23
Zarabeth haßte das fahle Zwielicht. Es war beinahe Mitternacht, doch der gespenstische Schein ließ die Nacht nicht wirklich dunkel werden. Orm würde bald kommen und sie vergewaltigen. Er hatte sie stumm beobachtet, mit übereinander geschlagenen Beinen am Lagerfeuer sitzend. Und Ingunn hatte ihn nicht aus den Augen gelassen. Kol hatte sich vor kurzem übergeben, jetzt schlief er. Bein hatte die andere Frau hochgezerrt und unter die Bäume geschleift.
Als sie zurückkamen, hatte Bein sie wie einen Sack zu Boden fallen lassen und ihr eine Decke zugeworfen.
Zarabeth wußte nicht, ob die Frau Schmerzen hatte. Sie hatte noch kein Wort gesprochen, niemanden angesehen; sie hatte nur getan, was man ihr auftrug, mit gesenktem Kopf und gebeugten Schultern. Da sie keine Vorderzähne mehr hatte, war ihre Oberlippe eingefallen; dadurch wirkte sie älter, als sie vermutlich war. Zarabeth hatte keine Ahnung, wo sie gefangengenommen worden sein konnte. Ihr Gewand war zerfetzt, sie ging auf bloßen Füßen, ihr Haar hing ihr strähnig und glanzlos ins Gesicht. Zu ihrem Erstaunen war die Frau wenige Minuten später fest eingeschlafen und schnarchte laut. Zarabeth saß mit dem Rücken gegen einen Fichtenstamm gelehnt und wartete.
Orm hatte ihr nur wenig zu essen gegeben, um sie zu quälen. Ihr Magen knurrte und krampfte sich vor Hunger zusammen. Sie mußte sich erleichtern, und schließlich wandte sie sich in ihrer Not an Ingunn: »Ingunn, ich muß kurz im Wald verschwinden.«
Ingunn wandte den Kopf ab, und Orm antwortete für sie: »Ich begleite dich, Zarabeth.«
»Nein, laß nur! Ich geh schon!«
Orm feixte Ingunn an. »Sie könnte dich töten, dann hat sie es nur noch mit mir zu tun. Willst du das, Ingunn?«
»Ich möchte, daß wir aufbrechen. Ich möchte, daß wir nach Danelagh segeln, Sklaven und Land kaufen und ein Langhaus bauen, das größer ist als das Haus meines Vaters. Ich möchte, daß wir bald heiraten, Orm.«
»Das alles wünschst du dir? Ich war bereits in Danelagh und habe Land gekauft. Gutes Ackerland am Ufer des Husses Thurlow.«
Ingunn war überrascht. »Du warst bereits in Danelagh?«
Bein mischte sich ein: »Ja, und wir haben Pelze, Häute und Elfenbein von Walroßzähnen verkauft. Und wir haben Sklaven gekauft und . . .«
»Genug, Bein. Ja, Ingunn, wenn wir nach Danelagh kommen, kaufen wir noch mehr Sklaven. Wir haben bereits zwei, und es sind gute Sklaven.«
»Nimm die andere Frau mit, um die Lust der Männer zu befriedigen, aber laß Zarabeth hier. Laß sie laufen. Entweder sie überlebt oder sie stirbt. Mir ist es egal, was aus ihr wird. Laß uns aufbrechen, Orm. Ich möchte dieses Land und meinen Vater nie wieder sehen.«
»Aber du wolltest doch, daß ich dich räche. Du hast mich gebeten, diese Frau zu verkaufen, weil sie Magnus betrogen und dich verleumdet hat. Deine Weiberworte verwirren mich.«
Ingunn kam auf die Beine. »Ich geh jetzt mit ihr in den Wald. Auch ich muß meine Notdurft verrichten.«
Achselzuckend ließ er die beiden Frauen ziehen.
»Er wird mich vergewaltigen, Ingunn. Du weißt, daß er es tut. Willst du, daß das passiert?«
»Schweig. Ich höre nicht auf dich. Beeil dich, oder er kommt hinter uns her.«
»Du hast Angst vor ihm. Es stimmt etwas nicht mit ihm, Ingunn. Das siehst auch du.«
»Mach schnell!«
Doch er war ihnen nachgegangen und sah zu, wie die beiden Frauen ihre Gewänder glattstrichen.
