1. APOKALYPSE

 

27. August 2046

 

»Doktor Yuen! Doktor Yuen!«, rief ein hektisch gestikulierender Laborarbeiter durch die grauen Tunnel der unterirdischen McKnight Air Force Base.

Zhang Yuen hatte sich daran gewöhnt, dass die meisten Angestellten des militärischen Forschungskomplexes an der korrekten Reihenfolge seines chinesischen Namens scheiterten. Resigniert musste er feststellen, dass sechs Jahre einfach zu wenig Zeit waren, um sich zu merken, dass sein Nachname zuerst genannt wurde und Laborassistent Eli Baker gerade respektlos seinen Vornamen durch die klaustrophobischen Hallen gerufen hatte.

Doch heute war ihm das egal, denn heute war sein großer Tag!

»Doktor Yuen! Es ist so weit!«

»Ist Doktor Webb bei meiner Frau?«, fragte er zurück.

»Ja, Doktor! Sie werden im Kreißsaal erwartet!«

Sofort ließ Yuen seine Arbeit stehen und liegen; Engpässe bei der Basisversorgung hin oder her. Sein Sohn war unterwegs! Oder seine Tochter? Er wusste es nicht. Zusammen mit seiner Frau Zhang Saki hatte er sich überraschen lassen wollen; ganz altmodisch und von den anderen Wissenschaftlern belächelt.

»Wie ist ihr Zustand?«, fragte er wenig später von der Tür des Kreißsaals aus. In Wirklichkeit war es nicht mehr als ein OP-Saal, aber die Bezeichnung Kreißsaal sorgte für ein ermutigendes Gefühl während der Entbindung.

»Den Umständen entsprechend«, beruhigte ihn Dr. Webb mit ihrer kräftigen, tiefen Stimme. »Du kannst ruhig reinkommen, Yuen.«

Doktor Karen Webb war einer der wenigen Lichtblicke des dunklen Verlieses, in das er und seine Frau vom Militär gepfercht worden waren, um an unkonventionellen Waffensystemen zu forschen, wie es die Offiziere gern ausdrückten. Nur die erfahrene Ärztin durfte ihn außer seiner Frau mit dem Vornamen ansprechen, und machte seither regen Gebrauch davon. Dr. Webb ging auf die vierzig zu, aber das sah man ihr kaum an.

»Ich bin hier«, flüsterte er Saki zu.

Sie wand sich mit verschwitzter Stirn auf dem Entbindungsbett.

»Wo zum ... ahh! ... warst du?!«, fauchte sie zurück.

»Nicht aufhören, Saki!«, rief Dr. Webb zwischen ihren geöffneten Oberschenkeln hervor. »Pressen! Pressen!«

»Unser Versorgungsflugzeug ist aufgehalten worden. Wir bekommen keine neuen Bauteile, um die Kühlanlage aufzurüsten«, entschuldigte sich Yuen für sein spätes Erscheinen. »Stattdessen ist irgendein Senator in die Basis geflüchtet und bellt seit dem Anweisungen. Ich weiß wirklich nicht, was die sich dabei ...«

»Yuen!«, mahnte Dr. Webb. »Nicht der richtige Zeitpunkt! Pressen!«

Saki biss die Zähne zusammen und folgte widerwillig dem Befehl. Ihr Mann wechselte sich mit einer Krankenschwester beim Abtupfen ihrer Stirn ab und hechelte mindestens ebenso aufgeregt wie sie.

»Es kommt! Der Kopf ist ... ja, weiter! Pressen!«

Kurz darauf unterbrach sie wohltuendes Babyschreien. Es war vollbracht. Saki fiel zurück in ihr Bett und ließ den Rest wie eine unbeteiligte Zuschauerin über sich ergehen. Dr. Webb griff nach ihrer Schere, durchtrennte die Nabelschnur und wickelte das Neugeborene in schneeweiße Handtücher ein.

»Nun? Was ist es, Karen?«, fragte Yuen neugierig. Er hätte längst aufstehen und nachsehen können, aber er wollte den Moment mit seiner Frau teilen.

»Mister und Misses Zhang«, sprach die hochgewachsene Ärztin feierlich und legte das Baby in die Arme seiner Mutter. »Ihr seid von nun an stolze Eltern einer kleinen Tochter!«

 

***

 

Drei Tage später.

 

»Was in Gottes Namen haben sie sich dabei gedacht, Zhang?«, beschwerte sich Colonel Cord auf dem Flur von Ebene Sechzehn bei dem frischgebackenen Vater. »Ich habe Ihnen nie die Erlaubnis gegeben, den Computer hochzufahren! Weder sind die neuen Sicherungen installiert, noch ist die Defensivsoftware konfiguriert! Das ganze verdammte System ist von jedem Punkt auf der Welt angreifbar!«

Colonel Henry Cord war verantwortlich für die Forschung an künstlichen Intelligenzen in der McKnight Air Force Base und er hatte wie immer große Freude daran, seinen Mitarbeitern diese Tatsache bei jeder sich bietenden Gelegenheit unter die Nase zu reiben.

»Colonel, ohne das Satellitennetzwerk ist es nahezu unmöglich, in den Basiscomputer einzudringen«, hielt Yuen dagegen. »Sie haben die Erdkabelverbindungen doch selbst gekappt.«

»Wir besitzen noch keine bestätigten Informationen darüber, was den Ausfall der Satelliten hervorgerufen hat! Die Berichte über den Terroranschlag könnten genauso gut von unseren Gegnern gestreute Gerüchte sein!«

»Und wer sind diese Gegner, von denen sie und ihre Soldaten laufend reden? Die Chinesen? Die Russen? Die Vereinigten Staaten von Europa? Einer der Megakonzerne? Ich verliere langsam den Überblick. Oder meinen sie vielleicht unser eigenes Volk, das einen Ausnahmezustand nach dem anderen provoziert?«

»Treiben sie es nicht zu weit, Doktor!«, knurrte Cord. »General McQueen hat angeordnet, ihre KI stillzulegen, bis die Sicherheitsvorkehrungen abgeschlossen sind!«

»Ich werde mich darum kümmern«, gab sich Yuen geschlagen. »Nachdem ich mit meiner Frau und meiner Tochter zu Abend gegessen habe!«

Cord brummte eine miesepetrige Antwort, ehe er sich zu einem freundlichen Kommentar durchringen konnte. »Nachträglich meinen herzlichen Glückwunsch, Doktor.« Dazu schüttelte er ihm sogar die Hand. »Wie ist ihr Name?«

»Jiao, Colonel. Zhang Jiao.«

 

***

 

6. September 2046. Sieben Tage später.

 

Yuen tigerte seit Stunden durch sein Haus in der Militärsiedlung am Fuße der Berge. Dr. Webb hatte eine Infektion bei seiner Frau diagnostiziert und sie nicht aus ihrer Krankenstation entlassen. Jiao war sicherheitshalber ebenfalls zur Beobachtung in der Basis verblieben. Yuen hingegen wurde von der Ärztin des Raumes verwiesen, damit Saki etwas Ruhe bekäme.

Nun lebte er seit Tagen allein. Und das, nachdem er gerade erst Vater geworden war! Außerdem fiel ihm mit der abgeschalteten KI die Decke auf den Kopf. Nach sechs Jahren gemeinsamer Forschung mit seiner Frau sah er sich von einem Tag auf den anderen arbeitslos. Das Militär war viel zu beschäftigt, irgendwelchen Politikern das Fell zu retten, die sich vor aufflammenden Volksaufständen in die McKnight Air Force Base geflüchtet hatten. Die ohnehin spärlichen Versorgungsflugzeuge landeten nur noch in Ausnahmefällen und Materialknappheit zog sich durch sämtliche Abteilungen. An eine Weiterführung seiner Arbeit war unter diesen Umständen nicht zu denken.

Die automatischen Vorhänge an den Fenstern öffneten sich pünktlich zum Sonnenuntergang. Yuen hatte den Computer darauf programmiert, denn er liebte den roten Schimmer am Horizont. Diesmal ging er noch einen Schritt weiter und verließ das Haus, um das beruhigende Schauspiel mit geschlossenen Augen unter freiem Himmel genießen zu können. Als er die perfekte Mischung aus wärmenden Sonnenstrahlen und wohltuendem, natürlichen Licht auf seiner Haut spürte, vergaß er für einen Moment die Sorgen der Welt, die kurz vor dem Abgrund stand. Saki machte stundenlang Yoga zur Entspannung, doch für Yuen reichten ein paar Minuten Sonnenbad am Abend im Garten.

»Hey, Yuen!«, rief auf einmal die penetrante Herrenstimme seines Nachbarn.

Die Trance zersprang in tausend Scherben und riss ihn zurück in die kalte Realität.

»Was zum Teufel machst du da«, fuhr Dr. Werner Rega unvermittelt fort.

»Ich genieße den Sonnenuntergang«, antwortete Yuen freundlich. Seine gute Erziehung verbot es ihm, dem Störenfried die Meinung zu sagen.

