26
Zarabeth konnte Ragnars Schmerzen nicht ertragen. Hätte sie Ingunns Hals zwischen den Fingern gehabt, hätte sie mit Sicherheit so lange zugedrückt, bis alles Leben aus ihr gewichen wäre. Ragnar schlotterte vor Schmerz und Wut darüber, was Ingunn ihm, was sie Magnus und Malek angetan hatte.
»Orm hat mir den Schwerthieb versetzt«, wiederholte er ein ums andere Mal. »Sie hat zugesehen. Sie stand neben ihm und hat zugeschaut. Sie sagte ihm, daß ich sie geprügelt habe. Geprügelt, Magnus!« Ragnar hielt keuchend inne, sein Gesicht war grau vor Schmerz und schweißnaß. »Sie sagte ihm, er solle mich nicht töten, ich verdiente es, lange zu leiden dafür, was ich ihr angetan habe. Ich solle mein weiteres Leben als elender Krüppel zubringen.«
Eldrid versuchte, ihn zu beschwichtigen; ihre Hand tätschelte seinen Arm. Er wischte sie ungeduldig weg.
»Leg dich hin, Ragnar«, befahl Magnus, wartete die Antwort des Freundes jedoch nicht ab. Er hob ihn einfach von den Füßen und legte ihn flach auf den Rücken. »Nun bleibst du liegen. Was hast du vor? Willst du Orm verfolgen? In deinem Zustand? Spar dir deine Wut auf oder benutze sie, um gesund zu werden. Wir brechen alle bald auf, und du wirst dabei sein. Nein, Ragnar, zügle deinen Zorn, und gehorche Eldrid. Keiner von uns möchte dich unter der Erde haben. Am wenigsten ich.«
Zufrieden, daß sein Freund endlich wieder Frieden gab, wandte Magnus sich an seine Frau. »Wie fühlst du dich?«
Sie fühlte sich schwach und schwindlig, und ihr Magen drohte sich umzudrehen. »Mir gehts gut«, sagte sie mit einem tapferen Lächeln. Magnus schüttelte den Kopf und nahm sie in die Arme. »Ihr beide ruht euch aus. Ich denke, Ragnar wird früher wieder auf den Beinen sein als du. Nein! Ruhig, Zarabeth. Ich möchte dich gesund und guter Dinge sehen.«
Mit diesen Worten packte er sie in ein paar Decken und legte sie unter einen Baum. In wenigen Minuten war sie eingeschlafen.
Es war wirklich merkwürdig, dachte Zarabeth später, die Sklavenhütte war als einzige von den Flammen verschont geblieben. Harald schickte weitere Männer von seinem Hof herüber, und die Aufbauarbeiten begannen. Es war ein langsamer Prozeß, weil aus den rauchenden Holztrümmern gelegentlich noch die Flammen hochschlugen.
Das Geräusch fallender Bäume war ihr mittlerweile vertraut. Das entrindete, saftige Holz roch würzig nach frischem Harz. Für die Dachbalken konnte nur Eiche verwendet werden, und da es nur wenige Eichen gab, dauerte es eine Zeit, bis Suchtrupps die richtigen Bäume ausfindig gemacht hatten. Alles dauerte seine Zeit.
Helgi blieb, um Zarabeth zu helfen, Essensvorbereitungen und andere häuslichen Arbeiten zu überwachen. Die Männer errichteten strohgedeckte Hütten für den Übergang. Bald würde es regnen, und die Leute brauchten einen trockenen Unterschlupf.
Während des Wiederaufbaus zog Magnus einige Männer ab, die sich um die Fertigstellung der Reparaturarbeiten auf der Seewind kümmerten. Der Zorn rumorte in seinem Innern und wuchs jedesmal, wenn er die Zerstörung seines Hofes überblickte. Sein Großvater hatte den Namen Malek für das Gehöft ausgesucht, doch niemand wußte, woher der Name stammte, nicht einmal Magnus. Malek gehörte ihm, und so würde es bleiben.
