5. PRÄVENTIVSCHLAG

 

Achtzehn Stunden später. Ein Uhr nachts.

 

Adrian hatte sich umgehend zum Dienst an der Minigun gemeldet. Howe‘s Sohn brannte förmlich darauf, sich an den Alphas zu rächen. Obwohl weder Fletcher noch Mitchell ganz von seiner Disziplin oder Kompetenz überzeugt waren, fehlte ihnen jegliche Wahl. Auch sein Vater zeigte sich wenig begeistert davon, Adrian mit wildfremden Soldaten in die Schlacht zu schicken.

»Wenn die Sache schiefgeht, werden wir hier nicht mehr willkommen sein«, warnte Dr. Webb. Sie stand im schweren Stahlschott des Zugangsturms, um Yuen zu verabschieden. »Bist du sicher, dass das eine gute Idee ist? Deine Tochter hat gerade erst ihre Mutter verloren und jetzt ...«

»Wir haben die Überraschung auf unserer Seite«, unterbrach Yuen sie nachdenklich. »Sobald diese Deserteure von unserer Ankunft Wind bekommen, werden sie bei Glen auf der Matte stehen und entsprechend vorbereitet sein.«

»Ich weiß«, seufzte Dr. Webb. »Ich hab dich nur noch nie so ... so ... entschlossen erlebt.«

Yuen blickte hoch zum Modul mit der Krankenstation, wo seine Tochter friedlich in einem warmen Bettchen schlief. »Ich tue das für Jiao. Unsere einzige Alternative wäre die Flucht und nach gestern glaube ich nicht, dass wir irgendwo einen sichereren Ort als diesen finden können. Überall rennen Halbstarke mit Kriegsgerät herum. Korrupte Polizisten und Soldaten in jeder Stadt. Auf niemanden ist mehr Verlass. Hier kann ich uns wenigstens eine Chance verschaffen.«

Die Ärztin wartete einen Augenblick, doch dann streckte sie die Arme aus und drückte ihn an sich. »Komm mir ja sicher nach Hause! Du weißt, dass ich keine Kinder großziehen will!«

Yuen gönnte sich ein Lächeln. Im Laufe ihrer langen Freundschaft hatte Dr. Webb häufig erwähnt, dass Kinder nicht zu ihrer Lebensplanung gehörten. Nun ließ er sie mit Jiao und Leon zurück. Sollte er sterben, sähe sie es als ihre Pflicht an, für die beiden zu sorgen – und würde Yuen vermutlich nie dafür vergeben.

»Doc!«, rief Fletcher ihnen zu. »Wir sind so weit!«

»Wir sehen uns in zwei Stunden«, sagte Yuen und löste sich aus der Umklammerung.

Danny und Mitchell fuhren bereits die Turbinen hoch. Fletchers Kommandoteam gurtete sich im ersten Hubschrauber an. Lieutenant Mitchell war der Erfahrenere von beiden und sollte sie in der Nähe der Alphabasis absetzen, da sie keine Taue zum Abseilen besaßen. Yuen schnallte sich neben ihnen an und starrte auf die Bordgeschütze, die er in zehn Minuten bedienen musste.

Adrian in Hawk-two hatte Gesellschaft von Rachel bekommen. Mit der Ankunft von Dr. Webb war sie für die Biosphäre nicht mehr unentbehrlich und ihre medizinischen Kenntnisse könnten sich unter Gefechtsbedingungen als nützlich erweisen. Zumindest hatte sie ihren Einsatzeifer damit erklärt.

Im Schutze der Nacht rauschten die beiden Black Hawks in nördlicher Richtung davon. Sie flogen in Reihenformation durch tiefe Canyons und Schluchten, um ihre Geräuschsilhouette niedrig zu halten und die Alphas nicht zu warnen. Das war nur unter Einsatz von Nachtsichtgeräten zu schaffen. Die Piloten und Fletchers Team besaßen welche, aber für Adrian, Rachel und Yuen glich die Reise einer Geisterbahnfahrt mit plötzlich auftauchenden Baumwipfeln und Felsbrocken, über die sie haarscharf hinwegfegten.

»Fünf Minuten!«, meldete Lt. Mitchell.

»Okay Doc, sie kennen den Plan«, rief Fletcher. »Sie geben uns da unten Feuerschutz, während die beiden Kiddies da drüben wild in der Gegend rumballern!«

»Verstanden, Chief!«, brüllte Yuen zurück. Am Vortag war er voll und ganz von seinem Vorgehen überzeugt gewesen, aber nun, als er fremde Menschen mit einem riesigen Geschütz töten sollte, kamen ihm erste Zweifel. Er schloss die Augen und zwang sich, an Jiao zu denken. Er tat es für sie. Nur für sie. Damit sie in einer sicheren Welt aufwachsen konnte. Das war die heilige Pflicht eines jeden Vaters.

