11. WAFFENBRÜDER

 

Eine Stunde später am nördlichen Rand des Waldes. Die schwarzen Rauchwolken waren nur noch entfernt am Horizont erkennbar. Van Zandt flegelte sich in den Fahrersitz seines Humvees. Fletcher saß daneben und teilte schon zum sechsten Mal seine Zigaretten mit ihm.

»Den sind wir erstmal los«, seufzte er beim Blick in den Außenspiegel. Der Farragut hatte die Verfolgung aufgegeben. Seit dreißig Minuten gab es kein Anzeichen mehr von Drohnen am Himmel. »Wie geht‘s Gabriel?«

»Blutdruck schwach aber stabil, Puls hundertzwanzig«, keuchte der verwundete Sanitäter selbst von der Rückbank.

»Dich hab ich nicht gefragt«, antwortete Fletcher halbernst. »Und der kleine Lieutenant?«

»Schwer zu sagen, Chief. Das Cockpit steckt in tausend Teilen in ihm drin.«

»Haben sie einen Arzt unter ihren Männern?«

Van Zandt schüttelte mit dem Kopf. »Nur zwei Sanis. Ich dachte, ihr Doktor Zhang ...?«

»Vorschläge, Specialist?«, unterbrach Fletcher ihn mit einer Frage nach hinten.

»Alexandros hat ihn so gut es geht verbunden«, antwortete Gabriel. »Er braucht Doktor Webb.«

»Sie haben also einen Arzt, nur nicht diesen Zhang?«, kombinierte Van Zandt.

Fletcher nickte. »Daheim.«

»Gut zu wissen. Wie weit ist das weg?«

»Bingo Fuel«, meldete sich Mitchell über Funk. Das bedeutete, dass sein Black Hawk nur noch genügend Treibstoff für die Rückkehr zur Biosphäre hatte.

»Weit«, brummte Fletcher und griff zum Mikrofon. »LT, landen und Position durchgeben.«

»Verstanden, Chief.«

Fletcher schwenkte den Kopf zu Van Zandt. »Sie kriegen ihr Zeug zurück und dann gehen wir getrennter Wege.«

Van Zandt schnaubte seinen Zigarettenqualm beleidigt durch die Nase. »Was davon noch übrig ist«, sagte er. »Ich hätte die Scheiße lieber selbst rausfahren sollen.«

Fletcher drehte sich nach hinten um und blickte auf den nachfolgenden Konvoi. »Die sind auch nicht ohne was davongekommen.«

»Nur weil meine Trucks für euch die Straße blockieren mussten!«, entgegnete ihm Van Zandt. »Wenn ihr nicht nach Groombridge gekommen wärt, hätten wir ‘nen ganz gemütlichen Abgang gemacht.«

»Glauben sie im Ernst, dass ihnen die Razors drei Huey‘s vom Himmel holen und sie dann friedlich ziehen lassen?«

»Das werden wir wohl nie erfahren.«

Fletcher setzte sich wieder gerade hin und nahm sich die siebente Zigarette seit dem Aufbruch. Wie ein Friedensangebot reichte er die Schachtel rüber zu Van Zandt. Der zog mürrisch die Nase hoch, schmiss seinen Stummel aus dem Wagen und griff zu.

»Was war eigentlich in der Kiste drin, die Mitchell abgeworfen hat?«, fragte Fletcher.

»Das zeig ich ihnen, wenn wir den Rest ausladen. Jetzt ist‘s ja scheißegal.«

 

***

 

Van Zandts Stimmung sank auf einen neuen Tiefpunkt, als sie die Landezone mitten auf der Straße erreichten. Anstelle seiner Fracht stand eine Schulklasse von Kindern um den Chinook herum. Ein paar davon fragten Yuen nach ihrem Ziel oder warum er sie überhaupt mitgenommen hatte, doch die meisten hockten nach wie vor stumm auf ihren Sitzen. Yuen war schon mit einem einzigen Baby an seine Grenzen geraten und blickte sich hilfesuchend nach Misses von Bladensberg um. Sein Gesicht hellte auf, als er Fletcher an der Spitze der Wagenkolonne kommen sah.

Der Humvee parkte direkt neben Hawk-one. Zusammen schritten Van Zandt und Fletcher auf die Backbordtür zu. Van Zandt hatte ein Brecheisen mitgenommen und öffnete eine der Kisten. Zum Vorschein kamen bunte Kunststofffäden auf Rollen so groß wie Autoreifen und silbern glänzende Metallkanister.

»Wissen sie, was das ist?«

Fletcher sah genauer hin, wirkte aber ratlos.