Am vierten Tag nach dem Brand kam Haftor Ingolfsson zusammen mit zwei seiner Söhne vorbei.
Sie begutachteten die Zerstörungen und blieben, um mit anzupacken. Sie erkundigten sich, ob Magnus etwas über Orms Aufenthaltsort wisse. Er verneinte, und Zarabeth behielt ihre Gedanken für sich. Die Ingolfssons waren großgewachsene Männer, blond und kräftig. Ihr Zorn gegen Orm war sehr groß. Sie hatten keinen sehnlicheren Wunsch, als ihn zwischen die Finger zu kriegen.
»Warum hast du ihnen nicht die Wahrheit gesagt?« fragte Zarabeth eines Abends, als sie neben Magnus unter dem Sternenhimmel lag. Die Nacht war warm, und es bestand keine Notwendigkeit, unter dem Strohdach zu schlafen.
»Ich will den Kerl selber.«
Das sah sie ein. Seufzend schmiegte sie sich enger an ihn und spürte ein sanftes Pulsieren in ihrem Bauch. Magnus hatte sie seit der Brandnacht nicht geliebt.
»Und ich will dich.«
Lächelnd schmiegte sie sich an ihn, seine Worte erfüllten sie mit einem beseligenden Glücksgefühl.
»Aber ich habe Angst, dir weh zu tun.«
Sie richtete sich auf, ihr Gesicht nur wenige Zentimeter von seinem entfernt. Sie biß ihn in die Nase und grinste. »Was geschieht, wenn du deine männliche Lust nicht befriedigst?«
»Ich werde ein alter, gebeugter Greis, mein Bauch wird fett, meine Haare werden weiß, und die Zähne fallen mir aus.«
Ihr Lachen klang fröhlich und unbeschwert. Er hörte es beglückt.
»Aber Magnus, das ist ja furchtbar, wenn das wirklich so ist .. . Sehe ich hier etwa ein weißes Haar?« Lachend zupfte sie an seinem blonden Haar, untersuchte jedes einzelne sorgfältig. »Nein, kein einziges weißes Haar. Nun zeig mir deine Zähne.«
Willig öffnete er den Mund, und sie studierte seine weißen Zähne und küßte ihn. »Eigentlich müßtest du jetzt aufstehen, damit ich prüfen kann, ob du schon gebückt gehst. Ach, Magnus, wir werden schon dafür sorgen, daß du nicht vorzeitig zum Tattergreis wirst.« Ihre Hand glitt über seinen flachen Bauch. »Nein, auch dein Bauch wölbt sich nicht unansehnlich.«
»Aber dein Bauch wird sich bald wölben.«
Er küßte sie, war sich bewußt, daß einige seiner Leute in der Nähe noch nicht eingeschlafen waren, doch es kümmerte ihn nicht. Er flüsterte ihr ins Ohr: »Wenn ich dich nehme, schreist du, wenn deine Lust dich übermannt? Sag mir Zarabeth, soll ich meine Hand über deinen Mund legen?«
»Ja«, sagte sie kichernd. »Gib mir nur nicht die Schuld, wenn du Dinge mit mir anstellst, daß ich jaule wie eine liebestolle Wölfin.«
Er legte sie sanft auf den Rücken. Dann lag er über ihr und blickte in ihr lachendes Gesicht. »Vermutlich entgehe ich dem Spott meiner Männer nur auf diese Weise. Nein, sag nichts. Ich bin dein Ehemann, und ich tue die Dinge so, wie es mir paßt.«
Er küßte sie, bis er spürte, daß sie sich tief im Innern ergab, daß sie ihn nicht nur als Ehemann, sondern als Geliebten anerkannte. Er achtete nicht darauf, wie sehr ihr Körper sich unter seinem wand, hielt sie fest, bis sie ihn in den Arm zwickte.