»Hä?«, grunzte Rega. »Dann weißt du gar nichts von dem Chaos da oben?«

»Welches Chaos? Die Kommunikation ist vor ein paar Stunden zusammengebrochen. Haben sich diese Anzugträger wieder mit ihren Krawatten in den Laborgeräten verfangen?«

Rega lachte affektartig. Einer der Politiker hatte aus Unachtsamkeit tatsächlich seinen Schlips an eine Zentrifuge verloren und dabei eine komplette Testreihe des Biolabors vernichtet.

»Der verdammte Computer spielt seit heute Mittag verrückt«, erklärte er. »Aufzüge bleiben stecken oder halten im falschen Stockwerk, die Beleuchtung reagiert nur noch, wenn sie dazu Lust hat, und Türen öffnen oder schließen sich ohne ersichtlichen Grund. Colonel Cord nennt das Chaos bereits einen Poltergeist.«

»Aber ...« Yuen ignorierte den fehlplatzierten Humor seines Nachbarn, den er ohnehin kein bisschen komisch fand. »Ich habe Amy doch selbst abgeschaltet. Hat Cord die KI ohne mich reaktiviert?«

»Davon weiß ich nichts«, erwiderte Rega. »Ich arbeite ein paar Etagen unter  dir, schon vergessen? Vielleicht siehst du besser mal nach! Ich muss wieder rein, Koffer packen.«

»Koffer packen?«, echote Yuen verdutzt. Erst jetzt bemerkte er das Treiben in seiner Nachbarschaft. Unzählige Autos wurden bis unters Dach vollgestopft, so als stand ein kollektiver Ferienanfang vor der Tür.

»Die haben zur Evakuierung geblasen!«

»Wegen Amy?«

»Quatsch! Angeblich nähern sich ein paar Chaoten der Basis und die Militärs wollen wohl auf Nummer sicher gehen.«

»Warum hat mir das keiner gesagt?«

»Was weiß ich? Vielleicht dachten die, du bist noch bei deiner Frau.«

»Danke Werner!«, rief Yuen und hastete zu seinem Wagen. Es war ein kleines, kugelrund gelutschtes Elektrovehikel auf vier Rädern, das sich nur für den Verkehr zwischen Basis und Wohnsiedlung eignete. Dafür wurden sie aber jedem Bewohner kostenlos vom Militär zur Verfügung gestellt.

Bei seiner Fahrt durch die wie auf dem Reißbrett angelegten Parzellen fiel Yuen die größer werdende Anzahl echter Autos auf, die ihre Besitzer normalerweise nur bei Umzügen oder Urlaubsreisen aus den Garagen holten. Die zentrale Kreuzung wurde von vier Militärbussen und einigen Truppentransportern blockiert, so dass er auf den Fußweg ausweichen musste.

»Was ist hier los?«, rief er der Menschentraube entgegen. Als hochqualifizierter Wissenschaftler war er es gewohnt, umgehend eine Antwort zu erhalten, doch die Menschen schienen viel zu beschäftigt damit, ihr Hab und Gut zu verladen. Es wirkte wie der Beginn eines gemeinsamen Campingausflugs. Große Mengen Alkohol und Proviant stapelten sich über zusammengefaltete Luftmatratzen und Zelte.

»Sir, machen sie die Straße frei!«, befahl ein junger Soldat und zeigte in Richtung Wohnhäuser.

»Was geht hier vor, Private?«, entgegnete Yuen unbeeindruckt. Bereits nach einer Woche in der Gesellschaft der Armee hatte er sich gezwungen, sämtliche Rangabzeichen auswendig zu lernen. Darauf reagierten die Militärs mit Respekt und die niederen Ränge sogar mit einem gewissen Gehorsam.

Entsprechend zackig nahm der blutjunge Soldat Haltung an und erstattete Bericht, so als stünde er vor einem hochrangigen Offizier. »Sir, die Volksunruhen haben die Gebiete südlich des Gebirges erreicht. Der Ausnahmezustand wurde verhängt und es besteht Gefahr, dass die McKnight Air Force Base in Mitleidenschaft gezogen wird. Zur Sicherheit hat General McQueen die Evakuierung der Zivilisten angeordnet.«

Er konnte höchstens sechzehn Jahre alt sein, denn ihm schlotterten die Knie, als sei dies sein erster Tag im Dienst. Das Militär hatte vor einiger Zeit damit begonnen, vierzehnjährige Jungen und Mädchen an der Heimatfront einzuberufen. Zum einen wollten sie den Jugendgangs den Nachwuchs streitig machen, zum anderen litt die Armee unter Personalmangel.

»Wo ist meine Frau? Und meine Tochter?«, fragte Yuen. Der Soldat zuckte unwissend mit den Schultern. »Saki? Saki!«, rief Yuen in die Menge, doch er konnte sie nirgends entdecken.

»Die sind noch in der Basis!«, schallte auf einmal eine Stimme aus der Menschentraube. Der junge Laborassistent Eli Baker bahnte sich mit seinen Ellenbogen einen Weg hindurch. »Doktor Webb ist bei ihr.«

»Hast du sie gesehen, Eli?«

»Vor etwa ‘ner Stunde, ja.«

»Warum werden sie nicht mit den anderen evakuiert?«

»Keine Ahnung. Doktor Webb hat vermutlich was dagegen, sie dem Stress hier unten auszusetzen.«

»Hat sich Sakis Zustand verschlechtert?«, fragte Yuen erschrocken.

»Das weiß ich nicht. Ich hab sie nur im Vorbeigehen auf der Krankenstation gesehen«, versuchte Eli ihn zu beruhigen.

»Ich muss da hoch!«, raunte Yuen den Private an und zeigte die Straße hinauf.

»In Ordnung, Sir. Aber lassen sie sich nicht zu viel Zeit«, mahnte der Soldat. »Der Konvoi wird in neunzig Minuten aufbrechen und das Krisengebiet im Schutz der Nacht verlassen.«

»Wohin geht die Fahrt überhaupt?«, wollte Yuen beim Einsteigen in sein Elektrovehikel wissen.

»Das weiß nur der Generalstab, Sir.«

Yuen gefiel die plötzliche Geheimniskrämerei der Armee ganz und gar nicht. Die Volksaufstände im Süden waren nicht erst gestern ausgebrochen. Jugendgangs und Banden der organisierten Kriminalität lieferten sich bereits seit Jahren blutige Straßenkriege mit der größtenteils korrupt gewordenen Polizei. Im Schutze hochrangiger Militärs hatten Yuen und seine Frau ein vergleichsweise idyllisches Leben führen können, aber irgendwann musste die Welle der Gewalt auch in die entlegenen Gebiete überschwappen. Die sensationssüchtige Presse verkündete seit langem das nahende Ende der Welt, doch die meisten Menschen gingen ihrem täglichen Trott nach, bis sie von der Realität eingeholt wurden.

Mit der Besatzung der McKnight Air Force Base war es nicht anders, so dass die Evakuierung zum Schutz der Zivilbevölkerung durchaus plausibel erschien.  Die Zivilisten fortzuschaffen konnte aber genauso gut bedeuten, dass der General ein ungestörtes Schussfeld auf die Aufrührer haben wollten.

Yuens vorrangiges Ziel bestand darin, seine Frau und Tochter in Sicherheit zu bringen. Zum Teufel mit den Militärs, die seine Arbeit ohnehin immer nur behindert und ihre Nasen in jede Datei gesteckt hatten!

Während er mit quälend langsamer Golfkartgeschwindigkeit den Berg hinaufzuckelte, wurde er von Truppentransportern voller schwerbewaffneter Soldaten überholt. Auch der Flugbetrieb hatte zugenommen. Fast im Minutentakt rauschten Kampfhubschrauber über seinen Kopf hinweg. Das konnte keine Evakuierung aufgrund nahender Unruhen sein. Dazu würde General McQueen die Armee vor der Siedlung postieren und nicht auf dem Stützpunkt zusammenziehen.

Als Yuen endlich oben ankam, hätte ihn das Ausmaß der Operation beinahe umgehauen. Zwanzig Transporthubschrauber waren neben dem Flugfeld gelandet. Zwei schwere Frachtflugzeuge warteten mit drehenden Rotoren darauf, dass das Bodenpersonal die Beladung von Datenspeichern und Militärgerät abschloss. Gut zweihundert Soldaten hatten im Umkreis von Bunker Fünf Stellung bezogen.

Unter dem gehärteten Betonhangar, der aussah wie ein langgezogener Iglu, befand sich der Eingang zur eigentlichen McKnight Air Force Base, die sich achtundzwanzig Stockwerke in die Tiefe erstreckte. Der Luftwaffenstützpunkt diente nur der Tarnung und Versorgung. Genau wie die anderen vier baugleichen Bunker, mit denen der normale Flugbetrieb aufrecht erhalten wurde.

Yuen zwängte sich durch die Menge an Soldaten und zivilen Angestellten, die aus der Kaserne der Basis ein und ausströmten. Der Fahrstuhl funktionierte nicht, also kämpfte er sich zu Fuß die fünf Etagen hoch, bis er endlich in General McQueens Büro eintraf.

