3. FEUERPAUSE
First Lieutenant Gordon Mitchell flog nur wenige Meter über dem Steppengras auf das Gebirge zu, um die Radarsilhouette seines Hubschraubers möglichst gering zu halten und etwaigen Bodentruppen nur kurz ein Ziel zu bieten. Auf vier Uhr folgte ihm sein Flügelmann Danny, der seit dem Abschuss ihrer Eskortenpilotin Lloyd kein Wort mehr gesagt hatte.
»Wie sieht‘s mit dem Treibstoff aus, LT?«, rief Fletcher ins Cockpit, um die lauten Rotorengeräusche zu übertönen.
»Zweihundert Klicks«, antwortete Mitchell.
»Vielleicht sollten wir erstmal landen und einen Plan machen?«
Der Pilot nickte ihm zu. »Danny«, sprach er ins Funkgerät. »Lass uns runtergehen und die Lage checken!«
Zwei Minuten später hatte er eine Lichtung inmitten der Berge gefunden, die groß genug war, um beiden Hubschraubern Platz zu bieten. Mitchell setzte Hawk-one als Ersten auf. Er nahm seufzend seinen Fliegerhelm ab und legte ihn auf den leeren Kopilotensitz. Schon seit einigen Jahren flogen Logistikpiloten an der Heimatfront alleine, um Personal für den Kampfeinsatz zu sparen. Obwohl die Maschinen über zwei bewaffnete und funktionsfähige Gatlingguns an den Seiten verfügten, fehlten die nötigen Bordschützen.
Yuen kletterte vorsichtig aus der Heckkabine und hielt sich die Hände gegen den Wind vors Gesicht, als Hawk-two neben ihnen zur Landung ansetzte. Fletcher und seine Männer begannen mit einer Inventur ihres Equipments und der Ausrüstung des Hubschraubers. Besonders fündig wurden sie nicht. Mitchell erklärte, dass seine Einheit erst vor drei Stunden aus dem Taxiservice geholt worden war und zuvor Politiker oder ähnlich unwichtige Würdenträger herumgeflogen hatten.
»Kann mir mal einer sagen, was das für eine Scheiße war?«, fluchte Danny beim Aussteigen und schleuderte dabei seinen Helm ins Cockpit. Darunter kam ein gerademal sechzehnjähriger Teenager mit nackenlangen Haaren zum Vorschein, was die große Klappe erklärte.
»Chief!«, wandte Mitchell sich an Fletcher. »In Ihrem Funkspruch hieß es, sie hätten einen VIP bei sich?«
Fletcher nickte in Yuens Richtung, der sich gerade am Rand der Lichtung übergab. Dr. Webb eilte ihm zu Hilfe, aber er winkte bereits ab. »Das ist Doktor Zhang aus der KI-Forschung. Er hat seinen Computer sogar dabei.«
»Und wo?«, fragte Mitchell bei einem Blick in seinen eigenen Laderaum.
»In seinem Kittel.«
»Das Ding ist nur so groß wie Ihre Hand, Sir«, fügte Corporal Ryan hinzu.
Mitchell rieb sich ungläubig den Nasenrücken. Er hatte wohl eher auf General McQueen oder einen ähnlich ranghohen Offizier gehofft, der ihm Befehle erteilen konnte. »Was machen sie da überhaupt, Chief?«
»Uns aufmunitionieren. Wir nutzen den Rest der Nacht, um zurückzugehen und einen Hinterhalt zu legen.«
»Habt ihr sie noch alle!?«, rief ihm Danny entgegen. »Wieso wollt ihr ...«
»Wer ist der Bengel?«, fragte Fletcher und schnitt dem blutjungen Piloten dabei das Wort ab.
»Second Lieutenant Danny Green«, stellte Mitchell seinen Flügelmann vor. »Vor zwei Jahren freiwillig gemeldet, um den Gangs zu entkommen.«
»Haben sie das verstanden, Chief?«, begann Danny von neuem, so als wäre er es gewohnt, dass die Militärs seinen Dienstgrad nicht ernstnahmen.
»Hör zu, Bürschchen. Meinetwegen können die dir fünf Sterne auf die Schultern tackern. Ich hab schon Männer gekillt, als du noch in die Windeln geschissen hast, also lass dir nicht einfallen, mir deinen Butterbarren unter die Nase zu reiben!«
Alexandros, Gabriel und Ryan stellten sich demonstrativ hinter den Chief Warrant Officer. Mitchell hielt sich aus dem Balztanz heraus. Dadurch stand Danny allein da und kehrte trotzig zu seinem Hubschrauber zurück.
