27

Der Morgen war strahlend schön; die Nordsee lag ruhig und glatt. Das große Segel hing flach, um sich in der nächsten Bö der unsteten westlichen Brise jäh mit lautem

Knall aufzublähen. Zarabeth strich sich das Haar aus dem Gesicht und legte die Hand schützend gegen das gleißende Licht und den Sprühnebel der salzigen Gischt an die Augen. Sie glaubte, in der Ferne York zu erkennen, doch die Umrisse stellten sich als graue Wolkenbank heraus, die sich am Horizont erstreckte. Die Seewind glitt vorwärts, näherte sich mit jedem Ruderschlag der Stadt York, begleitet von kreischenden Seevögeln, die hungrig nach Abfällen Ausschau hielten.

Eine Möwe stieß herab, ließ sich auf der Reling nieder und plusterte laut kreischend das Gefieder auf. Zarabeth achtete nicht auf den Vogel. Sie erinnerte sich an Ragnar, der an der Spitze der Malekbewohner stand, die den gewundenen Pfad vom langen Holzsteg bis hinauf zu den Palisadentoren säumten. Sie glaubte beinahe, den harzigen Duft der frischen Holzbalken der neu erbauten Häuser in der Morgenluft zu riechen. Alle Leute winkten ihnen zu, riefen Segenswünsche und gute Ratschläge herüber. Ragnar, beinahe wieder hergestellt — nur sein linker Arm lag noch in einer losen Schlinge — stand stumm wie eine Statue. Nach langem Überreden hatte er sich damit einverstanden erklärt, in Magnus' Abwesenheit die Aufsicht über Malek zu führen. Eldrid oblag die Aufsicht über die Arbeiten der Frauen im Langhaus, obwohl sie zeterte und klagte, sie sei zu alt und zu schwach für eine solche Verantwortung. Doch Magnus hatte sie barsch unterbrochen: »Unsinn, Tante. Du bist klug und gerecht. Führe mein Haus in unserer Abwesenheit und halte alles zu unserer Rückkehr bereit.«

Sie würden Egill und Lotti gesund und wohlauf vorfinden, davon war Zarabeth überzeugt. Ihr starrköpfiger und übertrieben vorsichtiger Ehemann würde sich schon an ihre Gegenwart gewöhnen. Irgendwann würde er aufhören zu schmollen. Er hatte sich schließlich zähneknirschend ihrem Wunsch gebeugt, ihn zu begleiten.

Am letzten Abend vor seiner Abreise hatte sie ihm fest in die Augen geblickt und ihm dabei feierlich geschworen, daß sie in seiner Abwesenheit Malek verlassen und auf eigene Faust nach York reisen würde.

Er hatte wütend geknurrt und geflucht und zwei Holzschalen zertrümmert, war wie ein gefangener Bär in der Umzäunung hin und her gestapft, hatte sogar gedroht, sie einzusperren. Schließlich hatte er sich an seine Mutter um Beistand gewandt, die wenige Tage zuvor angereist war. Zu seinem maßlosen Erstaunen hatte Helgi Zarabeths Partei ergriffen. »Es ist ihr gutes Recht«, hatte sie gesagt und dem Sohn sanft mit ihrer schwieligen Hand über die Wange gestrichen. »Das mußt du verstehen, mein Sohn. Lotti ist ihre Schwester, und sie hat den verständlichen Wunsch, das Kind zu suchen und es selber nach Hause zu bringen. Es wäre falsch, ihr das zu verbieten. Sie ist jetzt eine Wikingerfrau, Magnus.«

Darauf hatte er nichts entgegnet, obgleich wütende Worte und Drohungen ihm beinahe die Kehle zuschnürten. Schließlich hatte er ärgerlich geknurrt: »Aber sie bekommt ein Kind von mir!« worauf die beiden Frauen ihn mit einem nachsichtigen Stirnrunzeln bedachten.

Nun war ihre Reise bald zu Ende. Ein halber Tag noch, hörte sie Tostig sagen. Vielleicht noch ein ganzer, wenn der Wind ungünstig stand. Zarabeth spürte Magnus' Nähe. Nach einem kurzen Augenblick legten seine Arme sich um sie, und er zog sie an seine Brust.

