7. RAZOR‘S EDGE
Ein Doppelklopfen am Stahlschott seines Quartiers weckte Yuen aus dem erholsamsten Schlaf, an den er sich in den letzten Wochen erinnern konnte. Die harte Tischplatte hatte bei seinem kaputten Rücken wahre Wunder bewirkt.
»Ja?«, rief er benommen in Richtung Tür.
Das Schott glitt zur Seite und Chief Fletcher trat in voller Kampfmontur ein. Da kehrten die Ereignisse der vergangenen Tage in Yuens Gedächtnis zurück und trafen ihn wie eine kalte Morgendusche.
»Sir, die Mission startet in fünfzehn Minuten«, informierte Fletcher ihn respektvoll. »Sollen wir den Aufbruch verschieben?«
»Was? Nein!«, erwiderte Yuen und fegte seine Decke beiseite. »Warum haben sie mich nicht früher geweckt?«
»Dr. Webb hat vor zwei Stunden nach ihnen gesehen und mich gebeten, sie schlafen zu lassen. Ich hielt es für angebracht, ihrem Rat zu folgen.«
»Karen war hier?«
»Sie hat Jiao schreien gehört und ...«
Yuen sprang von seiner Tischplatte hoch und starrte in die leere Plastikkiste, die zurzeit als Babybett dienen musste.
»Wo ...!?«, rief er entsetzt.
»Bei der Ärztin«, beruhigte ihn Fletcher. »Sie hat ihre Tochter frisch gewickelt und zu Leon ins Bett gelegt.«
Yuen atmete erleichtert aus und schämte sich für seine Vernachlässigung. Jiao war ein Wunschkind von Saki und ihm gewesen, auch weil sie sich der Hilfe ihrer gesamten Abteilung sicher sein konnten. Fast alle ihre Angestellten wollten Patenonkel oder -tante werden, doch nun war er allein und fühlte sich vollkommen überfordert. Vor einer Woche bestand das größte Problem darin, seinen vollen Terminplan mit den Bedürfnissen eines Babys zu koordinieren. Nun musste er ums Überleben kämpfen, die Biosphäre wiederaufbauen und ganz nebenbei noch neues Personal rekrutieren, wodurch der Zusammenhalt der Gruppe zu einer unüberschaubaren Herausforderung werden würde. In einem Gedanken zusammengefasst: Yuen brauchte Hilfe.
»Dr. Webb wird sich um Jiao kümmern, bis wir zurück sind«, sagte Fletcher.
Yuen nickte ihm zu. Das löste nur sein augenblickliches Problem, war aber für den Moment ausreichend. »Danke, Chief«, sagte er beim Ankleiden. »Ich geh mir noch schnell einen Kaffee holen, dann können wir los.«
***
Fünfzehn Minuten später startete Lt. Mitchell seinen Hubschrauber. Mit Fletchers Team im Transportabteil konnte man meinen, sie brachen zu einem ganz normalen Einsatz auf. Nur Yuen wirkte mit seinem Kaffeebecher in der Hand etwas deplatziert. Der Chief hatte ihm eine Flakweste übergezogen und einen Utensiliengürtel samt halbautomatischer Pistole und Kampfdolch vorbereitet.
»Jemand was dagegen, wenn ich Musik anmache, solange wir über die Berge fliegen?«, fragte Danny.
»Musik?«, echote Fletcher skeptisch.
»Er hört gern Musik beim Fliegen«, antwortete Mitchell. »Und nein, das wirst du schön seinlassen. Hawk-one ist mein Hubschrauber. Pass demnächst eben besser auf deinen auf!«
Danny zog ein enttäuschtes Gesicht und nahm seinen Vorschlag zurück. Nachdem das geklärt war, hob Mitchell vom Boden ab und ging auf Kurs zur McKnight Air Force Base.
Die ereignislose Reise im Schutze der Nacht dauerte zwei Stunden und wurde von den Soldaten zum Rasten vor ihrem Einsatz genutzt. Wirklich schlafen konnte man bei den lauten Rotorengeräuschen nicht. Dennoch blieb nur Yuen hellwach, mit Ausnahme des Piloten Mitchell.
Yuen grübelte über die bevorstehenden Wochen und die vor ihm liegenden Herausforderungen. Die sogenannten People Skills, die er für die erfolgreiche Rekrutierung von neuem Personal für die Biosphäre brauchen würde, gehörten nicht zu seinem Repertoire. Saki hatte von Anfang an die Verantwortung für ihre gemeinsamen Mitarbeiter übernommen und war bei allen beliebt gewesen, während Yuen den professionellen Abstand zu seinen Untergebenen vorzog.
Ein Lächeln erschien auf seinen Lippen. Saki hatte die Bezeichnung Untergebene gehasst und Yuen dafür jedes Mal einen Notizblock in den Nacken gehauen. Wie Phantomschmerzen konnte er den Windhauch auf seinem Hals förmlich spüren. Er kramte in seiner Hosentasche und fand den Zettel, den ihm Saki beinahe auf die Netzhaut gelasert hätte.
Ich bin okay!
Yuens Lächeln verwandelte sich in ein zerfurchtes Gesicht, gezeichnet von Bitterkeit und Trauer. Er hatte seine Zeit nie mit dem Aberglauben anderer Menschen verschwendet, mit Dingen wie göttlicher Fügung, Schicksal und Leben nach dem Tod. Doch jetzt, in diesem einsamen Moment, wünschte er sich nichts mehr, als dass es alles der Wahrheit entsprach und Saki tatsächlich okay war, an einem besseren Ort.
***
Wie ein Geist aus der Vergangenheit schwebte der einsame Black Hawk drei Kilometer vom Rollfeld entfernt. Ohne die lauten Rotoren hätte man ihn für einen teilnahmslosen Zuschauer halten können. Bevor sie selbst über die Basis fliegen wollten, hatte Danny eine kleine Überwachungsdrohne gestartet, um ungefährdet die Lage zu prüfen.
»Es ist nichts mehr übrig«, hauchte Yuen. »Alles ... zerstört.«
Das schwere Transportflugzeug lag noch immer ausgebrannt auf der Startbahn. Auch die getroffenen Fahrzeugwracks hatten ihre Position nicht verändert, aber ...
»Wo sind die Leichen?«, fragte Fletcher verwundert. »Wir haben doch mit eigenen Augen gesehen, wie die halbe Besatzung abgeschlachtet worden ist.«
»Wurden vielleicht gefressen?«, mutmaßte Alexandros.
»Ein paar hundert Menschen innerhalb von zwei Tagen?
»Zweihundert von den Mistviechern sind eben hungrig.«
»Ich hab hier Bewegung«, raunte Corporal Ryan auf einmal. Er saß im vorderen Teil des Hubschraubers an einem Monitor, der mit den Kameras unterhalb des Black Hawks verbunden war und gleichzeitig die Drohne steuerte. »Eins-drei-null Grad. Zwei Personen, weiblich. Schleichen sich durch das Wrack der Transportmaschine.«
»Bewaffnet?«, fragte Fletcher und kämpfte sich an seinem Team vorbei zum Bildschirm. »Zoom mal rein.«
»Nichts zu erkennen. Definitiv keine Gewehre.«
»Überlebende?«, rief Yuen hoffnungsvoll und gesellte sich dazu. »Scheint, als würden sie sich vor irgendwem verstecken.«
»Vor den Drohnen?«, fragte Gabriel.
»Die können genauso viel wie wir sehen«, knisterte Mitchells Stimme aus den Ohrstöpseln. Über Funk hörte er die ganze Unterhaltung im Cockpit mit.
»Geh auf Thermalsicht«, befahl Fletcher.
Ryan legte den entsprechenden Schalter um und zuckte überrascht zurück. »Whoa!«
»Scheiße«, brummte der Chief.
»Was ist?«, fragte Mitchell.
»Die werden gerade von den Hunden eingekreist«, sagte Ryan und zoomte dabei wieder heraus. »Ein Dutzend oder mehr.«
»Wir müssen ihnen helfen!«, drängte Yuen.
»Und was ist, wenn das keine von Ihren Leuten sind, Doc?«, hielt Alexandros dagegen.
»Vollkommen egal«, schnitt Fletcher ihm das Wort ab. »LT! Kurs eins-drei-null! Zwei Klicks!« Dann wandte er sich an seine Männer. »Ryan, du kommst mit mir. Alexandros, ans Geschütz. Gabriel, behalt den verdammten Monitor im Auge! Und Doc, wir könnten sie an der zweiten Minigun gebrauchen.«
»Verstanden, Chief«, antwortete Yuen und ging zusammen mit Alexandros auf seinen Posten.
»In Position!«, meldete Lt. Mitchell kurz darauf und schaltete auf Schwebemodus.
Als der Hubschrauber den beinahe völligen Stillstand erreicht hatte, ließen Alexandros und Yuen ihren Feuerregen auf die jaulend reißausnehmenden Hunde niederprasseln.
Fletcher zog die Backbordtür auf.
»Bereit?«
Ryan entsicherte sein Sturmgewehr und klinkte sich in die selbstgebaute Abseilanlage ein.
»Bereit!«
Mit einem Ruck spannte sich das Seil und die Männer sausten zehn Meter hinab in die dunkle Nacht. Mit den lauten Rotoren über ihren Köpfen mussten sie ihre Kommunikation untereinander auf Zeichensprache reduzieren.
»Gabriel!«, brüllte Fletcher, als sie die letzte bekannte Position der vermeintlichen Überlebenden leer vorfanden. »Wo sind die!?«
»Nach neun Uhr raus aus dem Wrack«, antwortete der Sanitäter. »Rennen vor uns weg in Richtung Kaserne.«
Der Chief winkte Ryan zu und kämpfte sich aus der zerstörten Transportmaschine ins Freie. »Stehenbleiben!«, rief er den weglaufenden Silhouetten hinterher. Seine Worte verhallten natürlich ungehört. Stattdessen mussten Ryan und er drei Hunde ausschalten, die den Flüchtenden bereits wieder nachstellten.
Anschließend hetzten sie selbst zur Kaserne, die den vorangegangenen Angriff relativ gut überstanden hatte; vom abgestürzten Rettungshubschrauber auf dem Dach einmal abgesehen. Kaum hatten Fletcher und Ryan das Gebäude betreten, zischten ihnen plötzlich Kugeln um die Ohren.
»Von wegen unbewaffnet, Corporal«, knurrte der Chief.
»Ich hab gesagt keine Gewehre!«, verteidigte sich Ryan. »Das war was Kleinkalibriges.«
»Feuer einstellen!«, brüllte Fletcher durch die Flure. Anstelle einer Antwort hörten sie Autotüren zuschlagen. Kurz darauf heulte ein Motor auf und entfernte sich rasch. »Mitchell! Die haben ein Fahrzeug! Und die sind bewaffnet!«
»Verstanden, Chief.«
Die beiden Soldaten rückten mit angelegten Gewehren vor. Diesmal sicherten sie jeden Winkel der Kaserne, um nicht doch noch von einem verirrten Geschoss getroffen zu werden. Als sie auf der anderen Seite ins Freie traten, erwies sich ihre Sorge jedoch als unbegründet.
Lt. Mitchells Black Hawk schwebte auf Bodennähe über der Straße. Sein greller Suchscheinwerfer strahlte dabei dem Fahrzeug direkt auf die Frontscheibe. Es war der schwarze, gepanzerte Geländewagen, mit dem Fletchers Team die Flucht aus dem unterirdischen Labor angetreten hatte.
Sofort gingen sie hinter dem Wagen in Position. Ryan sicherte den Chief, der die Fahrertür aufzog und sein Gewehr hineinhielt.
»Die Hände aufs Lenkrad!«, befahl er schroff.
Die Fahrerin folgte seiner Anweisung und krallte sich mit ihren zarten, zerbrechlichen Fingern am Steuer fest. Sie zitterte am ganzen Leib. Die Pistole lag eingeklemmt zwischen ihren Beinen. Fletcher zögerte einen Moment, ehe er die Waffe aus ihrer Intimzone herauszog.
Gleichzeitig riss Ryan die Beifahrertür auf und machte dieselbe Entdeckung. Eine junge Frau in Zivilkleidung, die kurz vorm Hyperventilieren stand und sich kaum zu bewegen wagte.
»Chief!«, knarzte Yuens Stimme aus den Ohrstöpseln. »Status!«
»Sekunde, Doc«, antwortete Fletcher unschlüssig. Dann wandte er sich an die Frauen. »Wo zum Teufel kommt ihr her?«
Die beiden blickten einander völlig außer Atem an, ehe die etwas ältere Fahrerin zu einer Antwort ansetzte.
»Wir ... arbeiten hier ... haben hier gearbeitet.«
»Warum habt ihr uns angegriffen!?«, rief die jüngere Beifahrerin mit entschlossenerer Stimme.
»Wir gehören zu den Truppen von General McQueen!«, rechtfertigte sich Fletcher.
»Dann ... gehört ihr gar nicht zu ... denen?«
»Wir sind auf der Suche nach Überlebenden«, sagte Ryan. »Gibt es noch mehr als euch?«
»Ja ... ja!«, erwiderte die Fahrerin. Ihre Ängste wichen zunehmend der Euphorie der Hoffnung. »Unten im Tal haben wir uns verschanzt vor diesen ... diesen ... Bestien!«
»Okay, rutsch nach hinten!«, befahl Fletcher. »Ich fahre. Ryan, Rücksitz!«
»Roger, Chief.«
»Mitchell, wir haben möglicherweise Überlebende im Tal«, informierte Fletcher den Hubschrauber. »Folgt dem Panzerwagen und gebt uns Deckung!«
»Verstanden, Chief.«
Ryan hockte entspannt auf der Rückbank, als sein Boss den Wagen mit halsbrecherischer Geschwindigkeit den Berg hinabsteuerte. Dank ihrer Nachtsichtgeräte war das technisch gesehen kein Problem, doch die beiden Frauen krallten sich verängstigt an ihre Sicherheitsgurte und Türgriffe. Als Ryan das sah, lieh er seiner Banknachbarin den Restlichtverstärker.
»Chief, da unten brennt‘s überall«, meldete Gabriel aus dem Hubschrauber. »Thermalsicht unbrauchbar.«
»Verstanden«, antwortete Fletcher und drehte sich zur Beifahrerin. »Wo muss ich hin?«
Die Frau zögerte etwas, als wäre sie noch nicht ganz von seinen Motiven überzeugt. »Der Straße folgen bis zu den vier Buswracks, die sich ineinander verkeilt haben.«
»Genau da wurden wir doch abgeholt!«, erinnerte sich Ryan.
