegangen sein, wenn sich das dermaßen schnell rumgesprochen hat..«
»Also bleibt uns wirklich nur die Isolation«, kombinierte Yuen.
»Zeitlich begrenzte Expeditionen zur Materialbeschaffung sollten kein Risiko darstellen, aber wir dürfen nicht mehr jedem auf die Nase binden, woher wir kommen.«
»Und was erzählen wir unseren Leuten? Über deren Familien und Freunde?«
Fletcher lehnte sich auf das Fensterbrett und runzelte die Stirn. »Die sind alle umgekommen«, sagte er kalt. »Lieutenant Mitchell und meine Männer können die Zerstörung von Raytown und Umgebung bezeugen. Besser ein Ende mit Schrecken als Schrecken ohne Ende. Inoffiziell hören wir uns weiter um, und sobald wir was Handfestes erfahren, starten wir eine realistische Rettungsoperation. Nicht vorher.«
Yuen drehte sich vom Fenster weg und rieb sich die Schläfen. »Fünfzigtausend Menschen«, sagte er betrübt. »Fünfzigtausend unschuldige Menschen und wir kehren mit leeren Händen zurück.«
»Wir wissen gar nichts über die Leute hier«, hielt Fletcher dagegen. »Wir können nicht einfach wahllos Menschen in die Biosphäre bringen.«
»Und mit dem heranrückenden Feuer steht ein Auswahlverfahren wohl auch nicht zur Debatte«, stimmte Yuen niedergeschlagen zu.
»Es gibt vielleicht einen Weg, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen«, dachte Fletcher laut. Als Yuen ihn daraufhin überrascht ansah, zeigte er aus dem Fenster auf ein speziell eingezäuntes Zelt, in dem ausschließlich Kinder untergebracht waren.
»Wie stellen sie sich das vor, Kinder ohne ihre Eltern mitzunehmen?«, fragte Yuen.
Fletcher schüttelte kurz den Kopf. »Egal ob Krieg oder Naturkatastrophe; wenn mich meine Erfahrung eines gelehrt hat dann, dass es immer Waisen gibt, die über Nacht allein dastehen. Wir könnten ihnen helfen, anstatt sie dem Feuer zu überlassen.«
»Das würde unsere Leute zumindest etwas ablenken«, murmelte Yuen.
»Und wir laufen wohl kaum Gefahr, irgendwelche schwarzen Schafe bei uns einzuschleusen«, fügte Fletcher hinzu.
»Einverstanden, Chief. Wir fragen, ob sie uns begleiten wollen.«
***
»Doc, warten sie!«, rief Fletcher auf dem Weg nach unten.
»Ja, Chief?«
»Vielleicht sollten sie allein mit den Verantwortlichen sprechen.«
»Sie können nicht gut mit Kindern?«
»Die Kinder sind nicht das Problem«, versicherte ihm Fletcher. »Aber nach Pennys Aufstand gegenüber Van Zandt bin ich mir nicht sicher, ob ich in meiner Uniform hilfreich wäre.«
Yuen nickte wohl wissend, wie häufig das Militär in letzter Zeit in Verruf geraten war. »In dem Fall geb ich ihnen besser meine Flakweste zurück.« Darauf hatte Fletcher es nun gar nicht abgesehen und wollte schon Widerspruch einlegen, als Yuen ihm zuvorkam. »Ich hab immer noch das Funkgerät und die Pistole kann ich unter meinem Kittel verstecken. Die werden hier wohl kaum auf einen Arzt schießen«, sagte er überzeugt. Immerhin hatte ihm Van Zandt den Militärarzt sogar mit Waffe und Weste abgekauft. »Was haben sie derweil vor?«
»Ich dachte, ich seh mir mal den Chinook an«, schlug Fletcher vor. »Penny schien recht erfreut über unser Eintreffen zu sein.«
»Und ein weiterer Hubschrauber samt Pilotin wäre nicht schlecht.«
»Genau. Wir retten schließlich Kinder, während die Dread Novas heimlich abhauen wollen.«
Auf Yuens Gesicht deutete sich ein Lächeln an. »Überreizen sie nur nicht«, warnte er vorsorglich. »Am Ende wollen die Kleinen nicht mit uns kommen und gegen ihren Willen können wir sie wohl kaum zu den Hubschraubern schleifen.«
»Verstanden, Doc«, sagte Fletcher. »Gute Jagd!«
»Ihnen auch, Chief.«
Die beiden trennten sich am Haupteingang des Krankenhauses, in dem noch immer reger Betrieb herrschte. Die Söldner waren vollauf damit beschäftigt, die letzten Reserven an Medizin und Verbandsmaterial zu plündern. Normalerweise hätten Fletcher solche Aasgeier zur Weißglut getrieben, aber mit der herannahenden Feuerswand am Horizont verspürte er eher Neid auf die fette Beute. Schon bald würden er und seine Männer ähnliche Bergungsoperationen durchführen müssen, um die Biosphäre zu versorgen.
»Gabriel, Status«, sagte er in sein Funkgerät, während er sich auf den Weg zum Chinook machte.
»Alles ruhig«, folgte die knisternde Antwort. »Hier hat sich ein Corporal Williams gemeldet, Dread Nova Mercenary Guard.«
»Was wollte er?«
»Nichts. Hat sich nur nach unserem Auftrag erkundigt und wie lange wir vorhaben zu bleiben.«
»Und was hast du ihm gesagt?«
»Geheime Kommandooperation und bis mein CO den Abflug befielt.«
Fletcher grinste. Eine klare Antwort, die keinerlei Informationen preisgab. Genau so musste man dreckigem Söldnerpack gegenübertreten.
»Er hat dann einen Funkspruch erhalten und seit dem schirmen die uns vor dem Flüchtlingscamp ab«, fügte Gabriel hinzu.
»Okay«, sagte Fletcher. »Uns bleiben zweieinhalb Stunden, bis Dread Nova evakuiert. Solange gelten sie als Freunde. Der Doc und ich arbeiten bis zur Extraktion an unserem Auftrag. Ihr bleibt beim Helo in Bereitschaft.«
»Verstanden, Chief. Irgendein Zeichen von ...«
»Zweieinhalb Stunden, Specialist«, fuhr Fletcher ihm über den Mund.
Daraufhin folgte nur noch ein statisches Klicken als Bestätigung. Fletcher wusste genau, dass Gabriel ihn nach ihren Angehörigen fragen wollte, aber bis zum Abflug musste er ihn im Ungewissen lassen. Hoffentlich tauchte Yuen zur selben Zeit mit einer Schar hilfloser Kinder auf, in der Fletcher seine Männer vom Tod ihrer Familien unterrichten würde.
Der Weg zum Chinook führte durch zwei Checkpoints. Der erste lag mitten in der Stadt und war umringt von hungrigen Zivilisten. Sie alle hofften auf eine der Nahrungsrationen, die von den Söldnern verteilt wurden. Die bestanden aus zwei Flaschen Mineralwasser und ein paar haltbaren Nahrungsmitteln in Dosen oder eingeschweißten Tüten aus dem Supermarkt. Als die Wachen Fletcher kommen sahen, fragten sie kurz über Funk nach und ließen ihn anschließend in die Sperrzone.
Der zweite Checkpoint führte durch die ehemalige Einkaufsstraße von Groombridge. Die Dread Novas hatten sämtliche Geschäfte leergeräumt und deren verwertbaren Inhalt in einem Einkaufszentrum gesammelt. So blieben sie trotz der vielen hungrigen Flüchtlinge Herr der Versorgungsgüter. Die Menschen vor den Toren waren auf sie angewiesen und Van Zandts Männer wussten, dass sie selbst nicht verhungern würden.