»Bald sind wir da«, sagte er und zog sie näher an sich. »Wie fühlst du dich?«

»Ich fühle mich wunderbar.«

»Ich habe beschlossen, dir nicht mehr böse zu sein. Es macht mich einsam und bringt mir nur verachtende Blicke der Männer ein. Ich bin es leid, so zu tun, als wärst du nicht bei mir, Zarabeth. Es bringt mir nichts.«

Sie wandte sich ihm lächelnd zu. »Nein, das tut es nicht, und ich bin froh, daß du mich wieder sehen möchtest. Du hast mir gefehlt, Mann. Ich habe mich nach der Berührung deiner Finger auf meinen Lippen gesehnt — und nach deiner Fülle in mir.«

Magnus küßte sie zart auf den Mund, dann blickte er ihr forschend ins Gesicht. »Hör mir zu, Zarabeth. Auch wenn wir unserer Sache sicher sind, können wir nicht wissen, ob Egill und Lotti noch am Leben sind. Vielleicht hat Orm gelogen. Er macht sich gern auf Kosten anderer lustig. Er sieht auch gern, wenn andere leiden. Wir müssen auf das Schlimmste gefaßt sein, aber wir tragen es gemeinsam.«

»Die Kinder sind am Leben.«

»Ich habe zwar diesen Traum gehabt, es wäre aber töricht, fest daran zu glauben.«

»Die Kinder sind am Leben.«

Er drückte sie fester an sich, sagte aber nichts mehr. Er war beinahe so sicher wie sie, daß Egill und Lotti lebten, fürchtete jedoch, die Worte auszusprechen, fürchtete, das Schicksal könnte sich irgendwie gegen ihn wenden, wenn er seiner Sache zu sicher wäre.

Ingunn stand vor Egill in einer Ecke des Gartens, unsicher, was zu tun sei. Die Geliebte des Königs, seine Nichte Cecilia, hatte die beiden achselzuckend alleine gelassen. »Ich verstehe dich nicht«, sagte Ingunn im höchsten Maße verärgert, daß sie ihn am liebsten geohrfeigt hätte. »Ich bin bekommen, um dich zu retten, und du weigerst dich, wegen der kleinen Mißgeburt mit mir zu kommen!«

»Wo ist Orm Ottarsson? Weiß er, daß du hier bist? Kennt er dein Vorhaben?«

Ingunn blickte ihren Neffen forschend an. Der Junge hatte sich verändert. Seine Stimme klang beinahe wie die von Magnus — gebieterisch und fest, als sei er daran gewöhnt, Befehle zu erteilen, und sie, eine Frau, habe ihm zu gehorchen. Sie war wütend. Sie wollte ihn retten — bei Thor, sie hatte ihre wertvollste Brosche verkauft, um die nötigen Silbermünzen aufzubringen — und nun führte er sich auf, als sei ihr nicht zu trauen. Dabei war sie von seinem Fleisch! »Das ist unwichtig«, sagte sie. »Du wirst mit mir kommen, und ich bringe dich wohlbehalten nach Malek zurück.«

»Es ist sogar sehr wichtig«, entgegnete Egill unbeirrt. »Orm Ottarsson hat Lotti und mich entführt. Wir waren beide halbtot. Ich fürchtete, Lotti würde sterben, so viel Wasser hatte sie geschluckt und es literweise erbrochen. Aber er kümmerte sich nicht darum, bis ihm der Gedanke kam, daß er uns für seine Zwecke benutzen könnte. Er brachte uns nach York und machte mit uns ein Tauschgeschäft mit dem König, um das Land zu bekommen, das er haben wollte. Er war sehr stolz auf seine Tat. Wenn du mich zu ihm zurückbringst, wird er sehr wütend sein.«

»Nein, das wird er nicht. Außerdem wirst du ihn gar nicht zu Gesicht bekommen.«

»Er haßt meinen Vater. Ich habe gehört, wie er darüber sprach, daß er dafür sorgen werde, daß mein Vater für seinen Stolz und seinen Hochmut bezahlen muß, daß es ihm noch leidtun wird, daß er meine Mutter geheiratet hat. Er prahlte damit, Zarabeth zu entführen und mit ihr zu machen, was er will. Er brüstete sich damit, daß er ihr ein Kind macht und sie zu meinem Vater zurückschickt. Er haßt uns alle, außer dich. Ich verstehe das nicht.«