»Habt ihr den Wagen da gefunden?«, fragte Fletcher.
Die junge Beifahrerin nickte.
»Wieso ist der nicht wie alles andere zerstört worden?«
»Das hat uns auch gewundert«, sagte die Ältere von hinten.
Kurz darauf erreichten sie das Ziel. Von Außen war nichts zu erkennen. Die vier Reisebusse lagen mit aufgerissenen Chassis auf der Seite oder dem Dach. Mehrere Bombenexplosionen hatten sie ineinandergeschoben und die einst sandfarbene Tarnlackierung in schwarzen Ruß verwandelt.
»James!«, rief die Jüngere beim Aussteigen. »Wir sind wieder da!«
Sie erhielt keine Antwort, woraufhin Fletcher und Ryan misstrauisch ihre Gewehre entsicherten.
»Alles in Ordnung!«, hielt sie die Frau zurück und zeigte auf den Hubschrauber am Himmel. »Ihr habt ihn nur erschreckt.«
Nach ein paar Augenblicken erschien tatsächlich jemand in einem Loch unterhalb eines verkeilten Busses, das von einer schwarzen Decke versteckt wurde. Ein alter Mann auf improvisierten Krücken und notdürftig geschientem rechten Bein. Er trug einen zerrissenen, blauen Overall. Seine grauen Haare hingen zerzaust über der hellhäutigen Halbglatze.
»Was ist das für ein Lärm?«, zeterte er. »Wer sind die?«
»Chief Warrant Officer Aaron Fletcher«, stellte sich der Chief vor und zeigte auf seinen Untergebenen. »Das ist Corporal Ryan. Wir sind auf der Suche nach Überlebenden.«
»Dann können sie aufhören zu suchen, Soldat«, keuchte der Alte durch den aufgewirbelten Staub des Hubschraubers. »Wir sind die einzigen, die es geschafft haben.« Der Mann winkte sie in seinen Verschlag und humpelte voran. »Wo bleiben eigentlich meine Manieren?«, tadelte sich der Alte selbst und streckte die Hand aus. »James Morgenstern. Nennt mich einfach James.«
»Aaron«, wiederholte Fletcher etwas überrumpelt. Dann hielt er sich sein Mikrofon vor den Mund. »LT, Überlebende lokalisiert. Sucht euch eine Landezone in der Nähe und kommt runter.«
»Wie lange steckt ihr hier schon fest?«, fragte Ryan.
»Zwei Tage«, antwortete die jüngere Frau. »Ich bin Chloe Withmore.«
»Und ich bin Andrea«, sagte die ältere von beiden und gab ihm dabei schüchtern sein Nachtsichtgerät zurück. »Andrea Kane. Danke dafür.«
»Keine Ursache«, erwiderte Ryan mit einem leichten Frosch im Hals.
Fletcher hörte unterdessen, wie der Hubschrauber in der Nähe landete, und schlug die Decke beiseite. Noch bevor Specialist Gabriel überhaupt seinen Erste-Hilfe-Koffer greifen konnte, war Yuen bereits herausgesprungen und kam auf das Versteck zugerannt.
»Wie viele? Wer?«, keuchte er außer Atem. »Ist ... Andrea!?«
»Doktor Zhang!«
»Sie kennen sich?«, fragte Ryan.
»Andrea ist vor sechs Monaten in meine Abteilung versetzt worden«, erklärte Yuen knapp, ehe er sich wieder an sie wandte. »Hat es noch jemand geschafft? Eli? Konrad? Parker?«
Andrea schüttelte bedrückt mit dem Kopf. »Chloe und ich haben gesucht, seit die Angreifer verschwunden sind. Fast alle Überlebenden wurden gefangengenommen und noch in derselben Nacht verschleppt. Ein paar konnten zu Fuß fliehen, aber diese Bestien ...«
»Dann haben die also wirklich Bodentruppen abgesetzt?«, fragte Fletcher dazwischen.
»Vielleicht dreißig Soldaten, aber hunderte von Drohnen«, sagte Andrea. »Cerberus, Dragonflys, Tigersharks. So viele unterschiedliche Modelle hab ich das letzte Mal auf der Luftfahrtausstellung von 2040 gesehen.«
»Nachdem das Bombardement aufgehört hat, schwirrte die Luft nur so vor Minidrohnen«, bestätigte Chloe ihre Ausführungen. »Es grenzt an ein Wunder, dass wir verschont geblieben sind.«
Fletcher und Yuen warfen einander ungläubige Blicke zu. Nach dem hochtechnisierten Angriff und den inzwischen frei herumlaufenden Biowaffen erschien es völlig unmöglich, dass eine vergleichsweise hilflose Gruppe wie im Auge des Sturms unversehrt geblieben war. Seit ihrem Aufeinandertreffen mit den feindlichen Infiltratoren und der wirkungslosen Pheromonpackung von ihrem Team Goliath war beiden klar, dass mehr dahinterstecken musste, als ein strategischer Schlag gegen die Luftwaffenbasis und deren Besatzung.
»Was genau habt ihr getan, als der Konvoi in Stücke geschossen wurde?«, fragte Yuen skeptisch.
Andrea und Chloe sahen sich kurz an, als wollten sie ihre Geschichte miteinander abstimmen.
»Wir sind zusammen mit den anderen Zivilisten evakuiert worden, als plötzlich die Hölle ausbrach«, begann Andrea. »Ich war in meinem Haus und hab sie nach ihrem Gespräch mit Doktor Rega wegfahren sehen, Doktor Zhang.«
»Ich stand im Supermarkt an der Fleischtheke, als auf einmal die Soldaten alle Angestellten und Kunden zu den Bussen getrieben haben«, fuhr Chloe fort. »Ein verrückter Motorradfahrer hat James auf der Flucht erwischt und ihm das Bein gebrochen.«
»Die Kleine hat mich getragen«, krächzte der alte Mann dankbar. »Ganz allein!«
»Als der Konvoi getroffen wurde, sind wir auf die Straße gelaufen. Wir befanden uns mitten im Chaos. Alles brannte, ständig schlugen Geschosse um uns herum ein.« Andrea machte eine Pause und setzte sich seufzend auf einen Passagiersitz. »Und dann ist auf einmal dieser schwarze Geländewagen gekommen, hat angehalten, irgendwen eingeladen und ist sofort weitergefahren. An dem Ding war nicht ein Kratzer!«
»Wir wussten ja, dass sich irgendwelche Politiker in der Basis aufgehalten haben, und wir dachten, die versuchen mit ihren Panzerkarossen, Menschen zu retten«, übernahm Chloe erneut. »Also griffen wir James unter die Arme und rannten ihnen nach.«
»Die Schweine haben sich aber einen Dreck um uns geschert!«, fluchte Andrea. »Irgendwann hielten sie an und wurden von einem Hubschrauber evakuiert.«
»Danach haben wir uns in den Wagen gesetzt und sind abgehauen«, erzählte Chloe. »Fast hundert Kilometer weit konnten wir die Bombeneinschläge sehen. Als am nächsten Tag alles vorbei war, sind wir zurückgekehrt, um nach Überlebenden zu suchen.«
»Warum seid ihr nicht einfach weitergefahren? Nach Hause oder ...?«, fragte Ryan.
»Weil den Zivilisten gesagt wurde, dass überall im Süden Aufstände ausgebrochen sind«, fiel ihm Yuen dazwischen. »Der Konvoi sollte die Menschen zur Militärbasis in Raytown bringen.«
Andrea und Chloe nickten zustimmend.
»Wir sind davon ausgegangen, dass Raytown entweder ebenfalls zerstört worden ist oder demnächst zum Angriffsziel wird. Wir hatten gehofft, dass General McQueen irgendwann zurückkommen würde.«
Fletcher rieb sich über das angespannte Gesicht. »General McQueen ist tot.«
Andrea und James nahmen die Nachricht relativ gefasst auf. Chloe hingegen sackte förmlich in sich selbst zusammen und musste sich auf den verbrannten Boden hocken.
»Dann ... kommt die Armee nicht zurück?«, hauchte sie bestürzt.
»Ich glaube nicht, dass es noch eine organisierte Armee gibt. Oder eine Regierung«, sagte Yuen. »Wir saßen in dem Geländewagen und wurden von Lieutenant Mitchells Hubschrauber evakuiert.«
In knappen Sätzen brachte Zhang Yuen die drei auf den neuesten Stand. Über die Geschehnisse unterhalb der Basis, die Flucht zur Ian-Hawk-Biosphäre und den Luftangriff auf die Alphas. Als er das Schicksal seiner Frau erwähnte, wäre Andrea beinahe in Tränen ausgebrochen.
»Saki ...«, seufzte sie. »Es tut mir so leid, Doktor.«
»Danke«, sagte er und war froh, seinen eigenen Nervenzusammenbruch bereits hinter sich zu haben. »Zumindest geht es meiner Tochter der Situation entsprechend gut.«
»Ich will die traute Zweisamkeit nicht unterbrechen, Doc«, brummte Ryan misstrauisch. »Aber bin ich der Einzige, der sich an dem übertriebenen Glück des Panzerwagens stört?«
»Es war schon seltsam, dass wir unbeschadet damit entkommen sind«, stimmte Fletcher zu.
»Dann lasst uns das Teil doch mal auseinandernehmen!«, schlug Alexandros vor und machte sich auf den Weg nach draußen.
Kaum hatten sie den Verschlag geöffnet, hörten sie auf einmal Schüsse.
»In Deckung!«, brüllte Fletcher.
»Das kommt von Süden«, rief Ryan nach einem Blick auf seinen Kompass.
»LT, Status!«
»Wir sind das nicht!«, erwiderte Mitchells Stimme über Funk. »Sollen wir starten?«
»Posi–«, versuchte Fletcher ihm zu entgegnen, doch Andrea hielt ihn zurück.
»Das ist nur Eddie!«
»Eddie? Wer zum Henker ist Eddie!?«
»Ein geisteskranker Schleimbeutel«, giftete Chloe.
Die Ruhe, mit der die beiden dem Schusswechsel begegneten, ließen kaum einen Zweifel daran, dass sie den Schützen kannten.
»Eddie Thornton«, hustete James aus dem Hintergrund. »Ein verrückter Hund, der Jagd auf diese Mistviecher macht, anstatt uns zu helfen.«
»Und dabei jedes frei herumlaufende Haustier killt!«, fügte Chloe sauer hinzu.
»Er ist oder war Mechaniker«, erklärte Andrea. »Saß wohl im Knast, als der Angriff losbrach. Angeblich haben die ihn vergessen.«
»Okay«, brummte Fletcher. Er winkte seinen Leuten zu, auf dass sie in Stellung gehen sollten. Kurz darauf schlug jemand wie erwartet die Decke der Tür auf.
»Hey Ladies, habt ihr auch den Hubschrauber gehört?«, rief eine schmalzige Männerstimme. »Ich hab Abendessen mitge–« Er verstummte abrupt beim Klickgeräusch mehrerer Waffen auf Kopfhöhe.
»Name und Rang, Soldat!«, befahl Fletcher.
»Private First Class Edward Thornton, Sir!«, erwiderte der Mann und nahm reflexartig Haltung an. Dabei fiel ihm ein Kurzhaarterrier aus der Hand, den er wohl kurz zuvor erlegt hatte. Erst danach schien ihn die Realität einzuholen und er schwenkte den Kopf herum. »Ich werd ja verrückt. Die Schnecken hatten echt Recht! Wo ist der General? Wann schlagen wir zurück?«
»Corporal!«, rief Fletcher. »Festnehmen!«
»Mit Vergnügen, Chief«, bestätigte Alexandros und riss Eddie die Waffe vom Hals.
»Hey! Moment mal! Was soll die Scheiße!?«
»Warum hat man sie ins Gefängnis gesteckt, Private?«
Eddie wehrte sich gegen den Versuch, ihn mit einem Kabelbinder zu fesseln. »Ich hab doch nur ... verdammt nochmal ...«
»Ich habe ihnen eine Frage gestellt, Soldat!«, wiederholte Fletcher grantig.
»Ich ... ich ...«, stammelte Eddie. Er hatte sich offenbar sehr schnell an die verlorene Befehlshierarchie gewöhnt. Um so größer war seine Mühe, sich nun plötzlich wieder benehmen zu müssen. »Ich hatte nur ein bisschen zu viel getrunken, okay?«
»Und weiter?«
Eddie riss an seinen Handfesseln. »Ich hab den Schlampen hier den Arsch gerettet! Was soll dieser Mist!?«
Fletcher blickte in die Augen seiner Männer. Nicht mal Alexandros würde sich in Anwesenheit eines Offiziers derart undiszipliniert verhalten. Als Chief Warrant Officer musste er ein Zeichen setzen. Er holte aus und schmetterte Eddie die blanke Faust ins Gesicht.
»Kommen sie wieder zu sich, Soldat!«
Die seiner Meinung nach ungerechtfertigte Behandlung ließ Eddie vor Wut schäumen. »Ich hab Colonel Cord die Fresse poliert, okay!?«, brüllte er zurück. »Der Scheißkerl hatte es nicht anders verdient!«
Fletcher suchte nach den richtigen Worten. Ein tätlicher Angriff auf einen Offizier war selbst zu diesen chaotischen Zeiten keineswegs ein Kavaliersdelikt. Insgeheim wunderte es ihn, dass Eddie nicht umgehend von Cord standrechtlich erschossen worden war. Auf der anderen Seite konnte er mit dem Säufer sympathisieren. So ziemlich jeder in Cords näherer Umgebung hatte schon mal den Drang danach gespürt, dem Großmaul eine reinzuhauen.
»Corporal!«, rief er zu Alexandros. »Schaff ihn in den Hubschrauber! Ab sofort ist er dein Problem.«
»Vielen Dank, Chief«, brummte Alexandros mürrisch und zerrte Eddie am Kabelbinder davon.
»Cord ist an der ganzen Scheiße schuld!«, zeterte Eddie dabei entrüstet weiter. »Wir haben ihn schon vor Tagen vor den Fehlfunktionen gewarnt, aber der Schwachkopf wollte nicht ...!«
»Einen Moment, Corporal!«, rief Yuen und hielt Alexandros zurück. Bisher hatte er sich im Hintergrund gehalten und die Militärs ihr Rängespiel spielen lassen, doch nun holten ihn seine Prioritäten ein. »Sie kennen sich mit den Computern aus?«, fragte er ungläubig. »Und sie haben den Fehler schon vor Tagen gefunden?«
»Ich bin nur Mechaniker, okay?«, knurrte Eddie. »Aber jeder von uns da unten hat gecheckt, dass bei den Maschinen irgendwas falsch läuft!«
»Können sie vielleicht etwas ins Detail gehen, Private?«, setzte Yuen nach.