»Schon gut«, sagte er und küßte sie wieder, diesmal liebkoste er ihre Brust, knetete sie zärtlich mit seiner Hand. »Deine Brüste werden größer«, flüsterte er zwischen den Küssen. »Sag mir, wenn ich dir weh tue.«
Sie sehnte sich nach ihm. Doch er ließ nicht zu, daß sie ihn berührte. Er wollte das Tempo bestimmen.
Schließlich versuchte sie, ihn in die Zunge zu beißen. Er lachte, seine Stimme klang tief und warm in ihrem Mund, und seine Finger schoben ihr Nachthemd hoch, um ihre Scham zu liebkosen.
Als er sie rhythmisch streichelte, verlor sie die Beherrschung, die Lust ergriff Besitz von ihr, und sie stöhnte leise auf.
»Das machst du sehr gut, Zarabeth. Deine Lust macht mich glücklich.«
Und als sie sich aufbäumte wie ein gespannter Bogen, beschleunigte er seine Liebkosungen und erstickte ihre Schreie mit seinem Mund.
Er genoß ihre Zuckungen, die dem Höhepunkt ihrer Lust folgten. Sanft legte er sie zur Seite und drang hungrig in sie ein. Er knabberte an ihrem Ohr. »Halt still«, raunte er. »Laß mich tiefer in dich kommen ... ja, so ist es gut. Ich will dich spüren . . .«
Zarabeth schob ihm ihr Becken entgegen, und er stöhnte auf. Er nahm ihre Hüften in seine großen Hände, stieß in rhythmischen Stößen in sie, bis er es nicht mehr ertragen konnte. Dann vergrub er sein Gesicht in ihrem Haar, und sein Stöhnen drang bis in ihre Seele. Das war Geben und Nehmen, dem anderen Lust bereiten und lustvoll geliebt werden. Beide verspürten gegenseitiges tiefes Vertrauen und eine wunderbare Zugehörigkeit.
Tostig fand es und brachte es Zarabeth. Sie saß über einer Näharbeit gebeugt, eine der wenigen häuslichen Tätigkeiten, die Magnus ihr gestattete. Der Tag war heiß, und die Luft war erfüllt vom Lärm der Bauarbeiten, vom Lachen und Fluchen der Männer. Sie hob den Kopf und lächelte. »Ja, Tostig, geht's gut?«
»Ja, Herrin, es ist bloß ...« Er hielt ein Stück Stoff hoch, einen etwa dreißig Zentimeter langen Wollfetzen, ehemals blau, nunmehr von Sonne und Regen zu einem unansehnlichen Grau ausgebleicht.
Sie hob den Kopf. »Was ist das? Wo hast du das gefunden?«
»Unter einer Föhre dort drüben auf der Landzunge. Wir müssen es total übersehen haben, als wir nach Egill suchten.«
Zarabeths Herz schlug laut wie ein Hammer. Ihre Finger befühlten das Tuch. Sie sprang auf die Füße, rief gellend: »Magnus! Magnus!«
Tostig packte ihren Arm. »Es gehörte dem kleinen Mädchen, hab ich recht, Herrin?«
Sie schaute ihn mit irrem Blick an. »Ja, so muß es sein . . . Magnus!«
Er hörte seinen Namen schreien und stürzte los. Sie stand neben Tostig, bleich und schwankend.
»Zarabeth!«
Beim Klang seiner Stimme fuhr sie herum, raffte die
Röcke und rannte auf ihn zu: »Das ist von ihr, Magnus. Es ist von ihr!«
Sie blieb vor ihm stehen, wurde totenbleich und sank zu Boden. Tostig versuchte, sie aufzufangen; doch er verlor das Gleichgewicht, und sie riß ihn mit sich zu Boden.