Was würde wohl Saki dazu sagen, fragte er sich, dass er in einem Kampfhubschrauber und mit einem Trupp Elitesoldaten in den Krieg zog? Gerade Yuen, der die Armee hauptsächlich als parasitären Nutznießer oder ewigen Widerstand gegen seine Arbeit gesehen hatte. Nie wäre er auf die Idee gekommen, dass ihm das sture Einstudieren von militärischen Vorgehensweisen einmal auf diese Art zugutekäme.

Urplötzlich rissen ihn metallische Geräusche aus seinen Gedanken; Einschläge auf der Außenhaut des Hubschraubers.

»Wir werden beschossen!«, rief Lt. Mitchell.

»Ein Uhr, tief!«, meldete Fletcher. »Humvee mit Fünfziger! Drei Uhr, Scharfschütze auf dem Felsen!«

»Roger!«, bestätigte Ryan am Steuerbordgeschütz. Einen Augenblick später fingen sich die Rohre an zu drehen und deckten zunächst den Geländewagen und dann den Schützen mit kurzen Feuerstößen ein. Im Dunkel der Nacht prasselten die Tracer wie glühender Sprühregen auf sie herab. »Ziele zerstört. Nächstes?«

»Militärzelte direkt unter uns!«, rief Gabriel. »Da laufen Leute raus!«

Mitchell drehte den Kopf auf der Suche nach seinem Flügelmann. »Danny! Haltet in die Zelte rein, sonst besetzen die noch mehr Stellungen!«

Es kam keine Antwort über Funk, aber die Miniguns des Begleithubschraubers blitzten fast zeitgleich auf. Nicht mal mit Nachtsichtgeräten war zu erkennen, wer an welchem Geschütz saß. Es pflügten ohnehin zunächst einmal beide quer durch die Basis, ehe sie ihr Ziel einkreisten und die Stoffzelte durchsiebten.

»Mann! Wenn die so weitermachen, sind die gleich trocken!«, kommentierte Alexandros kopfschüttelnd den chaotischen Angriff.

»Okay, die Alphas sind beschäftigt«, rief Fletcher. »LT, setzen sie uns auf dem Felsen von dem Scharfschützen ab!« Dann wandte er sich an Gabriel. »Du schnappst dir sein Gewehr und deckst unseren Arsch, falls es noch schießt!«

»Verstanden, Chief.«

Lt. Mitchell flog auf die Scharfschützenstellung zu und vollführte eine Hundertachtzig-Grad-Wende zum sofortigen Stillstand.

»Raus! Raus! Raus!«

»Klar!«, meldete Fletcher, als sein gesamtes Team den Boden berührt hatte.

»Take-off! Take-off!«, warnte Mitchell, damit niemand mehr ausstieg, als er den Hubschrauber wieder in die Luft hob. »Doc! Jetzt sind sie dran!«

Yuen robbte sich durch die schwankende Kabine und schnallte seinen Gurt an der rechten Minigun fest. »In Position!«

»Danny! Status!«, befahl Mitchell.

»Die Zelte sind Geschichte. Ein paar haben wir erwischt.«

»Was sagt die Munition?«

»Zweihundert.«

»Auf beiden Seiten?«

»Insgesamt!«, korrigierte ihn sein Flügelmann. Ein Geschütz fasste normalerweise sechshundert Schuss. Wie von Alexandros befürchtet hatten Adrian und Rachel ganze Arbeit am Abzug geleistet.

»Stellung gesichert!«, meldete Fletcher. »Zwei Ziele ausgeschaltet. Wir rücken vor.«

»Doc, sehen sie da unten irgendwo einen Hubschrauber?«, fragte Mitchell.

»Nein! Aber ich dachte, der wäre winzig?«

»Es ist immer noch eine Maschine, die neun Männer plus Bordwaffen mit sich führt«, erklärte Mitchell mit Sorge in der Stimme. »Danny, wo ist der verfluchte Little Bird? Haben die den in die Luft bekommen!?«

»Negativ. Vielleicht steht er weiter weg oder ...«

»Hubschrauber!«, funkte Specialist Gabriel aufgeregt dazwischen. »Null-vier-null, hoch! Verdammt hoch!«

»Scheiße, ich seh ihn!«, rief Mitchell. »Danny, pass auf! Er kommt zu dir runter!«

Der feindliche Little Bird stürzte sich aus fünfhundert Meter Höhe mit ratternden Maschinengewehren ins Gefecht, deren Geschosse eine Leuchtspur von ihm bis zu Hawk-two zogen.