Eddie blickte Fletcher verwundert an. Bis zur Ankunft des Hubschraubers hatte er den Zivilisten Befehle erteilt und Yuen trug ebenfalls weder Rangabzeichen noch Uniform, dafür eine Pistole.
»Sie haben den Mann gehört, Soldat!«, bekräftigte der Chief Yuens Frage.
»Okay, also das fing vor einer Woche an«, begann Eddie zu erzählen. »Diese Fehler bei Fahrstühlen, Klimaanlage und Türsteuerungen. Alles ist zuerst im Machine Shop Zwei aufgetreten. Ebene Achtundzwanzig. Die Müllverarbeitungsanlage hat plötzlich verrückt gespielt und die Pressen angeworfen, als gerade zwei Männer bei der Wartung waren. Die Notabschaltung hat nicht reagiert. Die sind bei lebendigem Leib zerquetscht worden!«
Alexandros ließ auf Befehl des Chiefs vorerst von ihm ab, damit er unbehelligt reden konnte.
»Ein paar Stunden später ist Personenaufzug D ins Leere gestürzt. Zwei Tote, vier Schwerverletzte«, fuhr Eddie fort. »Die Feuerlöschanlage hat einfach Halongas in unsere Werkstatt geleitet. Wir sind gerade noch an die Gasmasken gekommen! Dann ...«
»Was hat das alles mit Colonel Cord zu tun?«, unterbrach ihn Fletcher streng.
»Wir haben die Fehlfunktionen gemeldet, die sich von Stunde zu Stunde in der Basis ausbreiteten und immer kritischere Systeme zum Erliegen brachten, aber das hat den Colonel nicht interessiert! Er hat ein paar Stecker gezogen und wir sollten einfach weiterarbeiten!« Eddie rümpfte die Nase. »Vor zwei Tagen ist einer meiner Freunde draufgegangen, als ihm ein EOD-Bot den Schädel weggesprengt hat. Danach hab ich den Scheißkerl nur noch umbringen wollen!«
»EOD-Bot?«, murmelte Yuen etwas verlegen darüber, dass er einen militärischen Fachausdruck nicht sofort deuten konnte.
»Roboter zur Bombenentschärfung«, brummte Fletcher ebenso diskret zurück. Dann winkte er Alexandros zu, der Eddie mit schwerem Geschnaufe aus dem umgekippten Reisebus zerrte.
Eine lange Minute herrschte bedrücktes Schweigen. Weder James noch die beiden Frauen wagten es, den Mund aufzumachen. Corporal Ryan und Specialist Gabriel warteten auf die nächsten Befehle ihres Kommandeurs. Fletcher beugte sich über einen Passagiersitz und krallte sich in dem weichen Veloursbezug fest. Sein Kopf schwenkte grimmig zu Yuen.
»Wollen sie uns vielleicht irgendwas mitteilen, Doc?«
»Seine Geschichte könnte der Wahrheit entsprechen.«
»Das hab ich nicht gemeint.«
»Ich weiß«, sagte Yuen. »Vor einer Woche kam Colonel Cord stinkwütend auf mich zu und befahl mir, Amy abzuschalten. Er hat mir keinen Grund genannt, sondern die Sorge geäußert, dass die KI von außerhalb angreifbar wäre.«
»Dann hat Eddie also Recht?«, fragte Andrea. »Amy ist schuld an dem ganzen Spuk?«
»Das glaube ich nicht«, hielt Yuen dagegen, wie ein Vater, der sein Kind verteidigte. Anschließend fügte er jedoch zähneknirschend hinzu: »Es wäre aber möglich, dass wir mit der Aktivierung eine Hintertür im System geöffnet haben.«
»Dann hat Cord die Warnungen von Private Thornton also durchaus ernstgenommen«, sagte Fletcher.
Yuen nickte. »Wenn er mir von den Todesfällen erzählt hätte ...«
»Need-to-know«, brummte der Chief und riss sich zornig von seinem Sitz los. »Verdammte Scheiße.«
»Und was jetzt?«, fragte Ryan.
»Wir folgen dem Plan, Corporal«, entschied Yuen und behielt Fletcher dabei genau im Auge. Noch war er von seiner neuen Autorität nicht vollends überzeugt und wollte nicht zu weit gehen.
Der Chief warf einen Blick in die Runde und nickte zustimmend. »Ein paar Überlebende haben wir ja schon gefunden. Thornton wird sich hoffentlich als nützlich erweisen, wenn er erstmal nüchtern ist. Die Biosphäre könnte weiß Gott einen echten Mechaniker brauchen.«
»Die Biosphäre?«, echote Andrea verwundert.
»Lange Geschichte«, sagte Yuen. »Wir haben einen sicheren Zufluchtsort, aber noch sind wir hier nicht fertig.«
»Also, wohin zuerst, Doc?«
»Nach Hause. Momentan sieht es draußen ruhig aus. Jeder sollte die Zeit nutzen, ein paar Sachen zu packen«, antwortete Yuen. »Anschließend werden wir uns auf dem Berg umsehen.«
Gabriel half dem alten James auf die Beine. Ryan und Yuen gingen voraus, während der Chief die neuen Befehle per Funk weitergab und sie gemeinsam in den schwarzen Geländewagen stiegen.
***
Eine halbe Stunde später saß Fletcher mit Yuen im Wagen vor dem Haus von Andrea. Gabriel und Ryan hielten draußen Wache, während Chloe der jungen Wissenschaftlerin beim Packen half. James wollte währenddessen in seinem Haus alleingelassen werden.
»Ein schönes Schwert, Doc«, sagte Fletcher anerkennend.
Yuen war bereits fertig und hatte neben einer Reisetasche mit Wechselsachen, ein paar Fotos, Konserven, unzähligen Datenträgern und dem kompletten Inhalt seines Medizinschränkchens ein blitzblank poliertes Katanaschwert mitgenommen.
»Können sie mit dem Ding umgehen?«, fragte Fletcher vom Fahrersitz aus. Dabei zog er bei geöffnetem Fenster an einer glimmenden Zigarette.
»Ein wenig«, antwortete Yuen. »Es ist seit zweihundert Jahren ein Familienerbstück väterlicherseits und hat hauptsächlich sentimentalen Wert.«
»Verstehe«, sagte der Chief. Vor seiner Zigarettenpause hatte er den Wagen von außen untersucht. Unter der Motorhaube und im Kofferraum war ihm nichts Ungewöhnliches aufgefallen, daher setzte er die Suche nun im Inneren fort. »Sehen sie mal im Handschuhfach nach.«
»Ein bisschen offensichtlich, finden sie nicht?«, scherzte Yuen. Er legte sein Schwert beiseite und öffnete die Klappe. Sofort kam ihm ein Stapel aus Papier, E-Papers und Speichermodulen entgegen.
»Es sind Politiker«, sagte Fletcher bei einem Griff unter seinen eigenen Sitz. »Da dürfen sie keine Intelligenz erwarten.«
Yuen lächelte zustimmend. »Beschwerdebriefe, alte Einkaufslisten, Fastfood-Rechnungen. Waren wohl auch nur Menschen.«
»Was ist mit den Chips?«
»Sekunde, das haben wir gleich«, sagte Yuen und holte seinen Laptop hervor. Obwohl die Technik immer leistungsfähiger und platzsparender geworden war, sah sein tragbarer Computer noch fast wie vor fünfzig Jahren aus. Eine sehr flache Tastatur zum Ausklappen mit einem gläsernen Bildschirm. Der menschliche Körper brauchte diese beiden Elemente in einer gewissen Größe, egal wie winzig der eigentliche Rechenkern war.
»Hm, verschlüsselt. Ein Zahlencode«, brummte Yuen. »Da muss ich Amy drauf ansetzen.«
»Versuchen sie null-drei-eins-eins-zwo-null-drei-neun«, sagte Fletcher.
Yuen gab die Zahlenkombination schulterzuckend ein, aber der Computer quittierte den Code mit einem Warnton.
»Inkorrektes Passwort.«
»Okay, jetzt zwo-zwo-null-vier-zwo-null-eins-acht.«
Diesmal leuchtete das Fenster grün auf und der Laptop gab die gewünschten Daten mit einem fröhlichen Klingeln frei. Yuen starrte Fletcher verdutzt an. Computer waren eigentlich sein Fachgebiet und nicht das des Chiefs.
»Woher wussten sie ...?«
Fletcher zeigte eine ID-Karte hervor und grinste. »Senator Michael Baynard. Die erste Kombination war das Geburtsdatum seiner Tochter, die zweite das seiner Frau.«
Yuen schüttelte ungläubig den Kopf. »Politiker.«
»Und? Was steht drin?«
»Listen über Rohstoffnachschub, Statistiken von bedrohten Ballungszentren, erlahmte Wirtschaftskraft, ein alter Bericht über den nahenden Zerfall der Vereinigten Staaten von Europa«, murmelte Yuen beim Überfliegen der Dateien. »Scheint ein Backup zu sein.«
»Das bringt uns nicht weiter«, maulte Fletcher. Er blickte nachdenklich aus den Wagenfenstern, wo Gabriel und Ryan entspannt die Umgebung im Auge behielten. »Warum ist uns noch keiner dieser Hunde entgegengekommen? Laut ihrer Kollegin ist hier doch seit zwei Tagen Ruhe.«
»Vielleicht nisten die sich in der Basis ein«, antwortete Yuen beiläufig. »Hunde sind Rudeltiere. Sie bleiben bevorzugt auf ihrem eigenen Territorium.«
Fletcher brummte wenig überzeugt und verlagerte seine Suche mit der Zigarette zwischen den Lippen auf die Rückbank. Kaum hatte er seine Finger in die Türablage gesteckt, wurde er fündig.
»Aha!«, nuschelte er und holte ein Stoffpäckchen hervor, das baugleich mit den Pheromonpackungen zu sein schien, die seine Männer vor Betreten des Stützpunkts erhalten hatten. »Jetzt bin ich gespannt!« Er kramte sein eigenes Päckchen aus der Uniform und verglich die Seriennummern. »Ich hab‘s doch geahnt«, sagte er und hielt sowohl seine eigene als auch die beiden gefundenen Packungen nach vorn. »Die Nummer stimmt mit denen der Soldaten überein, die am Fahrstuhl das Feuer auf uns eröffnet haben!«
Yuen schaltete die Deckenbeleuchtung ein und verglich die Zahlen selbst, ehe er zornig die Stirn runzelte. »Senator Baynard steckt mit den Mördern meiner Frau unter einer Decke?« Sofort konzentrierte er sich wieder auf das Durchforsten der Daten des Politikers.
»Wir wissen immer noch nicht, woher diese Dinger eigentlich kommen«, antwortete Fletcher und fuhr mit seiner Suche in der anderen Tür fort. »Irgendein Idiot könnte meinem Team die falschen Packungen gegeben haben oder ...«
»Ich glaube, ich hab hier was«, unterbrach ihn Yuen. Er drehte sich nach hinten und zeigte auf den Armcomputer von Fletcher. »Wie haben sie ohne das Internet Kontakt gehalten?«
Der Chief schaltete das biegsame Display ein und tippte kurz darauf herum. »Über unser Backupsystem. Militärische Ausweichsatelliten, die ohne zivile Kanäle auskommen.«
Yuen nickte bei einem Blick auf den Bildschirm. »Senator Baynard hatte denselben Zugang wie sie, aber ein Teil seiner Mails kam von einer anderen Quelle; einem anderen Netzwerk.«
»Sie meinen, das Internet ist gar nicht im Arsch?«
»Im Gegenteil«, sagte Yuen. »Aber unser Militär ist nicht das einzige mit Ausweichkapazitäten. Der Senator hat ...« Er verstummte abrupt, als hunderte Codezeilen über seinen Laptop liefen.
»Was ist?«, fragte Fletcher ungeduldig. »Können sie das lesen?«
»Das ist Amy«, hauchte Yuen erschüttert.
»Bitte was? Ich dachte, ihr Computer liegt abgeschaltet in der Biosphäre?«
»Nein, nicht ...« Yuen brauchte einen Moment zum Gedankensammeln. »Das ist Amys Code! Amys KI-Routinen, Schwachpunkte, Verbindungsschnittstellen zum Basiscomputer!«
»War Baynard je in ihrem Labor?«
»Nein. Er hat es auch nie versucht«, antwortete Yuen. »Aber er scheint den Code weitergeschickt zu haben.«
»An wen?«
»Unbekannt. Das lässt sich nicht nachverfolgen.«
»Vielleicht hat jemand von ihren Leuten ...?«, mutmaßte Fletcher vorsichtig und blickte konspirativ aus dem Fenster zum Haus von Andrea. »Das würde erklären, warum ausgerechnet sie überlebt hat. Ist sie nicht erst vor kurzem ihrem Team zugeteilt worden?«
Yuen rieb über seine brennenden Augen. Zigarettenrauch gehörte nicht gerade zu seinen Leidenschaften. »Saki hat sie ausgewählt und überprüft. Soweit ich weiß, hatte Miss Kane auch noch keinen Zugriff auf den Quellcode.«
»Vielleicht hat sie Baynard als Mittelsmann missbraucht und anschließend ermordet, um in seinem Wagen zu flüchten?«, mutmaßte Fletcher weiter.
»Jetzt werden sie paranoid, Chief.«
»Na schön«, gab Fletcher sich geschlagen und warf seinen abgebrannten Stummel aus dem Fenster. »Aber es erklärt zumindest, warum ausgerechnet dieses Auto beim Angriff verschont geblieben ist.«
Yuen rollte mit den Augen durch den Innenraum. »Haben sie irgendwas entdeckt, das ein Peilsender sein könnte?«
»Nein«, erwiderte Fletcher. »Mit Ausnahme unserer Funkgeräte gibt es in der ganzen Umgebung kein einziges aktives Signal mehr.« Er lehnte sich zurück und breitete die Arme aus. »Der Wagen ist ziemlich auffällig. Vielleicht hat das genügt oder sie wollten nicht das Risiko eingehen, bei irgendeiner Routinekontrolle mit einem feindlichen Sender aufzufallen.«
»Gut möglich«, sagte Yuen. »Für einen Computer ist es ein Kinderspiel, ein derart großes Fahrzeug zu identifizieren.«
»Jetzt wissen wir, wie die reingekommen sind, aber worauf hatten es Baynards Leute abgesehen? Ihre KI, Doc?«
»Unwahrscheinlich. Amy war vermutlich nur ein Werkzeug, um im allgemeinen Chaos unbemerkt Zugang zum Stützpunkt zu erhalten und ein paar Türen zu öffnen«, erwiderte Yuen. Dann drehte er sich nach hinten um und kniff konspirativ die Augen zusammen. »Diese silbernen Kisten, die von den anderen Soldaten in den Fahrstuhl geladen worden sind.«
Fletcher dachte einen Moment nach und nickte andächtig. »Die liegen jetzt vermutlich am Boden des Schachts. Sie wollen allen Ernstes da runtersteigen?«
Yuen wendete sich wieder nach vorn. »Saki liegt ebenfalls dort unten. Allein und verloren.«
Schweigen erfüllte den Geländewagen. Weder wollte der Chief sich vorschnell für oder gegen eine tiefe Infiltration der Basis aussprechen, noch hatte Yuen vor, sein persönliches Anliegen detaillierter zu erklären. Fletcher wechselte lediglich zurück auf den Fahrersitz und entzündete eine weitere Zigarette. Stumm warteten sie auf die Rückkehr von Andrea und Chloe, ehe sie zum Hubschrauber zurückkehrten, um das Gepäck abzuladen.