Fletcher ließ es sich nicht nehmen, seinen Status als echter Soldat zu testen. Er zündete die Zigarette an, die Van Zandt ihm zum Abschied geschenkt hatte, und spazierte lässig rauchend auf das Lager zu. Sein freies Geleit endete abrupt vor den eingeschlagenen Fensterscheiben des Supermarkts, wo ihn gleich mehrere Söldner am Eintritt hinderten.
»Können wir ihnen helfen, Sir?«, fragte einer. Er hielt sein Gewehr fest in den Händen, aber den Lauf zum Boden gesenkt.
»Was habt ihr denn im Angebot?«, erwiderte Fletcher ernst und gefasst. Er hatte schon dutzende Male unter Feuer gestanden und gerade erst den Schrecken der McKnight Air Force Base überlebt, so dass ihn ein paar Söldner nicht aus der Ruhe brachten.
Die Männer blickten einander ratlos an. Sie hatten offenbar strikten Befehl, niemanden ins Lager zu lassen, durften Fletcher aber auch nicht aufs Korn nehmen. Schließlich machte der Erste ein Handzeichen, auf dass Fletcher kurz warten sollte. Eine Minute später kehrte er mit zwei Stangen Zigaretten zurück.
»Für sie, Sir«, sagte er und reichte die Zigaretten herüber. »Captain Van Zandt ist beim Chinook, falls sie ihn suchen.« Seine Worte klangen wie ein Tritt in den Hintern. Die anderen Männer sahen ihren Kameraden an, als hätte er gerade ihren Sold verschenkt, nur um Fletcher loszuwerden.
Zufrieden marschierte der Chief mit den Zigaretten unter dem Arm weiter zum zweiten Checkpoint. Eigentlich hatte er sich nur einen Spaß machen wollen, aber die beiden Stangen machten die ganze Flugreise über das Gebirge wieder wett.
Die Söldner am Ende der Einkaufsstraße waren von Fletchers Kommen informiert worden und öffneten ihm das Tor im Baustellenzaun, der Pennys Landeplatz provisorisch absicherte. Auf dem Dach des Krankenhauses gab es ein Helipad für Notfalltransporte, doch das war für den riesigen Chinook viel zu klein. Selbst ein Black Hawk hätte nur mit viel Mühe draufgepasst, weshalb Mitchell ja auch außerhalb von Groombridge runtergegangen war.
Neben dem Hubschrauber standen drei Militärlaster und eine Handvoll Humvees und Jeeps, die alle das Symbol eines explodierenden Sterns trugen; einer Supernova. Zwanzig Männer und ein paar Frauen waren mit der Vorbereitung zur Evakuierung beschäftigt und beluden die LKW.
Schon aus der Entfernung konnte Fletcher das Gezeter von Penny hören, die sich vehement mit Captain Van Zandt stritt. Dabei ging es um irgendwelches Material, das sie für die Dread Novas aus der Stadt schaffen sollte. Eine junge Söldnerin mit einem glatten, rotschimmernden Zopf versuchte zwischen den beiden zu vermitteln, schien aber erfolglos zu bleiben. Als der Söldneranführer Fletcher um die Ecke biegen sah, wendete er sich gereizt von Penny ab und kam auf ihn zu.
»Sie waren wohl einkaufen?«
Fletcher schob amüsiert seine beiden Zigarettenstangen unterm Arm zurecht. »Eine kleine Aufmerksamkeit ihrer Männer«, antwortete er. »Hatten wohl Angst, dass ich den ganzen Laden konfisziere.«
Van Zandt erwiderte das heitere Gesicht, auch wenn seines ziemlich gezwungen wirkte. Mit einer Zigarette im Mund lehnte er sich an eine zusammengeschnürte Holzpalette.
»Probleme?«, fragte Fletcher.
»Penny weigert sich, unser Equipment rauszufliegen«, schnaufte Van Zandt und rieb sich dabei den Schweiß von der Stirn. Er hatte offenbar beim Verladen mit angepackt.
»Kein Platz mehr in den Lastern?«
»Schon, aber das Zeug ist zu sensibel«, erwiderte Van Zandt und zeigte mit dem Daumen auf die Palette hinter ihm. »Hightech und solcher Kram. Wenn wir damit durch den brennenden Wald fahren oder beschossen werden, geht der Scheiß kaputt. Darum soll Penny das sicher in unser neues Basislager transportieren, doch sie will lieber irgendwelchen Zivilisten den Arsch retten, die zu dumm waren, einen Kompass zu benutzen.« Er stieß sich von der Palette ab und blickte in Richtung Stadtzentrum. »Lächerlich«, spottete Van Zandt. »Hocken wie eine Viehherde im Stall, bis der Schlachthof ruft. Die überleben da draußen keine Woche.«
»Da draußen?«, wiederholte Fletcher.
»Ihr habt es in euerm abgeschotteten Stützpunkt vielleicht nicht mitbekommen, aber in der echten Welt geht alles den Bach runter. Überall Gangs und Unruhen. Kaum ein Politiker traut sich noch aus dem Haus«, sagte Van Zandt. Dann zeigte er auf die Straße nach Norden. »Zwanzig Kilometer in die Richtung wurden meine Männer gestern von irgendwelchen Halbstarken angegriffen. Zehn Kilometer weiter liegt ein Dorf, das von einer Bande ausgebrochener Sträflinge dem Erdboden gleichgemacht worden ist. Zwei Wochen lang haben die unbehelligt gemordet und vergewaltigt, bis wir in Groombridge eintrafen. So sieht es überall aus. Jeden Tag fallen mehr Städte dem Chaos zum Opfer. Wer Hirn in der Birne hat, flieht in die Steppe und hält sich von anderen Menschen fern.« Van Zandt trat seine Kippe aus und wandte sich wieder an Fletcher. »Die Welt ist im Arsch, Chief. Keiner hat uns für diese Scheiße hier bezahlt, also suchen wir uns irgendwo ein Loch und warten, bis sich der Staub gelegt hat.«
Fletcher zog an seiner Zigarette und nickte, als teilte er Van Zandts Sicht der Dinge. Vieles davon hatte er schon von Yuen oder dem Militärischen Abschirmdienst gehört. Der Zusammenbruch der Systeme, die außer Kontrolle geratenen Aufstände und Plünderungen, die aufgegebenen Gefängnisse, in denen die Insassen die Gewalt an sich gerissen hatten. Er zweifelte nicht an der Realität, sondern misstraute den Intentionen der Söldner. Seine Erfahrungen mit der Black Razor Company allein genügten bereits, um ihn wachsam bleiben zu lassen, aber da war noch mehr. Eine Truppe mit der Disziplin und Koordinationsfähigkeit, wie sie die Dread Nova Mercenary Guard in Groombridge an den Tag legte, ließ sich nicht einfach zum Katastrophenschutz in der Heimat abkommandieren. Schon gar nicht, wenn die Aussicht auf Bezahlung äußerst wage war und die Möglichkeiten zum Ausgeben des Geldes mit jedem Tag schwanden.
»Penny scheint ihren Plänen ja nicht viel abgewinnen zu können«, sagte er beiläufig.
»Die gibt sich immer noch der Illusion hin, dass hier irgendwann das Rote Kreuz auftauchen wird«, spottete Van Zandt. »Spätestens, wenn ihr das Wasser ausgeht oder ihr irgendwelche Banden die Klamotten vom Leib reißen, kommt sie von ganz allein zurück.«
»Vielleicht versuch ich mal, mit ihr zu reden?«, schlug Fletcher vor.