»Turbinentreffer!«, kommentierte Danny einen feurigen Einschlag unter seinem Hauptrotor. »Backbordturbine streikt!«

»Ausweichen! Zieh nach links weg und lass dich hinter den Berg fallen!«, befahl Mitchell.

»Genau das versuch ich doch!«

Der feindliche Hubschrauber hatte offenbar seine eigene Geschwindigkeit unterschätzt und wäre um ein Haar an den Berg gekracht, hinter dem Danny während des waghalsigen Bremsmanövers Deckung fand.

»Da sind keine Soldaten auf den Kufen«, rief Mitchell. »Chief, eventuell hat er Truppen im Norden abgesetzt! Halten sie die Augen offen!«

»Verstanden! Kommt ihr klar da oben?«

»Für einen Luftkampf fehlt uns der Treibstoff! Uns bleiben noch zwölf Minuten!«

»Bringt ihn her zu mir. Einhundert Meter westlich der Landezone«, hörten sie Ryans gefasste Stimme. »Dann blas ich ihm die Lichter aus!«

»Doc! Geben sie dem Scheißkerl was zum Nachdenken!«, rief Mitchell nach hinten.

Kaum hatte er die Worte ausgesprochen, tauchte der Little Bird auf der Steuerbordseite vor Yuens Geschütz auf. Tief im Inneren freute sich der überzeugte Pazifist, dass sein erstes Ziel keine panisch umherlaufenden Menschen waren, sondern eine Maschine, die mit dem Schießen begonnen hatte.

Er zog den Abzug und schloss instinktiv die Augen in Erwartung des lauten Dröhnens und eines mörderischen Rückschlags. Während des Crashkurses hatten sie nur Trockenübungen ohne Patronenzufuhr einstudieren dürfen. Zu seiner Überraschung dämpfte der Fliegerhelm die Geräusche jedoch auf ein angenehmes Niveau und das Vibrieren der Kanone war bei der hochmodernen Anlage kaum zu spüren. Sie ließ sich leichtgängig wie eine Servolenkung bedienen, solange er keine ruckartigen Flugmanöver ausgleichen musste.

Mit seinem gestärkten Selbstvertrauen holte sich Yuen den feindlichen Hubschrauber ins Fadenkreuz und entfesselte ein rotglühendes Feuerwerk.

»Treffer!«, bestätigte Fletcher vereinzelte Einschläge am Heckrotor, durch die der Little Bird sofort ins Schlingern geriet. »Ryan! Mach den Sack zu!«

Im selben Moment startete eine Luft-Boden-Rakete mit einem gleißenden Flammenstrahl in Richtung der verkrüppelten Maschine und explodierte neben der Cockpitkanzel. Der Little Bird wurde in tausend Teile gesprengt, die wie ein Feuerregen auf die Erde sanken.

»Verdammte Scheiße!«, rief Mitchell im Schock der grellen Explosion. »Wo habt ihr die denn her!?«

»Aus deren Waffenlager«, meldete Ryan. »Hier liegt noch so einiges rum.«

»Die müssen wie bekloppt Material gehortet haben«, bestätigte Fletcher. »Sofern wir das alles in die Biosphäre schaffen, brauchen wir uns die nächsten Jahre keine Sorgen mehr um Nachschub zu machen.«

»Und Kerosin?«, fragte Mitchell.

»Hier steht ein Tanklaster mit Anhänger unter dem Tarnnetz. Kommt einzeln runter, dann füllen wir euch auf!«

»Danny! Status?«

»Backbordturbine ausgefallen, aber er hält sich in der Luft«, meldete der Flügelmann. Dabei tauchte er wie ein geschlagener Hund hinter dem Berg auf. Die beschädigte Maschine taumelte langsam vorwärts und stieß eine schwarze Rauchwolke aus, die allmählich nachließ. »Im Tank ist nur noch heißer Dampf. Ich muss runter.«

»Verstanden. Uns bleiben ein paar Minuten«, bestätigte Mitchell. »Beeilt euch!«

»Gabriel, wo steckt die Verstärkung?«, fragte Fletcher seinen improvisierten Scharfschützen.