***
»Okay, alles drin«, meldete Danny, nachdem er die letzte Reisetasche verstaut hatte.
»Was ist mit ihnen und ihren Männern, Chief?«, fragte Lt. Mitchell.
»Wir haben nur je einen Spind in der Kaserne«, antwortete Fletcher. »Die räumen wir auf dem Weg zum Stützpunkt aus.«
»Sie wollen da hochfahren!?«
Fletcher blickte zu Yuen, der still am Wagen lehnte. »Uns bleibt keine andere Wahl. Wir müssen herausfinden, weswegen wir angegriffen wurden.«
»Und was sollen wir tun? Luftdeckung von oben?«
»Bleiben sie auf Position und verhalten sie sich ruhig, bis wir Unterstützung brauchen«, entschied Fletcher. »Wenn noch feindliche Kräfte in der Nähe sind, würde der Hubschrauber sie nur anlocken.« Dabei drückte er ihm eins der echten Pheromonpäckchen in die Hand. »Damit sollten ihnen die Hunde nicht mehr auf die Pelle rücken.«
»Wie sie meinen, Chief«, gab Mitchell sich geschlagen. »Aber es dauert eine Weile, den Hauptrotor hochzufahren. Also lassen sie sich nicht zu viel Zeit mit dem Hilferuf!«
***
Zehn Minuten später rollte der schwarze Geländewagen im Schritttempo durch das verwüstete Schlachtfeld oben auf dem Berg. Die meisten Feuer des Luftwaffenstützpunkts waren inzwischen erloschen, aber hier und da loderten noch einzelne Flammen, genährt von versteckten Treibstoffreserven oder leckgeschlagenen Gasleitungen. Sie verwandelten das nächtliche Bild in ein flackerndes Schattenspiel, das lebhaft an das vergangene Inferno erinnerte. Es fiel den Männern schwer zu glauben, dass sie ohne einen Kratzer davongekommen waren, egal wie plausibel Yuens Erklärung über den verräterischen Senator klang.
»Drohnen. Überall nur Drohnen«, fluchte Alexandros beim Anblick der Trümmer. »Nichts davon war echt!«
»Echt genug«, brummte Ryan.
»Ich hatte immer gedacht, wir würden diejenigen sein, die ferngesteuerte Roboter anstelle von Menschen in den Tod schicken«, murmelte Fletcher mit einer Hand am Lenkrad. »Die anderen haben schnell aufgeholt.«
»Welche anderen?«, fragte Gabriel.
Fletcher sah zu Yuen herüber, aber der war mit seinem Laptop beschäftigt. »Das werden wir hoffentlich bald herausfinden«, sagte er und stoppte den Wagen vor dem Tor von Bunker Fünf.
Die halbrunden Betonschotten wirkten bei Nacht wie das geöffnete Maul eines riesigen Raubfisches, dessen dunkler Rachen sie zu verschlingen drohte. Die Männer verspürten einen seltsamen Sog, der sie in die unterirdische Basis hineinzuziehen versuchte. Gleichzeitig warnten sie ihre aufgestellten Nackenhaare davor, je wieder einen Fuß in das Höllenloch zu setzen.
»Und sie wollen da wirklich allein rein, Chief?«, fragte Gabriel.
»Von wollen kann keine Rede sein, Specialist«, konterte Fletcher. Er blickte erneut zu Yuen. »Der Doc hat Recht. Wir brauchen Antworten, aber wir werden nicht die ganze Mission dafür riskieren.« Dann drehte er sich zur Rückbank, die sich seine drei Männer teilten. »Ryan, du übernimmst das Kommando«, befahl er und reichte dem Corporal den Pheromonspender, den er im Auto gefunden hatte. »Vielleicht funktioniert das Teil noch. Geht in die Kaserne und räumt unsere Spinde leer. Du kennst meinen Code. Anschließend ladet ihr so viel Medikamente, Munition, Notverpflegung und Waffen in den Wagen, bis er aus allen Nähten platzt. Sollte irgendwas schiefgehen, haut ihr mit dem Hubschrauber ab und kehrt in genau vierundzwanzig Stunden zurück.« Dabei tippte Fletcher auf seinen Armbandcomputer und überprüfte die Uhrzeit. »Ansonsten treffen wir uns in drei Stunden wieder hier.«
»Verstanden, Chief«, bestätigte Ryan.
Fletcher nickte Yuen zu und stieg zusammen mit ihm aus, so dass seine Männer den Wagen übernehmen konnten. Bevor sie davonfuhren, holte er eine handliche Maschinenpistole aus dem Kofferraum, stellte sie auf Einzelfeuer und überreichte sie Yuen.
»Versuchen sie‘s mal hiermit, Doc. Hat weniger Rückstoß als ein Gewehr, damit sie mir nicht wieder die Decke einreißen«, scherzte er und erklärte ihm kurz die Bedienung.
»Danke, Chief«, knurrte Yuen in Erinnerung an seine ersten Erfahrungen mit einer automatischen Waffe.
Die beiden schalteten ihre Taschenlampen ein und betraten den stockfinsteren Bunker. Fletcher wollte die Batterie seines Nachtsichtgeräts für Notfälle aufsparen.
Die Ausstattung entsprach dem Luftwaffenstandard. Hebebühnen und Regale auf Rollen zur Wartung, Spinde für die Belegschaft und dazwischen genügend Platz für einen Kampfjet oder Hubschrauber. Lediglich die Kommandozentrale im hinteren Teil wirkte etwas deplatziert, wurde aber von flüchtigen Beobachtern eher als Kaffeeküche und Erholungsraum wahrgenommen. In Wirklichkeit war sie der erste Zugangspunkt zur unterirdischen Forschungsanlage, in der sich jeder Besucher registrieren musste und von wo aus sich die meisten Verbindungsstellen kontrollieren ließen.
»Funktioniert noch was?«, fragte Fletcher.
Yuen tippte auf drei verschiedenen Tastaturen herum und seufzte wenig zuversichtlich. »Die haben ganze Arbeit geleistet«, sagte er. »Sämtliche Forschungsdaten wurden entweder gelöscht oder buchstäblich aus dem System gerissen. Dreiundzwanzig Prozent der ursprünglichen Datenspeicher fehlen einfach.«
»Die haben tatsächlich komplette Computer mitgehen lassen?«
Yuen nickte. »Die Soldaten bei den Kisten waren nicht allein.«
»Sowas sollte doch irgendwem hier oben aufgefallen sein!«
»Naja«, wiegelte Yuen ab. »So groß sind die Module nicht. Den meisten Platz nehmen Kühlung und Backupsysteme ein. Die Speicherchips selbst passen in ihre Hosentasche.«
»Wäre es nicht leichter gewesen, einfach alles zu kopieren und dann zu löschen?«, überlegte Fletcher. »Wozu dieser Lowtech-Aufwand?«
»Das kann ich ihnen sagen«, murmelte Yuen, während er aufgeregt tippte. »Weil ich gerade einen Teil meines Labors wiederhergestellt habe.« Er zückte ein Speichermodul und stöpselte es in den Computer. »Zumindest sind wir nicht umsonst zurückgekommen.«
»Was kopieren sie da?«
»Nur ein paar Berichte meines Forschungsteams an General McQueen. Das wird mir die Arbeit erleichtern«, erklärte Yuen und drehte sich derweil mit seinem Stuhl zu Fletcher um. »Wer auch immer uns angegriffen hat, wollte scheinbar absolut sichergehen, dass einige Daten unwiderruflich verloren sind. Die einfachste Möglichkeit dafür ist es, die Hardware, auf der sie gespeichert sind, zu entfernen.« Er zeigte mit der Hand auf den Bildschirm. »Ich kann keine Spur von Amys Code finden. Der entsprechende Speicher fehlt vollständig.«
»Heißt das, sie müssen von vorn anfangen?«
»Nein.« Yuen wiegelte ab. »Amys Bewusstsein liegt sicher in der Biosphäre, aber diese Leute wollten nicht, dass ich meine Arbeit fortsetze. Oder sonst irgendeins von den Geheimprojekten.«
»Was ist mit den Hunden? Ist davon was übriggeblieben?«
»Moment«, murmelte Yuen und ließ seine Finger über das Display gleiten. »Projekt Neozoon«, nickte er. »Beschädigt aber vorhanden. Die Biester waren wohl nur Mittel zum Zweck.«
»Gut zu wissen«, sagte Fletcher. »Ich hab nämlich keine Lust, die demnächst in der Nachbarschaft anzutreffen.«
Yuen erbleichte kurzzeitig. An die Möglichkeit hatte er überhaupt nicht gedacht.
»Wir sollten uns beeilen«, fuhr Fletcher bei einem Blick auf die Uhr fort. »Uns bleiben noch zwei Stunden und vierundvierzig Minuten.«
Yuen zog seinen Chip aus dem Rechner und schloss sämtliche Fenster auf dem Bildschirm, ehe er dem Chief zu den geöffneten Betonplatten im Boden folgte. Darunter erstreckte sich die zweispurige Straße, die bis zum Logistikdepot der Forschungsanlage führte.
»Woher stammt eigentlich diese Affinität des Militärs zu künstlich heraufbeschworenen Countdowns und Timern?«, fragte er beim Betreten des Tunnels.
Fletcher zog den linken Mundwinkel hoch. »Es gibt uns ein Gefühl von Sicherheit. Drei Stunden, bis wir als vermisst gelten. Vierundzwanzig Stunden, bis Ryan eine Rettungsaktion startet. Zweiundsiebzig Stunden, ehe meine Männer aufgeben«, erklärte er. »Damit erhalten beide Seiten eine gewisse Planungssicherheit, selbst wenn sonst alles schiefläuft.«
»Verstehe«, antwortete Yuen und nickte andächtig. »Das heißt also, ihre Männer lassen uns zurück, wenn wir hier unten verschüttet werden und sie uns binnen drei Tagen nicht finden können?«
»Wäre es ihnen lieber, wenn sie bis in alle Ewigkeit nach uns suchen und dafür ihre Kollegen opfern? Oder ihre Tochter im Stich lassen?«
Yuen schnaufte merklich und sah auf seine Uhr. »Uns bleiben noch einhundertundzweiundsechzig Minuten. Wir sollten uns beeilen!«
Fletcher setzte ein breites Grinsen auf, als der Doktor seinen Gang beschleunigte und davoneilte. Mit den schweren Schritten seiner Armeestiefel joggte er ihm hinterher.
»Wo wohl all die Hunde hin sind?«, wunderte sich der Chief bei einem Blick über die Schulter.
»Vielleicht hat die Strahlung sie schon dahingerafft?«, überlegte Yuen. »Was sagt ihr Computer?«
»Hier oben droht uns keine Gefahr. Das würde Monate dauern, bis bleibende Schäden entstehen«, erwiderte Fletcher bei einem Blick auf das Armdisplay. »Möglicherweise haben unsere Jungs sie ja alle erwischt.«
»Das glauben sie doch selbst nicht, Chief. Bei all dem Chaos ...«
»Stopp!«, unterbrach Fletcher ihn mit der Hand am Ärmel. »Hören sie das?« Er hockte sich auf den Boden und spitzte die Ohren in Richtung Tunnelausgang.
»Chief, Centaur im ... setzt ... Landung an!«, rauschte Ryans stark verzerrte Stimme aus dem Funkgerät.
»Centaur«, brummte Fletcher. »Feindliche Transporthubschrauber.«
»Ob die zu uns wollen?«, fragte Yuen. Kaum hatte er die Worte ausgesprochen, vernahm er die schweren Fußtritte von Armeestiefeln im Bunker über ihnen. Taschenlampen blitzten an den Wänden auf und kamen näher.
»Beeilung, Doc!«, befahl Fletcher. »Die sitzen uns im Nacken!« Anschließend hielt er sein Mikrofon vor den Mund. »Ryan, Funkstille! Einsatzplan folgen!«
Es folgte ein kurzes Klicken als Antwort.
Fletcher und Yuen machten ihre Lampen aus. Der Doktor rannte fast blind den Tunnel hinab. Nur ein paar rote Notfallleuchten an den Wänden bewahrten ihn vor gefährlichen Stürzen. Fletcher schaltete sein Nachtsichtgerät ein. Motorengeräusche unterstützten inzwischen die Fußstapfen. Gleich hätten sie ihre Verfolger eingeholt, da öffnete sich endlich die Logistikstation vor ihnen.
»Da runter! Los!«, zischte Fletcher. Er zeigte in Richtung des zweiten Geländewagens von Senator Baynard, den sie bei ihrer Flucht zurückgelassen hatten. Zusammen mit Yuen rutschte er unter das Auto und drehte sich keuchend auf den Bauch.
Ein paar Augenblicke später preschten zwei Militärbuggys die Rampe hinab. Beide boten jeweils zwei Besatzungsmitgliedern Platz; einem Fahrer und einem Bordschützen für das am Beifahrersitz montierte Maschinengewehr. In ihrem Schlepptau folgte ein leichter Truppentransporter, dessen Besatzung bereits zum großen Teil abgesessen nebenherlief.
»Scheiße«, knurrte Fletcher leise. »Was wollen die mit zwanzig Mann hier?«
»Können sie die Uniformen erkennen?«, fragte Yuen.