Sie erwachte auf dem Schoß ihres Ehemannes liegend, der in seinem Stuhl saß, den man unter einer Tanne aufgestellt hatte. »Es gehört ihr, Magnus, es ist von ihrem Kleid, ich weiß es! Sie haben es nicht im Wasser gefunden, sondern an Land, unter einem Baum . . .«
»Es ist möglich, aber du darfst nicht . . .«
»Hat Tostig nicht gesagt, wo er es gefunden hat? Es war nicht am Wasser. Lotti ist nicht ertrunken!«
»Bist du sicher, daß der Wollstreifen von dem Kleid stammt, das Lotti an diesem Tag trug?«
Er sah, daß sie nicht ganz sicher war. Sie atmete schwer, war immer noch zu schwach, um aufrecht zu sitzen. Er hielt sie zärtlich umfangen. »Langsam, ganz langsam.«
»Ich glaube schon. Eldrid muß es wissen. Wenn es Lotti gehörte, hat sie es genäht.«
»Hat sie nicht aus dem gleichen Tuch auch Kleider für die anderen kleinen Mädchen genäht?«
So war es, und Zarabeth nickte zögernd.
»Wir werden sehen. Bring sie her.«
Eldrig kam. Keiner der Wollstoffe, aus denen sie Kleider schneiderte, glich dem anderen genau. Sie besah sich den Wollstreifen genau, schlug die Hände vor das Gesicht und schrie.
Zarabeth blickte in Magnus' Gesicht. »Wo ist sie? In Danelagh mit Egill? Hat Orm sie beide gefangengenommen? Glaubst du, Orm hat sie vor dem Ertrinken gerettet? Glaubst du, er hat damals alles gesehen und sie aus dem Wasser gezogen? Oder vielleicht hat Egill sie gerettet, und Orm hat sie beide dort auf der Landzunge gefangengenommen, wo du und deine Männer es nicht sehen konnten. Aber warum hat er die Zeichnung hinterlassen, auf der nur Egill zu sehen ist, und keine Spur von Lotti? Warum?«
York, Hauptstadt von Danelagh in einem Seitenflügel der Burg von König Guthrum
Die Wikingerkinder belustigten sie. Der Junge, der das kleine Mädchen so sehr beschützte; beide stolz und verschlossen. Sie redeten kaum und wenn, dann nur Egill. Das kleine Mädchen sprach nur den Namen des Jungen. Dieses Wort schien mehrere Bedeutungen für ihn zu haben, je nach Betonung und Aussprache. Sie verständigten sich mit seltsamen Handzeichen, schienen ihre eigene Zeichensprache zu haben, und Cecilia fand das sehr klug. Sie behandelte die Kinder sanft und freundlich, damit sie keine schlechte Meinung von ihr hatten.
Guthrum hatte sie ihr zu ihrem zwanzigsten Geburtstag geschenkt. Lächelnd hatte er gesagt: »Für meine schöne Cecilia zwei sanfte Kinder, die dir zu Diensten sind. Klein und unauffällig, so wird niemand auf dumme Gedanken kommen, wenn sie deine Anweisungen ausführen.«
Sie hatte Juwelen als Geburtstagsgeschenk erwartet und hatte zwei Tage geschmollt, bis sie erkannte, daß ihr Onkel und Geliebter, der König von Danelagh, ihr zwei ausgezeichnete Botengänger geschenkt hatte, die ihre Wünsche jederzeit übermitteln konnten. Niemand achtete auf einen kleinen Jungen oder ein kleines Mädchen, noch dazu Sklavenkinder. Sie konnten Liebesbeweise oder Botschaften in die Gemächer des Königs bringen, und niemand würde sich etwas dabei denken, nicht einmal Sigurd, Guthrums Gemahlin, die eifersüchtige, alte Hexe.
Cecilia seufzte. Sie langweilte sich. Guthrum müßte längst hier sein. Er verspätete sich. Vermutlich trank er mit seinen Männern, die ihm lachend von den letzten Überfällen und Plünderungen in König Alfreds Wessex erzählten. Oder er arbeitete mit seinen Ratgebern Strategien für Alfreds endgültige Niederwerfung aus, denn der Sachsenkönig hatte ihm vor einigen Jahren einen Waffenstillstand aufgezwungen, und ihn zugleich genötigt, dem
Christengott zu huldigen. Ja, falls erforderlich, konnte Guthrum so fromm tun wie einer von Alfreds Bischöfen.