»Nichts zu sehen.«

»Vielleicht haben die ja den Schwanz eingezogen!«, spottete Alexandros.

Als hätten ihn die Alphas gehört, zischten Kugeln aus nördlicher Richtung heran, die zunächst wirkungslos an der Panzerung von Hawk-one abprallten und sich anschließend gegen das Bodenteam wendeten. Sofort drehte sich Mitchell in Angriffsposition.

»Doc! Die Baumgruppe auf vier Uhr!«

Nun musste er also doch auf Menschen schießen, zuckte es Yuen durch den Kopf. Er rief sich den Namen seiner Tochter einem Mantra gleich ins Gedächtnis, riss das Geschütz herum und zog den Abzug.

Für Jiao!

Der Feuersturm zersägte die knochentrockenen Baumstämme in Windeseile und wirbelte eine haushohe Staubwolke auf. Weder Mitchell noch Yuen konnten erkennen, ob er die Gegner erwischt hatte, aber der feindliche Beschuss nahm ein jähes Ende.

»Saubere Arbeit, Doc«, lobte ihn der Pilot, als die Minigun keine Munition mehr hatte und sich wie eine Bohrmaschine im Leerlauf anhörte. »Wechseln sie auf die andere Seite!«

»Gordon, wir haben hier unten ein Problem«, meldete Danny. Er war im Laufe des Blitzgefechts etwas zu schnell abgesackt und hart auf den Boden geprallt. »Heckrad gebrochen und ich glaube, einer der Kerosintanks leckt.«

»Erzähl keinen Mist! Die Teile können ganze Abstürze überstehen!«, erwiderte Mitchell.

»Ich verliere definitiv Treibstoff. Vielleicht hat der Little Bird die Tanks erwischt.«

»So eine Scheiße«, knurrte Lt. Mitchell zu sich selbst. »Okay. Chief! Wie ist die Lage? Ich muss in sechzig Sekunden runter oder wir fallen vom Himmel.«

»Alexandros und Ryan durchkämmen gerade den Wald«, antwortete Fletcher. »Sieht sauber aus.«

»Verstanden.«

Kaum hatte er den Befehl bestätigt, ertönte eine Warnsirene im Cockpit, die auf den kritischen Treibstoffzustand hinwies. Mitchell schaltete sie ab und landete den riesigen Hubschrauber so sanft, als bestünde der Boden aus rohen Eiern. Yuen vermutete insgeheim, dass er seinem übermütigen Flügelmann eine Lektion erteilen wollte.

Fletcher kam sofort mit einem Tankschlauch herbeigelaufen, den Mitchell fachgerecht anschloss. »Los!« Der Schlauch zuckte einmal kurz, als der Tanklaster den nötigen Druck aufbaute. Dann strömten satte dreihundertsechzig Gallonen Kerosin in den durstigen Hubschrauber.

Währenddessen befreite sich Yuen von seinen Gurten und wollte nach Adrian und Rachel sehen, die sich seit ihrem verschwenderischen Angriff auf die Militärzelte äußerst ruhig verhalten hatten. Howes Sohn lehnte im Waffenlager an einer Palette mit Panzergranaten. Die Veterinärmedizinerin kniete neben ihm und versorgte eine blutige Wunde an seinem rechten Arm.

»Was ist passiert?«, fragte Yuen.

»Der Helikopter hat uns erwischt«, keuchte Adrian. »Bevor Danny abdrehen konnte ... ahhh!«

Weiter kam er nicht, denn Rachel zog den Verband mit einem Ruck fest, um den Blutverlust zu stoppen.

»Wird er durchkommen?«

»Ist doch nur sein Arm«, wiegelte die Medizinerin ab. »Unser Adrian ist einfach ‘ne Memme.«

»Da stecken drei Kugeln drin, verdammt!«

»Solltest du die nicht herausholen?«, wunderte sich Yuen. Rachel war fünfzehn Jahre jünger als er und keine Soldatin, so dass er auf das Siezen verzichtete.

»Viel zu dreckig hier«, meinte sie dazu. »Ich muss tief rein und hab nichts zur Betäubung dabei. Sofern ihn von den echten Männern niemand k.o. schlagen will, warten wir lieber, bis wir zu Hause sind.«

Adrian zeterte unverdrossen weiter, aber Yuen hatte genug gehört. Er kehrte zu Hawk-one zurück, um mit den Soldaten die Vorgehensweise zu planen.