»Verdammte Kinder«, brummte Fletcher, als er außer Hörweite war. »Wie kommt der hinter einen Steuerknüppel?«
»Er kann fliegen«, sagte Mitchell. »Sein Vater und Großvater waren ebenfalls Hubschrauberpiloten. Er hat schon mit zehn seinen Flugschein gemacht.« Anschließend holte er einen Schlüssel aus der Hose und öffnete eine festgeschraubte Stahlkiste, an der sich Fletchers Männer zuvor vergeblich versucht hatten. Darin befanden sich zwei Sturmgewehre mit Munition, zwei Pistolen und einige Handgranaten. Standardausrüstung für die beiden Bordschützen, falls sie am Boden gebraucht wurden. »Also, wie lautet der Plan, Chief?«
»Alles okay, Doc?«, fragte Fletcher, als Yuen mit bleichem Gesicht zurückkehrte.
Er nickte wortlos und starrte auf die geöffnete Kiste. »Sie kehren zurück?«
»Ich will wissen, wer uns da unten verarscht hat.«
Yuen entfernte sich ein paar Schritte vom Helikopter und blickte in den Nachthimmel, als wollte er die Sterne zählen. »Und wie stellen sie sich das vor? Selbst wenn sie eine Antwort finden, können sie die Hubschrauber höchstens hinbringen.«
»Nichts für ungut, Chief, aber wir haben andere Befehle«, ging Mitchell dazwischen. »Ich bin nur auf das Gebirge zugeflogen, um den feindlichen Drohnen zu entkommen. Unser Sammelpunkt liegt in Raytown; hundertfünfzig Klicks Südwest.«
»Glauben sie wirklich, dass da noch jemand am Leben ist?«, wunderte sich Ryan.
»Das spielt keine Rolle, Corporal. Befehl ist Befehl.«
Fletcher hörte den beiden still zu, kam aber nicht umhin zu bemerken, dass Yuen seine Überlegungen noch nicht abgeschlossen hatte. »Kennen sie eine Alternative, Doktor?«, fragte er skeptisch.
»Haben sie eine Karte für mich, Lieutenant?«
Mitchell öffnete das Cockpit, holte ein transparentes Tablet heraus und reichte es Yuen. Nachdem er drei Mal darauf getippt hatte, erschien eine Landkarte der Umgebung, die man nach Belieben zoomen konnte. Per Berührung ließ sich zudem zwischen militärischen und zivilen Markierungen umschalten.
»Ohne die Satelliten sind nur Offlinedaten verfügbar«, warnte Mitchell.
»Das spielt keine Rolle, LT«, beschwichtigte ihn Yuen. »Was wir suchen, ist zwanzig Jahre alt.«
Nun wurden die anderen neugierig und versammelten sich um ihn. Sogar Danny kam herbeigelaufen; angelockt vom Glimmen des Computers wie eine Motte vom Licht.
»Da ist sie«, sprach Yuen und zeigte auf die Luftaufnahme eines monströs wirkenden Geflechts aus Stahlröhren und Streichholzschachteln. »Die Ian-Hawk-Biosphäre.«
»Cool«, sagte Gabriel. »Ich dachte, die hätten die Teile vor Jahren aufgegeben.«
»Das ist richtig«, bestätigte Yuen. »Die Forschung an extraterrestrischen Kolonisierungsmöglichkeiten ist seit langem kein Thema mehr, aber die Biosphäre wird weiterhin von einer Minimalcrew betrieben, damit die gewaltigen Investitionen nicht einfach verrotten.«
»Das Ding läuft noch?«, fasste Alexandros zusammen.
»Woher wissen sie davon, Doc?«, fragte Fletcher.