»Es ist Zeit für Zarabeths Bestrafung. Möchtest du Zusehen, Ingunn?«
»Wirst du sie schlagen?«
Er schüttelte den Kopf und lächelte, dieses seltsam sanfte Lächeln. Seine Augen funkelten im fahlen Licht der Mitternachtssonne.
»Was hast du mit ihr vor?«
»Kol wird sie besteigen. Ist das Strafe genug?«
»Kol ist krank von dem Schlag, den sie ihm versetzt hat.«
»Tja, dann Bein.«
»Er kann nicht. Er hat die andere Sklavin gehabt. Er ist alt und hat keine Kraft mehr in den Lenden.«
»Dann bin ich der einzige, der übrigbleibt. Sie muß bestraft werden. Geh zurück ins Lager, Ingunn. Ich bringe Zarabeth, wenn ich mit ihr fertig bin.«
Magnus wußte, daß sie nahe waren, aber nicht nahe genug. Orm und seine Männer würden bereits sein Boot besteigen. Vielleicht legten seine Männer sich eben in diesem Augenblick in die Ruder und stachen in See. Vielleicht segelten sie bereits in Richtung Süden nach Hedeby. Er schloß die Augen vor Schmerz über ihren Verlust. Es war zuviel. Unerträglich viel. Wohin würde Orm sie bringen? Magnus machte sich Vorwürfe, sie nicht ausreichend beschützt zu haben, wie er versprochen hatte.
»Bei Thor, ich glaube es nicht!« schrie Gunnar.
Magnus fuhr herum.
»Komm Magnus! Sieh dir das an! Sie sind nicht weit, nicht mehr als drei Stunden von hier. Sieh dir diese Spuren an! Ist der Mann ein Narr?«
»Ja«, stimmte Ragnar zu. »Ein vollkommener Narr. Hält er es nicht für möglich, daß ihm jemand folgt? Hält er dich für einen Feigling? Hat er den Verstand verloren?«
Magnus fühlte neue Zuversicht in sich aufsteigen.
Ragnar sagte mit ruhiger Stimme hinter ihm: »Ingunn ist bei ihm.«
»Ja, ich weiß. Unsere Pferde sind erschöpft. Wir gönnen ihnen eine Rast, aber nicht länger als eine Stunde.«
Sie waren alle erschöpft, die Muskeln verspannt und steif vom langen Ritt, doch keiner der Männer beklagte sich. Sie lagerten und aßen Trockenfleisch und getrocknete Brotfladen.
»Was wirst du mit Ingunn tun?« fragte Ragnar und kaute an dem zähen Fleisch.
»Ich werde sie meinem Vater übergeben. Er soll entscheiden, was mit ihr geschieht.«
Ragnar sah ihn an, und seine Stimme war fest und entschieden: »Ich nehme sie, Magnus, wenn dein Vater damit einverstanden ist. Wenn sie nicht pariert, bezieht sie von mir Prügel. Ich werde schon mit ihr fertig.«
Magnus lächelte seinen Freund an. »Ich glaube, du bist derjenige, der den Verstand verloren hat, Ragnar.«
Zarabeth stand Orm im Abstand von zwei Armlängen gegenüber. Ihr Gewand war zerknittert und schmutzig. Ihr Haar hing ihr verfilzt und strähnig über den Rücken. Sie fühlte sich völlig hilflos und hatte noch nie im Leben solche Angst gehabt. Ingunn entfernte sich mit gesenktem Kopf.
»Ingunn, nein! Geh nicht weg!«
Sie blieb stehen, drehte sich aber nicht um.
»Ich bin kein häßliches Ungeheuer, Zarabeth. Was hast du gegen mich?«
Sein Gesicht war fragend und ungläubig. Beinahe hätte sie gelacht. Seine Augen glänzten warm, seine Stimme klang sanft. Keinerlei Anzeichen von Irrsinn. Und dennoch jagte er ihr Entsetzen ein. Er öffnete den breiten Ledergürtel und ließ sie nicht aus den Augen.
»Wenn du mich vergewaltigst, bringe ich dich um.«
Er lächelte. »Du bist eine Frau, und du redest dummes Zeug. Es gefällt mir nicht, daß du mir drohst, Zarabeth. Wenn du nicht meinen Gürtel auf deinem Rücken spüren möchtest, hüte deine Zunge.« Er hielt den breiten Gürtel mit dem Schwert in der. Scheide hoch.