Cecilia nahm eine in Honig getauchte Mandel. Natürlich stritt Guthrum jede Kenntnis über Plünderungen im Reich König Alfreds vehement ab. Wenn Alfred ihm empörte Botschaften sandte, runzelte er betrübt die Stirn, schüttelte den Kopf, gab seinem höchsten Bedauern Ausdruck und schickte den Boten mit einer Handvoll Silbermünzen auf den Rückweg.
Cecilia blickte wieder zu den Kindern hinüber. Es war ein ausgesprochen gutaussehender Wikinger namens Orm Ottarsson, der Guthrum den Knaben und das Mädchen gebracht hatte, gemeinsam mit mehr Silbermünzen als Cecilia zählen konnte, als Gegengabe für die Vertreibung einer Sachsenfamilie von fruchtbarem Ackerland am Ufer des Flusses Thurlow, deren Landbesitz dieser Orm sich erbeten hatte. Sie war beeindruckt vom Wuchs und der hochmütigen Haltung des Mannes aus dem Norden. Sie war interessiert, ihn näher kennenzulernen. Aber er hatte York bald wieder verlassen, um nach Norwegen zurückzukehren. Cecilia tröstete sich mit dem Gedanken an seine Wiederkehr. Dann würde sie sehen, wie die Dinge sich entwickelten.
Sie erhob sich und betrat den kleinen, ummauerten Garten vor ihrem Schlafgemach. Die Steinmauer war sehr hoch, Kletterrosen wuchsen bis oben hin, bedeckt von roten und weißen, duftenden Blüten. In der Mitte des Gartens plätscherte ein kleiner Brunnen, umgeben von einem alten, römischen Mosaik in Form eines Achtecks. Es war gut erhalten und zeigte fremdartige, mit Seetang drapierte Geschöpfe aus dem Meer, die sich mit kraftvollen Kelten paarten. Egill und Lotti spielten am Brunnen, und er redete auf sie ein, wobei er seine Hände benutzte, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen. Lotti sah ihn aufmerksam an.
»Sag es noch einmal, Lotti. Komm, sag es.«
Lotti gab einige undeutliche Laute von sich, aber Cecilia verstand. Das kleine Mädchen sagte: »Guten Morgen«.
»Guten Morgen, ihr beiden«, sagte Cecilia munter und ging auf die Kinder zu. Der Junge erbleichte und trat einen Schritt näher an das kleine Mädchen.
Sie trugen beide weiße Wolltuniken, in der Mitte mit einem hellblauen, geflochtenen Lederband gegürtet. Die Tuniken waren ärmellos und reichten den Kindern bis zu den Knien. An der Kleidung erkannte man sie als Sklaven, doch die edle Qualität des Wolltuchs ließ auch erkennen, daß ihr Herr ein großzügiger Edelmann war. Die Kinder sahen hübsch aus, und das gefiel Cecilia. Das Haar des kleinen Mädchens glänzte rötlich braun, und ihre Augen hatten einen eigenartigen goldenen Schimmer. Sie versprach einmal eine große Schönheit zu werden, und das störte Cecilia nicht im geringsten. Sie verabscheute Häßlichkeit, selbst bei kleinen Sklavenmädchen.
»Lotti«, sagte Cecilia zu dem Kind, »pflück mir eine rote Rose. Der König wird bald hier sein, und ich möchte mein Haar damit schmücken.« Dabei tätschelte sie ihr volles, braunes Haar.
Lotti warf Egill einen Blick zu, und er bewegte rasch seine Hände und deutete auf den Rosenstrauch.
Cecilia bemerkte es nicht. Sie studierte eine kleine Kratzwunde auf ihrem Handrücken, von der sie nicht wußte, woher sie rührte.