»Sir!«, rief er und hielt sich damit an seinen einstudierten Umgang mit der Armee. »Was ist hier los?«

»Zhang!«, schnauzte Colonel Cord ihm erzürnt entgegen. »Ihr Computer hat die verfluchte Basis lahmgelegt!«

»Aber ... das ist unmöglich! Ich hab Amy persönlich deaktiviert, wie sie mir ...«

»Und wie erklären sie sich dann dieses Chaos!? Wir haben Strahlenalarm im gesamten Komplex! Die Kühlwasseranlage hat sich abgeschaltet und es sind bereits erste Mikrorisse im Schutzmantel entstanden. Wenn wir das nicht wieder zum Laufen bekommen, droht uns eine Kernschmelze im Reaktor!«

»Genug!«, unterbrach ihn General McQueen ernst; ein grauhaariger Mann im hohen Alter, dessen Stationierung als Oberkommandeur der McKnight Air Force Base seine letzte Position vor dem wohlverdienten Ruhestand sein sollte. »Doktor, gibt es eine Möglichkeit, dass ihr Computer von außen angegriffen wurde?«

»Das ist ... ohne zu ... nein also ...«, stammelte Yuen, als sich seine Gedanken förmlich überschlugen und sein Mund nicht in der Lage war, bei dem Tempo Schritt zu halten. »Nein, Sir. Völlig ausgeschlossen. Solange Amy nicht manuell reaktiviert wird, ist kein Zugang möglich.«

»Wie viele von Ihren Leuten wären dazu fähig?«

Yuen stellte bereits eine Liste in seinem Kopf zusammen, als ihn plötzlich der Schlag traf. »Sir, sie glauben, einer meiner Mitarbeiter ...?«

»Wie viele, Doktor!«

»Alle. Vierzig Programmierer und Techniker. Inklusive meiner Frau und mir«, gab er zu. »Es ist keine Wissenschaft, den Schalter umzulegen. Amy ist eine echte Intelligenz. Sobald sie hochgefahren ist, kann sie sich selbst alle notwendigen Ressourcen im Mainframe der Basis organisieren.«

»Jede verdammte Putze könnte dafür verantwortlich sein!«, grollte Cord. »Warum haben sie den Computerkern nicht gesichert?«

»Bei allem nötigen Respekt, Colonel«, entgegnete ihm Yuen. »Das ist ihr Job.«

»Ist es möglich, den Computer von hier oben lahmzulegen?«, fragte McQueen, bevor Cord die Chance zum Protest bekam. »Irgendjemandem ist es schließlich schon gelungen.«

»Völlig ausgeschlossen. Dafür ist die Infrastruktur des Luftwaffenstützpunkts nicht ausgelegt. Jemand muss an die Steuerkonsole des KI-Labors herankommen.«

»Wenn wir da runter gehen, können wir das verfluchte Ding auch gleich sprengen und den Spuk beenden!«, sagte Cord.

»General! Das dürfen sie nicht zulassen!«, widersprach Yuen. »Amy ist die erste von Menschen erschaffene künstliche Intelligenz! Ein Jahrhundert der Forschung ...!«

»Haben sie auf dem Weg hierher vielleicht geschlafen?«, raunte Cord zurück. »Die Menschheit bricht auseinander und ihr Computer hilft kräftig mit!« Er wandte sich an McQueen und nahm Haltung an. »Sir, ich melde mich freiwillig, dieses verfluchte Ding zur Hölle zu jagen!«

Der General hielt einen Moment inne und drehte sich zum Panoramafenster hinter ihm um. Seine Truppen hatten inzwischen sogar zwei Kampfpanzer in Stellung gebracht. Ferngesteuerte Flugdrohnen schwirrten an ihren winzigen Propellern in der Luft. Auf dem Boden trabten vierbeinige Kampfroboter durch die Reihen der Soldaten. Es war ein kontrolliertes Chaos, aber trotzdem ein Chaos, das er beenden musste.

»Es tut mir leid, Doktor«, sagte General McQueen aufrichtig und wandte sich wieder an seinen Stab. »Uns bleibt keine Wahl. Colonel, sie haben grünes Licht, aber machen sie‘s kurz!«

»Verstanden, Sir!«

»Warten sie«, hielt Yuen die beiden zurück. »Meine Frau ist noch mit unserer Tochter da unten.«

»Ich halte ein Auge nach Saki auf«, versicherte Cord mürrisch. »Wenn ich sie finde.«

»Nein, ich komme mit ihnen!«, sagte Yuen entschlossen, als gehörte er zu den Offizieren. »Ich kann ihnen auf dem Weg helfen und vielleicht ein paar Systeme wieder in Gang bringen.«

»General?«, brummte Cord. »Ich ziehe es vor, meine Aufträge ohne die Einmischung von Zivilisten durchzuführen.«

»Und wenn es sich um ihre Tochter handeln würde, Colonel?«, antwortete McQueen. »Nehmen sie den Mann mit. Das ist schließlich kein Krieg da unten und er kennt sich bestens aus.«

 

***

 

»Wissen sie eigentlich, wie viele Stufen das bis zu Ihrem Labor sind?«, beschwerte sich Cord im Treppenhaus. Ohne die Fahrstühle mussten sie fünfzehn Etagen nach unten laufen; die meisten davon so hoch wie ein Einfamilienhaus.

»Ich war anderweitig beschäftigt, als sie zu zählen, Colonel«, antwortete Yuen gedankenverloren.

Auf den oberen Ebenen der Basis herrschte ein heilloses Durcheinander. Eilig wurden Forschungsunterlagen zusammengesucht, Experimente abgeschaltet und persönliche Dinge in Sicherheit gebracht. Dazwischen dröhnte das Getrampel von Militärstiefeln auf den Treppen, nur unterbrochen vom gelegentlichen Stöhnen und Zetern der Zivilisten, die ohne funktionierende Aufzüge völlig überfordert waren.

Yuen besaß keinen blassen Schimmer, an was seine Kollegen in den oberen Etagen gearbeitet hatten. Die meisten davon kannte er nicht mal. Aufgrund der hohen Geheimhaltungsstufe wusste in der McKnight Air Force Base die linke Hand nicht, was die rechte tat. Ihm war von Anfang an verboten worden, mit Personal außerhalb von Ebene Sechzehn über seine Arbeit zu sprechen, was die Liste der Verdächtigen stark eingrenzte.

»Wie sind die Strahlenwerte?«, fragte Cord einen seiner Soldaten.

»Steigen konstant an, je tiefer wir kommen. Momentan bleiben uns zwölf Stunden, bis Gesundheitsschäden zu erwarten sind.«

»Behalten sie ein Auge darauf, Private! Ich hab nicht vor, dank unserem Doktor hier nur noch mit Platzpatronen zu schießen!«

»Jawohl, Sir!«

Die allesamt männlichen Soldaten lachten hinter Yuens Rücken, aber das war ihm völlig egal. Sie hatten Ebene Zehn erreicht, auf der sich Dr. Webbs Krankenstation befand.

»Moment mal, Zhang!«, rief ihm Cord zu, als er die massive Stahltür aufzog. »Wo wollen sie hin?«

»Meine Familie holen«, erwiderte er und zeigte in den flackernden Korridor.

»Sie sollen uns zum Computerkern begleiten!«

»Colonel, sie sind mich doch genauso gern los, wie ich sie.«

»Hrrm ... zur Hölle mit euch Eierköpfen!«, fluchte Cord. »Bewegung Männer!«

Yuen blickte den zackig nach unten stampfenden Soldaten mit zusammengekniffenen Augen nach. Alles, was das Militär im Jahr 2046 noch zu kennen schien, war blinder Gehorsam um den Weltuntergang möglichst lange ignorieren zu können.

»Karen! Saki!«, rief er durch die überfüllten Korridore. »Wo steckt ihr?«

Er bekam keine Antwort, was ihn bei dem Lärm aber auch nicht verwunderte. Als Computertechniker hatte er selten dienstlich mit dem medizinischen Personal zu tun gehabt, doch als frischgebackener Vater kannte er den Weg zum Zimmer seiner Frau auswendig. Immerhin hatte er drei Nächte darin verbracht.

»Saki?«, keuchte er nach dem kurzen Sprint in den Türrahmen.

»Da bist du ja endlich!«, fauchte seine Frau zurück. »Wo hast du nur gesteckt?«

Jiao lag wohlbehalten und warm eingewickelt auf dem Krankenbett, während Saki hektisch ihre Sachen packte.