Ihre Augen hielten seinem bohrenden Blick stand, und sie wiederholte: »Wenn du mich vergewaltigst, bringe ich dich um. Du wirst mich töten müssen, um vor mir sicher zu sein. Das schwöre ich bei meinem christlichen Gott und bei deinen Wikingergöttern.«
Er war bei ihr, bevor sie eine Bewegung machen konnte. Er schlug hart zu. Sie taumelte rückwärts gegen einen Baum und sackte auf die Knie. Er stand über ihr, blickte auf sie herunter, rieb sich die Hände.
Sie wischte sich das Haar aus dem Gesicht. Ihr Atem ging pfeifend, ihre Wange brannte wie Feuer. Sie sollte ihn einfach gewähren lassen. Sie sollte sich nicht gegen ihn wehren. Sie sollte es über sich ergehen lassen.
Doch etwas in ihr rebellierte. Sie haßte es, sich zu unterwerfen. Sie haßte den Gedanken, ihn erdulden zu müssen, seine Grausamkeiten stumm über sich ergehen zu lassen.
Mit fester Stimme sagte sie: »Wenn ich dich nicht töte, dann wird Magnus dich töten.«
Er hob erneut die Hand, ballte sie zur Faust und ließ sie sehr langsam sinken.
»Ich bin ebenso stark wie Magnus, aber ich bin weitaus mutiger, wie du selbst weißt. Als Jungen waren wir beide die Besten im Ringkampf und Gewichtheben. Doch er ging einen anderen Weg, er tat das, was sein Vater von ihm verlangte, er heiratete diese verrückte Gans, die seine Familie für ihn erwählt hatte, übernahm den Hof seines Großvaters und wurde ein biederer Bauer und Kaufmann, aber ich . . . Ich wollte . . .« Er runzelte die Stirn, als lausche er seinen Worten nach. Er schwieg lange, dann hob er die Schultern. »Ich habe mehr Frauen gehabt als Magnus. Ich bereite dir größere Lust als er. Du kommst aus Danelagh. Ich werde dich dorthin zurückbringen, in deine Heimat, und du wirst ein gutes Leben bei mir haben, ich erfülle dir jeden Wunsch. Du hast keinen Grund, mich zurückzuweisen.«
»O doch. Ich habe jeden Grund dazu. Magnus ist mein Ehemann. Er ist gut zu mir, er ist mir treu, und er liebt mich.«
»Ja, er hat dich verdient, du dumme Gans. Du sprichst von ihm, als wäre er dein Vater. Mit solchen Worten soll eine Frau nicht über den Mann sprechen, der ihr Lust verschafft. Gut? Er ist schwach und nimmt sich nicht, was er will. Treu? Ja, Magnus ist treu, seine Brüder würden ihn vernichten, wenn er nicht treu wäre. Er ist ein Teil von ihnen, kein eigenständiger Mann.«
Er sah, daß seine Worte keine Wirkung zeigten. Das ärgerte ihn, doch er fügte lächelnd hinzu: »Wie ich genießt Magnus gern mehrere Frauen. Er wird nicht zögern, eine andere vor deiner Nase zu besteigen, ob du seine Frau bist oder nicht. Hat er nicht Cyra bestiegen und dich gezwungen, zuzusehen? Hat er dich nicht in ihrer Gegenwart verhöhnt?«
»Du hast doch gesagt, du kennst mehr Frauen als Magnus.«
Sein Mund wurde schmal. »Natürlich. Magnus nimmt jeden Weiberrock auf seinem Hof. Aber er geht kein Risiko für eine Frau ein, wie ich es tue.«
Sie flüsterte: »Und Ingunn ... hast du nicht vor, sie zu heiraten? Hast du nicht vor, mich als deine Sklavin zu halten?«
Lachend kratzte er sich seine rotblonden Bartstoppeln. Sein Gesichtsausdruck wurde heimtückisch. »Wenn du freiwillig mit mir kommst, könnte ich Ingunn zu deiner Sklavin machen.« Er beugte sich vor und vergrub seine Finger in ihrem Haar. »Ich möchte einen Sohn von dir mit dieser Haarfarbe. Aus ihm werde ich einen starken und mächtigen Mann machen, einen Mann, der über Norwegen herrscht, über England, einen Mann, gegen den die Söhne von König Alfred sich wie schwächliche Milchbübchen ausnehmen.«
»Ich würde jedes Kind von dir erdrosseln.«
Sie hatte ihn zu sehr gereizt. Seine Augen funkelten wild. Er packte ihre Arme und zog sie hoch. Diesmal schlug er nicht zu, riß ihr stattdessen das Kleid bis zur Mitte auf. Dann riß er auch ihr Unterkleid auf und entblößte ihre Brüste.