Egill wartete in der Hoffnung, Lotti möge eine rote Rose und keine weiße pflücken. Sie hatten noch keine Zeichen für Farben vereinbart. Er beobachtete sie gespannt.
Sie brach eine rote Rose, und er atmete erleichtert auf. Er hatte keine Ahnung, was passieren würde, wenn die Frau herausfand, daß Lotti nicht hören und nur sehr wenig sprechen konnte. Lotti reichte Cecilia die Rose und wurde von ihrer Herrin mit einem zerstreuten Tätscheln auf den Kopf belohnt, wie ein Hund, der etwas apportiert hatte.
Egill empfand für die Frau und ihre lächerliche Eitelkeit nur Verachtung. Was er von König Guthrum halten sollte, wußte er nicht. Der Mann war älter als Egills Großvater, gab sich aber jung und energiegeladen, tauschte Zärtlichkeiten mit Cecilia aus, als wäre er ein leidenschaftlicher, junger Liebhaber. Und Cecilia trieb ihr Spiel mit ihm. Egill hatte zunächst vorgehabt, dem König zu sagen, wer er war, doch dann hatte er gehört, wie Guthrum zu einem seiner Berater sagte, der Cecilia hinter dem Rücken des Königs schöne Augen machte, er freue sich, daß die Kinder von Wikinger-Abstammung seien. Er wollte beobachten, ob Kinder von Wikingern in Gefangenschaft zu ebenso kriegerischen Menschen wie ihre Vorfahren heranwachsen würden. Ihn kümmerte es nicht. Er lachte nur darüber.
Er fragte sich, ob der König seinen Vater kannte. Bislang hatte sich noch keine passende Gelegenheit ergeben, um ihn anzusprechen. Guthrum war ein launenhafter Mensch, und Egill war nicht dumm. Er hatte nicht die Absicht, den Mann zu verärgern, der die Macht über seines und Lottis Leben in Händen hielt.
Egill brütete vor sich hin. Er dachte an Orm Ottarsson, der Lotti und ihn gefangengenommen hatte, als sie beide triefend naß und keuchend am steinigen Strand der spitzen Landzunge lagen. Egill hatte Lotti entdeckt, als sie mit dem Gesicht nach unten im seichten Wasser trieb, und sie an Land gezogen. Dann hatte er sie von den Schlingpflanzen befreit, die sie umschlungen hielten. Er wäre bei der Rettungsaktion selbst beinahe ertrunken, doch er hätte nichts für sein Leben gegeben, wenn das kleine Mädchen ertrunken wäre. Er hatte ihr den Brustkorb zusammengedrückt, sie umgedreht und den Rücken eingedrückt, bis sie endlich Wasser spie und wieder zu atmen anfing und erneut große Mengen Wasser spie. Dann hatte er den Kopf gehoben, und Orm Ottarsson hatte lächelnd auf die Kinder heruntergeblickt. Einen Augenblick hatte Egill geglaubt, er würde sie zu seinem Vater zurückbringen. Er hatte die Kinder in warme Decken gepackt und fortgebracht. Egill fragte Orm, was er vorhabe, doch der Mann hatte ihn nur geschlagen und höhnisch dabei gelacht. Später hatte er die Kinder dem König als Bestechungsgeschenk übergeben. Und da lag eine weitere Schwierigkeit. Der König würde gewiß Orms Worten glauben und nicht den Worten eines kleinen Sklavenjungen. Egill war ratlos. Er sehnte sich nach seinem Vater. Er sah ihn in seinen Träumen, groß und grimmig, seine Augen verdunkelt vor Trauer um seinen einzigen Sohn. Egill wußte, daß sein Vater ihn für tot hielt. Der Junge hatte alle Möglichkeiten in Betracht gezogen, stellte sich vor, wie sein Vater mit seinen Männern vergeblich nach ihm suchte. Irgendwann kamen sie zum Schluß, daß er, wie Lotti, umgekommen sein mußte oder von wilden Tieren getötet und verschleppt worden war.