»Karen hat mich ... und ... Kommunikationslinien unterbrochen«, versuchte Yuen sich zu verteidigen. »Mich hat niemand über dieses Chaos informiert!«

»Was ist hier überhaupt los?«

»Irgendwer hat Amy sabotiert.«

»Was!? Aber wer ...?«

»Ich weiß es nicht«, schnitt Yuen ihr das Wort ab. »Colonel Cord ist auf dem Weg nach unten, um den Computerkern zu sprengen.«

»Aber ... unsere ganze Arbeit? Unsere Amy!«

»Da bist du ja endlich«, hallte Dr. Webbs tiefe Stimme in den Raum hinein. Es war nicht das erste Mal, dass ihre Ansichten perfekt mit denen von Saki übereinstimmten. Die beiden waren bekannt dafür, gegenseitig ihre Sätze zu beenden. »Die anderen Patienten sind auf dem Weg nach oben. Ihr seid die letzten. Beeilung!«

Eilig rafften sie Sakis Sachen zusammen, während sich der Lärm auf den Korridoren allmählich legte. Als sie der Ärztin nach ein paar Minuten aus dem Krankenzimmer hinaus folgten, wirkten die Gänge bereits wie ausgestorben. Das gesamte Basispersonal hatte halbjährlich eine Evakuierungsübung zu absolvieren, dessen einstudierte Choreografie sich nun auszahlte.

»Bringt das überhaupt was, den Kern zu sprengen?«, fragte Dr. Webb besorgt, nachdem Yuen ihr vom Plan des Militärs erzählt hatte. »Wenn sie doch schon überall im Computer steckt?«

»Ohne Zugang zum Quantenkern ist sie nur ein scriptbasiertes Programm unter vielen und kann keine Intelligenz mehr bilden«, antwortete Yuen. »Anschließend müssen wir nur noch den konventionellen Cluster herunterfahren und ein sauberes Backup aufspielen, um den Stützpunkt wieder unter Kontrolle zu bringen.«

»Und was wird dann aus Amy?«, wiederholte Saki ihre Befürchtung. »Wir können sie nicht einfach ... umbringen lassen!«

»Glaubst du nicht, dass ich bereits versucht hätte, General McQueen seinen Plan auszureden? Du hast das Chaos an der Oberfläche nicht gesehen.«

»Trotzdem. Es ist ... falsch!«

Yuen stoppte seinen Laufschritt abrupt.

»Ich weiß!«, rief er und hielt Saki an den Schultern. »Aber was soll ich denn machen? Wir wussten doch von Anfang an, dass wir dem Militär ausgeliefert sein würden!«

»Euch beiden ist schon klar, dass ihr euch um eine Maschine sorgt?«, warf Dr. Webb vorsichtig ein, als hätte sie Angst, zwischen eine Mutter und ihr Junges zu geraten. Zahlreiche Wissenschaftler des Stützpunktes waren sehr empfindlich, was ihre Arbeit anging.

»Sie ist nicht einfach nur eine Maschine, Karen. Sie ist viel ... viel ...!«, erwiderte Saki und rang nach Luft. Auch die anderen beiden verspürten ein plötzliches Brennen im Hals mit beginnender Luftnot. »Was ... was ist das!?«

»Irgendein Gas?«, keuchte Dr. Webb. »Vermutlich spinnt die Feuerlöschanlage.« Sie warf einen Kontrollblick über die Schulter. »Lasst uns hier lieber verschwinden.«

Auf einmal schalteten sich sämtliche Lichtquellen der gesamten Etage ab. Arzneikühlschränke und Laborgeräte stellten ebenso abrupt ihren Dienst ein.

»Jetzt auch noch ... Stromausfall?«, hustete die Ärztin und stolperte dabei über einen umgefallenen Bürostuhl.

»Vielleicht haben sie ... Kern gesprengt und ... Cluster heruntergefahren?«, hörte sie Yuens Stimme hinter sich.

»Verdammter Mist.«

»Jiao!«, keuchte Saki zwischen ihnen. »Wir müssen Jiao hier raus ...!«

»Nein, warte!«, rief Yuen dazwischen und holte vorsichtig tief Luft. »Die Feuerlöschanlage hat sich mit abgeschaltet! Ich kann wieder besser atmen.«

»Hat uns dieser elende Colonel gerade wirklich das Leben gerettet?«

»Nehmt euch an die Hände und folgt mir«, sagte Dr. Webb und griff nach Yuens Hand. »Irgendwo müssen hier ein paar Taschenlampen sein.«

Sie führte die beiden in ein angrenzendes Zimmer und suchte nach dem Notfallkasten an der Wand.

»Wie lange dauert der Neustart?«, fragte Saki.

»Ein zwei Stunden«, antwortete Yuen zuversichtlich. »Laut den Soldaten haben wir noch gute neun, bis die Strahlung schädlich wird.«

»Strahlung?«, vernahm er Dr. Webbs etwas entfernt klingende Stimme. »Was für Strahlung?«

»Amy hat offenbar den Kühlwasserkreislauf des Reaktors unterbrochen. Es haben sich bereits Risse im Mantel gebildet.«

»Und das sagst du uns erst jetzt!?«

»Ich wollte euch nicht beunruhigen.«

»Was ist mit Jiao?«, fragte Saki erschüttert und klammerte sich an ihre Tochter, als wolle sie das Baby mit ihrem Körper vor der unsichtbaren Gefahr schützen.

»Sie hält das keine neun Stunden durch. Aber ich hab ohnehin nicht vor, solange zu bleiben!«, erwiderte Dr. Webb. Mit diesen Worten riss sie den gesuchten Kasten auf und suchte in der Dunkelheit nach den Taschenlampen.

Plötzlich schalteten sich die Monitore wieder ein und auf allen umliegenden Bildschirmen erschien in grellweißen Lettern auf schwarzem Untergrund:

 

HELFT MIR

 

Saki und Yuen blickten einander mit offenstehenden Mündern an.

»Jetzt erzählt mir nicht, dass eure Amy um Hilfe ruft«, sagte Dr. Webb. Sie steckte die Taschenlampen zur Sicherheit ein und schnappte sich noch ein Erste-Hilfe-Päckchen.

»Glaubst du ...?«, hauchte Saki.

»Wer sollte das sonst sein?«, nickte Yuen. »Amy muss den Strom abgestellt haben, um uns vor der Feuerlöschanlage zu schützen. Vielleicht ist sie gar nicht infiziert, sondern nur nicht mehr allein im System?«

»Du meinst, ein Virus oder sowas verursacht die Fehlfunktionen?«

»Gut möglich. In einer Sache hatte Colonel Cord Recht. Die Schutzsoftware war noch nicht vollständig installiert, aber Amy verfügt über eigene Defensivprotokolle.«

»Warum fegt sie den Virus dann nicht einfach aus dem System?«, fragte Dr. Webb.

»Weil wir mit Absicht eine Reihe von Beschränkungen eingebaut haben«, erklärte Yuen. »Niemand weiß, wie eine KI reagiert, wenn sie zum ersten Mal das Licht der Welt erblickt – sozusagen. Sie kann die Datenspeicher des Mainframes nur lesen, aber nicht darauf schreiben. Amy ist nur dazu befugt, ihren eigenen Computerkern in unserem Labor zu bearbeiten. Wie ein Kind im Laufgitter.«

»Den Kern, den Cord gerade in die Luft sprengen will!«, erinnerte Saki.

»Wir müssen ihn aufhalten.«

»Seid ihr noch zu retten?«, rief Dr. Webb. »Ihr habt ein Baby im Arm, die ganze Basis ist verstrahlt und trotzdem wollt ihr einen Zug schwerbewaffneter Soldaten aufhalten?«

»Wenn wir Amys Beschränkungen aufheben und ihr Schreibzugriff auf den Mainframe gewähren, ist sie wohlmöglich in der Lage, sämtliche Systeme des Stützpunkts wiederherzustellen«, hielt Yuen dagegen.

»Warum sprechen wir nicht mit General McQueen?«, schlug Saki vor. »Wir wären in Sicherheit und er hört bestimmt eher auf uns als Cord.«

»Das würde uns nichts nützen. Alle Kommunikationsleitungen sind abgerissen. Er kann die Befehle des Colonels nicht mehr ändern.« Yuen blickte seine Frau mit einem angestrengten Lächeln an und gab ihr einen Kuss. »Geh du mit Karen nach oben. Erstattet McQueen Bericht und sagt ihm, er soll mir ein paar Männer schicken. Vielleicht vermag ich Cord so lange aufzuhalten.«

»Kommt nicht in Frage!«, hielt Saki dagegen. »Ich lass dich nicht allein da runtergehen! Niemand kennt sich besser mit Amys Ketten aus als ich.«

»Ihr seid doch vollkommen übergeschnappt!«, rief Dr. Webb erbost. »Da draußen ist es stockdunkel!

»Bring unsere Tochter an die Oberfläche«, bat Saki und tauschte ihr Bündel gegen zwei der Taschenlampen. »Wir tun das auch für ihre Zukunft«, fügte sie nach einem Kuss auf die Stirn von Jiao hinzu.

»Sie schreit nicht«, sagte Yuen. »Ist euch das aufgefallen? Trotz des Chaos ist sie völlig stumm. Aber ihre Augen und Ohren bekommen alles mit.«

»Sie ist eben deine Tochter. Immer ernst und ganz bei der Sache«, scherzte Saki. »Lass uns gehen, bevor wir zu spät kommen. Vielen Dank, Karen!«

 

***

 

»Wie fühlst du dich?«, erkundigte sich Yuen, als er allein mit seiner Frau die Stufen hinabstieg. Die Beleuchtung war nach wie vor abgeschaltet, so dass ihnen nur ein paar rote Notleuchten an den Wänden und die Taschenlampen zur Orientierung blieben.