»Meinetwegen. Sagen sie Penny einfach, sie hätten einen Ersatzpiloten für den Chinook, sofern sie sich weiterhin querstellt. Das dürfte ihr genug Feuer unterm Arsch machen.«
»Sie haben keinen Piloten?«
Van Zandt spuckte gereizt auf den Boden. »Glauben sie im Ernst, ich würde mir von der dummen Kuh auf der Nase rumtanzen lassen, wenn ich die Scheißkiste selbst rausfliegen könnte? Kommen sie, Chief.« Er führte Fletcher zum Hubschrauber und stellte ihn der jungen Söldnerin vor, die nach wie vor zu verhandeln versuchte. »Chief Fletcher, das ist Deputy Vanessa Espinoza, unsere neueste Rekrutin vom Groombridge Sheriffs Department.«
»Ah, der echte Soldat, von dem Penny mir erzählt hat«, begrüßte ihn die Frau südamerikanischer Abstammung mit ausgestreckter Hand. Ihre rote Haarfarbe war eindeutig künstlich, denn so langsam traten die brünetten Ansätze aufgrund mangelnder Haarpflegeprodukte zum Vorschein. »Sie sind mit dem Black Hawk gekommen?«
Fletcher nickte ihr beim Händeschütteln zu. »Ein Cop? Wo ist der Rest ihrer Leute?«
»Die meisten haben den Schwanz eingezogen, als keine Hilfe mehr für die Flüchtlinge kam. Sheriff Dixon und ein paar andere wurden von Plünderern ermordet, bevor Captain Van Zandt mit seinen Männern eingetroffen ist.«
»Wenn ihr mit dem Gelaber fertig seid, wir haben da immer noch ein Logistikproblem«, nuschelte Van Zandt mit einer neuen Kippe zwischen den Lippen.
»Ich sag dir das jetzt zum letzten Mal, Richard!«, giftete Penny ihn an. Sie stand wie eine Straßensperre vor der geöffneten Heckklappe ihres Chinooks. »Deinen Scheiß kannst du alleine rausschaffen! Ich bin eurem Funkruf gefolgt, um Menschen zu retten, keine Holzpaletten!«
Van Zandt klopfte Fletcher mürrisch auf die Schulter und verabschiedete sich. Er wollte Platz auf den LKW schaffen, falls der Chief erfolglos blieb und sie die Fracht doch auf der Straße in Sicherheit bringen mussten.
»Penny, du hast genug Menschen das Leben gerettet«, versuchte Vanessa auf sie einzureden. »Wir brauchen aber auch Material, um die nächsten Monate zu überstehen, bis wieder Ruhe einkehrt.«
»Erzähl doch keinen Mist! Richard sind die Leute scheißegal! Der will nur seinen eigenen Hals retten!«
»Und warum hat er dich dann mit Treibstoff unterstützt?«
Penny biss die Zähne zusammen und zischte hindurch. »Weil er auf meinen Chinook scharf ist, nachdem seine Piloten ihre Maschinen geschrottet haben!«
Vanessa seufzte extra deprimiert. Dabei schwenkte sie mit den Augen zu Fletcher, als plante sie bereits, ihn in ihre Überzeugungstaktik einzubauen.
»Die Novas verfügen über eigene Hubschrauber?«, fragte er sachlich.
»Verfüg-ten! Bis diese Vollidioten im Feuer die Orientierung verloren haben und in einen Berg gerauscht sind!«, sagte Penny. »Die mussten ja unbedingt die umliegenden Städte ausrauben, anstatt mir bei der Evakuierung zu helfen!«
»Ist das wahr?«
Vanessa nickte ernst. »Die Söldner hatten drei alte Huey‘s, als sie hier ankamen. Seit zwei Tagen sind sie verschollen.«
»Pfft, von wegen verschollen«, spottete Penny und wendete sich zornig ab.
Vanessa legte ihre Hand auf Fletchers Schulter und bat ihn, sie ein paar Schritte zu begleiten. »Hat ihnen Captain Van Zandt nichts davon erzählt?«, fragte sie außer Hörweite von Penny.
Er schüttelte mit dem Kopf. »Ich weiß nur, dass ihr keine Piloten habt.«
»Das ist richtig«, sagte Vanessa. Sie presste ihren Zeigefinger vor die Lippen und dachte einen Moment lang nach. »Captain Van Zandts Huey‘s wurden abgeschossen. Alle drei. Gleichzeitig.«
Das weckte Fletchers Interesse. Seine Augen weiteten sich mit militärischer Besorgnis. »Von wem?«
»Unbekannt, aber in einem Punkt hatte Penny Recht. Die Piloten besaßen kaum Kampferfahrung. Sie wurden von irgendwas Modernem getroffen. Vermutlich eine Tarnkappentechnologie, die von den veralteten Sensoren nicht entdeckt werden konnte. Erst kurz vor dem Kontaktverlust mit dem dritten Huey hat Van Zandt überhaupt gemerkt, dass ein Angriff stattfand.«
»Sie kennen sich ja ganz schön aus«, sagte Fletcher.
Vanessa lachte. »Für einen Deputy vom Lande?«, erwiderte sie mit beiden Händen an den Hüften. »Mein Dad war Flugmechaniker auf der Davis-Monthan Air Force Base. Und was ist mit ihnen, Chief? Irgendeinen Schimmer, wer Richards Huey‘s auf dem Gewissen haben könnte?«
Fletcher rieb sich über das Gesicht. Ihm fiel nur ein Schuldiger ein, der auf zivilem Territorium in der Nähe von Raytown mit Hightech Jagd auf Militärhubschrauber machen würde. Er hatte seine Black Hawks direkt in eine Falle geführt. »Doc«, sagte er in sein Funkgerät. »Status.«
»Sieht gut aus, Chief!«, knarzte Yuens erfreute Stimme. »Könnte aber ziemlich eng werden. Eventuell brauchen wir den zweiten ...«
»Die Razors sind hier«, unterbrach ihn Fletcher. Dabei blickte er zum Himmel, als erwartete er einen Raketenhagel als Antwort auf seine Feststellung.
Yuen verschlug es derweil die Sprache. »Wie lautet der Plan, Chief?«, fragte er nach einer Weile prioritätsbewusst.
»Bringen sie das Paket zum Chinook. Penny wird sie evakuieren.«
»Verstanden.«
Vanessa hatte ihn nicht unterbrechen wollen, doch nun legte sie den Kopf auf die Schulter und blinzelte ihn fragend an. In kurzen Sätzen berichtete Fletcher von der Zerstörung der McKnight Air Force Base durch die Black Razor Company, die ein enormes Arsenal an hochentwickelter Militärtechnik aufgeboten hatte. Da er den Waldbrand um Raytown nicht für einen Unfall hielt, zählte er eins und eins zusammen.
»Die Razors haben in unserer Basis nicht bekommen, wonach sie suchten«, sagte er. »Also warten sie am Sammelpunkt und holen alles vom Himmel, was auch nur entfernt nach Militär aussieht. Die Hubschrauber der Novas waren zur falschen Zeit am falschen Ort.«
»Espinoza!«, schallte Van Zandts Stimme aus Vanessas Funkgerät. »Ist der Chief bei dir?«
»Ja, Sir.«
»Könnt ihr mir mal erklären, was der Arzt mit einer Bande Kinder vor unserem Tor will!?«
»Lassen sie sie durch«, sagte Fletcher. »Penny wird sie evakuieren.«
»Habt ihr sie noch alle!? Was ist mit meinem ...?«
»Wir fliegen ihr Equipment raus«, fiel Fletcher ihm ins Wort. Dann griff er nach seinem eigenen Mikrofon. »LT, Planänderung! Landen sie neben dem Chinook.«
»Verstanden, Chief«, meldete sich Lt. Mitchell.