Er sah, daß Lotti auf den Knien lag und aufmerksam das römische Mosaik studierte. Die Bildergeschichte faszinierte sie, und ihre kleinen Finger zogen die bunten Figuren auf den Steinfliesen nach. Cecilia, die sich die Rose ins Haar gesteckt hatte, blickte sich nach einer Beschäftigung suchend um. Egill sah in ihr ein völlig nutzloses Geschöpf. Selbst Cyra, die Geliebte seines Vaters, hatte sich irgendwie nützlich gemacht.
»Egill.«
Lotti betrachtete begeistert eine Darstellung. Egill ging mit einem nachsichtigen Lächeln zu ihr und ging neben sie in die Hocke.
Das Bild stellte einen stolzen Krieger dar, der ein kurzes Faltengewand trug, das in der Mitte von einem breiten Ledergürtel gehalten war. Auf dem Kopf trug er einen goldenen Helm. Er war hochgewachsen, muskulös und wirkte sehr selbstbewußt. Er stand im Bug eines Schiffs, schwang ein Schwert über dem Kopf und blickte siegesgewiß in die Ferne. Hinter ihm legten seine Männer sich in die Ruder.
Der gutaussehende Krieger sah aus wie sein Vater.
Lotti gab einen Laut von sich, Egill fuhr herum und legte seine Hand auf ihren Arm.
Sie nickte ihm lächelnd zu. Auf der nächsten Darstellung stand der Mann an Land, sein Schwert wies immer noch auf den unsichtbaren Feind, er stand in Kampfposition da.
Auf der letzten Darstellung war der Feind abgebildet, ein Drache, in dunkle Rauchschwaden gehüllt, der sich wand und Feuer spie. Der Krieger trennte dem Monster mit einem Schwertstreich den Kopf vom Rumpf.
»Mein Vater wird uns retten«, flüsterte Egill. »Das ist ein gutes Omen.« Er hörte Schritte und drehte sich rasch um. König Guthrum näherte sich, und Egill fühlte Angst und Hoffnung in sich keimen. Der König schien wohlwollender Stimmung zu sein. Egill blickte dem König entgegen, dessen Gesicht wie gegerbtes Leder war von einem langen Leben im Freien bei Wind und Wetter; seine Schultern waren leicht gebeugt, sein dichtes, dunkles Haar und sein Bart waren von grauen Strähnen durchzogen. Er trug rote Kleidung, mit kostbaren Goldfäden durchwirkt.
Lotti starrte den König stumm an. Ihre Hand glitt in Egills Hand. Die Kinder warteten, ängstlich und wachsam.
König Guthrum nickte ihnen zu, ohne eigentlich auf sie zu achten. Er sprach mit einem zweiten Mann, der wie ein Soldat gekleidet war. Guthrum rief plötzlich: »Bring uns Rheinwein, Junge.«
Egill wollte nicht fortgehen. Er wollte hören, was die Männer sprachen. Rasch wandte er sich an Lotti und gab ihr durch Zeichen zu verstehen, sie solle die Männer beobachten und versuchen zu verstehen, was sie sagten. Dann entfernte er sich rasch in einen der Vorräume, wo er einen von Cecilias Hausdienern anzutreffen hoffte.