Saki stoppte auf der Stelle, drehte sich um und riss ihm seinen Notizblock aus der Brusttasche. Den trug er ständig bei sich, falls ihn irgendwelche Geistesblitze trafen. Sie kritzelte kurz darauf herum und drückte ihm anschließend einen Zettel in die Hand.

»Memo für Doktor Zhang!«

Er faltete ihn auf und las laut vor: »Ich bin okay.«

»Wenn du mich noch mal fragst, laser ich‘s dir auf die Netzhaut!«, schwor sie ruppig und setzte den Abstieg fort.

Yuen zog ein mürrisches Gesicht und wollte den zerknüllten Zettel zunächst wegwerfen, steckte ihn am Ende aber ein. »Karen meinte, deine Infektion hätte sich verschlechtert!«, rief er seiner Frau hinterher. »Dazu die Fehlfunktion der Feuerlöschanlage. Ich will nur sichergehen ...«

Saki knurrte zur Warnung wie eine Löwin. »Ich schwimme in Antibiotika und wir haben momentan wirklich andere Sorgen!«

Yuen wusste, wann er den Rückzug antreten sollte. Mit seiner eigenen Frau im Angesicht der sich anbahnenden Katastrophe zu streiten, widersprach zudem jeglichem Verhaltenskodex, den ihn sein Vater als Kind mit der Rute eingebläut hatte.

»Halt!«, rief er auf einmal, doch Saki ignorierte ihn trotzig. »Bleib stehen!«

»Was ist denn jetzt schon wieder?«, giftete sie über die Schulter, so als litt sie nach wie vor unter den Stimmungsschwankungen ihrer Schwangerschaft.

Yuen hatte seine übertriebene Fürsorglichkeit vergessen und leuchtete stattdessen die Treppe hinab. »Was ist das da vorn?«

Saki folgte seinen Blicken und vergaß ihre zornige Anspannung. »Sieht aus wie ein Hund. Wie kommt der hier her?«

»Vielleicht ein Versuchstier aus dem Biowaffenlabor.«

Saki kniete sich zu dem Kadaver auf den Boden und untersuchte das Fell genauer. »Deutscher Schäferhund würde ich sagen.«

»Todesursache: Colonel Cord«, diagnostizierte Yuen die blutigen Einschusslöcher in seinem Pelz.

»Das arme Tier«, bedauerte Saki.

»Der ist tot besser dran, als lebendig in seiner Zelle«, sagte Yuen und zog seine Frau an der Hand hoch. »Komm jetzt. Wir müssen weiter.«

»Warte mal«, hielt Saki ihn mit professioneller Neugier zurück. »Er hat irgendwas zwischen den Kiefern.«

»Wahrscheinlich seine Henkersmahlzeit ... bah!«, würgte Yuen hervor. »Musst du wirklich ...«

Da stockte ihm auf einmal der Atem. Saki ließ sofort alles fallen. Mit gespreizten Fingern und einem angewiderten »Ihhh!« sprang sie vom Boden auf. »Das ist ‘ne Hand!«

»Wir sollten zusehen, dass wir Cord erreichen«, sprach Yuen so ruhig, wie es das grausige Bild zuließ. Gleichzeitig leuchtete er die Wände des Treppenhauses ab und entdeckte fünf menschliche Leichen. Alle waren furchtbar entstellt, manchen fehlten gar Gliedmaßen oder das Gesicht.

»Oh Gott!«, japste Saki und klammerte sich an das Geländer. »War das der Hund?«

»Kein Hund bringt allein fünf bewaffnete Männer um«, sagte Yuen. Schützend legte er den Arm um seine zitternde Frau.

»Dann gibt es noch mehr von denen?«, hauchte sie erschüttert.

»Bleib in meiner Nähe«, flüsterte Yuen und näherte sich den Überresten eines Soldaten. Er griff nach dem am wenigsten mit Blut bespritzten Gewehr und reichte Saki die Pistole vom Gürtel. »Erinnerst du dich an unser Schießtraining?«

»Das ist sechs Jahre her!«

»Es sind nur Hunde, Saki«, versuchte er sie zu beruhigen. »Nur Hunde.«

Dabei glaubte er selbst nicht daran. Zwei Etagen lagen noch vor ihnen und jede einzelne Stufe kostete unheimliche Überwindung.

»Vielleicht sollten wir doch lieber McQueen rufen?«, flüsterte Saki.

»Und was sollen wir ihm sagen? Dass ein Experiment entkommen ist und wir keine Anstalten gemacht haben, seine Männer zu warnen?«

»Aber das sind Soldaten! Wir ...«

»Das da oben waren auch Soldaten«, erwiderte Yuen und hielt zur Demonstration sein modernes Sturmgewehr hoch. »Hat ihnen nicht viel genützt. Mit Amys Hilfe können wir die Hunde eventuell orten und einsperren, bevor sie noch mehr Opfer finden.«

Ein paar Minuten später erreichten sie endlich den Ausgang zu Ebene Sechzehn. Sie zogen die Tür auf und lauschten hinein.

»Hörst du was?«

Yuen schüttelte den Kopf. »Da vorn brennt Licht. Komm!«

Im Gänsemarsch schlichen sie durch die menschenverlassenen Korridore ihres alten Arbeitsplatzes. Saki klammerte sich an den Gürtel ihres Mannes, um ihn in der Dunkelheit nicht zu verlieren. Die andere Hand verkrampfte sich um die Pistole, während sie ihre Augen nach hinten gerichtet hielt.

»Wir sind da«, hörte sie Yuen flüstern, als der Lichtschein ihres Labors erste Schatten warf.

Saki drehte sich um und wäre am liebsten davongerannt. Cords Einsatzteam lag angenagt im Raum verteilt. Zwischen den Soldaten bluteten drei weitere Schäferhunde aus, von denen sich einer noch im Todeskampf in den Oberschenkel des Colonels verbissen hatte.

»Oh Gott!«, begann Saki schockiert zu hyperventilieren. Sie tippelte mit ihren Turnschuhen auf dem Boden herum, als sie das Blut unter den Sohlen bemerkte. »Oh Gott, oh Gott, oh Gott!«

Yuen nahm sie in die Arme und drückte ihren Kopf an seine Brust, so dass Saki das grausame Bild nicht mehr ertragen musste. »Shhh«, zischte er beruhigend. »Die sind längst über alle Berge.«

»Aber wie sollen wir zurückkommen?«, schniefte sie erschüttert. »Diese Bestien sind doch bestimmt schon auf dem Weg nach oben!«

»Wir finden einen anderen Weg«, versprach Yuen.

Er blickte sich in seiner alten Wirkungsstätte um, in der sie beide mehr Zeit verbracht hatten, als in ihrem gemütlichen Haus am Fuße der Berge. Nun wünschte er sich, anstelle der KI-Forschung in die Abteilung für Kampfroboter gewechselt zu sein. Eine autonome Drohne auf Stelzen, ausgerüstet mit Maschinengewehren und Laserzielortung würde ihm nun sehr gelegen kommen. Aber Yuen hatte an etwas Größerem arbeiten wollen. Einem Projekt, das der gesamten Menschheit nützen und vor Augen führen sollte, wie sinnlos ihre Kriege um Systeme und Überzeugungen im Angesicht des Universums seien. Als Kind träumte er oft davon, dass Außerirdische die Erde auf die rechte Bahn lenken würden. Die Gewissheit, nicht allein zu sein, könnte die Menschen an ihre Gemeinsamkeiten erinnern, anstatt sich aufgrund marginaler Unterschiede gegenseitig abzuschlachten. Als das nicht geschah, sah er in den Fortschritten der künstlichen Intelligenzen eine Alternative. Amy sollte nichts Geringeres tun, als die Welt zu retten.

»Hilf mir, Amy«, flüsterte er zu sich selbst.

»Was sagst du?«, wunderte sich Saki.

»Nur ein Gedanke. Ich seh mich etwas um. Behalt du die Tür im Auge!«

Yuen besann sich auf seine alten Tugenden. Wenn er ein Problem nicht binnen kurzer Zeit lösen konnte, widmete er sich einem anderen und versuchte so, die harte Nuss zu umgehen. Er wusste noch nicht, wie er seine Frau zurück ans Tageslicht bringen sollte, aber er war in der Lage, zumindest die Früchte ihres grausigen Trips zu ernten. So als wäre es nur ein ganz normaler Tag auf der Arbeit, setzte er sich in seinen Bürosessel und tippte auf dem Keyboard herum.

»Was tust du da?«, fragte Saki.

»Amys Quellcode sichern und den Quantenkern zum Transport vorbereiten.«

»Du willst sie mitnehmen?«

»Mir fehlt die Zeit, sie hier unten auf den Virus loszulassen. Vielleicht kann uns McQueen zu einem anderen Rechenzentrum bringen«, sagte Yuen. »Schlaf gut, Amy.«

Er gab den letzten Befehl zum Öffnen des Gehäuses. Im selben Moment erschien wieder die weiße Schrift auf schwarzem Grund.