»Irgendeine Privatarmee. Keine von unseren, sondern dreckiges Söldnerpack.«
Zusammen beobachteten sie, wie ein Offizier Befehle herumbrüllte, die im Echo untergingen, und sich die Soldaten verteilen. Am Ende blieben nur die Buggybesatzungen bei ihren Fahrzeugen zurück. Der Rest marschierte geordnet zum Lastenaufzug, der vor zwei Tagen zum Absturz gebracht worden war. Irgendjemand fluchte über den bevorstehenden Fußweg, gefolgt vom erneuten Bellen des Kommandanten. Anschließend setzte er einen Funkspruch an die Buggys ab und führte seine Männer in Treppenhaus drei.
Dann wurde es still. Die Bordschützen rührten sich nicht von ihren Plätzen und die Fahrer hatten die Buggys geschickt mit den Rücken zueinander gestellt, so dass sie über einen kompletten Rundumschutz verfügten. Sie hatten den Ausgang, den Fahrstuhl und die Treppenhäuser zugleich im Blick.
»Wir sitzen fest«, fasste Yuen die Situation zusammen. Als er nach einer Minute keine Antwort erhielt, bohrte er weiter nach. »Was jetzt?«
»Was jetzt?«, echote Fletcher, der sich Zeit gelassen hatte, um die Neuankömmlinge zu studieren. »Das war ihre Idee!« Dann tippte er auf seinem Armdisplay herum. »Erstmal stören wir deren Funk ...«
Ein kurzes Rauschen war aus Richtung der Buggys zu hören, als alle vier Headsets und die beiden festinstallierten Funkgeräte ein statisches Fiepkonzert abspielten. Sofort rissen sich die Männer ihre Ohrstöpsel heraus und riefen einander Flüche zu. Einer der MG-Schützen sprang sogar von seinem Gewehr auf.
Es dauerte nicht lange, bis sie einen von sich ins Treppenhaus schickten, um dem Kommandanten die Lage zu schildern. Der Offizier war inzwischen sicher schon auf halbem Weg nach unten. Auch die Verbindung zur Oberfläche war unterbrochen, aber ihre Position wegen einer simplen Fehlfunktion ohne Weisung ihres Anführers aufzugeben, kam nicht in Frage. Die anderen drei sollten auf weitere Befehle warten.
»Und nun?«, wunderte sich Yuen ein wenig zuversichtlicher. »Der wird nicht lange brauchen, bis ...«
Fletcher war viel zu beschäftigt, um ihm eine Antwort zu geben. Er holte seinen Schalldämpfer hervor, schraubte ihn auf sein Sturmgewehr und legte auf den verbliebenen MG-Schützen an.
»Eins«, hauchte er und drückte ab. Der nahezu bewegungslose Schütze wurde auf Ohrhöhe in den Kopf getroffen und erlitt einen sofortigen Zusammenbruch des Zentralnervensystems. Er kam nicht mal zum Stöhnen.
»Zwei«, hauchte Fletcher erneut. Die anderen hatten den schallgedämpften Schuss zwar gehört, konnten ihn beim Echo in der Betonhalle aber nicht orten. Sie versteckten sich hinter ihren Buggys, die aufgrund der Leichtbauweise denkbar ungeeignet dafür waren. Fletchers Kugel durchschlug den Hals des zweiten Söldners. Er war nicht sofort tot, sondern fiel röchelnd zu Boden. Seine Augen kreisten hilfesuchend in den Höhlen. Sein Mund wollte um Hilfe rufen und vor Schmerz schreien, doch die aufgerissene Luftröhre ließ das nicht mehr zu.
Sein Kamerad warf einen flüchtigen Blick auf ihn, zog dann aber das eigene Überleben vor. Er hatte das Mündungsfeuer entdeckt und lief hinter einem Stahlcontainer in Deckung.
Fletcher verschwendete keine Minute. Er robbte unter dem Panzerwagen hervor und sprintete ein paar Meter weiter bis zu einer Ladestation.
Der feindliche Söldner hatte den Container umrundet und feuerte zunächst blind auf Fletchers alte Stellung. Yuen zog reflexartig den Kopf ein und rollte ein Stück rückwärts, aber die meisten der panisch abgefeuerten Kugeln schlugen in den gepanzerten Seitentüren ein.
Darauf hatte Fletcher nur gewartet. Er wusste nun, dass der Söldner immer noch davon ausging, dass er unter dem Geländewagen lag und marschierte mit dem Gewehr im Anschlag um den Container herum, bis er direkt hinter dem verbliebenen Mann auftauchte.
»Waffe runter! Schön langsam!«, befahl er mit strenger Stimme. Der Gegner folgte seiner Anweisung nicht sofort, sondern keuchte empört, so als wäre er mit den Spielregeln nicht einverstanden. »Ich sag‘s nicht noch mal!«, warnte Fletcher.
Mit der Aussichtslosigkeit seiner Situation konfrontiert, ergab sich der Söldner vorerst und ließ sein Gewehr auf den Boden sinken.
»Umdrehen!«
Zu Fletchers Überraschung wendete ihm daraufhin eine schwarzafrikanische Frau ihr Gesicht zu. Der Söldner war überhaupt kein Mann, sondern eine Söldnerin mit hochgesteckten, gekräuselten Haarsträhnen, die kein echtes Militär auf der Welt zulassen würde.
Im selben Moment schlug der vierte Söldner die Treppenhaustür auf. »Kefira, was zum Henker ist hier ...!?« Da erblickte er seine entwaffnete Kameradin und legte auf Fletcher an. Der hatte jedoch schneller reagiert und erledigte den Mann mit einer gezielten Salve.
Die Söldnerin nutzte die kurze Unterbrechung sofort. Sie griff nach ihrem Gewehr und rollte sich hinter den Container, so dass Fletchers Schüsse auf sie ins Leere gingen und über den Panzerwagen hinwegflogen.
»DOC!«, brüllte er. »Doc verdammt! Feuerschutz!«
Bevor Fletcher sich weiter über Yuens Inaktivität aufregen konnte, musste er selbst Hals über Kopf Deckung suchen, als eine Handgranate um die Ecke des Containers gerollt kam. Einen Augenblick nach der Explosion fegte die Söldnerin mit zornigem Gebrüll herum und deckte ihn mit Gewehrkugeln ein.
Fletcher gab die Hoffnung auf Unterstützung auf und sah sich nach einem Alternativplan um. Momentan schützten ihn ein paar Stahlfässer, aber die schießwütige Söldnerin kam näher. Als sie nachladen musste, nahm Fletcher seine einzige Chance wahr und stemmte sich mit aller Kraft gegen eins der Fässer. Es fiel um und rollte auf sie zu. Durch die Einschusslöcher tropfte eine dickflüssige, farblose Masse, die sich nun auf dem Boden verteilte, aber dafür hatten weder Fletcher noch die Söldnerin ein Auge übrig. Während sie dem Fass auswich, riss er sein Gewehr hoch und zwang sie zurück hinter den Container.
»Es reicht!«, rief er ihr zu. »Gib auf oder du kommst hier nicht mehr lebend raus!«
Zu seiner Verwunderung folgte die Söldnerin der Anweisung prompt. Ihr Gewehr fiel abermals auf den Boden und sie trat mit erhobenen Händen vor.
»Gute Entscheidung«, keuchte Fletcher. »Doc, sie können jetzt rauskommen!«
Kaum hatte er die Worte ausgesprochen, tauchte Yuen mit seiner Maschinenpistole im Anschlag hinter der Söldnerin auf. Er war keineswegs tatenlos geblieben, sondern hatte die Aufregung genutzt, um sich unbemerkt anzuschleichen.
»Sind sie in Ordnung, Chief?«
Fletcher grinste, als er sah, wie der Wissenschaftler vor Angst zitterte. »Nur ein paar Kratzer. Was ist das hier für ein Zeug?«, fragte er und deutete auf die ausgelaufene Flüssigkeit.
»Keine Ahnung«, antwortete Yuen und übergab ihm die Gefangene. »Nicht feuergefährlich würde ich sagen.«
Fletcher nickte und legte der Söldnerin vorsorglich drei Paar Kabelbinder an. Dementsprechend gesichert setzte er sie auf den Boden und betrachtete ihr Gewehr. Ein modernes Produkt mit integrierter Nacht- und Thermalsicht aber kleinem Kaliber, um möglichst handlich zu bleiben. Dann warf er einen genaueren Blick auf ihre Uniform.
»Black Razors«, sagte er naserümpfend und deutete auf das Logo auf den Schulterstücken. »Was wollt ihr Kakerlaken in meiner Basis?«
Die Frau antwortete ihm nicht sondern drehte den Kopf weg.
»Okay«, sagte Fletcher. »Versuchen wir was anderes.« Anstelle einer Frage schlug er ihr plötzlich die Faust ins Gesicht. »Name und Rang, Soldat!«, rief er mit der strengen Stimme eines Offiziers.
»Chief!«, versuchte Yuen ihn zu bremsen. »Was ...«
»Sergeant Kefira Walker, Black Razor Company! Seriennummer Beta Charlie null-sieben-drei-acht!«, rief die Söldnerin auf einmal zurück.
»Geht doch«, knurrte Fletcher. Dann blickte er in Richtung Treppenhaus. »Doc, stellen sie irgendwas vor die Tür. Ich werd den Funk wieder einschalten.«
»Das wird euch Schwachköpfen nichts nützen!«, giftete Kefira.
»Doc, heute noch!«
Yuens Augen wirrten planlos herum, bis er schließlich ein Eisenrohr aus dem Ersatzteillager griff und damit die Tür blockierte. Der plötzliche Wechsel im Takt gefiel ihm überhaupt nicht, aber fürs Erste blieb ihm keine Alternative, als Fletcher zu folgen. Der Chief war Soldat und hatte in solchen Situationen weit mehr Erfahrung als ein ziviler Wissenschaftler.
»...tain Regan, Status ...!«, rauschten die Funkgeräte, nachdem Fletcher seinen Störsender deaktiviert hatte. »...fira, antwor...!«
Selbst ohne die absichtliche Störung verhinderten die dicken Stahlwände und der Berg über ihnen einen klaren Empfang zur Oberwelt. Der Funkverkehr mit dem vorangegangenen Einsatzteam war dagegen nahezu unverfälscht.
»Kefira, Regan! Serg... alker! Hier Captain Regan. Antwortet ...ammt noch mal! Was ist da ob... los!?«
Fletcher hob eines der noch funktionierenden Headsets auf und reichte es der Gefangenen. »Du hast deinen CO gehört. Er will einen Statusbericht!« Dabei hielt er ihr seinen Gewehrlauf mit aller Deutlichkeit vor die Stirn.
»Captain Regan, hier Sergeant Walker«, begann sie widerwillig. »Wir hatten einen ... Zwischenfall ...«
Chief Fletcher legte an und gab ihr die letzte Warnung.
»Ein paar ... Hunde ... müssen sich nach oben durchgeschlagen haben«, fuhr Kefira mit zornigen Gesichtsfalten fort.
»Was!?«, kam sofort die ungläubige Antwort. »Was ist mit den Pheromonpackungen? Sind die etwa wirkungslos!?«
»Negativ ... Sir. Aber die Reichweite ist äußerst gering.«
»Hattet ihr Verluste?«, fragte die Stimme im Funkgerät.
Fletcher überlegte einen Moment und verglich die Rangabzeichen des Sergeants mit denen der anderen. Dann schüttelte er mit dem Kopf.
»Negativ, Sir. Private Rick hat einen Arm verloren, aber wir kommen klar.«
Kurze Zeit herrschte Ruhe, so als würde Captain Regan seine weitere Vorgehensweise überdenken.
»Soll ich Verstärkung nach oben schicken?«
Diesmal schüttelte Fletcher nicht mal mit dem Kopf, sondern zog in einer selbstverständlichen Geste beide Augenbrauen hoch.
»Es geht schon, Sir«, erwiderte Kefira. »Wir kümmern uns um Private Rick.«
»Verstanden. Schafft ihn zum Centaur. ETA bis zur Evakuierung vierundachtzig Minuten! Regan Ende!«
Die Söldnerin riss sich vom Headset los. »Zufrieden?«, giftete sie Fletcher zu
»Wie viele von euch sind beim Hubschrauber geblieben?«
»Zu viele, als dass ihr damit davonfliegen könntet!«
Fletcher ließ sich von ihrer Widerspenstigkeit nicht beeindrucken und schlug ihr erneut ins blutige Gesicht.
»Wie viele!?«
»Chief ...«, mahnte Yuen.
»Was seid ihr überhaupt für Penner?«, spottete Kefira bei der offensichtlichen Uneinigkeit über die Vorgehensweise. »Gehört der Faltenteppich dir?«
Kaum hatte sie den Satz ausgesprochen, landete Fletchers Faust zum dritten Mal in ihrem Gesicht. Er hatte etwas härter zugeschlagen. Sie spuckte ihm Blut vor die Füße und begann dabei zu lachen.
»Na los, schlag mir den Schädel ein, Süßer!«, gurgelte sie. »Das ist nichts verglichen mit dem, was ich mit euch anstellen werde!«
Fletcher holte erneut aus, aber diesmal hielt ihn Yuen zurück.
»Chief!«, wiederholte er sich mit der strengen Stimme eines Kommandeurs. »Das bringt uns nicht weiter!« Er zerrte den Soldaten zu den Buggys. »Was soll das? Geht unsere Armee heutzutage so mit Gefangenen um?«
»Black Razors«, knurrte Fletcher. »Dieser verdammte Abschaum macht vor nichts halt. Ich hab mit eigenen Augen gesehen, wie die ein ganzes Krankenhaus in Südafrika weggebombt haben, weil ihrem Klienten irgendjemand im Hotel daneben im Weg stand.«
Yuen atmete einmal tief durch. Er hatte von den Gräueltaten mancher Söldnertruppen in den letzten Jahren gehört, aber bis dato nur Gerüchte aus sensationssüchtigen Fernsehreportagen und ähnlich unseriösen Quellen. Die Worte des Chiefs bestärkten ihn in seiner Gewissheit, dass die Menschheit dem Untergang geweiht war und er einen Ausweg finden musste, bevor es zu spät sein würde.
»Wir sollten unsere Leute evakuieren«, forderte Fletcher. »Selbst wenn meine Männer den Centaur übernehmen, mit den vielen Razors in der Basis werden wir nicht ohne Verluste fertig.«
»Dann sind wir umsonst zurückgekehrt«, hielt Yuen dagegen.
»Umsonst!?«, erwiderte Fletcher verärgert. »Sie wissen doch nicht mal, wonach sie suchen!« Dann blickte er zu seiner Gefangenen. »Wir nehmen die da mit und quetschen sie aus. Das ist weitaus sicherer, als zwischen diesen Bastarden und den verfluchten Biowaffen ins Kreuzfeuer zu geraten.«
Yuen rieb sich mit depressiver Miene den Nasenrücken. Er wollte nicht wahrhaben, dass der Chief Recht hatte und er im Grunde genommen nur seine Frau aus den Tiefen der Basis zu bergen versuchte. Die Vorstellung, dass Saki über Jahre einsam verweste oder ihr die Hunde gar das Fleisch von den Knochen rissen, ließ ihn beinahe den Verstand verlieren.