»Orms Haß gegen deinen Vater hat nichts mit mir zu tun. Orm liebt mich. Bald bin ich seine Ehefrau. Mehr brauchst du nicht zu verstehen. Komm jetzt, wir müssen fort. Ein Boot wartet auf uns.«

Egill baute sich breitbeinig vor ihr auf, ballte die Fäuste und lächelte seine Tante standhaft an. »Ich habe dir bereits gesagt, ohne Lotti gehe ich nirgendwo hin. Kaufe sie frei, und wir werden beide mit dir fortgehen.«

»Dieses verdammte Idiotenkind! Sie ist nichts wert, ein wertloses Sklavenbalg. Du hast sie von Anfang an nicht gemocht! Sie hat dir die Zuneigung deines Vaters gestohlen. Sie kann nicht mal richtig sprechen, gibt nur dieses Lallen von sich. Du kommst jetzt mit mir, Egill. Vergiß sie.«

Sie packte seinen Arm; der Junge rührte sich nicht von der Stelle. Sie schüttelte ihn, doch er gab nicht nach. Er war stärker geworden. Er war kein kleiner Junge mehr. Ihr Atem ging fauchend, als sie den Zorn in seinen Augen sah, die Augen seines Vaters. Sein Blick war kalt und voller Eigensinn.

»Du hast meinen Vater verraten. Du hast auch Zarabeth verraten. Du hast sie gequält und ausgepeitscht, dabei hatte sie dir nichts getan. Ist sie hier? Hat Orm auch sie entführt?«

Ingunn trat einen Schritt zurück. »Nein, du dummer Junge! Das Luder lebt in Saus und Braus auf Malek. Malek gehört nun ihr! Sie ist mit deinem Vater verheiratet! Wie gefällt dir das — jetzt ist sie deine Mutter! Bei allen Göttern, sie ist am Ziel ihrer Wünsche!« Ingunn rieb sich die Stirn. »Ich war eine törichte Närrin, hierher zu kommen, mein Leben für deine Rettung aufs Spiel zu setzen. Du undankbarer, ungezogener Bengel. Wenn Orm wüßte, daß ich hier bin, würde er mich töten!«

»Wenigstens bin ich kein Verräter. Wenn ich sterben muß, so habe ich wenigstens keine Schmach und keine Schuld auf mich geladen.«

»Du eingebildeter Dummkopf!« Sie schlug hart zu. Egills Kopf schnellte nach hinten, aber er wich nicht von der Stelle. Er griff sie auch nicht an. Seine Haltung wurde nur noch fester, und er blickte sie voll Verachtung an.

»Verdammt noch mal, du bist frei. Ich habe dem König ein Vermögen an Silbermünzen für dich bezahlt. Es ist mir gleichgültig, ob du mit mir kommst oder nicht. Ich habe meine Pflicht getan.« Sie fuhr herum, hielt inne und drehte sich langsam wieder ihm zu. »Hör zu, Junge: Ich war die Gefährtin deines Vaters, ich habe sein Haus geführt, er konnte mir unbesorgt die Verwaltung von Malek überlassen. Es war mein Hof ebenso wie seiner! Ich war ihm mehr als eine Ehefrau sein konnte, denn ich bin sein Fleisch und Blut. Ich habe mich um alles auf Malek gekümmert, selbst um seine Frauen, und dennoch hat er mich für die dreckige Hure weggeworfen. Und dann noch die Schwester der Hure, diese erbärmliche Mißgeburt! Da hockt sie hinter dir, genau wie ihre Schwester sich hinter Magnus versteckt und ihm Lügen über mich erzählt hat!

Und dann hat sie mich auch noch beschuldigt, ich hätte sie verprügelt und schlecht behandelt. Alles Lügen, alles, was sie gesagt hat, war gelogen. Bleib bei ihrer schwachsinnigen Schwester, Egill! Mir ist es egal.« Sie trat einen Schritt auf Lotti zu und hob die Hand.