 

FAHRSTUHL

 

»Aber ... die Fahrstühle sind alle tot?«

Das Bild flackerte auf und zeigte eine Reihe von Bauplänen und Schaltkreisen.

»Saki«, rief Yuen zurückhaltend. »Weißt du, was das ist?«

»Sieht aus wie unser Stützpunkt. Amy scheint da was markiert zu haben«, sagte sie und trat näher, um auf einen erhellten Bereich zu zeigen. »Das ist der Lastenaufzug. Aber hängt der nicht am selben Netz?«

»Jetzt versteh ich«, unterbrach Yuen und wischte ein paar Mal über den Bildschirm, um einen Sektor zu vergrößern. »Da drüben, die Schaltpläne der Elektroanlage. Siehst du diese Linie? Die führt direkt zu einem der Notstromaggregate. Diese Dinger lassen sich auch manuell bedienen. Wenn wir da hinkommen ...«

»AIEH!«, kreischte Saki auf einmal. Bevor ihr Mann aus seinem Stuhl springen konnte, feuerte sie bereits vier Mal mit der Pistole auf einen toten Hund zu ihren Füßen. »Der hat noch gelebt!«

Yuen wollte ihren Reflex nicht in Frage stellen, aber eine Bestätigung hätte sie nur noch schreckhafter gemacht, darum sagte er stattdessen: »Das war nur ein Restfunke im Gehirn oder eine Gasentwicklung. Mach dir keine Sorgen.«

Saki stand wieder kurz vorm Hyperventilieren und rief sich ein paar ihrer Yogaübungen ins Gedächtnis. »Okay ... okay ...« Sie atmete tief durch die Nase ein und den Mund aus, bis sich ihr Blutdruck halbwegs normalisiert hatte.

Ein metallisches Krachen aus dem Nebenraum durchbrach ihren meditativen Zustand, als Yuen die Abdeckung des Computergehäuses aufbrach. Der Quantenkern war nur handtellergroß und fand bequem in den Taschen seines Laborkittels platz. Der riesige Kasten drum herum diente fast ausschließlich der Kühlung, da Quantencomputer nur nahe dem absoluten Nullpunkt arbeiten konnten. Amys eigentliches Bewusstsein umfasste nur wenige Gigabyte. Der weitaus größere Rest bestand aus Erinnerungen, Protokollen und Scripten, die ihre Entscheidungen lenken und ihre Handlungsfähigkeit einschränken sollten. Das alles passte auf ein paar fingernagelgroße Speicherchips,

»Sind wir so weit?«, fragte er beim Verlassen des Kernraums.

»Nichts wie raus hier«, keuchte seine Frau mit einem kräftigen Nicken.

Yuen ging mit angelegtem Gewehr voraus. Vor seiner Einstellung im zivilen Militärdienst hatte er angesichts der gefährlich gewordenen Welt einen Grundkurs im Schusswaffentraining absolvieren müssen; so wie jeder Angestellte. Nun wünschte er sich, die freiwilligen Auffrischungskurse ebenfalls wahrgenommen zu haben.

Saki folgte ihm wie zuvor rückwärts mit einer Hand an seinem Gürtel. Wenigstens ein paar Grundlagen waren bei den Wissenschaftlern hängengeblieben. Diesmal hatte sie den Vorteil, dass der Korridor von der brennenden Beleuchtung im Computerkern halbwegs erleuchtet wurde, während Yuen sich auf seine Taschenlampe verlassen musste.

»Beeil dich!«, bat sie im Flüsterton.

»Ich geh ja schon so schnell ich ...«

»Ich meins ernst!«, flehte Saki. »Die sind in unserem Labor!«

»Was?«, erwiderte Yuen und fuhr mit seinem Gewehr herum.

»Fünf oder sechs von den Hunden«, zischte sie zurück und deutete ihm energisch, leise zu sein. »Die müssen mich gehört haben.«

»Übernimm du«, sagte er und drückte ihr die Taschenlampe in die Hand. Mit dem Gewehr könnte er die Hunde in dem langen und geradlinigen Tunnel vielleicht aufhalten.

Jetzt mussten sie vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzen, ohne dabei auf zerbrochene Glasscheiben zu treten oder in der Dunkelheit irgendetwas von den Tischen zu reißen. Zum Glück war die rettende Tür nur noch wenige Meter entfernt. Solange sie das Schott nicht lautstark ins Schloss fallen lassen würden ...

»Nichts wie rein da!«, hörten sie auf einmal eine Männerstimme von draußen brüllen, gefolgt von Gewehrschüssen, die jeden im Umkreis von zehn Etagen anlocken mussten.

»Oh verdammt«, fluchte Yuen und kniete sich hinter einen Beistelltisch. »Sie kommen, sie kommen!«

Kaum sah er die Schatten aus dem Labor laufen, eröffnete er das Feuer. Dabei sorgte der ungewohnte Rückstoß dafür, dass er im Automatikmodus nur einen geraden Schuss abgab und der Rest in der Decke landete.

In dem Moment flog die Tür auf und eine Gruppe von Soldaten stürmte rückwärts feuernd hinein.

»Tür schließen!«, befahl der Anführer. »Stellt was davor!«

»Kontakt hinten!«, rief ein anderer. »Chief! Die sind hier drin!«

»So ein Dreck! Macht sie kalt!«

Saki und Yuen versuchten zu helfen, aber ihre Unterstützung bestand hauptsächlich in der blitzenden Aufhellung des Flurs. Trotzdem dauerte das Gefecht nur ein paar Sekunden.

»Verdammte Sch...wei-nerei!«, begann einer der Soldaten zu fluchen, bis er die zusammengekauerte Frau am Boden bemerkte. »Doktor Zhang und Zhang, nehme ich an?«, fragte er und half Saki wie ein Gentleman auf die Beine. »Ich bin Chief Warrant Officer Aaron Fletcher.«

Er war ebenfalls asiatischer Abstammung und etwas kleiner als seine Männer, legte aber die Haltung eines professionellen Soldaten an den Tag. Außerdem ignorierte er das Gepolter in seinem Rücken, wo die Hunde im Treppenhaus jaulend an der Tür kratzten und dagegensprangen.

»Danke«, keuchte Yuen. »Wo kommen sie und ihre Männer auf einmal her?«

»General McQueen war in Sorge um sie und ihre Frau. Als die Ärztin von ihrem Plan erzählt hat, wurden wir von ihm zu ihrer Unterstützung geschickt«, erklärte der Offizier.

»Karen ist sicher angekommen?«, fragte Saki erleichtert. »Und meiner kleinen Jiao geht es gut?«

»Das kann ich bestätigen. Ich soll sie und Colonel Cord hier rausholen, bevor wir die Basis aufgeben.«

»Die Basis aufgeben?«, echote Saki.

»Wir haben vielleicht eine Möglichkeit gefunden, den Virus aus dem System zu entfernen«, unterstützte Yuen sie.

»Bei allem nötigen Respekt, Doktor, aber ihr Computervirus ist nur noch eine Randerscheinung.« Der Chief ging auf einen der toten Hunde zu und drehte ihn mit seinem Militärstiefel auf den Rücken. »Was sie hier sehen, ist das Ergebnis von Projekt Neozoon. Eine Biowaffe zur gefahrlosen Errichtung von Brückenköpfen hinter den feindlichen Linien. Ein Rudel dieser Mistviecher in eine Kleinstadt abgeworfen und nach ein paar Tagen wäre jeder versteckte Heckenschütze zu Hundefutter verarbeitet worden.« Er wendete sich wieder an die beiden Wissenschaftler und kreuzte die Arme vor der Brust. »Der Virus oder was auch immer den Computer verrücktspielen lässt, hat die Käfige geöffnet und diese Biester freigelassen.«

»Aber warum gibt es so viele davon?«, hielt Yuen dagegen. »Für normale Forschungsreihen benötigt man nicht mehr als ...«

»Sie verstehen nicht, Doktor«, schnitt Fletcher ihm das Wort ab. »Es handelt sich dabei nicht um ein Forschungsprojekt. Die Entwicklung von Projekt Neozoon ist abgeschlossen. Ihre Kollegen haben zweihundert einsatzbereite Exemplare gezüchtet, die bereits für den Kriegseinsatz vorbereitet wurden.«

»Zweihundert!«, japste Saki. Im letzten Moment fing sie ein Soldat auf, als sie an der Wand zusammenzurutschen drohte.

»Eigentlich sollen diese Pheromone sie von uns fernhalten«, erklärte Fletcher weiter und zeigte dabei auf eine Art Duftspender, den jeder seiner Männer an der Uniform trug. »Scheinen aber nicht zu funktionieren.« Dann drehte er sich zu seinen Leuten um. »Alexandros, wie sieht‘s mit unserer Munition aus?«

»Wir hätten Gewehre mit Bajonetten mitnehmen sollen, Chief«, antwortete der Grieche mit einem roten Stirnband um den Kopf.