Er drehte sich zu der Gefangenen um und hockte sich vor sie auf den blutigen Boden.
»Kefira, richtig?«, begann er so höflich, wie es sein umgedrehter Magen zuließ. »Mein Name ist Yuen. Zhang Yuen. Ich habe hier bis vor ein paar Tagen gearbeitet.« Er machte eine kurze Denkerpause, um ihre Reaktion einschätzen zu können. Sergeant Kefira starrte ihn lediglich verdutzt an. Sie hatte offenbar mit weiterer Folter gerechnet. »Ich habe dir etwas von mir erzählt«, fuhr Yuen fort. »Wie wäre es, wenn du mir zum Ausgleich sagst, warum deine Leute hier sind?«
Die Söldnerin verrenkte sich fast den Hals, um an Yuen vorbei zu Fletcher zu schauen.
»Ist das sein Ernst?«
Der Chief war bei den Buggys geblieben und hielt sich nun erst recht aus der Befragung heraus. Demonstrativ breitete er die Arme aus und lehnte sich an den Überrollbügel.
»Okay du Eierkopf, ich sag dir, warum wir hier sind«, zischte Kefira daraufhin in Yuens Gesicht. Gleich im Anschluss brüllte sie jedoch lautstark, was ihn beinahe aus der Fassung brachte. »Wir sind hier, weil ein paar von Captain Regans Schwanzlutschern vor zwei Tagen ihren Job versaut haben!«
Yuen schloss einen Moment die Augen, um wieder zu sich zu kommen. »Was ... was genau wollten sie stehlen?«
»Was weiß ich, Mann! Ich bin nur Soldatin!«
»Ich bin Soldat«, raunte Fletcher. »Ihr seid Abschaum, der sich an den Meistbietenden verkauft!«
»Wohl neidisch auf mein Gewehr, hm?«, erwiderte Kefira unbeeindruckt. Der Chief hatte ihre Waffe nicht aus der Hand gelegt. »Ich schenk es dir. Ihr armen Schlucker könnt von sowas doch nicht mal träumen!«
»Chief, suchen sie den Schlüssel zu dem anderen Wagen«, sagte Yuen ebenso streng, wie er Fletcher zuvor von seinem Faustschlag abgehalten hatte. Dann wandte er sich wieder der Söldnerin zu. »Was habt ihr hier gesucht?«, wiederholte er seine Frage.
Zum ersten Mal betrachtete Kefira ihn nicht wie ein bedeutungsloses Opferlamm, sondern fixierte seine Augen mit starrem Blick. »Irgendwas aus dem Kybernetiklabor«, sagte sie. »Kugelgelenke, hydraulische Pumpen, Sensoren. Bauteile für die Roboter, die Schwachköpfen wie deinem Freund hier den Arsch aufgerissen haben!«
Fletcher hatte gerade den Schlüsselkasten geöffnet und kam schäumend auf sie zu, doch Yuen hielt ihn mit streng erhobener Hand zurück wie einen bissigen Wachhund. Er war jetzt der Kommandeur.
»Wozu braucht ihr die? Eure Truppen bestanden doch schon fast ausschließlich aus Robotern.«
»Das war irgendwas Neues«, erwiderte Kefira kopfschüttelnd. Sie schien ihre Feindseligkeit für den Moment zu verlieren und wirkte mindestens ebenso ernst wie Yuen. »Eure Wissenschaftler sind unserem Klienten offenbar einen Schritt voraus und wir sollten das ändern.« Sie rüttelte etwas an ihren Fesseln und setzte sich bequemer hin. »Unser Auftrag war nur die Materialbeschaffung. Wir wollten kein Blutbad anrichten!«
Fletcher sparte sich nach seinem Bericht über die Black Razors und das von ihnen niedergebrannte Krankenhaus jeglichen Kommentar und spuckte stattdessen angewidert auf den Boden.
Yuen ignorierte ihn abermals.
»Wer ist euer Klient?«
»Sorry, aber die Info liegt außerhalb meiner Soldstufe. Und selbst wenn ...« Kefira blinzelte hoch zu Fletcher. »Das würde höchstens er aus mir rauskriegen.«
»Okay«, sagte Yuen. Er hatte ohnehin nur aus Neugierde gefragt. »Woher haben deine Leute diese Pheromonpackungen gegen die Hunde?«
Kefira setzte ein schadenfrohes Gesicht auf. »Von euch!« Lachend nickte sie in Richtung des Geländewagens, dessen Türöffner Fletcher gerade erfolgreich testete. Mit einem schrillen Pfeifen entriegelte sich das Panzerfahrzeug. »Euer Senator hat uns Tür und Tor geöffnet.«Die Leichtigkeit ihrer Worte schien zu belegen, dass sie über dieses Thema offen und gern berichten durfte.
»Wer steckt noch dahinter?«, fragte Yuen weiter. »Irgendwelche Wissenschaftler? Eli Baker? Andrea Kane? Paul Sa...«
»Hey!«, unterbrach ihn Fletcher auf einmal. »Wer von deinen Kollegen hier ist Private Rick!?« Er kam mit schnellen Schritten auf die beiden zu. »Keiner von denen trägt den Namen auf der Uniform! Was ...!?«
Er hatte den letzten Satz noch nicht mal zu Ende gedacht, da pfiff plötzlich eine Kugel aus einem Lüftungsschacht heran. Sie verfehlte seinen Kopf um Haaresbreite.
Kefira lehnte sich noch immer gefesselt zu Yuen vor und säuselte: »Wir sehen uns heut Abend, wenn du in meinem Käfig hockst. Wie eine Legehenne!«
»Doc!«, rief Fletcher. Gleichzeitig schlugen weitere Kugeln neben ihm ein. »Raus hier!«
Irgendjemand rüttelte an der Tür zum Treppenhaus. Ein Söldner war den Fahrstuhlschacht hinaufgeklettert und eröffnete vom Schott aus das Feuer. Der Ausgang lag mitten in ihrem Schussfeld und damit völlig außer Reichweite. Fletcher und Yuen verschanzten sich hinter dem Container, während Kefira sich auf den Rücken legte und schadenfroh lachte. Ihre Kameraden hatten die beiden längst eingekreist.
»Wo kommen die auf einmal her?«, rief Yuen im Lärm des Gefechts.
»Private Rick!«, brüllte Fletcher. »Das war ein Code! Die Schlampe hat nur auf Zeit gespielt. Verdammte Scheiße!« Er zückte zwei Handgranaten. »Wenn ich ihnen das Signal gebe, rennen sie zum Panzerwagen und holen mich hier ab, klar!?« Er riss die Sicherungsstifte aus den Granaten und schleuderte sie in Richtung der Mündungsfeuer. »LOS!«
Geschützt von den beiden Explosionen hechtete Yuen über einen der Buggys und schwang sich hinter das Steuer des Geländewagens. Der Wagen sprang sofort an und jagte mit quietschenden Reifen durch die unterirdische Halle.
»Die Frau! Kefira!«, rief Yuen, als Fletcher auf ihn zugestolpert kam. »Mitnehmen ...!«
Fletcher verschanzte sich hinter der offenen Wagentür. Die Söldnerin hatte sich bereits auf die Füße geschwungen und lief zur Treppenhaustür, um die Stahlstange zu entfernen. Mit einem Kampfdolch ihrer gefallenen Kameraden sägte sie an den Handfesseln aus Kunststoff.
»Keine Chance! Weg hier! Los los los!«, brüllte der Chief und ließ eine dritte Granate unter die Buggys rollen.
Kefira zog gerade die Stange aus der Verriegelung, da zerstörte eine Explosion die gesamte Tür. Ihre Kameraden hatten die Geduld verloren und sich ihren Weg freigesprengt. Kefira wurde aus nächster Nähe von der flammenden Druckwelle erwischt und von den Splittern zu Boden geschmettert. Gleichzeitig flogen auch die Buggys durch Fletchers Handgranate in die Luft und verursachten ein ohrenbetäubendes Getöse.
»Die Schlampe sehen wir nicht wieder!«
Der Panzerwagen hielt dem Beschuss aus kleinkalibrigen Gewehren problemlos stand. Am Heck klirrten die Einschläge, bis sie vom Tunnel verdeckt wurden.
»Ryan! Status!«, rief Fletcher in sein Funkgerät.
»Wir haben vor dem Bunker Stellung bezogen«, erwiderte die ruhige Stimme des Corporals.
»Wo ist der Centaur!?«
»In der Luft. Kreist direkt über uns.«
»Wie viele Besatzungsmitglieder?«
»Wir haben nur drei gesehen«, meldete Ryan.
»Haben die euch entdeckt?«
»Negativ. Bisher nicht.«
Fletcher blickte zu Yuen auf dem Fahrersitz und anschließend durch die gesplitterte Heckscheibe. Mit der Zerstörung der Buggys blieben ihnen vielleicht zwei oder drei Minuten, bis die Razors den Ausgang erreichten.
»Doc«, begann er mit der einstudierten Fassung eines erfahrenen Kommandeurs. »Kriegen sie die Schotten geschlossen?«
»Sie meinen ... das Zufahrtstor im Boden?«
»Korrekt. Wenn die Razors es bis an die Oberfläche schaffen, sind wir im Arsch.«
Der Geländewagen sprang aus dem dunklen Tunnel in den Bunker hinein und stoppte mit quietschenden Reifen.
»Das dauert eine Weile«, versuchte Yuen seine Erwartungen zu dämpfen und stieg aus in Richtung Schaltzentrale.
»Ryan!«, rief Fletcher erneut. »Fahrt eure Kiste bis zu den Schotten! Wir bauen ein Sperrfeuer auf, bis der Doc sie schließen kann!«
»Verstanden!«
Zwanzig Sekunden später brauste der andere Geländewagen durch die halbrunden Betontore, dicht gefolgt von dem Centaur, dessen seitliche Geschütze den Betonboden hinter ihnen aufplatzen ließen. Erst kurz vor dem Bunker drehte der Pilot ab und sorgte mit dem gewaltigen Auftrieb seiner zwei Mantelrotoren dafür, dass er nicht in die offenen Tore krachte. Sie konnten bei Bedarf nach vorn geschwenkt werden, wodurch aus dem Hubschrauber ein Kanonenboot oder Transportflugzeug wurde.
»Mitchell! Wir brauchen Luftunterstützung! Kommt rüber und schafft uns diesen verdammten Centaur vom Hals!«
»Roger, Chief«, ertönte nach ein paar Sekunden Mitchells wenig überzeugte Stimme. Transporthubschrauber hin oder her, ein Centaur wurde nicht umsonst unter Piloten Fliegende Festung genannt. Mit einer vollständigen Besatzung und Bewaffnung war er dem Black Hawk aus der Reserve um mehrere Evolutionssprünge voraus.
»Doc, wie sieht‘s aus!?«
»Ich brauch ein paar Minuten. Das ist nicht mein Fachgebiet!«
»Okay«, rief Fletcher, als seine Männer aus dem Wagen stiegen. »Verteilt euch um die Schotten. Nichts kommt da lebend heraus, klar?«
»Verstanden!«
Sein Team suchte sich halbwegs sichere Positionen hinter eingelagerten Panzerplatten und einem Zugfahrzeug des Flughafens. Fletcher selbst hockte sich in die Zentrale. Von da aus sah er, wie sich der Centaur dem Boden näherte und mit seinen Geschützen in den Bunker zielte.
»Scheiße! Kopf runter!«, brüllte er und riss Yuen zu Boden. Schon blitzte eine der rotierenden Gatlingguns auf und ließ hunderte von Geschossen durch den Hangar prasseln. »MITCHELL!«
»Hauptrotor läuft. Take-off. Take-off«, kratzte die Stimme des Lieutenants aus den Ohrstöpseln.
»Kontakt!«, rief Alexandros dazwischen. »Sie kommen!«
»Feuer!«, befahl Fletcher. »Feuer frei!«
»Granate!«, warnte Gabriel und schleuderte gleich zwei davon in den Schacht.
Das Kommandoteam hatte sich Stellungen gesucht, in denen man sie nicht sofort von Außen erwischen konnte. Entsprechend vorbereitet deckten sie den Zugangstunnel mit einem Sperrfeuer ein, das von den Handgranaten zusätzlich unterstützt wurde.
Fletcher sträubten sich unterdessen die Haare, als er merkte, wie sich der Centaur um die eigene Achse drehte.
»Ryan, pass auf! Der richtet seinen Granatwerfer ...!«
Eine Reihe von Explosionen erschütterten das Innere des Bunkers, als das riesige Gunship seine 40-mm-Granaten abfeuerte. Ryan wurde von den rasch aufeinanderfolgenden Druckwellen erwischt und gegen einen der Geländewagen geschleudert. Er konnte sich gerade noch darunter rollen, ehe der Centaur das orangegestrichene Zugfahrzeug völlig pulverisierte, hinter dem er sich zuvor versteckt hatte.
»MITCHELL!«, brüllte Fletcher. »Wo zum Teufel bleibt ihr!?«
Er erhielt keine Antwort. Aufgrund des reduzierten Abwehrfeuers trauten sich mittlerweile die ersten Razors, ihren Kopf aus dem Zugangstunnel zu stecken. Nur mit großer Mühe gelang es Alexandros und Gabriel, sie zurückzuhalten. Beide riefen einander zu, dass ihnen die Munition ausgehen würde. Fletcher unterstützte sie von der Zentrale aus, aber auch er feuerte inzwischen mit Sergeant Walkers Gewehr, da sein eigenes bereits völlig trocken war.
»Doc! Uns läuft die Zeit davon!«
»Eine Minute!«
»Wir haben keine ...!«
In dem Moment schlugen Funken auf der Hülle des Centaurs ein. Lt. Mitchell hatte das Schlachtfeld endlich erreicht und überflog den Bunker in großer Höhe, so dass ihm die Bordschützen der Razors völlig ausgeliefert waren. Dem angeschlagenen Gunship blieb nichts anderes übrig, als abzudrehen und die Flucht anzutreten.
»Die hauen ab!«, meldete der Black Hawk.
»Lasst sie fliegen und helft uns hier unten!«, befahl Fletcher.