Van Zandt hatte sich nicht gegen die Anweisung gewehrt. Vielleicht wollte er auch einfach keine Kinder mit Gewalt zurücktreiben lassen. Insgesamt waren es sechzehn, alle im Alter zwischen zwölf und siebzehn. Nichtsdestotrotz wirkte er sichtlich erbost, dass Fletcher über seinen Kopf entschieden hatte. »Können sie mir mal erklären, was in sie gefahren ist!?«, schnauzte er dem Chief ins Gesicht, ohne auf die Kinder Rücksicht zu nehmen, die Yuen hinter ihm zum Chinook führte.
»Penny will Zivilisten evakuieren«, erklärte Fletcher. »Wir schaffen ihr Zeug in Sicherheit. Sie beide gewinnen.«
»Wer sagt mir, dass ihr euch nicht einfach mein Material unter den Arsch reißt und mich auf den Gören sitzenlasst!?«
»Wir haben ein viel größeres Problem, Captain«, erwiderte Fletcher mit der Autorität eines Elitesoldaten, der sich auf der Rangliste meilenweit über einem Söldner einordnete. »Warum haben sie mir nichts von ihren abgeschossenen Huey‘s gesagt?«
Van Zandts Kopf schwenkte erbost zu Vanessa.
»Penny hat ...« Weiter kam sie nicht.
Van Zandt hob die Hand und zog eine zerfurchte Stirn. »Nach allem, was wir wissen, hätten sie für die Abschüsse verantwortlich sein können, Chief!«, raunte er zurück.
»Sie meinen wegen ihrer illegalen Plünderungen?«
Van Zandt zog ertappt die Augenbrauen hoch. »Zum Beispiel!«
»Unsere Basis hat keine Operationen in der Nähe gefahren und wenn andere Einheiten hier aktiv wären, hätten wir vor drei Tagen Unterstützung erhalten«, sagte Fletcher. »Nein, die Razors haben Raytown zerstört und liegen seit dem auf der Lauer nach Überlebenden von uns.«
»Ihr seid zur falschen Zeit am falschen Ort mit bewaffneten Hubschraubern herumgeflogen«, wiederholte Vanessa. »Penny ist auf viel riskanteren Routen unterwegs gewesen und dabei völlig unbehelligt geblieben.«
»So eine verfluchte Scheiße«, knurrte Van Zandt. »Warum wurden wir nicht schon längst angegriffen?«
»Wahrscheinlich warten sie ab, ob es noch mehr aus der Basis geschafft haben.«
»Oder sie wollen ihre Bomben nicht mitten in fünfzigtausend Zivilisten werfen?«, fragte Vanessa, so als wäre das doch offensichtlich.
Fletcher und Van Zandt schüttelten gleichzeitig die Köpfe und seufzten über ihre Naivität.
»Also evakuieren wir«, sagte der Captain.
»So schnell wie möglich«, stimmte Fletcher zu.
Van Zandt wendete sich von den beiden ab und bellte per Funk Befehle an seine Männer. Sie sollten ihre Sachen packen und sich zum sofortigen Abzug an den LKW sammeln. Vanessa und Fletcher kehrten derweil zum Chinook zurück, in dem Penny ihren jungen Passagieren bereits die Sicherheitsgurte erklärte. Eine Frau Mitte fünfzig passte auf sie auf, die Yuen als Rektorin des nahegelegenen G. S. Hammond-Internats vorstellte. Ihre Schule war vor vier Wochen evakuiert worden, als die umliegenden Städte aufgrund von andauernden Volksunruhen aufgegeben wurden.
»Ihr Name ist Eva-Maria von Bladensburg«, sagte Yuen zum Chief. »Mein Assistent Eli war früher auf demselben Internat. Ist eine gute Schule.«
»Keine Waisen?«, entgegnete Fletcher. »Bringt uns das nicht nur noch mehr Probleme?«
»Vielleicht. Misses von Bladensburg passt auf die Gruppe auf, weil deren Eltern auf der anderen Seite der Welt arbeiten. Die Kinder sind es gewohnt, lange Zeit ohne sie auszukommen.«
»Also ein Problem für später.«
Yuen nickte. »Es war gar nicht so leicht, sie von unseren Absichten zu überzeugen«, sagte er bei einem erholsamen Schluck aus der Wasserflasche. »Ich hab mich gefühlt wie in einer mündlichen Prüfung und musste am Ende um ein Haar noch einen mathematischen Beweis vorführen, ehe die mir geglaubt haben, dass ich Wissenschaftler bin.«
»Dann war‘s doch gut, dass ich nicht mitgekommen bin«, sagte Fletcher.
In dem Moment stieg Penny aus ihrem Hubschrauber und kam auf sie zu. »Wie haben sie Van Zandt überzeugt?«, fragte sie erstaunt über die plötzliche Wendung.
Fletcher zeigte hinauf zum Himmel, wo Lt. Mitchell zur Landung ansetzte. »Wir übernehmen seine Fracht.«
»War ja klar«, erwiderte Penny. »Ihr Typen steckt doch alle unter einer Decke!«
Sauer kehrte sie zu den Kindern zurück, aber Fletcher war ihr Wohlwollen für den Moment egal. Er wandte sich wieder an Yuen.
»Haben sie irgendwem von unserem Ziel erzählt?«
»Nein, Chief. Sie?«
Fletcher schüttelte den Kopf.
»Welches Ziel?«, fragte Vanessa dazwischen.
Nach kurzer Überlegung stellte Fletcher die beiden einander vor und erklärte anschließend, dass sie genau wie die Dread Novas ein sogenanntes Loch zum Aussitzen hatten, das unbedingt geheim bleiben musste. Nach dem Abschuss der drei Huey‘s sah Vanessa keinen Grund, daran zu zweifeln.
Van Zandt kehrte währenddessen zurück und zeigte ebenfalls Verständnis, sofern ihm der Chief nicht zu seinem neuen Basislager folgen würde.
»Wenn das hier vorbei ist, geht jeder seiner Wege«, sagte Fletcher. »Vielleicht braucht man sich ja irgendwann noch mal.«
»Kann man nie wissen«, meinte Van Zandt dazu. »Aber bis dahin wird Lt. Cooper sie begleiten. Sozusagen als Versicherung für meine illegal erbeuteten Habseligkeiten.«
»Bis zum Treffpunkt«, stellte Fletcher klar. »Keinen Schritt weiter.«
»Natürlich, Chief.«
»Captain, was dagegen, wenn ich auch bei denen mitfliege?«, fragte Vanessa.
Van Zandt zuckte mit den Schultern. »Mir egal. Hauptsache ich bekomm mein Zeug wieder.«
Inzwischen war Lt. Mitchell gelandet und kam herbeigeeilt.
»LT!«, rief Fletcher ihm zu. »Kriegen sie die Paletten da eingeladen?«
Mitchell nahm Augenmaß und nickte gezwungen. »Die beiden kleinen passen nebeneinander rein, wenn wir die Türen offenlassen und sie anständig festzurren. Die große Dritte muss mir jemand unten dranhängen.«
»Cooper!«, brüllte Van Zandt seinem Lieutenant zu. »Sie haben den Mann gehört!«
Sofort begannen eine Handvoll Söldner, ihr Plündergut mit einem Gabelstapler in den Black Hawk zu laden. Mitchell passte dabei höllisch auf, dass ihm die Männer in der Eile nicht aus Versehen den Hubschrauber aufspießten.
»Okay, wir sind voll belegt!«, meldete Penny. »Ich bring jetzt die Kinder raus und dann auf Nimmerwiedersehen!«
»Sorry, aber das ist nicht drin«, hielt Fletcher sie am Arm zurück. »Wir brauchen die Kinder.«
Penny drehte sich stutzig zu ihm um. Sie konnte sich nicht entscheiden, ob er sie gerade auf den Arm nahm oder nicht. Seit Jahren hatten sich die Schreckensmeldungen über Kriegsverbrechen an verwaisten Kindern wieder gemehrt. Mit dem drohenden Ende der Welt verloren viele Soldaten ihre Hemmungen zusammen mit jeglicher Perspektive.