»Tu das nicht«, sagte Egill. »Faß sie nicht an, oder du wirst dafür bezahlen. Ich bin kein Kind mehr. Mein Vater hat mich gelehrt, Menschen zu beschützen, die schwächer sind als ich. Lotti ist nicht nur in meiner Obhut, sie gehört zu mir.«

Ingunn starrte den Jungen an. Ihm war ernst mit dem, was er sagte. Er würde sie sogar angreifen, sie, die sich nach Dallas Tod seiner angenommen hatte, die ihn wie ihren eigenen Sohn behandelt hatte. Plötzlich ertrug sie das alles nicht mehr. Tränen stürzten ihr aus den Augen, sie schluchzte laut auf, drehte sich auf dem Absatz um und verließ das Haus. Abrupt blieb sie stehen, unfähig weiterzugehen. Bei Thor, würde das nie aufhören? Wieder war sie unschlüssig, zornig auf den Jungen, wußte aber, was sie zu tun hatte, ja, sie wußte es. Sie hatte keine Wahl.

König Guthrums Finger glitten über die reich geschnitzten Armlehnen seines Stuhles. Vor ihm stand Magnus Haraldsson, den er ohne Zögern vorgelassen hatte. Der Mann hatte sein Vertrauen, soweit irgendein Mann sein Vertrauen genoß. Außerdem war er höchst neugierig, welches Anliegen er vorzubringen hatte.

»Soso«, meinte er gedehnt, die Augen auf seine Hände und die Eichenschnitzereien gerichtet. »Der Junge ist dein Sohn. Er kam mir irgendwie bekannt vor; Aslak erging es nicht anders. Ja, er sieht dir ähnlich. Seine Tante hat ihn mir abgekauft und hat ihn mitgenommen. Das war erst gestern. Ich nehme an, er ist bereits außer Landes.«

»Und das kleine Mädchen? Ihr Name ist Lotti.«

»Ja, ich erinnere mich an die Kleine. Die Frau wollte sie nicht haben, obgleich selbst meine liebe Cecilia wußte, daß die beiden Kinder unzertrennlich waren. Sie waren beinahe wie Zwillinge. Vermutlich hat meine, ehm, Nichte Cecilia sie behalten.«

Guthrum hörte Zarabeths scharfes Einatmen und wandte sich an sie.

»Jetzt erkenne ich dich. Du bist die Frau, der Magnus vor einigen Monaten das Leben gerettet hat, die Frau, von der wir glaubten, sie habe Olav den Eitlen vergiftet. Merkwürdig, ja, sehr merkwürdig.«

»Was meint Ihr, Sire? Ich habe meinen Ehemann nicht vergiftet.«

»Ja, alle wissen jetzt, daß man dich zu Unrecht dieses Mordes beschuldigt und verurteilt hat. Toki hat ihn umgebracht. Keiths Frau. Sie lebt nicht mehr.« Er rieb die Hände aneinander, sichtlich zufrieden mit dieser Lösung.

Magnus blickte dem König forschend ins Gesicht, nachdenklich über die Launen des Schicksals. Wäre er damals nicht zurückgekehrt, wäre Zarabeth für ein Verbrechen hingerichtet worden, das sie nicht begangen hatte. Toki war die Schuldige, und nun war sie tot. Bei den Göttern, das war mehr, als ein Mann sich erklären konnte.

Zarabeth brachte einige seiner Gedanken zum Ausdruck, als sie mit ungläubiger Stimme fragte: »Tot? Hat Toki ihre Untat gestanden?«

König Guthrum schüttelte den Kopf. »Nein. Ihr Ehemann berichtete dem Ältestenrat, daß sie die Mörderin seines Vaters war, nicht du, Zarabeth. Sie hatte es Keith eines Nachts im Rausch gestanden. Er hat sie dafür zu Tode geprügelt.«

Zarabeth rückte näher an Magnus heran. Er spürte ihr Zittern, ihr Entsetzen über die Gefühlskälte des Königs.