»Mein ehemaliger Professor hat sich dorthin zurückgezogen, um seinen Ruhestand halbwegs nützlich zu gestalten.« Yuen senkte das Tablet und sah erneut hinauf zu den Sternen. »Dort können wir diesen Wahnsinn aussitzen, bis sich die Militärs entweder selbst vernichtet haben oder zur Besinnung gekommen sind.«
»Das ist Fahnenflucht«, hielt Mitchell dagegen. »Dafür stellen die uns vor ein Erschießungskommando!«
»Na und?«, rief Alexandros. »Nach der Aktion heute sind wir so oder so im Arsch!«
»Und was machen wir da?«, fragte Fletcher. »Einfach nur rumsitzen und abwarten, wer gewinnt?«
»Überleben«, antwortete Yuen. »Sie alle haben die Gerüchte gehört. Aufstände in der ganzen Welt, die riesige Flüchtlingswellen auslösen. Die meisten Läden sind bereits leergekauft und Gangs teilen sich die Kontrolle des Landes mit der korrupten Polizei. Selbst das Militär hat seit Monaten Probleme, die eigenen Soldaten zu versorgen.« Er ging auf Hawk-one zu, in dem Jiao eingewickelt auf Dr. Webbs Schoß lag. Sie konnte sich kaum bewegen, aber ihre braunen Schlitzaugen blickten neugierig zu den Sternen hinauf. Yuen nahm sie auf den Arm und stupste ihr die Nase, woraufhin sie fröhlich quiekte. »Ich will meine Tochter nicht in einer Welt aus Gewalt und Krieg großziehen müssen, nachdem sie bereits ihre Mutter an diesen Wahnsinn verloren hat«, sprach Yuen entschlossen. »Isolation ist der einzige Weg, dem Chaos die Stirn zu bieten.«
Lieutenant Mitchell ließ sich die Karte geben und warf zusammen mit den anderen Soldaten einen genaueren Blick auf die Biosphäre. Dabei machte eine Packung Zigaretten die Runde, bis eine graue Rauchwolke die Debatte einhüllte.
»Du willst bei Glen Howe einziehen?«, fragte Dr. Webb, als sie mit Yuen allein war.
»Da gibt es Nahrung und Wasser.«
»Aber die Anlage ist nur noch Schrott! Selbst das Museum wollte sie schließen lassen.«
»Damit hätten wir wenigstens eine Beschäftigung.«
Dr. Webb seufzte leise und stand von ihrem kleinen Patienten auf, um sich vor dem Hubschrauber die Beine zu vertreten.
»Wer ist der Junge?«, fragte Yuen.
»Leon Wallace. Seine Eltern haben mich in ihrem Auto mitgenommen, bis wir von einer Rakete erwischt worden sind.«
»Leben die noch?«
Die Ärztin schüttelte bedrückt den Kopf. »Ein Teil der Militärbusse hat unsere Frontscheibe zerstört und das Dach eingedrückt. Seine Eltern waren sofort tot.«
»Ein Grund mehr für uns eine sichere Zuflucht zu finden.«
Dr. Webb hatte es bisher vermieden, nach Saki zu fragen, und ließ ihre rechte Hand über Yuens Arm streifen. Ihre fehlende Anwesenheit bedurfte nach dem erlebten Chaos keiner Erklärung und sie wollte ihn nicht unnötig belasten.
»Alles okay mit dir?«, fragte sie vorsichtig.
»Sie ist tot«, antwortete er stoisch. »Daran kann ich nichts mehr ändern.«
»Yuen ...«
»Nein ...!«, widersprach er und zuckte zurück, um sich ihrer Berührung zu entziehen. Er drückte seine Tochter an sich und wandte sich an die Soldaten. »Haben sie eine Entscheidung getroffen?«
»Sie sind sicher, dass wir da unterkommen?«, fragte Fletcher.
»Platz ist definitiv genug«, bestätigte Dr. Webb.
Der Chief drehte sich zu den anderen um und wartete, bis ihm jeder Einzelne zugenickt hatte. »In Ordnung, Doc. Mit dem Tod von General McQueen hängt mein Team sowieso in der Luft. Wir folgen ihnen in die Biosphäre und warten ab, was passiert.«
»Aber wenn wir von irgendwo direkte Befehle empfangen ...«, fügte Mitchell warnend hinzu.
»Verstanden«, sagte Yuen.
Danny und Mitchell ließen ihre Rotoren anlaufen und setzten die Pilotenhelme auf. Diesmal verteilten sich Fletchers Männer auf beide Hubschrauber, um die Geschütze zu bemannen. Yuen und Dr. Webb blieben mit den Kindern zusammen in Hawk-one, bis dieser abhob und Kurs nach Nordost nahm; tiefer in das Gebirge hinein.