»Nein!«, fiel ihm Yuen sofort ins Wort. »Verfolgung einleiten! Lieutenant Mitchell, lassen sie den feindlichen Hubschrauber auf keinen Fall entkommen!«
Fletcher blickte sich erstaunt und verwirrt zugleich zu ihm um. Von der dringend benötigten Hilfe abgesehen, hätte er dem Doc kein derart kaltblütiges Verhalten zugetraut.
»Ich kann den Bunker versiegeln, aber wenn einer von denen entkommt, werden sie nach uns suchen und viele Möglichkeiten gibt es da nicht!«, erklärte Yuen hektisch. »Unser erster Gedanke fiel schließlich auch auf die Biosphäre!«
»Wir können nicht beides machen!«, meldete sich Mitchell unschlüssig.
»Wir müssen sie im Glauben lassen, dass hier ein paar Militärs überlebt haben!«, legte Yuen nach. »Zerstören sie den Centaur um jeden Preis!«
»Ihr habt den Boss gehört!«, entschied Fletcher. »Holt das Scheißding vom Himmel!«
»Verstanden!«, bestätigte Mitchell.
»Die Schotten, Doc!«
Da ertönte eine Warnsirene im Inneren des Bunkers, die vor dem Verschluss der Betontore im Boden warnte. Rundumleuchten blitzten an den Wänden auf.
»Sie schließen sich!«, rief Yuen.
»Ja, aber verdammt langsam!«, fluchte Fletcher. »Kurbeln sie da von Hand oder was!?«
Als die Razors ihren drohenden Einschluss realisierten, versuchten sie einen letzten Ausbruch. Sechs von ihnen stürmten gleichzeitig an die Oberfläche und schossen wild um sich. Alexandros und Gabriel setzten sich nur noch mit ihren Pistolen zur Wehr. Ryan lag regungslos unter einem Geländewagen.
»Doc! Worauf warten sie!«, rief Fletcher. »Feuer! Halten sie mit drauf!« Er kniff ungläubig die Augen zusammen, als er zwischen den Söldnern die totgeglaubte Kefira entdeckte, die seine Männer blutüberströmt und stinkwütend aufs Korn nahm. Da sie ihr Gewehr an Fletcher verschenkt hatte, nutzte sie stattdessen zwei Maschinenpistolen gleichzeitig. »Das glaub ich ja nicht! Die Schlampe ist einfach nicht totzukriegen!«
Gabriel versuchte sich zu Ryan durchzukämpfen und wurde dabei mehrfach getroffen. Seine Schutzweste fing die Kugeln ab, aber er verlor auf dem Weg seine Waffe und rollte sich auf dem Boden zusammen.
Die Schotten waren nur noch zwei Meter voneinander entfernt. In zehn Sekunden würden die Söldner gefangen sein; entweder unter Tage oder an der Oberfläche, wie auf dem Präsentierteller ohne Deckung. Zwei hatten Fletcher und Yuen tödlich erwischt, drei weitere entschieden sich zum Rückzug. Nur Sergeant Kefira lief nicht davon, sondern hatte stattdessen Schutz in dem Wagen gesucht, unter dem sich Ryan versteckt hielt.
»Haben sie den Schlüssel dabei, Doc?«, fragte Fletcher.
In dem Moment sprang der Motor an und der schwere Panzerwagen rollte über Ryans krachende Beine hinweg hinaus aufs Rollfeld. Den zweieinhalb Tonnen Gewicht waren seine Knochen nicht gewachsen. Einen kurzen Augenblick schrie er auf, bis ihn Bewusstlosigkeit einhüllte und vor den Schmerzen bewahrte.
»So eine Scheiße!«, brüllte Fletcher. »Alexandros, ans Steuer!«, rief er mit lautem Echo quer durch den Bunker. »Gabriel, flick Ryan zusammen!«
Yuen sprintete dem Chief hinterher, der sich im Vorbeilaufen Ryans Gewehr griff und in den zweiten Geländewagen sprang.
»Mitchell, Status! Mitchell!«
Statisches Rauschen war die einzige Antwort, obwohl der Black Hawk sogar noch in Sichtweite war. Der qualmende Centaur versuchte erfolglos, ihn in den umliegenden Bergen abzuschütteln.
»Mitchell wird deren Funk stören«, rief Yuen. Hoffnung schwang in seiner Stimme mit. »So wie sie vorhin in der Basis.«
»Wer zum Henker war das?«, fragte Alexandros, während er den Wagen mit halsbrecherischer Geschwindigkeit durch das Trümmerfeld des Flughafens jagte.
»Ihr Name ist Kefira. Sergeant. Black Razor Company«, erklärte Fletcher und überprüfte hektisch Ryans Gewehr.
»Das waren Razors!?«, platzte es aus Alexandros heraus. Sofort trat er bis zum Anschlag auf das Gaspedal.
Yuen konnte auf der Rückbank nur vermuten, dass Fletchers gesamtes Team schlechte Erfahrungen mit den Söldnern gemacht hatte. Für ihn war es nichts Persönliches. Noch nicht. Er wusste aber, dass Wirtschaftsspionage seit Jahrzehnten mit militärischen Mitteln ausgetragen wurde. Dabei war es vollkommen egal, ob es sich um private Konzerne, staatliche Firmen oder gar die Armee eines Landes handelte. Söldner stellten schon lange eine alltägliche Option dar, wenn eine Klage vor Gericht keine Aussicht auf Erfolg hatte. Ein weiteres Zeichen dafür, in welchem Abwärtsstrudel sich die Welt befand.
»Die fährt runter ins Tal«, sagte Alexandros.
»Du bleibst an ihr dran, bis der Tank leer ist!«, befahl Fletcher.
»Sind unsere Leute noch da unten?«, fragte Yuen und griff nach seinem Mikrofon. »Andrea! Andrea, könnt ihr mich hören?«
Die beiden Hubschrauber waren mehrere Kilometer entfernt, so dass er trotz Störsender ein halbwegs verständliches Signal erhielt.
»Ja ... sind noch ... wrack. Was ist ... oben los!?«
»Lange Geschichte«, sagte Yuen. »Gleich kommt bei euch ...«
»Lassen sie mich, Doc«, unterbrach ihn Fletcher. »Miss Kane, hören sie genau zu. In etwa einer Minute kommen beide Panzerwagen an ihnen vorbei. Im ersten sitzt eine feindliche Söldnerin, die wir mit dem zweiten Fahrzeug verfolgen. Halten sie sich von dem Wagen fern!«
»Okay ... standen«, kratzte die Antwort.
»Pass auf, dass die Schlampe zuerst irgendwo gegenbrettert«, ermahnte Fletcher seinen Fahrer.
Alexandros rieb sich den Schweiß aus seinem angespannten Gesicht. Er hing hinter dem Lenkrad wie ein Rentner im Straßenverkehr; weit nach vorn gebeugt mit buckeligem Rücken. An den Seiten erblickten sie ein paar Hunde, die ihnen wie Delfine auf dem Meer über kurze Strecken folgten und dann wieder im Dickicht untertauchten.
»Doc, was sagt ihre Munition?«, fragte Fletcher.
»Noch ein Clip.«
»Corporal?«
»Trocken.«
Fletcher holte ein Pistolenmagazin aus seiner Weste und steckte es in eine Ablagefläche der Mittelkonsole.
»Festhalten!«, warnte Alexandros.
Sie hatten die Siedlung bereits durchquert. Mit knirschenden Reifen quälte sich der überschwere Geländewagen durch das Chaos der verlorenen Schlacht. Fahrtraining in Gefechtssituationen gehörte zwar zur Grundausbildung, allerdings meist mit dem Fokus auf der erfolgreichen Evakuierung der eigenen Einheit, wenn sich das Territorium als zu heiß erwies. Alexandros hatte nie einen Lehrgang zur motorisierten Verfolgung eines Zielobjekts absolviert.
Sergeant Kefira schien eine ähnliche Ausbildung durchlaufen zu haben. Fast im Sekundentakt schepperte sie an wahllos versprengten Autowracks vorbei. Auf der Straße liegender Abfall und verwesende Leichen ließen die Wagen wie in einem Hindernisparcours herumspringen. Der Frontalzusammenstoß mit einem ausgebrannten Reisebus zerstörte ihren rechten Scheinwerfer.
»Wenn die das noch mal macht, rammst du sie in den Arsch, damit sie nicht mehr wegkommt, klar?«, befahl Fletcher.
Alexandros nickte und blieb auf Kurs. Jetzt wartete er förmlich auf die nächste Gelegenheit, einen absichtlichen Unfall zu bauen.
Eine Minute später war es so weit. Kefiras schwere Verletzungen und ihr hoher Blutverlust rächten sich mit geschwächter Reaktionszeit. Sie streifte einen der zerstörten Reisebusse und kam ins Schleudern. Daraufhin riss sie das Lenkrad zu weit herum, trat auf die Bremse und prallte frontal in einen ausgebrannten Kombi. Alexandros ging ebenfalls in die Eisen und stoppte direkt hinter ihr, so dass sie nicht mehr wegkam.
Kefira hob ihren blutigen Kopf. Der Blechschaden war überschaubar, aber der Airbag hatte ihr die Nase gebrochen. Röchelnd versuchte sie aus dem Wagen zu steigen und stürzte dabei benommen auf die Straße. Ihre Füße hatten sich in den Pedalen verfangen.
Fletcher verkniff sich jeglichen Kommentar und sicherte die Gefangene. Ein Nicken genügte und Alexandros nahm ihr Kampfdolch und Waffe ab. Noch während er darüber nachdachte, ihr Erste Hilfe zukommen zu lassen, begann Kefira spöttisch zu lachen. Wie zuvor, als ihre Kameraden sie in der Logistikstation umstellt hatten.
»Na los«, gurgelte sie durch ihr eigenes Blut. »Legt mich um, ihr Versager!«
Alexandros wandte sich an seinen Vorgesetzten und vollführte Drehungen mit seinem Zeigefinger an seiner rechten Schläfe. Er war offensichtlich der Meinung, Kefira hätte den Verstand verloren.
»Meine Leute werden kommen und ...« Kefira überkam ein Hustenanfall und es dauerte einen Moment, ehe sie verbittert fortfuhr. »Wir werden euch finden! Euch alle ...«
Ein greller Blitz über den Bergen unterbrach ihr Fluchen, gefolgt von einem dumpfen Donnerschlag. Kefira lachte hämisch, als sich der Feuerball in ihren rotgefärbten Augen spiegelte.
»Mitchell!«, rief Yuen in sein Funkgerät. »Lieutenant Mitchell! Bericht!« Er blickte zu Fletcher. »Ist der Funk noch gestört?«
Der Chief überprüfte seinen Armcomputer. »Positiv. Unser Störsender ist nach wie vor aktiv.« Er sah hinauf zum Horizont. Flammen loderten in der Ferne auf. »Das war der Centaur. Mitchell hat ihn abgeschossen.«
Yuen atmete erleichtert auf. Dann merkte er, wie sich ganz weit in seinem Hinterkopf die Frage auftat, warum er Glücksgefühle beim Tod von Menschen verspürte. Eine Frage, die im Zuge des Angriffs auf die Alphas noch allgegenwärtig gewesen war und nun immer mehr in Vergessenheit geriet.
»Vollkommen ... egal ...«, gurgelte Kefira mit unverändertem Grinsen auf dem Gesicht. »... ob das meiner oder euer Hubschrauber war.« Sie ließ sich auf die Straße fallen. »Eure Zeit ist um ... abgelaufen ... am Ende. So wie ihr!«
»Die ist doch total weggetreten!«, meinte Alexandros.
»Festnehmen!«, befahl Fletcher.
»Was!?«, erwiderte Alexandros respektlos. »Wir sollen eine Razor mitnehmen?«
»Corporal!«
»Haben sie nicht gesehen, was die mit Ryan gemacht hat?«, legte Alexandros trotz der strengen Ermahnung nach.
»Ich werde mich nicht wiederholen, Corporal!«, raunte Fletcher ihn an. »Sie ist ab sofort Kriegsgefangene! Mach deinen verdammten Job!«
Alexandros erkannte die Ausweglosigkeit seiner Situation und raufte sich zusammen. Einem Roboter gleich marschierte er auf Kefira zu und holte einen Kabelbinder hervor.
Er war nur noch einen Meter entfernt, als sich plötzlich hinter ihm ein Schuss löste. Die Söldnerin rutschte mit aufgeplatztem Schädel zu Boden und blieb regungslos liegen. Ihre geöffneten Augen starrten fassungslos ins Leere, so als hätte sie ihren Tod nicht kommen sehen.
»Was zum ... Doc!?«, rief Fletcher aufgebracht. »Ich dachte, wir brauchen Gefangene?«
»Nicht solche Gefangene«, murmelte Alexandros.
»Für sie bestand keine Hoffnung mehr«, sagte Yuen und senkte sein Gewehr. »Die Alphas sind der Not gefolgt. Sie sind formbar und könnten irgendwann zu uns gehören, aber Kefira ...« Er machte eine kurze Pause und kniete sich zu den starren Augen der toten Frau. »Ihr Blick sprühte vor Entschlossenheit und Zorn. Sie hätte sich niemals gebeugt und nie aufgehört, uns zu schaden.« Yuen stand auf und drehte sich zu den beiden Männern um. »Sergeant Walker und ihre Razors sind ein Sicherheitsrisiko, das wir uns nicht leisten können. Wenn wir überleben wollen, dürfen wir keine offenen Enden zurücklassen.«
»General McQueen hätte mit denen auch kurzen Prozess gemacht«, sagte Alexandros.
»McQueen hätte keine hilflosen Gefangenen erschossen«, hielt Fletcher dagegen. »Völlig egal, wie viel Gefahr von ihnen ausgeht.«
»General McQueen ist tot«, sprach Yuen mit ungewöhnlicher Deutlichkeit. »Sie wollten, dass ich das Kommando übernehme, Chief. Ich bin jetzt ihr Queen-six.« Er stieg über Kefiras Leiche hinweg und setzte sich ans Steuer ihres gestohlenen Wagens. Dank der Panzerausführung war der Schaden nur oberflächlicher Natur. »Stellen sie den Funkkontakt mit Lieutenant Mitchell wieder her, sammeln sie unsere Leute ein und veranlassen sie ein Treffen bei Bunker Fünf. Dort wartet noch Arbeit auf uns.«
Ohne auf eine Reaktion zu warten, ließ er das Auto an und fuhr davon.
***
Mit verbissenem Blick rollte Yuen durch die Ruinen seines alten Lebens. Stumm zogen die Trümmer an ihm vorbei. Er wurde das Gefühl nicht los, dass ihn ein paar der Wracks anzuziehen versuchten, so als solle er sie nicht verlassen. So als wollten sie ihn warnen, nicht zu tief in den Abgrund zu starren.