»Keith sagte, sie sei ein zänkisches Weib, voller Neid und Mißgunst. Er sagte, sie habe verdient, durch seine Hand zu sterben, denn als ihr Ehemann sei er teilweise für ihre Untat verantwortlich.« Guthrum nickte würdevoll, im vollen Bewußtsein seiner Güte und Weisheit. »Ich habe ihm zugestimmt und mit mir der Rat von York. Sein Handelsgeschäft blüht neuerdings, und er hat Ansehen gewonnen. Er wird seinem Vater jeden Tag ähnlicher. Er stolziert herum, mit Silber und Goldketten behangen, an jedem Finger einen kostbaren Ring. Und er trägt nur die feinsten Kleider. Er hat sich eine neue Frau genommen, ein hübsches Mädchen von vierzehn Jahren; sie wird ihm viele Söhne gebären. Er hat mir reiche Geschenke gebracht.«

Schicksal, dachte Magnus wieder. Seine Wege blieben Magnus und allen anderen Menschen verschlossen. Er nahm Zarabeths Hand, während der König weitersprach mit dem Gebaren eines Herrschers, der Gerechtigkeit walten ließ. »Ich hatte vergessen, daß Olav der Eitle bestimmte, daß du nach seinem Tod seinen gesamten Besitz erben sollst. Da du an seinem Tod unschuldig bist, hast du Anspruch auf eine Entschädigung.«

»Ja, das halte ich für gerecht, Sire«, sagte sie und blickte ihren Ehemann mit einem Lächeln an. »Ich hätte gern die Münzen wieder, die Magnus an Keith in Danegeld für den Tod seines Vaters bezahlt hat.«

»Du wirst sie bekommen.«

»Sire, wir wollen meinen Sohn und Zarabeths Schwester abholen. Wenn meine Schwester Ingunn den Jungen fortgebracht hat, muß ich wissen, wo ich Orm Ottarsson finde, denn sie ist mit großer Wahrscheinlichkeit zu ihm gegangen.«

Der König schwieg lange. Dann sagte er bedächtig: »Wenn das kleine Mädchen noch bei meiner Nichte ist, werde ich sie dir aushändigen, denn Ingunn Haraldsson hat mir reichlich Gold für den Jungen gegeben. Orm Ottarsson findest du am Nordufer des Flusses Thurlow. Dort lebt er auf einem Gehöft namens Skelder, das etwa drei Hektar groß ist. Er ist ein guter Lehnsmann, der mir seine Kampfkraft zur Verfügung stellt und pünktlich seine Abgaben bezahlt.«

Der König blickte Magnus forschend ins Gesicht, doch der nickte nur lächelnd. Seine Stimme war ohne Ausdruck. »Orm hat viele Talente, Sire. Meine Frau und ich danken Euch für Eure Güte und Großherzigkeit. Wir bleiben Euch in Treue verbunden.«

Magnus blickte seinen Landsmann an, der Besitzer des Boots Wasserpfad. Grim Audunsson war ein Riese, rauh und brutal; der stärkste Mann, mit dem Magnus je einen Ringkampf ausgetragen hatte. Bislang hatte er drei Kämpfe gegen ihn verloren. Grim war außerdem verschlagen und habgierig und mit geringem Verstand gesegnet. Grim spuckte und schüttelte seinen struppigen Blondschopf. Die beiden Männer standen auf dem Steg im Hafen neben Wasserpfad, der Geruch, den der Wind vom Hafenbecken hereintrug, zog in ihre Nasen.

»Ja, Orm war hier, und er war voll Zorn wie der weiße Tod. Er hat nicht versucht, seinen Zorn vor mir zu verbergen. Früher hat er seinen Zorn verborgen. Möglicherweise war er als junger Mann auch nicht so zornig. Doch jetzt ist er zum Berserker geworden, Magnus. Seine Augen funkelten wie glühende Kohlen, ständig ballte er die Fäuste, als wolle er alles umbringen, was sich ihm in den Weg stellt. Er war wie ein wildes Tier. Nein, er ist gefährlicher als ein Berserker, weil sein Zorn durch ein Lächeln, ein spöttisches Wort entfacht werden kann. Er ist völlig unberechenbar. Er spricht ganz ruhig mit dir, und im nächsten Moment schlitzt er dir die Kehle auf. Ja, ich habe ihm die Frau und die Kinder ausgehändigt. Was hätte ich tun sollen?« Grim schüttelte den Kopf und spuckte ins Wasser. »Ich vermute, er bringt die Frau um. Er sah ganz danach aus, das kann ich dir sagen.«