»Ich hoffe, ich hab mich verhört!?«
»Sie verstehen nicht«, versuchte Fletcher zu beruhigen. »Wir haben eine sichere Zuflucht für ...«
»Ja klar! In eurer Hose, oder was!?«
Fletcher suchte nach den richtigen Worten, da wurde er von einer heulenden Sirene auf dem Krankenhausdach unterbrochen. »Was ist das!? Van Zandt!«
»Schaltet ... Scheiß ab ... dammt!«, hörte er den Captain durch den Lärm brüllen. Da verstummte die Sirene wieder und Van Zandt kam zu Fletcher. »Radarkontakt aus Südwest. Irgendwas kommt auf uns zu!«
»Ich dachte, sie konnten die Razors nicht orten?«
»Die Huey‘s konnten das nicht«, erwiderte Van Zandt und zeigte auf das Krankenhaus. »Die Radarschüssel da oben ist viel leistungsstärker.«
»Kann mir mal einer sagen, was hier vorgeht!?«, rief Penny.
»Wir werden angegriffen!, schnauzte Van Zandt sie an. »Mach, was der Typ dir sagt, wenn du lebend davonkommen willst!«
Penny blickte zum Himmel rauf und wurde kreidebleich, als ein riesiger Schatten aus den Aschewolken herausschwebte.
»So eine Scheiße«, fluchte Van Zandt ehrfürchtig. »Ist das ein ...?«
»Ein Farragut-Drohnenstern«, nickte Fletcher. »Uns bleibt nicht viel Zeit.«
Von unten betrachtet sah er aus wie ein sechszackiger Stern von den Ausmaßen eines Einfamilienhauses, an dessen Enden je zwei übereinanderliegende Mantelrotoren für Auftrieb sorgten. Sie brummten tieftönig durch die Rauschschwaden und ließen die fünfzigtausend Flüchtlinge verstummen, bis sich Hunderte kleiner Objekte vom Träger lösten und die Menge zu kreischen begann.
»Sind das Bomben?«, fragte Vanessa verängstigt.
»Ein Drohnenschwarm«, erklärte Fletcher. Dann wendete er sich an Van Zandt. »Wie steht‘s um ihre Luftabwehr?«
»Ein paar alte Raketenwerfer. Unsere MGs reichen nicht so hoch.«
»Okay. Ihre Männer sollen sich bereitmachen. Ein Farragut taucht nie allein auf. In zwei Minuten hauen wir entweder ab oder kommen hier nie wieder weg!«
»Zwei Minuten?«, erwiderte Penny. »Ich brauch wenigstens ...!«
»Wir geben dir Deckung, bis du in Sicherheit bist«, versicherte ihr Van Zandt. »Und jetzt beweg deinen Arsch!«
»Okay. Okay!«
Penny hetzte zurück zum Chinook und startete die Turbinen. Ihr ziviler Großraumhubschrauber würde weitaus länger als zwei Minuten für den Start benötigen, aber sie schien sich auf Van Zandts Wort zu verlassen. Der schmetterte seinen Männern bereits wieder Befehle entgegen. Wirkliche Verteidigungsstellungen hatte er nicht errichten lassen, so dass sich die Hälfte der Novas auf Dächern und in Bürohäusern aus Beton verschanzten, während der Rest eilig den Fluchtkonvoi zusammenstellte. Nur eine kleine Gruppe um Lieutenant Cooper widersetzte sich den Anweisungen und umstellte Fletcher vor dem gelandeten Black Hawk.
»Sie gehen nirgendwohin, Chief!«, rief Cooper durch die laufenden Rotorengeräusche. »Und ihr komischer Doktor auch nicht!« Dabei winkte er einem seiner Männer zu, Penny zum Abschalten ihrer Turbinen zu bewegen.
»Cooper!«, brüllte ihm Van Zandt in den Rücken. »Haben sie den Verstand verloren!?«
»Im Gegenteil, Sir. Wir sind nicht in Gefahr. Ich habe die Razors gerufen.«
»Sie haben was!?«
Fletcher und Lt. Mitchell stellten sich mit erhobenen Händen vor den Black Hawk. Alexandros und Gabriel folgten widerwillig ihrem Beispiel und ergaben sich ebenfalls.
»Die Razors haben ein Kopfgeld auf jeden ausgesetzt, der aus der McKnight Air Force Base entkommen ist«, rief Cooper seinem CO zu. »Hunderttausend Dollar für Soldaten, eine halbe Million für Offiziere und eine ganze Million für leitende Zivilisten. Wenn wir die Typen abgeben, haben wir genug Kohle für neue Hubschrauber und Piloten, Sir.«
»Ich dachte, wegen den Razors wäre ihr Bruder vor Neu-Delhi verreckt?«, fragte Fletcher absichtlich ohne jedes Taktgefühl.
»Das stimmt«, rief Cooper zurück. »Der Schwachkopf hätte einfach nur sein Ziel ausschalten müssen, aber er hat den Wagen entkommen lassen, weil er in einer zivilen Fahrzeugkolonne unterwegs war! Ich werde seinen Fehler nicht wiederholen. Und jetzt runter auf die Knie, Chief!«
Fletcher suchte den Augenkontakt mit Van Zandt. Die anderen Söldner schienen unschlüssig über die weitere Vorgehensweise. Der Drohnenschwarm um den Farragut hielt bislang Abstand, wodurch Coopers Versprechungen auf eine friedliche Zusammenarbeit mit der Black Razor Company untermauert wurden. Auch wenn die meisten nicht gerade glücklich aussahen, wirkte das mächtige Trägerschiff wie ein graues Damoklesschwert am Himmel, dessen Zorn sie keinesfalls riskieren wollten.
»Ich nehme mal an, sie tun das für die Zukunft der Dread Nova Mercenary Guard, Lieutenant?«, fragte Van Zandt ernst. Er stellte sich direkt neben Cooper und machte keine Anzeichen, ihn an seinem Plan zu hindern. Fletcher musste sich zusammen mit Yuen und den Soldaten hinknien.
»Natürlich, Sir. Die Razors haben um Diskretion gebeten, weil das Militär immer noch überall seine Finger drin hat. Es tut mir leid, dass ich sie nicht vorher informieren konnte.«
»Gut anderthalb Millionen für die paar armen Teufel«, knurrte Van Zandt.
»Genau, Sir«, bekräftigte Cooper enthusiastisch. »Die zahlen noch mehr, wenn der Chief den Aufenthaltsort weiterer Überlebender kennt.«
»Oh, der weiß, wo sich die Ratten versteckt halten.«
»Wirklich, Sir?«
»Richard!«, rief Penny durch die herunterfahrenden Rotoren ihres Chinooks. »Ich dachte, wir hauen ab!«
»Kleine Planänderung!«, spottete ihr Cooper entgegen. »Oh und wo wir gerade dabei sind, Sir, die Razors können uns sicher einen Piloten für den Transporter leihen. Dann brauchen wir die dumme Kuh nicht mehr.«
Van Zandt erwiderte das schäbige Grinsen seines Lieutenants, als Penny von dessen Männern neben Fletcher auf die Knie gezwungen wurde. »Ich schätze, sie haben an alles gedacht, Cooper.«
»Mit ihrer Erlaubnis werde ich den Razors das Signal zur Gefangenenübergabe senden, Sir.«
Van Zandt nickte zustimmend. Während Cooper mit der Funkübertragung beschäftigt war, drehte er sich schlurfend einmal um die eigene Achse, um die Position seiner Söldner zu bestimmen. Die meisten waren noch nicht in ihren Stellungen, sondern starrten verwirrt auf die Meuterei, die so gar keine Meuterei mehr zu sein schien. Trotzdem wollte kein Gefühl der Entspannung einziehen. Eher das Gegenteil war der Fall, als kurz darauf ein Centaur-Transporthubschrauber mit zwei Eskortendrohnen unter dem Farragut auftauchte und zur Landung ansetzten.