»Selbst wenn wir die vor der Tür killen, schaffen wir es nie bis nach oben«, stimmte einer seiner Kameraden zu.

»Verdammt«, brummte Fletcher. »Was ist überhaupt mit Cord? Warum ist der Colonel nicht bei Ihnen?«

»Der liegt da hinten«, berichtete Yuen und zeigte auf sein altes Labor. »Zusammen mit seinen Männern.«

»Ich verstehe. Irgendwelche Vorschläge, wie wir hier rauskommen, Doktor?«

»Allerdings, Chief«, antwortete Yuen mit seinem typisch vorgespielten Respekt für militärische Ränge. »Wir müssen nur eine Ebene hoch. Da gibt es ein Versorgungsdepot, bei dem der Lastenaufzug hält.«

»Aber alle Aufzüge sind ausgefallen ...?«

»Etwa vierzig Meter davon entfernt existiert ein Notstromgenerator mit direkter Verbindung zum Aufzugsmotor. Wenn wir den erreichen, fahren wir einfach nach oben.«

»Eine Ebene«, wiederholte Fletcher. »Woher stammt die Information?«

»Von unserer künst...«

»Von einem Kollegen, der in der Abteilung über uns arbeitet«, schnitt Yuen seiner Frau das Wort ab. »Mein Nachbar, Dr. Rega, hat mir vor einiger Zeit eine Tour organisiert.«

Fletcher zog misstrauisch die Augenbrauen hoch. Er war offenbar im Bilde darüber, dass sich das Personal untereinander nicht über die Arbeit unterhalten durfte. Führungen standen demnach völlig außer Frage.

»Chief!«, rief Alexandros dazwischen. »Kontakt hinter uns!«

»So ein verdammter Dreck«, knurrte Fletcher und legte den Hund mit einem gezielten Schuss um, aber nach der Geräuschkulisse zu urteilen, waren noch mehr im Anmarsch. »Ryan! Granate!«, befahl er und öffnete die Stahltür einen Spalt breit.

Der angesprochene Soldat vom Rang eines Corporals riss den Sicherungsstift heraus und schleuderte die Granate vor die Tür. Sofort versuchten ein paar Hunde einzudringen und steckten ihre Schnauzen hindurch.

»Alle Mann, DRÜCKEN!«

Gemeinsam stemmten sie sich gegen das Schott, um sich vor der bevorstehenden Explosion zu schützen. Dabei zerbrachen die Hundekiefer krachend wie Streichhölzer. Von draußen war lautes Jaulen zu hören. Kurz darauf erschütterte die Detonation das Treppenhaus.

»Alles klar!«, meldete Ryan nach einem Kontrollblick.

»Okay. Raus hier! Raus hier!«, befahl Fletcher. Ehe er als Letzter flüchtete, warf er noch eine eigene Handgranate in den Korridor. »Bewegt euch! Die Tür fliegt gleich aus den Angeln!«

Zwei Sekunden später blitzte die Umgebung auf und die Stahltür wurde in hohem Bogen an die gegenüberliegende Wand geschmettert. Möbelstücke und Papierblöcke aus den umliegenden Büros fingen sofort Feuer und entwickelten sich rasch zu einem mittleren Flächenbrand. Das sollte die tierischen Verfolger eine Weile aufhalten.

 

***

 

»Ich hoffe, sie wissen, was sie tun, Doc«, murrte Alexandros. »Wenn das hier schiefgeht, sind wir im Arsch.«

»Reiß dich zusammen, Private!«, tadelte Fletcher ihn barsch. »Wir haben Damenbegleitung!«

Normalerweise wäre Saki dazu eine spitze Bemerkung eingefallen. Sie nahm es nicht so ernst mit der Etikette, aber momentan konzentrierte sie sich ausschließlich darauf, einen Fuß vor den anderen zu setzen, ohne sich übergeben zu müssen oder ohnmächtig zu werden.

Yuen hatte eine Weile mit sich gehadert und an den Zettel in seiner Hosentasche gedacht, doch schließlich musste er sie einfach fragen. »Alles in Ordnung?«

»Mir ist schwindlig und ich glaub, ich hab Fieber«, antwortete sie aufrichtig. Kam es hart auf hart, führten die Zhangs eine absolut ehrliche Ehe.

»Du verbrennst ja förmlich«, stellte Yuen erschrocken mit seiner Handfläche auf ihrer Stirn fest. »Chief! Haben sie irgendwas ...«

»Versuchen sie‘s damit, Doc«, kam ihm der vierte Soldat zuvor und reichte Yuen ein kleines Päckchen gefüllt mit blauem Gel. Auf seinem Namensschild stand Gabriel und er bekleidete den Rang eines Specialist. »Hilft gegen alles von Kopfschmerzen bis Cholera.«

»Was diese armen Schweine da oben wohl gesucht haben?«, fragte sich Alexandros unruhig.

Inzwischen waren sie auf Ebene Fünfzehn und durchkämmten die leeren Korridore auf dem Weg zum Generator. Im Treppenhaus hatten sie Gefechtslärm über sich hören können; laute Schreie von Männern, die bei lebendigem Leibe gefressen wurden.

»Was weiß ich«, brummte Fletcher. »Die wollten sicher auch was ganz Wichtiges retten, wie unser Pärchen hier.« Dabei wendete er sich direkt an Yuen. »Haben sie eigentlich gefunden, wonach sie gesucht haben?«

Nach einem zögernden Blick zu seiner Frau holte Yuen den silbernen Quantenkern aus seinem Laborkittel.

»Das ist alles!?«, wunderte sich Alexandros.

»Was hast du denn erwartet, Private?«, fuhr Fletcher dazwischen. »Dass die ein Stück des Mainframes aus dem Boden reißen und nach oben buckeln?«

»Nein, Chief! Verzeihung, Chief!«

Plötzlich stoppten sie den Vormarsch an einer T-förmigen Weggabelung. Ryan hatte sich mit erhobener Faust hingekniet.

»Was ist?«, fragte Fletcher.

»Licht. Rechts um die Ecke brennt Licht.«

»Na das ist doch toll!«, sagte Alexandros. »Worauf warten wir noch?«

»Der Generator«, sagte Yuen. »Er läuft bereits.«

»Ist uns ihr Nachbar vielleicht zuvorgekommen?«

»Nein. Der ist zu Hause und packt seine Koffer.«

Außerdem arbeitete Dr. Rega überhaupt nicht in dieser Abteilung, aber das war für den Moment unwichtig.

»Warum sehen wir nicht einfach nach, Chief?«, wollte Alexandros ungeduldig wissen.

»Weil Licht diese Biester schon einmal angelockt hat«, hielt Ryan ihn zurück. »Ich seh mir das mal an. Gebt mir Deckung.«

Er schraubte einen Schalldämpfer auf sein Gewehr und pirschte sich in der Hocke voran. Fletcher befahl Alexandros und Gabriel per Handzeichen, ihren Rücken zu sichern, während er die Augen auf Ryan behielt.

»Nichts zu sehen«, meldete dieser kurz darauf über Funk. »Weder Menschen noch Hunde. Auch keine Kadaver.«

»Okay, komm zurück«, antwortete der Chief und wendete sich anschließend an Yuen. »Wo geht‘s lang, Doktor?«

Yuen deutete in die andere Richtung der Kreuzung. »Zweiunddreißig Meter«, sagte er, woraufhin Fletcher seine Formation neu ordnete und dorthin aufbrach.

»Das wissen sie ganz genau?«, erwiderte Alexandros schnippisch. »Seid ihr hier unten nicht ausgelastet, dass ihr eure Schritte zählt?«

»Private!«, verwarnte Fletcher ihn erneut und verpasste ihm mit erhobenem Zeigefinger einen Maulkorb.

Der Weg vom Generator bis zum Aufzug wurde von roten Notleuchten erhellt. Die verbesserten zwar die Sicht, sorgten mit der neuerlichen Erkenntnis, dass es in dieser Basis wirklich Monster gäbe, aber auch für eine beklemmende Atmosphäre. Je näher sie dabei dem Ziel kamen, desto deutlicher unterschieden sich die vorausliegenden Töne von den dumpfen Kampfgeräuschen, die überall durch die Wände zu hören waren. Als sie erleichtert um die letzte Ecke bogen, trafen sie auf sechs Männer in Uniform, die zwei Meter lange Stahlkisten mit handbetriebenen Hebebühnen in den Lastenaufzug luden.

»Was zum Henker ist hier los, Sergeant?«, rief Fletcher dem am nächsten stehenden zu. Damit schreckte er auch die anderen auf, die instinktiv nach ihren umgehängten Gewehren griffen.

»Sir!«, salutierte der Anführer. »Bei allem Respekt, was machen sie hier?«

»Einen Weg aus dieser verdammten Todesfalle suchen!« Dann wendete sich Fletcher an seine Männer. »Na los, nichts wie rein da!«

Im selben Moment entsicherten die Unbekannten ihre Gewehre und richteten sie auf sein Team.