»Wie ist die Lage, Chief?«

»Mitchells Vogel ist vollgetankt. Gabriel wird die verbliebene Minigun besetzen, bis die zweite Maschine wieder läuft«, berichtete Fletcher. »Sie haben drei Männer erwischt. Das heißt, da draußen laufen noch maximal fünf rum, sofern der Little Bird voll besetzt war.«

Drei Männer hatte er getötet, ging es Yuen durch den Kopf. Drei Leben gegen das seiner Tochter. Zu seiner eigenen Verwunderung – und seiner Scham – spürte er, wie es ihn immer weniger betraf, je länger er darüber nachdachte; und je häufiger er den Abzug betätigte.

»Kontakt auf drei-null-null!«, warnte Gabriel auf einmal über Funk. »Zwei Wärmesignaturen. Bewaffnet. Entfernung fünfhundert.«

»Zu nah, um zu starten«, entschied Mitchell. »In Deckung!«

»Ryan, flankiert sie von hinten!«, befahl Fletcher und stellte dabei ein Maschinengewehr auf, dass er sich vom Waffenlager geschnappt hatte. »Ich lege ein Sperrfeuer und ...«

»Chief!«, unterbrach ihn Gabriel. »Nicht feuern! Ich glaube, die wollen sich ergeben.«

Als Mitchell das hörte, lehnte er sich ins Cockpit und richtete seinen Suchscheinwerfer in die angegebene Richtung. Sollte sich Gabriels Vermutung als falsch erweisen, würde er die verbliebenen Alphas zumindest eine Weile blenden.

»Die Waffen runter!«, brüllte Fletcher. Seine Männer tauchten im selben Moment hinter den beiden herannahenden Silhouetten auf.

»Wir ergeben uns. Wir ergeben uns!«, rief einer von ihnen. Er griff mit den Fingerspitzen nach seinem Gewehr und wollte es zu Boden legen, da trat ihm Ryan bereits in die Kniekehlen und hatte ihn binnen einer Sekunde entwaffnet. Alexandros übernahm den Zweiten.

»Wie viele von euch sind noch übrig?«, erkundigte sich Fletcher im schroffen Ton.

»Nur wir und Captain Hendriksen. Er will nicht zurück in die Army.«

»Die Army gibt es nicht mehr«, sagte Yuen, während er die Gefangenen aus der sicheren zweiten Reihe musterte.

»Dann seit ihr nicht ...?«

»Hey!«, schrillte Rachels Stimme auf einmal. »Erinnert ihr euch an mich, ihr Schweine!?«

Schneller als Fletchers Team oder sonst jemand reagieren konnte, rannte sie zwischen den Soldaten hindurch und trat dem einen Alpha ins Gesicht und dem anderen an den Hals. Damit begnügte sich die aufgebrachte junge Frau jedoch längst nicht, sondern prügelte weiter auf die gefesselten Männer ein.

»Was soll denn das!«, knurrte Fletcher und ging mürrisch dazwischen. »Bist du völlig übergeschnappt?«

»Nimm deine Hände von mir!«, keifte Rachel und riss sich aus seiner Umklammerung. »Diese Bastarde haben mich drei Mal vergewaltigt!«

Als hätte sie damit das Zauberwort gesagt, ließ Fletcher von ihr ab. Alexandros und Ryan entsicherten ihre Gewehre. Währenddessen wanden sich die Gefangenen mit blutigem Gesicht im Sand.

»Wir waren das nicht!«, keuchte einer hervor. »Der Captain hat uns nie mitgenommen!«

»Und wieso habt ihr dann heute im Hubschrauber gesessen?«, fragte Alexandros ungläubig.

»Captain Hendriksen hat uns trainiert, damit er uns irgendwann einsetzen kann!«

»Bei Nacht?«, wunderte sich Yuen.

»Wir haben fast alle Einsätze bei Nacht geflogen! Ihr seid doch auch nicht am Tag gekommen!«

»Da ist was dran, Doc«, murmelte Mitchell und wandte sich an Rachel. »Zu welchen Zeiten sind die bei euch aufgetaucht?«

»Nachts«, schnaufte sie. »Immer nachts, wenn ich in meinem Bett lag!« Schon trat sie erneut zu.

Fletcher ging abermals dazwischen und zückte seine Taschenlampe, mit der er den Gefangenen ins Gesicht leuchtete. »Erkennst du einen davon wieder?«, fragte er Rachel.

Bei all dem Blut war eine Identifikation nicht leicht. Außerdem schien es die junge Frau nicht sonderlich zu kümmern, wen sie für ihre Tortur bezahlen ließ.