»Sir, der Hubschrauber führt nur eine Million Dollar mit sich«, begann Cooper. »Die Razors bieten uns an, vorerst nur den Doktor mitzunehmen und die Soldaten später auszutauschen.«
»Ach was«, wiegelte Van Zandt ab und zeigte hoch zum Träger. »Wenn die wollten, könnten sie uns einfach niederwalzen und sich nehmen, was sie wollen. Richten sie ihnen aus, sie können alle Gefangenen haben, um unseren guten Willen zu demonstrieren. Für eine gemeinsame Zukunft.«
»Sehr vernünftig, Sir«, antwortete Cooper und übermittelte die Botschaft.
Der Centaur setzte derweil zur Landung an. Er war nur noch zwanzig Meter über Groombridge und drehte sich um die eigene Achse.
»Jetzt!«, rief Van Zandt zu Vanessa.
»FEUER!«, schmetterte die ehemalige Deputy über die Landezone.
»Feuer? Was ...?«, erschrak sich Cooper.
Plötzlich rasten drei Boden-Luft-Raketen von den umliegenden Dächern auf den Centaur zu. Der große Transporter stand fast still in der Luft und hatte keine Chance zum Ausweichen. Das automatische Laserabwehrsystem konnte noch eine hitzesuchende Rakete ablenken, da bohrten sich die anderen bereits in den Rumpf und zerrissen die Maschine von innen. Gleichzeitig ratterten vier Bordgeschütze der Humvees los und holten die beiden Eskortendrohnen vom Himmel.
Cooper hatte die Lage noch nicht richtig realisiert, da schmetterte ihm Van Zandt die Faust ins Gesicht. Die übrigen Deserteure ergaben sich und wurden entwaffnet.
Van Zandt spuckte auf Cooper hinab. »Mit den Razors zusammenarbeiten! Du hast sie wohl nicht mehr alle!«
»Das war unsere einzige Chance!«
»Die hätten uns genauso verrecken lassen, wie deinen verfluchten Bruder, du Vollidiot!«
»Jetzt ...«, keuchte Cooper. »Jetzt sind wir alle dran. Jetzt wird niemand entkommen!«
»Wir müssen hier weg«, mahnte Fletcher hinter Van Zandt. Er hatte sich seine Waffen zurückgeholt und den Start der Hubschrauber befohlen. »Was wird aus dem Arschloch?«
»Wie schätzen sie die Situation ein, Chief?«, brüllte Van Zandt wie ein Drill Sergeant über das ganze Flugfeld. »Befinden wir uns im Krieg?«
Fletcher sah hinauf zum Farragut, dessen Drohnenschwarm nun direkt auf sie zuhielt. Aus dem Wald darunter kamen zahlreiche Fahrzeuge. Leicht bewaffnete Buggys, wie sie schon in der McKnight Air Force Base aufgetaucht waren. Wahrscheinlich hatte der Centaur sie abgesetzt.
»Dieser Einschätzung stimme ich zu«, sagte er grimmig. Wohl wissend, worauf Van Zandt hinauswollte.
»Dann gibt es nur ein Urteil für Verrat.«
Nicht mal eine Sekunde später knallte es aus Van Zandts Pistole. Er richtete Cooper mit einem gezielten Kopfschuss hin. Anschließend starrte er auf die Söldner, die hinter Cooper gestanden hatten.
»Sir, er ... hat uns gesagt, wir handeln im besten Interesse der Novas! Cooper hat gesagt, sie wüssten Bescheid!«
Fletcher griff Van Zandt an die Schulter. »Wissen die, wo ihre neue Basis liegt?«, fragte er.
Van Zandt dachte kurz nach und schüttelte mit dem Kopf in Coopers Richtung.
»Nur er und ich kennen den genauen Ort.«
»Dann lassen sie die Nieten hier zurück«, schlug Fletcher vor. »Sollen die den Razors ihr Versagen erklären.«
Es dauerte einen Moment, bis ein fieses Grinsen auf Van Zandts Gesicht erschien. Er winkte den Verrätern mit seiner Pistole zu, auf dass sie verschwinden sollten. »Ihr werdet euch noch wünschen, dass ich euch abgeknallt hätte!«, rief er ihnen hinterher. »Die Razors verzeihen keine Inkompetenz!« Van Zandt drehte sich zu Fletcher um und zog die Augenbrauen hoch. »Irgendwann müssen sie mir mal erklären, woher sie sich so gut mit PMCs auskennen, Chief.«
»Irgendwann«, sagte Fletcher. »Aber nicht hier und nicht jetzt.«
Van Zandt nickte. Beider Blicke richteten sie abermals in den Himmel. Der Drohnenschwarm war nur noch wenige Minuten entfernt. Er bestand aus zwei Drohnentypen. Hedgehogs, winzige Suiziddrohnen von der Größe einer geballten Männerfaust, benannt nach einer Anti-U-Boot-Waffe aus dem Zweiten Weltkrieg, und Avatare, propellergetriebene Kampfdrohnen von der Größe eines Raubvogels, bewaffnet mit einem einzelnen Maschinengewehr. Gerade die Hedgehogs waren nicht besonders schnell und aufgrund ihrer kurzen Einsatzdistanz auf ein Mutterschiff angewiesen, aber sobald die Avatare ihre Feuerreichweite erreicht hätten, würde am Boden die Luft brennen. Ohne ein automatisiertes Verteidigungssystem blieb ihnen nur noch die Flucht.
»OKAY, IHR SAUHAUFEN!«, brüllte Van Zandt seinen Männern zu. »DIE SHOW IST VORBEI! ABMARSCH!«
***
»Was ist mit den ganzen Flüchtlingen?«, fragte Vanessa, als sie sich in Hawk-one hineinzog. »Habt ihr hier drin ein Lautsprechersystem?«
Mitchell holte sie auf den Co-Pilotensitz und reichte ihr den zweiten Fliegerhelm.
»Da draufdrücken«, sagte er und zeigte auf den Knopf für Durchsagen auf dem Armaturenbrett.
***
Während Vanessa die fünfzigtausend Menschen vor dem bevorstehenden Angriff warnte und ihnen den Norden als einzige Fluchtroute offenbarte, setzte sich der Söldnerkonvoi in Bewegung. Fletcher, Alexandros und Gabriel fuhren in Van Zandts Humvee mit, dessen geplante Besatzung aus Lt. Coopers Deserteuren bestanden hatte und der nun entsprechend Platz bot.
»Die werden nicht lange brauchen, um uns einzuholen«, rief Van Zandt bei einem Blick nach hinten. »Kann ihr Vogel uns irgendwie Deckung geben?«
»Nicht mit der Zuladung«, erwiderte Fletcher. »Aber wir haben ja noch einen.« Er griff nach seinem Funkgerät. »Hawk-two, Goliath! Sind mit Militärkonvoi in Richtung Norden aus Groombridge raus!«
»Verstanden«, meldete sich Danny. »Hawk-two auf dem Weg. Mögliche Landezone fünf Klicks voraus.«
»Ihr wollt euch einfach ausfliegen lassen!?«, ging Van Zandt dazwischen.
»Evac negativ«, antwortete Fletcher. »Wir brauchen Luftunterstützung für den gesamten Konvoi!«
»Sind sie sicher?«
»Tu verdammt nochmal, was ich dir sage!«, brüllte Fletcher wie ein Vater zu seinem rotzfrechen Sohn.
Van Zandt blickte Fletcher stutzig an. Mit einem derart aufsässigen Verhalten hatte er beim Militär nicht gerechnet.