»Konfetti in Rohform?«, rief Alexandros hinter ihnen.

»So ähnlich«, lautete Van Zandts überraschende Antwort. »Das ist Rohmaterial für 3-D-Drucker.«

»Also war in der großen Kiste ...?«

»Ein industrieller 3-D-Drucker aus Groombridge, mit dem vor einem Jahr noch Bauteile für Raketentriebwerke gefertigt wurden«, bestätigte Van Zandt. »Haben sie eigentlich eine Ahnung, was so ein Ding in Zukunft wert sein wird? Damit hätten wir auf Dauer alles selbst herstellen können. Ersatzteile für die Autos, Munition, ganze Waffen und im Härtefall neue Zahnimplantate!« Er trat näher an Fletcher heran. »Jetzt klar, warum ich so scheißsauer war, als ihr Pilot das Kabel durchtrennt hat?«

»Es war die richtige Entscheidung«, entgegnete ihm Fletcher und nickte zu den Kindern.

»Natürlich war es die richtige Entscheidung, verdammt!«, fluchte Van Zandt mit hochgerissenen Händen. »Aber das ändert nichts daran, dass meine Männer jetzt wieder von neuem Industriegebiete durchkämmen müssen!«

Fletcher rieb sich unruhig an der Nase. Er konnte Van Zandt vollkommen verstehen. Wenn der Söldner ihm vor dem Aufbruch gesagt hätte, worum es bei seiner Ladung ging, wäre ihm der Befehl zum Absprengen der Fracht um einiges schwerer gefallen. Er würde es nie zugeben, wie dankbar er sich in diesem Moment fühlte, von Van Zandt im Ungewissen gelassen worden zu sein.

»Warum wollten sie den Drucker unbedingt rausgeflogen haben?«, fragte er. »Jetzt mal von den Razors abgesehen, mit denen sie ja nicht rechnen konnten.«

»Ich hab doch gesagt, wie viel das Ding wert ist«, sagte Van Zandt. »Meine Männer wussten alle Bescheid.«

»Sie vertrauen ihren eigenen Leuten nicht?«, fragte Alexandros.

»Wundert dich das nach diesem Cooper etwa?«, antwortete ihm Fletcher.

Van Zandt nickte zustimmend. »Ich hab die Vanguard Division erst vor sechs Wochen übernommen. Groombridge war unser erster Auftrag. Von den meisten kenne ich nur die Personalakte.«

»Aber sie vertrauen Penny?«

Van Zandt ließ sich eine Zigarette geben und setzte sich grinsend in den Black Hawk, den Blick auf den Chinook gerichtet. »Von meiner Ex weiß ich zumindest mehr, als in ihrer Akte steht.«

»Penny und sie waren verheiratet?«

»Zwei kurze Jahre.«

»Na das erklärt ihr gestörtes Verhältnis«, sagte Fletcher.

»Ach, das geht schon seit unserer Schulzeit so«, winkte Van Zandt ab.

»Und jetzt?«

»Abwarten. Sie wollte, dass ich sesshaft werde.«

»Äh, Chief?«, unterbrach Mitchell die Unterhaltung. »Kann ich sie mal kurz sprechen?« Er führte Fletcher hinter den Hubschrauber, um ungestört reden zu können. »Wie geht‘s Danny?«, war seine erste Frage.

»Kritisch aber stabil.«

Mitchell nickte. »Okay. Wegen der Kisten. Ich hab mich gefragt, ob wir dieses Rohmaterial nicht mitnehmen könnten.«

»Für?«, fragte Fletcher. »Haben sie irgendwo einen 3-D-Drucker, von dem wir nichts wissen?«

»Nein, aber ich wette, die Biosphäre hat einen«, hielt Mitchell dagegen. »Das Teil sollte doch auf einem anderen Planeten vollkommen autark existieren. Und selbst wenn nicht können Howe oder der Doc sicher einen auftreiben. Denken sie mal an die Ersatzteilsuche für meinen Helo oder die Reparatur der Biosphäre.«

Fletcher drehte sich zu den Kisten im Laderaum von Hawk-one um. Seine Augen zeugten von einer wahren Goldgräberstimmung, als er sich ausmalte, was er damit alles drucken könnte. Er straffte sich und kehrte zum Hubschrauber zurück.

»Ähm, Captain«, begann er mit einem Räuspern. »Was würde es uns kosten, das Rohmaterial erst mal mitzunehmen?«

Van Zandt schaute ihn im Sitzen mit Schlitzaugen an, als traute er seinen Ohren nicht. »Ihr habt ‘nen Drucker dafür?«

Fletcher wollte sich nicht festlegen und suchte nach einer adäquaten Antwort.