»Die Frau ist meine Schwester Ingunn. Die Kinder gehören zu mir. Orm hat sie entführt, gefangengenommen und mein Anwesen in Brand gesetzt.«

Grims Augen verengten sich. Achselzuckend meinte er: »Das ist bedauerlich. Aber was hätte ich tun können?«

»Du hättest ihn töten können. Du bist der stärkste Mann, den ich kenne.« Magnus begutachtete das Muskelspiel des Riesen. »Oder zehrt bereits das Alter an dir, Grim?«

Grims Gesicht verzog sich zu einem Grinsen, wobei eine breite Lücke zwischen seinen Vorderzähnen sichtbar wurde. »Ich könnte ihm mit einer Hand den Hals brechen, das ist wohl wahr. Aber er hat mich bezahlt. Magnus, er hat mir zehn Silberstücke gegeben. Die Frau hatte mir bereits Silbermünzen gegeben, um den Jungen nach Malek zurückzubringen. Jetzt bin ich reich genug, um meiner Frau eine neue Brosche zu kaufen. Sie ist ein anspruchsvolles Weib. Ich habe sie aus einem Dorf im Rheinland geholt. Sie lief von mir fort, aber ich habe sie eingefangen, und sie mir über die Schulter geworfen. Vor sechs Wochen habe ich sie geheiratet. Sie hat schönes schwarzes Haar, wie ich es noch nie zuvor gesehen habe. Und ihre Augen sind wie Kohlen, und erst ihr süßes, weiches Nest zwischen den Schenkeln ... Ich denke an den Goldschmied hier in York, den alten Gunliek. Was meinst du dazu, Magnus?«

»Ich meine, daß ich dich töten werde.«

Grim lachte, ein wenig unsicher und verschlagen. Magnus wußte, Grim hatte sich innerlich auf Kampf eingestellt. Er war kein Narr. Er spürte Zarabeths Hand, die sich leicht auf seinen Rücken legte. Ein Ringkampf mit Grim würde ihn jetzt nicht weiterbringen. Zarabeth war eine kluge Frau. Außer ein paar gebrochenen Rippen und eingeschlagenen Zähnen würde ihm diese Auseinandersetzung nichts einbringen. Er hatte Wichtigeres zu tun.

»Hat Orm gesagt, daß er auf seinen Hof zurückkehrt?«

»Ja. Er sagte, er müsse Vorbereitungen treffen. Er erwarte Besuch auf Skelder, und er wollte dem Besucher ein standesgemäßes Willkommen bereiten.«

Magnus nickte und wandte sich zum Gehen. Über die Schulter sagte er: »Ich würde nicht zum alten Gunliek gehen. Er betrügt dich mit dem Goldgewicht. Geh zu Ingolf auf dem Micklegate.«

Er nahm Zarabeths Arm.

»Orm weiß, daß wir hier sind. Er weiß, daß du kommen wirst.«

»Ja, er weiß es.« Er drückte sie an sich. »Wir müssen jetzt vorsichtig sein, Zarabeth. Alles hängt davon ab, wie geschickt wir vorgehen.«

»Wenn nur Ingunn Egill und Lotti in Frieden gelassen hätte! Hätte sie sich doch bloß nicht eingemischt! Wir könnten die Kinder jetzt schon in die Arme schließen.«

»Allem Anschein nach hat meine Schwester endlich begriffen, was sie angerichtet hat. Sie versuchte, die Kinder zu retten, sogar Lotti... Und ihre eigene Haut dazu, wie mir scheint.« Er sah seiner Frau in die Augen und sagte: »Du sprichst kluge Worte. Trotzdem haben wir Orm immer noch nicht in den Fingern. Und ich werde ihn in die Finger bekommen, Zarabeth.«

Ingunn konnte sich nicht bewegen. Sie hatte zweimal versucht, sich zu bewegen, doch der Schmerz war so groß, daß sie beinahe wieder das Bewußtsein verloren hätte. Sie lag auf dem Lehmboden, die Kälte kroch durch ihr dünnes Hemd, ihr zerschundenes, blaugeschlagenes Fleisch zuckte, ihr Gesicht lag auf der kalten Erde. Mehrere Rippen und ihr linker Arm waren gebrochen. Ihr Gesicht mußte total verschwollen sein, er hatte sie mehrmals mit der Faust geschlagen. Sie schmeckte Blut und Tränen in ihrem Mund.