»Nein«, sagte Adrian aus dem Hintergrund. »Die sind nie bei uns gewesen. Mein Vater hat Fotos von allen gemacht, um sie vor Gericht ziehen zu können. Die beiden waren nicht darunter.«

»Ist doch völlig egal!«, giftete Rachel. »Lasst sie hier draußen verrecken!«

»Wir sollten sie mitnehmen«, schlug Yuen vor.

»Was!?«, fauchte Rachel.

Adrian schloss sich ihrem Protest sofort an. »Wir sollen diese Bastarde freiwillig in unsere Biosphäre lassen?«

»Doc?«, brummte Mitchell und wartete auf weitere Erklärungen.

»Wenn wir diesen Feuersturm aussitzen wollen, brauchen wir mehr Leute«, begann Yuen so sachlich, wie es die aufgebrachte Situation zuließ. »Die beiden mögen Mörder und Vergewaltiger sein oder nicht. Sie könnten genauso alles verloren und nur eine Zuflucht gesucht haben. Das werden wir hier nicht in Erfahrung bringen können. Außerdem läuft ihr Anführer noch da draußen rum. Sofern ihr sie also nicht auf der Stelle exekutieren wollt, würde ich empfehlen, sie als Gefangene zurück zur Basis zu schaffen.«

»Da hat er nicht ganz Unrecht«, unterstützte ihn Fletcher. »Wir sollten zumindest ein anständiges Verhör durchführen.« Dann wandte er sich an Rachel. »Anschließend kannst du sie immer noch in die Wüste schicken.«

»Wenn sich herausstellt, dass sie gelogen haben, flieg ich euch höchstpersönlich zum trockensten Ort, den ihr kennt«, versprach Mitchell. »Sie einfach zu erschießen würde bedeuten, wie dieser Abschaum zu handeln.«

Rachel entkrampfte ihre geballten Fäuste. Sie merkte, dass sie mit ihrer harten Linie an Boden verlor. »Meinetwegen!«, zischte sie wie eine schlechte Verliererin. »Aber das letzte Wort hat Glen, nicht ihr!«

»Einverstanden«, besiegelte Yuen rasch die Abmachung, ehe sie es sich anders überlegen konnte.

Damit hatte Rachel genug und kehrte mit Adrian zum zweiten Hubschrauber zurück, während Alexandros und Ryan die Gefangenen verluden.

»Danny!«, rief Mitchell. »Wie sieht‘s aus?«

»Das Leck ist gestopft«, schallte die Antwort herbei. »In ein paar Minuten können wir los. Die Turbine müssen wir uns bei Tageslicht genauer ansehen.«

»Okay, wir verladen erstmal nur das Nötigste«, sagte Fletcher. »Meine Männer fahren den Truck am besten gleich nach Hause, falls dieser Hendriksen hier noch irgendwo rumhängt.«

»Gute Idee, Chief«, sagte Yuen.

»Und was dann?«, fragte Mitchell. »Zurück zur McKnight Air Force Base? Da liegen bestimmt noch ein paar Turbinen für Dannys Chopper rum.«

Fletcher blickte Yuen zwiespältig an. Die Piloten wussten noch nichts von den wildgewordenen Biowaffen, die nun vermutlich auf dem ganzen Berg herumstreunten.

»Abwarten«, zögerte der Wissenschaftler. »Vielleicht hat Glen Informationen über die Geschehnisse der letzten Wochen. Amy könnte ebenfalls nützliche Daten gesammelt haben.«

»Amy?«, fragte Mitchell.

»Sein Computer«, erklärte Fletcher etwas abwertend.

»Amy ist eine künstliche Intelligenz, die unterhalb der Basis von mir entwickelt wurde.«

»Unterhalb?«, wunderte sich Mitchell. »Ich dachte, das wäre nur ein Versorgungsflugplatz?«

Fletcher grinste. »Need-to-know«, sagte er knapp. »Bunker Fünf ist der Eingang zu achtundzwanzig Etagen feinster Forschungslabore. Biowaffen, künstliche Intelligenzen, Kybernetik. Ein unterirdisches Labyrinth voller Eierköpfe.«

»Ich verstehe«, sagte Mitchell. »Und was ist mit unseren Befehlen? Wir haben ein paar Deserteure gestellt, aber wenn wir nicht zurückkehren, sind wir vielleicht als nächste dran.«

Alexandros und Ryan stellten sich hinter ihren Kommandeur, ebenso wie Adrian und Rachel. Alle warteten gespannt auf Yuens Antwort.