Er hatte es getan. Er hatte einen Menschen getötet. Nicht aus großer Entfernung oder durch technische Spielereien, sondern aus nächster Nähe mit einem Gewehr in der Hand. Einen hilflosen und verletzten Menschen, der seiner Gnade vollkommen ausgeliefert gewesen war. Er hatte sich zum Richter, Henker und Geschworenen aufgeschwungen; sich selbst zum Gesetz erklärt. Innerhalb einer Woche war er vom zivilen Wissenschaftler, der an Demokratie und Recht und Ordnung geglaubt hatte, zum Autokraten geworden, der sich als höchste moralische Instanz betrachtete.
Im Schritttempo überquerte er die große Kreuzung, an der ihn der überforderte Private an der Weiterfahrt zur Basis hatte hindern wollen. Er holte ein laminiertes Foto seiner Frau hervor und hielt es am Lenkrad fest. Sie lächelte voller Glück und Stolz über ihr Leben in der Militärbasis, das sie trotz der chaotischen Umstände meisterten. Ein eigenes Haus, ein Garten und schon bald ein Kind. Was würde Saki zu all dem sagen? Yuen der Soldat? Yuen der General? Yuen der Mörder? Yuen der Vater? Wie oft konnte er sein Handeln noch mit Jiao entschuldigen? Wie oft würden Fletchers Männer ihm diese Ausrede abnehmen?
Bei einem Blick in den Rückspiegel entdeckte er den zweiten Geländewagen, der ihm folgte und langsam aufholte. Sie mussten von hier verschwinden und durften nicht zurückkehren. Diese Basis war verflucht und würde sie alle vernichten, wenn sie die Chance dazu bekäme. Yuen musste einen Schlussstrich ziehen, die Vergangenheit besiegeln und dafür sorgen, dass sie nicht von ihr eingeholt werden konnten.
***
Hawk-one hatte sich bei Fletcher gemeldet und landete mit leichten Gefechtsspuren vor Bunker Fünf, als Yuen gerade davor stoppte. Der zweite Panzerwagen hielt hinter ihm und hatte die Zivilisten an Bord. Andrea fragte, was geschehen sei, doch Yuen winkte ab. Dies war nicht die Zeit für Fragen.
»Lieutenant, Chief«, begann er ruhig. »Ich werde eine Weile in der Kommandozentrale beschäftigt sein. Sie sollten die Zeit nutzen, um die Hangars auszuräumen. Beladen sie den Hubschrauber so weit, dass wir noch alle darin Platz finden. Den Rest verstauen sie in den beiden Wagen.«
Mitchell wusste noch nichts von den Geschehnissen am Boden, aber die Basis mit Ersatzteilen für Dannys beschädigte Maschine zu verlassen, erschien ihm nach den unübersichtlichen Gefechten als äußerst sinnvoll. Fletcher gab sich hingegen nicht so leicht zufrieden.
»Wozu die Autos beladen?«, fragte er. »Es gibt keinen Gebirgspass in der Nähe. Außen herum sind das doch über tausend Kilometer bis zur Biosphäre!«
»Wir fahren sie nicht nach Hause«, beruhigte ihn Yuen. »Nur eine Stunde in den Wald hinein. Dort können wir ihre Ladung abholen, ohne die Basis noch einmal anfliegen zu müssen.«
Das leuchtete Fletcher ein. Er nickte bestätigend und pfiff Private Thornton heran, der ihnen bei der raschen Inventur helfen sollte.
»Doc, was glauben sie, wie schwer diese Dinger sind?«, fragte Mitchell und deutete in Richtung der Panzerwagen.
»Zwei bis zweieinhalb Tonnen würde ich sagen. Warum?«
Mitchell warf einen Blick zu Danny, der seinerseits kurz zum Hubschrauber schaute und dem Lieutenant dann zustimmend zunickte.
»Im leeren Zustand könnten wir sie an die Hubschrauber hängen und mitnehmen«, schlug Mitchell vor. »Die Dinger haben sich als verdammt widerstandsfähig erwiesen.«
Nun hatten sie Fletchers Interesse geweckt, der als Teil der Bodentruppen gern in gepanzerten Fahrzeugen saß. »Das wär einsame Spitze, Doc.«
»Gute Idee, LT«, stimmte Yuen zu. »Aber Priorität haben Ersatzteile für Hawk-two.«
Die Soldaten salutierten und wendeten sich ihrem Auftrag zu. Specialist Gabriel schaffte Corporal Ryan in den Hubschrauber. Improvisierte Schienen aus Brettern und Eisenstangen fixierten seine gebrochenen Beine. Er war immer noch bewusstlos. Der Sanitäter drängte auf einen schnellen Abflug, damit sich die offenen Wunden nicht unnötig entzündeten und Dr. Webb im schlimmsten Fall amputieren müsste.
»Doktor Zhang?«, versuchte Andrea es erneut.
»Du brauchst mich nicht mehr mit Doktor anzureden. Sag einfach Yuen.«
»Okay. Yuen«, brachte Andrea mit einem Frosch im Hals hervor. »Was war da unten los? Wer sind diese Razors, von denen der Chief erzählt hat?«
»Söldner«, erwiderte Yuen knapp. »Die sind für all das hier verantwortlich.«
Andrea verschlug es die Sprache, als sie ihm in den Bunker folgte.
»Irgendetwas haben die hier vergessen«, fuhr Yuen fort. »Darum sind sie zurückgekommen. Wir wissen nicht, was es ist, aber es muss irgendwo in der Basis sein.«
»Das heißt, die werden es noch mal versuchen?«
»Bestimmt.« Er führte sie in die Kommandozentrale und zeigte auf eine der Tastaturen. »Vollkommen egal, was sie gesucht haben, sie dürfen es nicht bekommen. Nicht bevor wir wissen, um was es sich handelt. Ich habe die Schotten vorübergehend geschlossen, aber wir müssen dafür sorgen, dass niemand mehr etwas aus dem Komplex stehlen kann.«
***
Währenddessen gesellte sich Lieutenant Mitchell mit besorgtem Gesichtsausdruck zu Fletcher.
»Wir hatten verdammtes Glück, dass der Centaur regungslos auf Bodenhöhe stand«, sagte er. »Hätten die uns kommen sehen, wären wir geliefert gewesen.« Als der Chief nicht reagierte, sondern Yuen in den dunklen Bunker hinterherstarrte, griff Mitchell nach seiner Schulter. »Hey! Was war da unten eigentlich los?«
Fletcher blinzelte nachdenklich und erzählte von dem Gefecht mit den Razors. »Ich hab keinen blassen Schimmer, was die Bastarde hier wollten«, brummte er und wendete den Kopf wieder in Richtung Bunker. »Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass er mehr darüber weiß.«
»Wie kommen sie darauf?«
Fletcher holte eine Packung Zigaretten aus seiner Uniform und bot sie Mitchell an. Als der dankend abgelehnt hatte, fuhr Fletcher rauchend fort.
»Unser Doc verändert sich rapide«, sagte er. »Als ich ihn vor zwei Tagen da unten aufgegabelt hab, wollte er nichts als weg von hier. Jetzt gibt er uns Befehle wie McQueen und vor zehn Minuten hat er eine wehrlose Gefangene vor meinen Augen abgeknallt.«
»Ich dachte, das war eine Razor?«, erwiderte Mitchell. »Die haben es nicht anders verdient.«
Fletcher trat einen Schritt auf ihn zu. »Das wissen wir!«, knurrte er. »Aber für den Doc war sie eine ganz normale Söldnerin. Vielleicht mit ‘nem Sprung in der Schüssel, aber keinesfalls mehr eine Bedrohung für uns.« Er drehte sich zurück zum Bunker. »Mir gefällt die Richtung nicht, in die er sich entwickelt.«
»Wollen sie unser Arrangement überdenken?«
»Und die Zivilisten ihrem Schicksal überlassen?«, entgegnete ihm Fletcher. »Wir haben bereits Fahnenflucht begangen. Wenn wir jetzt auch noch den Grund dafür im Stich lassen, können wir uns auch gleich Alphas nennen und Städte überfallen.«
Mitchell nickte zustimmend. »Er braucht uns mindestens ebenso sehr wie wir ihn«, sagte er überzeugt. »Wenn wir ein wenig Acht auf ihn geben, überleben wir die Apokalypse vielleicht. Ich hätte jedenfalls nichts gegen einen ruhigen Lebensabend in der Biosphäre.«
»Keine Familie?«
Lt. Mitchell schüttelte den Kopf. »Einzelkind und Vollwaise. Und sie?«
»Das ist ... kompliziert«, sagte Fletcher. »Meine Männer werden ihre Familien holen wollen. Da kümmern wir uns drum, wenn wir in Sicherheit sind.«
»Dann lassen sie uns mal nach dem Zeug für Dannys Vogel suchen.«
Die beiden schlossen sich Private Thornton an, der bereits passende Ersatzteile ausfindig gemacht hatte. Eine komplette Turbine für den überalterten Black Hawk lag nirgendwo herum, aber laut dem Mechaniker verfügte die Basis über genug Material, um selbst schwere Triebwerksschäden zu reparieren; Standardisierung sei dank. Nebenbei stapelten sich kistenweise Munition und Verbandsmaterial auf den Rücksitzen der Geländewagen. Dosennahrung, Tabletten zur Wasserdesinfektion und besonders wichtig: Toilettenpapier. Gerade in Zeiten unsicherer Nahrungsversorgung maß man der ungestörten Abfuhr selbiger große Bedeutung bei.
***
Dreißig Minuten lang blickte Fletcher immer wieder nervös auf die Uhr. Yuen schien sich alle Zeit der Welt zu lassen. Vermutlich hatte er sich mit seiner Kollegin in Arbeitsunterlagen verzettelt. Als seine Männer die letzten Gepäckstücke sicherten und er im Bunker nach dem Rechten sehen wollte, kamen ihm Andrea und Yuen endlich aus der Dunkelheit entgegen.
»Alles erledigt, Chief.«
In diesem Moment begannen die halbrunden Bunkertore zu vibrieren und verschlossen sich von selbst.
»Niemand kommt mehr rein oder raus?«, fragte Fletcher rhetorisch.
Andrea biss sich auf die Unterlippe und überließ ihrem älteren Vorgesetzten das Wort.
»Nicht ganz«, gab Yuen zu und trat den Rückweg zum Hubschrauber an. »Jemanden mit vergleichbaren Ressourcen der Razors aus der Basis auszuschließen, ist nahezu unmöglich. Vollkommen egal, wie viele Codes und Sicherheitsprotokolle wir erstellen, irgendwann sind alle Hürden überwunden. Wir haben lediglich einige Sperren installiert, um sie davon zu überzeugen, dass wir sie draußen halten wollen.«
Fletcher hielt ihn am Arm fest und zeigte auf Bunker Fünf. »Aber da kommt jetzt jeder rein!?«
»Jeder ist übertrieben«, rechtfertigte sich Yuen. »Und einmal drin aktiviert sich ein stummer Countdown, um heil wieder herauszukommen. Anschließend versiegelt sich die Basis mit Hilfe des Quarantäneprotokolls und dafür gibt es keinen Bypass, außer sich durch die atombombensicheren Betonwände zu sprengen.«
»Das Quarantäneprotokoll sollte die absolute Notlösung sein, falls da unten irgendwas schiefgeht«, fügte Andrea rasch hinzu. »Es gibt keine Möglichkeit, die Basis von innen zu öffnen, ohne sich durch den Berg zu graben.«
Fletcher ließ mit offenem Mund von Yuen ab und starrte auf den Bunker. »Sie haben aus dem verfluchten Ding eine Mausefalle gemacht?«
Andrea und Yuen blickten sich einander schulterzuckend an. Eine derart simple Wortwahl machte ihre langwierigen Erklärungen überflüssig.
»Ja, ganz genau. Eine Mausefalle für Razors und Schatzsucher zugleich.«
»Na schön«, brummte Fletcher. »Es ist ihre Basis.« Er setzte den Weg zum Hubschrauber fort, wo seine Männer bereits auf sie warteten. »Haben sie rausgefunden, wofür die Razors hier sind oder was in diesen Kisten ist?«
»Nein«, antwortete Yuen knapp. »Wir konnten ein paar Daten sichern, aber die Auswertung wird Jahre dauern, wenn wir keine Hilfe bekommen.«
»Also zurück zu unserem ursprünglichen Plan? Überlebende suchen und in die Biosphäre evakuieren?«
Yuen nickte. »Sobald wir das Material gesichert und den zweiten Hubschrauber instand gesetzt haben, machen wir uns an die Arbeit.«
***
Kurz darauf verließen sie den Stützpunkt für immer. Alexandros und Danny fuhren die Autos den Berg hinab durch die Militärsiedlung in Richtung Süden. Erst nach zwanzig Kilometern sollten sie die erste Abzweigung nach Osten nehmen und sich dann anhand einer Karte zum vereinbarten Treffpunkt durchschlagen. Hawk-one folgte ihnen eine zeitlang wie ein mächtiger Beschützer aus der Luft. Fletcher hatte die Idee so zu tun, als würden sie in Richtung Raytown abziehen. Dort befand sich der ursprüngliche Evakuierungspunkt von General McQueens Truppen. Sofern die Razors noch Augen in der Basis hatten, könnte sie der Südkurs auf eine falsche Fährte locken.
Yuen setzte sich angesichts des chronischen Personalmangels an das Steuerbordgeschütz des Hubschraubers, während seine Heimat unter ihnen hinwegzog. Aus großer Höhe betrachtet sahen die Spuren der Schlacht gar nicht so schlimm aus. Dank der halbwegs diszipliniert abgelaufenen Evakuierung wirkte die Siedlung wie koordiniert aufgegeben. Selbst der Schlagbaum des Pförtnerhäuschens war ordnungsgemäß geschlossen. Die eigentlichen Trümmer begannen erst ein paar Kilometer außerhalb der Ortsgrenze. Viele der zerstörten Fahrzeuge waren von der Straße geschleudert worden und passten zum angrenzenden Waffentestgelände, wenn man sich die Leichen wegdachte.
Mit den Bildern der Zerstörung vor Augen holte Yuen das Foto von Saki hervor. Er konnte fühlen, wie sich seine Nase abermals verstopfte und ihm die Tränen kamen. Die anderen Passagiere merkten davon nichts, aber er wischte sie sich dennoch aus dem Gesicht. Er wollte keine Schwäche zeigen. Er durfte es nicht, wenn sie die nächsten Wochen überleben wollten.