Und Egill hatte versucht, sie zu beschützen. Bei Thor, er war wie sein Vater.

Sie wimmerte leise. Alles, was sie gemacht hatte, war falsch. Sie war schwach und boshaft und blind gewesen, und nun würde sie hier alleine sterben, eingesperrt in dieser stinkenden Hütte. Und Egill würde ebenfalls sterben. Oder Orm würde ihn als Sklaven weiter verkaufen, ihn und Lotti.

Sie hatte gesehen, wie sehr der Junge das kleine Mädchen liebte, wie er es beschützte, ihr alles mitteilte, seine Gedanken, seine Eindrücke. Sie verstanden einander besser als Geschwister. Und dann dachte sie über sich selbst nach, wie sehr sie das Kind haßte, weil es Zarabeth gehörte. Sie haßte Zarabeth und wollte alles zerstören, was ihr gehörte. Das war der Grund, warum sie zurück in den Palast geeilt war, um beide Kinder auf Grims Boot zu bringen.

Sie mußte ihre Untaten wiedergutmachen. Sie mußte etwas richtig machen, etwas Gutes tun, etwas Versöhnliches.

Orm hatte auf sie gewartet. Sie war nicht sonderlich erstaunt, als er breitbeinig auf dem Steg stand, sie mit kalten, dumpfen Augen anstarrte. Die Erinnerung verursachte ihr Übelkeit. Die Galle kam ihr hoch, sie erbrach die bittere gelbe Flüssigkeit. Er hatte sie nicht angefaßt, bis sie nach Skelder zurückgekehrt waren, dem Gehöft, das er der Sachsenfamilie gestohlen hatte, mit König Guthrums Segen.

Ihre Niederlage schmeckte bitterer als Galle. Sie versuchte, sich wieder aufzurappeln, doch als sie versuchte, sich auf dem Ellbogen abzustützen, knickte ihr Arm mit einem stechenden Schmerz ein, und sie fiel erneut mit dem Gesicht auf den festgestampften Lehmboden.

Sie durfte nicht sterben. Sie durfte Egill nicht Orms Gewalt und Willkür überlassen. Langsam, sehr langsam, bewegte sie ihren linken Arm.

Orm saß grübelnd im Langhaus, das Kinn in die Hand gestützt. Das Haus war erfüllt mit beißendem Rauch, denn das Abzugsloch im Dach war verstopft. Sachsenschweine! Wieso hatten sie das nicht gesäubert? Es gab nicht einmal ein Badehaus. Er hatte die Sklaven sogleich damit beauftragt, eine Badehütte zu bauen. Er wandte den Kopf zu dem Jungen und dem kleinen Mädchen. Sie kauerten nebeneinander in einer Ecke. Der Junge sprach leise auf das Mädchen ein. Die beiden schienen die Menschen um sie herum nicht wahrzunehmen.

Magnus' Sohn! Ah, wie gut er schmeckte, dieser Sieg über seinen Feind. Es war dumm von ihm gewesen, die Kinder an Guthrum zu verkaufen. Der König hatte sie zu gut behandelt, ihnen nicht gezeigt, was es hieß, Sklave zu sein, das Eigentum eines Herrn, der über Leben und Tod bestimmte. Er dachte kurz an die Geliebte des Königs, Cecilia, und lächelte. Sie hätte gerne einen jungen Mann in ihrem Bett. Vielleicht würde er ihr den Gefallen tun. Er fand sie kindisch und geziert, doch ihr Körper reizte ihn. Jetzt mußte er auch keine Rücksicht mehr auf Ingunn nehmen, die treulose Schlampe.