»Habt ihr den Verstand verloren?«, brüllte Alexandros ihnen entgegen.

»Nehmen sie die Waffen runter, Sergeant!«, befahl Fletcher ernst. Noch war er bereit, das abnormale Verhalten auf die außergewöhnlichen Umstände zu schieben, doch sein Geduldsfaden wurde langsam dünner.

»Sorry, Colonel«, erwiderte der Anführer. »Wir handeln auf Befehl vom General. Sie müssen einen anderen Weg finden.«

»Es gibt aber keinen anderen Weg!«, fluchte Gabriel.

»Haben sie was an den Augen, Soldat?«, raunte der Chief und zeigte auf sein Rangabzeichen. »Sieht mein Streifen vielleicht wie ein Vogel für sie aus?«

»Bitte!«, flehte Saki von hinten. »Wir haben nichts mit dem hier zu tun!«

»Treten sie zurück, Ma‘am!«, befahl der Sergeant und richtete seinen Lauf auf sie.

Fletcher reichte es. Per Handzeichen ließ er seine Männer ausschwärmen und auf eine Gefangennahme vorbereiten.

»Ich will doch nur zu meinem Baby!«

»Zum letzten Mal, treten sie ...!«

Da löste sich plötzlich ein Schuss von einem der anderen Soldaten und traf Saki mitten in die Brust. Mit aufgerissenen Augen brach sie spastisch zuckend zusammen, als hätte jemand einer Marionette die Fäden durchtrennt.

»NEIN!«, brüllte Yuen und eröffnete das Feuer. Inzwischen kannte er den Rückstoß der Waffe und vermochte seine Kugeln zumindest auf gleicher Höhe zu halten. Dabei erwischte er sogar einen Gegner, ehe der Rest zur Seite sprang.

»Feuer frei!«, befahl Fletcher.

Sein Team hatte die Zeit sinnvoll genutzt und hockte sich in gut geschützte Stellungen, so dass der Chief nur den Doktor mit einem gewagten Hechtsprung aus der Schusslinie holen musste.

»Rückzug!«, hörten sie die anderen.

»Saki? Saki!«, rief Yuen und fiel neben seiner Frau auf die Knie. In ihren großen Augen spiegelten sich Angst und Verwunderung. Sie verstand nicht, was gerade geschehen war, aber sie klammerte sich ans Leben.

Sofort kam Specialist Gabriel herbeigelaufen und drückte Kompressen auf die beiden Löcher an Brust und Rücken.

»Status!«, erkundigte sich Fletcher.

»Durchschuss, sie blutet aus«, berichtete der Sanitäter und merkte zu spät, wie verzweifelt ihn Yuen anblickte. »Ich kann nichts für sie tun. Sie braucht einen Arzt!«

In dem Moment kreischte Alexandros am Kopf getroffen auf und rollte sich hinter einer der großen Metallkisten zusammen.

»Karen«, schluckte Yuen. »Wir müssen sie zu Karen an die Oberfläche bringen!«

»Ihr habt den Mann gehört!«, rief Fletcher. »Rein in den Fahrstuhl!«

Während Gabriel und Ryan die Umgebung sicherten und den Motor anwarfen, zerrte er den unbekannten Soldaten mit in den Aufzug, der von Yuen erschossen worden war. Kurz darauf setzte sich der rettende Förderkorb mit einem Rumpeln in Bewegung.

»Wer zum Teufel waren die, Chief?«, fluchte Ryan.

»Was ist mit mir? Was ist ...«, rief Alexandros.

»Dein Dickschädel hat ‘ne Kugel abbekommen!«, raunte Gabriel und riss ihm sein blutiges Stirnband herunter, damit er an die Wunde kam. »Jetzt halt still verdammt!«

»Saki! Gib nicht auf!« Yuen konnte spüren, wie seine Frau davondriftete. Ihre Augen rollten planlos in den Höhlen und ihr Atem wurde unregelmäßig. »Specialist!«

»Reiß dich zusammen, Mann!«, fuhr Gabriel seinen Kameraden an, ehe er zu Saki zurückkehrte.

»Tun sie was!«, flehte Yuen.

»Ich will wissen, was in diesen verdammten Kisten ist!«, grollte Ryan und trat mit voller Wucht gegen einen der Stahlsärge, doch das Material zeigte sich völlig unbeeindruckt.

»Irgendwie muss man die Dinger doch aufkriegen«, überlegte Fletcher und suchte nach einem Öffnungsmechanismus.

»Vielleicht haben die Typen eine Fernbedienung oder sowas.«

Der Chief drehte sich zu dem toten Soldaten um und untersuchte ihn genauer. Eine Fernbedienung fand er nicht, dafür eine Art Duftspender, wie ihn sein Team ebenfalls an der Uniform trug.

»Seht euch das an, Jungs«, sagte er und zeigte ihn herum.

»Na und?«, meinte Ryan schulterzuckend. »Uns hat man dieselben nutzlosen Teile gegeben.«

»Ja, aber deren Pheromone scheinen zu funktionieren«, kombinierte Fletcher. »Oder wie erklärt ihr euch, dass da oben nicht eins von diesen verfluchten Biestern aufgetaucht ist? Und wieso hat der mich als Colonel bezeichnet?«

»Den Namen von McQueen schien er auch nicht zu kennen«, brummte Ryan zustimmend. »Wer sind die?«

Plötzlich wurde der schwere Lastenaufzug von außen erschüttert und wie im Kugelhagel durchsiebt mit dem Unterschied, dass die Löcher die Größe von Kanonenkugeln aufwiesen. Fauchende Flammen zischten einen Moment lang durch sie hindurch.

»Sind die völlig durchgedreht?«, rief Alexandros, der mit verbundener Stirn in eine Ecke zum Ausgang robbte. »Das war ‘ne Rakete!«

»Doktor, kommen sie her!«, befahl Fletcher und zitierte ihn zur Steuerkonsole. »Halten sie das verfluchte Ding an, bevor wir abstürzen!«

Eine weitere Explosion detonierte nur ein paar Meter unter ihnen und warf Yuen zu Boden.

»Wir sind erst auf Ebene drei!«

»Das muss reichen! Öffnen sie das Schott!«

Die massiven Stahltore öffneten sich, wodurch der Aufzug automatisch zum Stehen kam. Allerdings hatten sie das gewünschte Level noch nicht ganz erreicht. Ein hüfthoher Betonsockel musste hinaufgeklettert werden.

»Gabriel, schaff Alexandros hier raus!«, brüllte Fletcher. »Ryan, Umgebung sichern!« Als letztes wollte er Yuens Frau holen, die auf der gegenüberliegenden Seite des Fahrstuhls lag. Sie hatte aufgehört zu zittern und ihren Kopf in Richtung ihres Mannes gedreht.

Yuen und Fletcher stolperten aufgrund der andauernden Erschütterungen auf sie zu, als sie einen Volltreffer einsteckten und ein Teil der Bodenplatte zerrissen wurde, so dass ein vier Meter breites Loch entstand. Auch die Decke war durchschlagen worden und gab den Blick auf die Stahlseile frei. Nur noch drei von ehemals sechs hielten den Förderkorb. Da riss ein weiteres und ließ ihn gefährlich schwanken.

»Wir müssen hier raus, Doc!«, rief Fletcher.

»Saki!« Yuen suchte sich bereits einen Weg über die abgestellten Stahlkisten um das Loch herum.

»Das Ding stürzt ab! Uns bleibt keine Zeit mehr! Kommen sie!«

Yuen schlug dem Chief auf die Brust, als der ihn von den Kisten zerrte, aber aufgrund der Flakweste spürte er davon nichts.

»Hören sie auf!«, brüllte Fletcher und drückte ihn mit dem Ellenbogen am Hals an die Stahlwand. »Ihre Frau ist tot! Und wenn wir nicht sofort verschwinden, verliert ihre Tochter auch noch den Vater!«

Yuen wollte sein Schicksal nicht wahrhaben und versuchte weiter, sich aus der Umklammerung zu lösen.

»Ryan!« Der Chief schleppte Yuen zum Ausgang und hob ihn hoch. »Zieh ihn raus!« Anschließend kletterte er selbst aus der Todesfalle und rollte sich vom Schacht weg.

»Nein! Wir können sie nicht einfach zurücklassen!«, flehte Yuen die Soldaten an.

Ein Teil der Ladung hatte Feuer gefangen und hüllte den Förderkorb in ein flammendes Inferno. Saki bewegte sich nicht mehr. Ihr linker Arm zeigte ausgestreckt in Richtung Freiheit.

»Es tut mir leid, Doktor«, sagte Fletcher und legte ihm einen Moment die Hand auf die Schulter.

Dann rissen wie befürchtet die letzten beiden Stahlseile und der Aufzug stürzte krachend in die Tiefe. Dabei entstand ein heulender Sog, der Yuen beinahe mitgerissen hätte. Fast schien es, als wolle er sich gar nicht festhalten. Ryan und der Chief retteten ihn vor dem tödlichen Fall. Er war davon überzeugt, Saki vor Entsetzen kreischen hören zu können.