»Vergessen sie die Frage«, durchbrach Van Zandt seinen Gedankengang. »Je weniger ich darüber weiß desto besser.« Er knetete durch seine zerfurchte Stirn. »Ich sag ihnen, was ich dafür will. Einen Pakt! Nicht zwischen dem Militär und den Novas, sondern zwischen ihnen und mir. Kein Stück Papier, kein diplomatisches Gewäsch, sondern ihr Wort, das wir nicht allein dastehen, wenn die Kacke am Dampfen ist!«

Fletcher nahm sich einen Moment zum Nachdenken. Seine abneigende Haltung gegenüber PMCs hatte er wiederholt zum Ausdruck gebracht und Lt. Coopers Verrat an die Black Razor Company war auch alles andere als ein Vertrauensbeweis. Fletcher drehte sich vom Black Hawk weg und ließ den Blick über den Rastplatz streifen. Sechzehn Kinder, eine Handvoll Zivilisten und sein eigenes Kommandoteam, von dem keiner in den vergangenen drei Tagen verschont geblieben war. Das Auftauchen des Drohnensterns hatte ihm eines endgültig klargemacht: Allein konnte er die Sicherheit der Ian-Hawk-Biosphäre nicht gewährleisten. Nicht mal all seine Erfahrung als Elitesoldat würde die drastische zahlenmäßige Unterlegenheit gegen Feinde wie die Razors aufwiegen können. Und dieselbe Erfahrung mahnte ihn, dass sich die Anzahl von feindlich gesinnten Kräften in Zukunft noch weitaus mehren dürfte.

Fletcher wandte sich zurück an Van Zandt und streckte ihm die Hand aus. »Ich werde ihnen nicht verraten, wo wir leben«, sagte er. »Diese Information ist momentan für uns beide zu riskant. Aber ich gebe ihnen einen Treffpunkt, eine Frequenz und einen Code, mit denen wir in Kontakt bleiben.«

Nun war es an Van Zandt, Fletchers Worte zu deuten. Er schnalzte mit seiner Zigarette im Mund und wog das Für und Wider gegeneinander ab. Was der Chief ihm vorschlug, entsprach nicht gerade einer Allianz, bei der sich Mitchells Black Hawk zur Feuerunterstützung anfordern ließ, sondern einem Nichtangriffspakt, bei dem Van Zandt sich nur sicher sein konnte, dass Fletcher ihm nicht irgendwann in den Rücken fiel. Er versuchte gar nicht erst, sein Missfallen darüber zu verbergen. Immerhin hatte er bereits einen Großteil seiner Beute aus Groombridge und einige seiner Männer eingebüßt. Andererseits hatte ihn sein eigener Stellvertreter gerade an die Razors verraten. Schon der Gedanke daran brachte Van Zandt zur Weißglut.

»Nicht ganz das, was ich mir vorgestellt hatte, Chief«, brummte er.

»Ich weiß«, antwortete Fletcher, ohne seine Hand wegzuziehen. »Aber es ist ein Anfang.«

Da griff Van Zandt fest zu. »Ich werde Cooper als Schuldigen für den miesen Deal hinstellen«, sagte er. »Hoffentlich lernt der Rest was draus.«

»Hoffentlich«, wiederholte Fletcher aufrichtig. »Denn wir werden ihre Männer in Zukunft brauchen.«

Van Zandts Augen schwenkten nach Süden, da wo der Drohnenstern in den Rauchschwaden verschwunden war. »Daran besteht kein Zweifel, Chief. Wir stehen jetzt beide auf deren Liste.«

Fletcher nickte grimmig, ehe er den Befehl zum Aufbruch gab. Vanessa verabschiedete sich von ihm und Mitchell. Sie blieb bei Van Zandt und seinen Männern, während Penny ausgesprochen enthusiastisch auf die Aussicht reagierte, den Sauhaufen der Novas hinter sich lassen zu können. Da der Hubschrauber ihr mehr oder weniger gehörte, konnte Van Zandt nicht dagegen protestieren und ließ sie ziehen.

Zum Abschluss wählten er und Fletcher noch ein Dorf namens Drunder im nördlichen Gebirge ein paar hundert Kilometer östlich der McKnight Air Force Base als temporären Treffpunkt. In genau sieben Tagen versprach Fletcher, mit Penny dorthinzukommen und eine detailliertere Vereinbarung mit Van Zandt auszuhandeln.