»Wir gehen nie wieder zurück. Die alte Welt ist Geschichte«, sprach er wie ein Prophet des Altertums. »Viele wissen es nur noch nicht oder wollen es nicht wahrhaben.«

»Wie können sie sich da so sicher sein, Doc?«, fragte Ryan. »Wir haben unzählige Einsatzorder gesehen, um die Aufstände zu beenden und die Ordnung wiederherzustellen.«

»Und waren auch irgendwelche Erfolgsmeldungen darunter?«, entgegnete ihm Yuen. Er wandte sich ab und starrte auf das brennende Wrack des abgeschossenen Hubschraubers. »Bis zum Zusammenbruch der globalen Kommunikation stand ich in Kontakt mit Kollegen aus Berlin, Citadel, Johannesburg, Tokio und vielen anderen Militärbasen oder Universitäten. Überall das gleiche Bild. Aufstände, gestürzte Regierungen, grenzenlose Korruption, unendliche Flüchtlingswellen, Nahrungs- und Wasserkriege. Die ganze Welt versinkt im Chaos, doch ohne Fernsehen und Internet glauben – oder vielmehr hoffen – die meisten Menschen, dass Recht und Ordnung bald zurückkehren. Eine Illusion, die Milliarden das Leben kosten wird.« Dann richtete er seinen Blick erneut auf die versammelte Gruppe. »Nein. Wir werden die alte Welt nie wiedersehen.«

Als Antwort war ein kollektives Raunen zu hören.

»Na toll«, sagte Alexandros. »Damit kann ich meine Beförderung wohl endgültig abschreiben.«

Mitchell und Fletcher lachten leise. Ryan rollte aufgrund der fehlgeleiteten Prioritätenliste lediglich mit den Augen. Yuen hingegen untersuchte die Leichen der getöteten Alphas etwas genauer. Er riss einem davon das Rangabzeichen von der Uniform und reichte es Private Alexandros.

»Herzlichen Glückwunsch, Corporal«, sprach er trocken.

Der frisch beförderte Soldat starrte ihn völlig perplex an. Auch Lieutenant Mitchell und Chief Fletcher mussten einen Moment lang überlegen, ehe sie eine Reaktion zeigten. Nur Corporal Ryan wusste sich zu helfen.

»Sag danke, Mann!«, knurrte er seinem Kameraden zu.

»Danke, Sir!«, rief Alexandros wie aus der Pistole geschossen und erschreckte sich selbst davor. Yuen hatte überhaupt keine Befehlsgewalt und gehörte nicht mal zum Militär. Faktisch gesehen war die Beförderung also bedeutungslos. Entsprechend verwundert schielten Alexandros und Ryan zu ihrem kommandierenden Offizier.

»Haben sie was an den Ohren, Corporal?«, raunte Fletcher. »Und jetzt seht zu, dass ihr die Munition verladet!«

»Jawohl, Chief!«, antworteten die beiden im Chor und machten sich sofort an die Arbeit.

»Ich kenne ja viele Wissenschaftler«, sagte Mitchell, nachdem sie wieder unter sich waren. »Aber keinen, der sich beim Militär auskennt und Beförderungen verteilt.«

Yuen wartete, ob Fletcher vielleicht ebenfalls seine Meinung dazu abgeben wollte, was auch prompt geschah.

»Irgendjemand muss die Führung übernehmen und ich weiß nicht, ob meine Männer ohne den Doc anders als die Alphas enden würden. Er hat uns die Biosphäre gezeigt und zumindest eine Chance verschafft, die Scheiße zu überstehen.« Der Chief Warrant Officer nahm Haltung an und reichte Yuen die Hand. »Meine Männer stehen unter Ihrem Kommando, Sir.«

Obwohl Yuen seine genaue Absicht erreicht hatte, kam der plötzliche Treueeid doch etwas überraschend. »Danke ... Chief«, brachte er ein wenig stotternd hervor.

Mitchell wischte sich mit dem Unterarm den Schweiß von der Stirn.

»Ach, was soll‘s. Danny und ich sind ohnehin nur Reservisten«, brummte er schließlich und hielt Yuen ebenfalls die Hand hin. »Solange nicht plötzlich wieder überall die Lichter angehen, gehören unsere Vögel ihnen, Doc.«

»Danke, Lieutenant«, sagte Yuen; diesmal mit festerer Stimme.