»Lange Geschichte. Erklär ich später.«
Ein paar Augenblicke starrten die Männer angespannt auf die Stadt hinter ihnen, dann raste Hawk-two aus den Rauchwolken über Groombridge hervor.
»Äh, Chief«, meldete sich Danny noch mal. »Ist das ein ...?«
»Farragut-Drohnenstern«, bestätigte Fletcher. »Ignorier die Kiste einfach. Der schafft nicht mehr als hundertfünfzig.«
»Aber er schießt auf uns!«
Vier Nahbereichsdefensivkanonen nahmen den Black Hawk aufs Korn, als Danny mit dreihundert Stundenkilometern unter dem Träger hindurchfegte. Normalerweise dienten sie zur Raketenabwehr und verschossen Kleinkalibermunition, aber der Hubschrauber war auf dem Dach kaum gepanzert.
»Verdammte Scheiße!«, hörte man ihn verzerrt fluchen.
»Schadensbericht!«, befahl Fletcher.
»Die halbe Elektronik ist ausgefallen!«, meldete Danny.
»Die alte Kiste fliegt auch so!«, rief Eddy aus dem Hintergrund. »Bring mich in Position!«
»Chief!«, schallte Yuens Stimme. »Der Drohnenschwarm kommt immer näher!«
Fletcher drehte den Kopf nach vorn, wo der Chinook vergeblich den Drohnen zu entkommen versuchte. Vom Boden aus wirkten sie wie ein grauer Schwarm Vögel. Die Hightech-Flugobjekte koordinierten ihren Kurs untereinander ohne Zeitverlust. Die größeren Avatar-Kampfdrohnen mit Kanonen flogen vorweg, während die kleinen Hedgehog-Explosivdrohnen in ihrem Windschatten folgten, um die hohe Geschwindigkeit zu halten.
»Wenn die Hedgehogs Penny erreichen, fliegt der Chinook in die Luft!«, rief Van Zandt.
»Hawk-two, macht euch an den Drohnen zu schaffen!«, befahl Fletcher.
»Verstanden!«
***
Danny hatte inzwischen zum Chinook aufgeschlossen und ging auf Parallelkurs.
»FEUER!«, schmetterte er nach hinten. Gleichzeitig drückte er den PLAY-Button seines Musikspielers.
Eddys Steuerbord-Minigun dröhnte im Klang präapokalyptischer Rockmusik und zog eine Schneise durch den Drohnenschwarm. Die Hedgehogs ließen sich nur schwer treffen, aber die größeren Kampfdrohnen holte er wie Zugvögel vom Himmel. Ein paar Sekunden konnte er sich voll auf die Jagd konzentrieren, dann waren die achthundert Schuss verbraucht.
»Rüber auf die andere Seite!«, rief Eddy.
»Okay!«, erwiderte Danny und zog die Nase hoch, um in hohem Bogen über den Schwarm zu fliegen. Sollten die Drohnen auf den Hubschrauber feuern, würde die Bodenpanzerung den Schaden abfangen können. Kaum hatte er den Gedanken zu Ende gebracht, schlugen auch schon Kugeln unter ihm ein.
»Die gehen auf uns!«, rief Eddy. »Dreh ab! Dreh ab, bevor uns die Hedgehogs erwischen!«
»Die bleiben auf Kurs!«, meldete Fletcher vom Boden. »Konzentriert euch auf die Hedgehogs!«
»Dann machen die Avatare Kleinholz aus uns!«, widersprach Danny. Er hatte bereits große Mühe, den anfliegenden Maschinengewehren auszuweichen.
»Da sind fast zwanzig Kinder in dem Chinook!«, brüllte Fletcher ihn über Funk an. »Holt diese Scheißdinger vom Himmel! Egal wie!«
Eddy hangelte sich vor zum Cockpit und starrte mit Danny in Richtung Chinook. »Viel zu viele«, schnaufte er.
Die Hedgehogs hatten mitten in der Luft eine enge Pfeilformation gebildet. Dadurch konnten sie sich gegenseitig unterstützen und dem Luftwiderstand auch ohne den Windschatten der größeren Drohnen für eine Weile trotzen.
»Chief!«, schallte Penny aus den Lautsprechern. Ihre Stimme bebte vor Angst. »Wo bleiben sie!?«
»Wie viel Schuss haben wir noch?«, fragte Danny.
»Fünfhundert«, antwortete Eddy.
»Hol runter, was du kannst. Wenn wir die Formation sprengen, fallen die von ganz allein zurück.«
»Okay!«
Eddy klemmte sich hinter das Backbordgeschütz und wartete, bis der Black Hawk in Position war. Hundert Schuss verbrauchte er bei der Abwehr zweier anfliegender Avatare, bis der Hedgehogschwarm endlich in seinem Zielvisier auftauchte.
»FEUER!«
Die Minigun röhrte auf und schlug eine Schneise durch die Drohnen, aber sobald Eddy einen Hedgehog zerstörte, übernahm ein anderer dessen Platz und reparierte die Formation. Trotzdem wurden es immer weniger und der Schwarm verlangsamte sich.
»Das war‘s!«, rief Eddy ins Cockpit, als die Kanone im Leerlauf rotierte. Er kämpfte sich zurück nach vorn und starrte auf den Chinook. »Hat‘s gereicht?«
»Negativ«, fluchte Danny. »Und uns hängen die restlichen Avatare gleich wieder am Arsch!«
»Hast du hier noch irgendwo Munition versteckt?«
Danny drehte desillusioniert den Kopf zu ihm herum. Jeglicher jugendliche Leichtsinn, jede Art von rebellischem Aufbegehren war aus seinem Gesicht verschwunden. Bis auf seine Musik.
»Nein.« Dann schwenkte er die Hubschraubernase direkt auf den Schwarm zu.
»Du willst doch nicht ...!? Das überleben wir niemals!«
»Schnall dich an!«, befahl Danny.
Eddy kletterte widerwillig in den Co-Pilotensitz und legte die Gurte an. Die übriggebliebenen Kampfdrohnen waren für den Moment außer Reichweite, aber in zehn Sekunden wären sie ohnehin überflüssig. Der Drohnenschwarm hinter dem Chinook kämpfte mit aller Macht gegen den Luftwiderstand an. Ohne den Windschatten der Avatare und mit der reduzierten Formation brauchten sie deutlich länger, um den schweren Transporthubschrauber einzuholen. Ihnen blieben noch knapp fünfzig Meter. Da schoss Danny aus den Wolken auf sie herab.
***
Vom Boden aus verfolgten Fletcher und die anderen das selbstmörderische Manöver. Danny hatte die Musik so laut gedreht, dass man die E-Gitarrenklänge bis zum Boden hörte.
»Der ist doch wahnsinnig!«, rief Van Zandt. »Das überleben die nicht!«
»Chief?«, rief Gabriel.
»Ich hab ihm gesagt, egal wie«, wiederholte Fletcher stur seinen Befehl. Er konnte Danny nicht stoppen. Er wollte es nicht. Sechzehn Kinder und Yuen gegen einen vorlauten Bengel und einen saufenden Mechaniker. Eine leichte Rechnung.
Da traf Hawk-two auf den Drohnenschwarm. Zuerst rissen die Rotorblätter eine Schneise in die Formation, wie eine Kreissäge durch einen Bienenschwarm. Dann realisierte die Steuerungssoftware, dass ihr eigentliches Ziel nicht mehr zu erreichen war und leitete die Detonation ein, um zumindest den angreifenden Hubschrauber zu zerstören.