»Egill! Komm her!«

Die Männer und Frauen im Langhaus verstummten beim barschen Ton seiner Stimme. Der Junge hob den Kopf und blickte quer durch den großen Raum zu Orm hinüber. Langsam erhob er sich, tätschelte Lottis Schulter, um sie zu beruhigen, denn ihre Augen hatten sich angstvoll geweitet.

»Komm her, oder du bekommst die Peitsche zu spüren!«

Die Männer und Frauen blickten verstohlen zu dem Jungen hinüber. Sie nahmen ihre Arbeiten wieder auf aus Angst, ihr neuer Herr könne sie beim Nichtstun ertappen.

Egill blieb vor Orm stehen, aufrecht, stumm, abwartend.

Orm überlegte, ob er den Jungen nicht einfach totschlagen sollte. Doch er sagte: »Ich habe beschlossen, dich an die Sachsen in König Alfreds Wessex zu verkaufen. Was hältst du davon?«

»Wirst du Lotti nach Malek zurückschicken?«

Orm lachte. »Vielleicht.«

Egill spürte einen Hoffnungsschimmer, dann krallte sich eine kalte Faust um sein Herz. Orm war wahnsinnig. Man durfte ihm kein Wort glauben. Er würde Lotti töten. Er würde sie nie freilassen.

Wieder sah er Orm vor sich, wie er Ingunn verprügelte, wie seine Fäuste ihr Gesicht bearbeiteten. Der Mann war eiskalt und blutrünstig.

»Vielleicht aber auch nicht. Dein Vater wird bald kommen, Junge. Dann werden wir weiter sehen. Schau mich nicht so ungläubig an. Ich habe ihm Zeichen hinterlassen. Er ist nicht dumm. Er wird sie verstehen, und er wird ihnen folgen. Und den Fetzen vom Kleid des Mädchens, den habe ich für Zarabeth zurückgelassen, damit sie Bescheid weiß. Ich hätte ihr Gesicht gern gesehen. Sie hat ein sehr ausdrucksvolles Mienenspiel, in dem all ihre Gefühle und Gedanken zu lesen sind. Wahrscheinlich hat sie vor Freude geweint.

»Ich will Magnus nun schon seit langer Zeit. Seit langem möchte ich ihn langsam töten, möchte seine Schmerzensschreie hören, sein Flehen, ich möge ihn von seinen furchtbaren Leiden erlösen. Wie seine Schwester, das treulose Miststück, mich angefleht hat. Wahrscheinlich hängt sie aber immer noch am Leben. Vielleicht sollte ich mal nach ihr sehen. Vielleicht braucht sie noch eine Lektion in gutem Benehmen.«

»Warum haßt du meinen Vater? Er hat dir nie etwas Böses getan.«

Orm hob den Arm, ließ ihn langsam wieder sinken, und dachte mit gefurchter Stirn über die Frage des Jungen nach. »Wieso ihn hassen? Nein, ich möchte ihn nur töten, weil er ist, wie er ist, wie er denkt, wie er handelt. Er ärgert mich nun seit langer Zeit, dieser selbstgerechte und stolze Herr, dein Vater. Und deine Mutter Dalla war verrückt und eitel, aber er hat sie bekommen. Es war nicht recht, daß nicht ich sie bekommen habe; es war nicht recht, daß Magnus der Sieger war. Ich mag keine Niederlagen. Ich nehme sie nicht hin.«

Egill blieb stumm. Orm Ottarsson war ein furchterregender Mann, mit ihm konnte niemand vernünftig reden, das erkannte Egill ganz deutlich. Nein, die einzige Möglichkeit war Flucht. Er mußte seinen Vater warnen. Und er mußte Lotti retten.

Er fühlte sich sehr alt für seine acht Jahre und sehr klein. Aber er mußte es versuchen.

Orm baute sich vor Egill auf. Der Junge wich nicht von der Stelle und blickte ihm standhaft ins Gesicht. Er würde dem Jungen Gehorsam beibringen, aber nicht jetzt.

»Ich sehe mal nach deiner Tante, ob sie immer noch um ihr Leben wimmert.«

Im Schatten der Mitternachtssonne
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