Aslak, einer der Heerführer des Königs, sprach mit grimmiger Stimme: »Und ich sage Euch, Sire, wir müssen diesem weibischen Gezänk ein Ende machen. Ihr müßt Eure Heere sammeln und Alfred angreifen. Und ich verspreche Euch, die Sachsen laufen kopflos in alle Richtungen davon, wie die Hasen. Der Waffenstillstand mit König Alfred ist ohne Belang. Das habt Ihr selbst oft genug betont.«
Der König strich sich den Bart. »Ja, es ist wahr. Was schlägst du vor, Aslak?«
»Ich würde ein Heer direkt nach Chippenham führen, bis vor die Tore des Königspalasts. Wir können im Schutz der Nacht schnell vorwärtskommen und den Vorteil eines Überraschungsangriffs nutzen. Wir nehmen alles Gold und Silber, das wir tragen können. Ihr müßt Alfred zeigen, daß ein Wikinger sich vor keinem Mann beugt, schon gar nicht vor einem Sachsenkönig. Es ist Zeit, ihm den Todesstoß zu versetzen.«
Guthrum hörte diese hochmütigen Worte gern, denn er selbst hatte ähnliche Worte oftmals gesprochen. Aber er war kein Narr, obgleich die Worte sein Blut in Wallung versetzten. Doch sein Blut war träger geworden, sehr viel träger. »Gib mir Zeit, um darüber nachzudenken, Aslak. Wir gehen ein großes Wagnis damit ein. Alfred ist kein kleiner Lehensherr. Er ist ein kluger Mann und ein tapferer Kämpfer. Ich werde darüber nachdenken.«
»Eines Tages, Sire, werden wir England beherrschen. Wollt Ihr der Sieger über England sein. Der Herrscher, der alle Zügel in der Hand hält?«
Der König lachte und blickte auf seine von der Gicht knorrig gewordenen Finger. »Ah, Egill bringt den Wein.«
Aslak sagte unvermutet: »Der Junge kommt mir bekannt vor. Seine Gesichtszüge erinnern mich an jemand.«
Guthrum nickte. »Ja, mir kommt er auch irgendwie bekannt vor.« Er krümmte den Finger. »Egill, komm mal her, mein Junge. Ist dein Vater noch am Leben?«
Egill wußte nicht, was er sagen sollte. Jetzt war der Augenblick gekommen, und er stand stumm und steif da wie ein Dummkopf. Stand Orm beim König in hohem Ansehen? Es schien so, wie Egill aus dem Umgang der beiden Männer miteinander entnommen hatte. Der König glaubte ihn zu kennen. Ob er Magnus Haraldsson kannte? Was hielt er von ihm? Würde Orm dafür Sorge tragen, daß er und Lotti getötet würden, wenn er die Wahrheit sagte? Egill blickte zu Lotti. Er trug die Verantwortung für die Kleine, und wenn ihr etwas zustieß, würde er sich das nie verzeihen. Er hatte sie schon einmal beinahe verloren. Er wollte sie nie wieder verlieren. Er schüttelte den Kopf und sagte: »Nein, Sire, mein Vater ist tot.«
König Guthrum hatte sich bereits abgewandt. Egills Antwort erreichte seine Ohren nicht mehr. Der Junge seufzte halb erleichtert, halb besorgt.
Die Männer tranken Wein aus kostbaren Glaskelchen. Guthrum sagte nach einer Weile: »Dein Vorschlag eines Überraschungsangriffs auf Chippenham stammt ursprünglich von mir, Aslak. Ja, und er gefällt mir. Wir haben so etwas schon einmal gewagt und Tod und Verderben über die Sachsen gebracht. Warum soll es nicht wieder gelingen? Sie haben Zeit gehabt, neue Vorräte anzulegen und Reichtümer anzuhäufen. Ein Raubzug würde sich für uns wieder lohnen. Laß mich darüber nachdenken.«
»Wartet nur nicht zu lange, Sire.«
»Nein, das werde ich nicht. Ah, da kommt Cecilia.«
Aslak brummte und starrte sie mit offenkundigem Verlangen an, daß selbst Egill wußte, was seine Blicke bedeuteten.
Egill blickte Lotti an in der Hoffnung, ihr sei nichts aufgefallen. Sie lächelte, und er trat neben sie. Plötzlich erschien ein Kammerdiener des Königs. Hinter ihm wartete eine Frau mit weißblondem Haar. Die junge Frau war seine Tante Ingunn, die Schwester seines Vaters.
Lotti sah sie und stöhnte erschrocken auf.