Vom Boden aus konnte man meinen, irgendjemand hätte eine Handvoll Knallfrösche auf den Black Hawk geworfen. Die kleinen Explosionen waren allein nicht viel gefährlicher als eine Gewehrkugel, aber ihre schiere Anzahl riss die Außenhaut des Hubschraubers buchstäblich auf. Zuerst splitterten sämtliche Fenster, dann sprengte sich der Hauptrotor ab und schwirrte wie ein Bumerang davon. Danny verlor die Kontrolle und die Maschine senkte sich mit der Nase nach vorn. Er und Eddy brüllten ins Mikrofon. Der Hubschrauber vollführte einen halben Salto, ehe er zwischen den Bäumen abstürzte. Die Schreie verstummten schlagartig und der Treibstoff fing Feuer. Eine schwarze Rauchwolke hob sich wie Rauchzeichen gen Himmel.
»DANNY!«, rief Mitchell über Funk. »STATUS!« Er erhielt keine Antwort. Auch die Musik hatte aufgehört zu spielen. »Chief! Wir müssen Danny da rausholen!«
»Keine Chance«, hielt Van Zandt dagegen. »Die Buggys sitzen uns im Nacken und die Avatare sind noch da oben!«
»Wir lassen unsere Leute nicht im Stich!«, schnauzte Alexandros ihn an.
»Mitchell!«, rief Fletcher. »Wir brauchen Luftdeckung an der Absturzstelle!«
»Nicht zu machen mit der Zuladung.«
»Dann sprengt die verdammte Kiste ab!«
»Was!?«, fuhr Van Zandt ihn an. »Niemals! Das ist ...!«
»Eine Scheißkiste ist das! LT, absprengen!«
Van Zandt sah rauf zum Himmel und verfolgte geschockt, wie Mitchell dem Befehl folgte und das Tragseil zur großen Palette ausklinkte.
»Los! Umdrehen!«, befahl Fletcher. »Ihre Männer sollen uns abschirmen!«
***
»Können sie die Geschütze bedienen?«, rief Mitchell.
Vanessa hatte sich seit dem Abflug zurückgehalten und nicht getraut, irgendetwas anzufassen. Jetzt starrte sie ihn unsicher an. »Soll das ein Witz sein!?«
»Ist nichts dabei«, versuchte Mitchell ihr Mut zu machen. »Einfach entsichern und abdrücken. Gibt so gut wie keinen Rückstoß, aber bleiben sie immer nur ganz kurz auf dem Abzug!«
Vanessa nickte und löste ihren Gurt. Die beiden Seitentüren waren durch Van Zandts kleinere Kisten blockiert, so dass sie wenigstens nicht aus dem Hubschrauber fallen konnte, als sie nach hinten wankte.
»Welches zuerst?«
»Steuerbord!«
»Was?«
»Das rechte!«
***
»Deckung steht!«, rief Van Zandt, als seine Männer ihm das OK gegeben hatten. Er kämpfte sich am Steuer des Humvees durch das Dickicht in Richtung Rauchwolke.
»Uns bleiben nur ein paar Minuten!«, warnte Alexandros und zeigte rauf zum Farragut, von dem gerade neue Drohnen starteten. »Wie viele davon hat das Scheißding!?«
»So an die fünfhundert Hedgehogs«, erwiderte Fletcher.
»Warum haben die dann nur den Chinook gejagt!? Sind die so scharf auf tote Kinder?«
Fletcher verfolgte aus den Augenwinkeln, wie der Chinook am Horizont verschwand. Penny hatte auf seinen Befehl hin nicht umgedreht, sondern flog unbeirrt davon. Er kannte die technischen Daten ihres Transporters und wusste, dass sie dem Farragut problemlos entkommen konnte, sofern genug Abstand zwischen Drohnenstart und Ziel lag. Der unbemannte Träger war zur Unterstützung von Bodenoperationen konzipiert, nicht um flüchtende Feinde zu verfolgen.
Trotzdem stellte sich Fletcher dieselbe Frage und die Antwort war immer gleich. An Bord des Chinooks gab es nur einen Mann, der den gezeigten Operationsaufwand der Razors erklärte: Dr. Zhang Yuen. Zusammen mit dem ausgesetzten Kopfgeld wurde Fletcher klar, dass er Yuen in nächster Zeit nicht aus den Augen lassen durfte.
»Okay, wir sind da!«, rief Van Zandt beim Durchbrechen des letzten Strauchs vor der Absturzstelle. »Beeilt euch!«
Alexandros und Gabriel sprangen aus dem Humvee und machten sich an Hawk-two zu schaffen. Fletcher und Van Zandt sicherten die Umgebung. Etwas weiter entfernt vernahmen sie Gefechtslärm der Novas, die sich gegen die angreifenden Buggys verteidigten. Laut einem kurzen Statusbericht aus dem Funkgerät hielt die Defensive für den Moment.
»Eddy ist tot, Chief«, meldete Alexandros. »Hat einen Ast in die Fresse gekriegt.«
Fletcher rieb sich die Augenhöhlen bei der Wortwahl, konnte es seinem Corporal aber nicht verübeln, so wie sich Private Edward Thornton bei ihrer ersten Begegnung aufgeführt hatte. Trotzdem würde ihnen der Mechaniker später fehlen.
»Was ist mit Danny?«
»Atmet noch!«, rief Gabriel zurück. »Müssen ihn rausschneiden!«
»Lange werden meine Männer die nicht aufhalten können«, warnte Van Zandt. »Hat ihr Pilot was drauf?«
Hawk-one hatte seinen ersten Angriff abgeschlossen und flog einen weiten Bogen, um die Drohnen nicht zu nah rankommen zu lassen.
»Wird sich zeigen«, murrte Fletcher.
»Avatar im Anflug!«, brüllte Alexandros. »Acht Uhr!«
Fletcher eröffnete sofort das Feuer am Bordgeschütz. Van Zandt unterstützte ihn mit einem Sturmgewehr. Alexandros konnte in Deckung hinter dem Hubschrauber springen, aber Gabriel hatte sich durch ein kaputtes Cockpitfenster gezwängt, um Danny zu helfen. Die Kampfdrohne mit starrem Maschinengewehr zog eine Schneise entlang der Absturzstelle und traf seine Beine, ehe sie von der Abwehr zerstört wurde.
»SPECIALIST!«, rief Fletcher.
Gabriel antwortete mit einem Stöhnen. »Hab ... ihn. Zieht mich ... raus!«
Alexandros und Fletcher packten ihn an den Unterschenkeln, woraufhin aus dem Stöhnen ein erschrockener Schrei wurde.
»Vorsichtig!«, mahnte Fletcher, nutzte aber den Griff kurzerhand zur Diagnose. »Nur ein Treffer. Knochen unbeschädigt.«
Gabriel hielt Danny in den Armen. Der Pilot war bewusstlos und dem ersten Anschein nach deutlich schwerer verletzt. Alexandros und Fletcher trugen die beiden zurück zum Humvee.
»Nichts wie weg hier!«
»Gold Squad, Situation geklärt!«, rief Van Zandt beim Anfahren in sein Funkgerät. »Evakuierung fortsetzen!«
»Was ist mit dem Farragut?«, fragte Alexandros und zeigte auf den grauen Drohnenschwarm am Himmel.
»Die kommen nicht weit«, erwiderte Fletcher. »Solange unser Fahrer nicht irgendwo gegenknallt, sind wir die in zehn Minuten los.«
Van Zandt schaute grimmig zu ihm rüber. Gerade
hatten sie die Straße erreicht, die von seinen Männern nur
notdürftig freigeräumt worden war. Überall standen Autowracks
herum. Der Plan sah eine koordinierte Extraktion vor, keine Flucht
vor einem Trägerschiff. Mit dem Fuß auf dem Bodenblech schlitterte
er durch die schikanenreiche Strecke, bis der Schwarm von den
Rauchschwaden verschluckt wurde.