»Wir sollten zusehen, dass wir hier wegkommen«, schlug Fletcher vor. »Gefangene zum Befreien gibt es bei den Alphas scheinbar nicht, und wenn sie die Zivilisten woanders festhalten, werden wir das im Verhör erfahren.«

»Richtig«, stimmte Yuen zu. »Lassen Sie ihre Männer aufsitzen, sobald die Ladung gesichert ist.«

Die beiden Offiziere salutierten vor ihrem neugewählten Vorgesetzten und führten die Befehle aus.

Die Corporals Alexandros und Ryan steuerten zehn Minuten später den Tanktruck mit Hilfe ihrer Nachtsichtgeräte im Dunklen durch die Bergstraßen. Hawk-one mit Yuen am Geschütz gab ihnen aus sicherer Höhe Begleitschutz. Hawk-two flog mit den Gefangenen voraus, die von Fletcher und Gabriel bewacht wurden.

 

***

 

Die Heimkehr dauerte eine halbe Stunde. Als Mitchell seinen Hubschrauber vor der Biosphäre landete, saßen die Alphas bereits in einer improvisierten Zelle. Fletcher wollte keine Zeit verlieren und begann umgehend die Verhöre. Adrian war von Rachel auf die Krankenstation gebracht worden, wo sie mit Dr. Webb die Kugeln entfernte. Einzig Glen Howe saß in seinem Rollstuhl vor der riesigen Anlage und rieb sich nachdenklich am Kinn.

»Wir machen uns sofort an die Reparatur!«, rief Mitchell und holte eine kräftige Taschenlampe aus seinem Hubschrauber.

»Warten sie bis zum Tagesanbruch, Lieutenant«, hielt Yuen dagegen. »Sagen sie dem Chief, er soll eine Wache aufs Dach der Biosphäre stellen, um die Hubschrauber und den Truck im Auge zu behalten. Der Rest geht schlafen. Die Gefangenen könnten gelogen haben und dieser Hendriksen bereits einen Vergeltungsschlag planen. Ich brauche sie in Hochform.«

»Verstanden«, bestätigte Mitchell. Anschließend lief er zu Danny, um ihm die Befehle zu überbringen.

»Die Männer sind ja wie ausgewechselt«, wunderte sich Howe.

»Sie haben die Realität der Situation erkannt«, erklärte Yuen. »Es gibt kein zurück mehr.«

»Und nach gerade mal zwei Stunden stehen die unter deinem Kommando?«

Yuen musste zugeben, dass ihm die Treueschwüre etwas zu plötzlich vorkamen, aber beschweren wollte er sich auch nicht.

»Wir werden bald sehen, wie ernst sie es meinen«, sagte er. »Sobald wir in der McKnight Air Force Base ankommen.«

»Du willst da wirklich wieder hin?«

»Ich muss. Aus demselben Grund, aus dem ich zwei Gefangene genommen habe. Deine Minimalbesatzung wird uns auf Dauer weder ernähren noch schützen können und da oben gibt es Menschen, auf die ich zählen kann. Außerdem ...« Er machte eine kurze Pause. »... will ich Saki in Würde beerdigen.«

»Verstehe«, murmelte Howe. Er atmete schwer und betrachtete das Militärgerät vor seiner Biosphäre.

»Wäre es dir lieber, wenn wir uns nach einer anderen Zuflucht umsehen?«, versuchte Yuen seine Blicke zu deuten.

»Es gibt keine andere Zuflucht«, erwiderte Howe kopfschüttelnd. »Aber das heißt nicht, dass mir gefällt, was du hier veranstaltest!«

»Die Alphas seid ihr zumindest los.«

»Das glaubst du! Was ist mit Hendriksen? Der wird seine Niederlage nicht einfach akzeptieren. Da draußen gibt es inzwischen viele Gangs, die einem Mann mit seiner Erfahrung den roten Teppich ausrollen werden. Kurz darauf treten sie dann unsere Tür ein.«

»Wie lange hättet ihr denn noch allein durchgehalten?«, entgegnete ihm Yuen. »Wie oft wäre Rachel noch von denen vergewaltigt worden, bis sie euch endgültig erledigt hätten?«

Howe verzog getroffen das Gesicht. »Darüber sprechen wir nicht.«

»Das hab ich gemerkt!«, feuerte Yuen umgehend zurück. »Rachel hätte die Typen am liebsten an Ort und Stelle exekutiert. Ich will gar nicht wissen, was die ihr alles angetan haben.«

»Und du glaubst im Ernst, dass eine Handvoll Soldaten ausreichen, um hier in Frieden leben zu können?«

»Es ist ein Anfang«, nickte Yuen. »Morgen werden wir damit beginnen, uns unsere eigene Welt zu erschaffen.«