Sein Gürtel lag auf der Erde, an dem das Schwert in der Scheide hing. Noch wehrte sie sich nicht gegen ihn, da sie wußte, er würde sie wieder schlagen, diesmal vermutlich so hart, daß sie das Bewußtsein verlieren würde. Sie mußte ihre Chance abwarten. Sie versteifte sich in seinen Armen, mehr nicht. Sein Atem ging keuchend und stoßweise.
In wenigen Augenblicken lagen ihre Kleider in Fetzen um ihre nackten Füße.
»Bei Thor, du bist schöner, als ich erwartet habe.« Seine groben Hände packten ihre Brüste, sein Mund schloß sich über ihren.
Seine Hände versuchten, ihre Beine zu spreizen. Dann zerrte er sich grunzend die Tunika vom Leib. Mit nacktem Oberkörper zog er sie an sich, rieb seine Brust an ihren weichen Brüsten und stöhnte dabei. Einen Augenblick ließ er sie los, um die Hosen abzustreifen und die Bänder von seinen weichen Lederstiefeln zu lösen.
Zarabeth warf sich auf das Schwert. Sie hatte es bereits in der Hand, versuchte es aus der Scheide zu reißen, als er über ihr war. Seine Hände in ihrem Haar verkrallt, zog er ihren Kopf unerbittlich nach hinten, und sie schrie vor Schmerz und Wut über ihre Hilflosigkeit auf.
Er riß ihr das Schwert aus der Hand und warf es von sich. Er war jetzt nackt und drängte sich zwischen ihre Beine. Er lächelte auf sie herab und in seinen Augen funkelte der Triumph.
Er kam hoch, um sich in Position zu bringen. Sie schnellte hoch, ihre Fäuste trommelten in sein Gesicht. Ihre Fingernägel gruben sich in seine Wangen. Sie spürte, wie sie ihm die Haut aufkratzte, fühlte Blut zwischen den Fingern. Er brüllte vor Wut und Schmerz auf. Seine Hände umklammerten ihre Kehle, und seine Finger drückten zu. In ihrer Brust entstand ein Brennen, das immer stärker wurde. Sie wußte, das war das Ende. Ihre Todesstunde war gekommen. Er stieß wilde Rüche aus. Der Irrsinn hatte nun völlig von ihm Besitz ergriffen.
Plötzlich lösten seine Finger sich von ihrer Kehle, und ihre Lungen füllten sich wieder mit Luft. Hustend und röchelnd schnappte sie nach Luft.
»Schnell, Zarabeth!«
Es war Ingunn. Sie stand über dem bewußtlosen Orm, sein Schwert in der Hand haltend. Sie hatte ihm den Schwertgriff von hinten wuchtig über den Schädel gezogen.
»Ist er tot?« Zarabeths Stimme war ein heiseres Krächzen. Ihr Hals schmerzte beim Sprechen.
»Nein. Wir müssen uns beeilen.«
Zarabeth wälzte den reglosen Körper von sich und sprang auf die Beine. »Ich bin nackt«, sagte sie und blickte ratlos an sich herab.
»Hier!«
Zarabeth fing Orms Tunika auf, die Ingunn ihr zuwarf, und zog sie über den Kopf. Sie reichte ihr bis zum Knie und roch nach ihm.
»Pferde, Ingunn. Wir müssen die Pferde holen, sonst haben wir keine Chance!«
»Nein, Kol und Bein sind wach, und die Pferde stehen zu nah. Wir müssen zu Fuß los. So können wir uns besser verstecken. Beeil dich, sonst wacht er auf, und wir sind verloren!«
Zarabeth hätte ihn am liebsten getötet. Sie stand unschlüssig über ihm, dann bückte sie sich rasch und fesselte mit den Lederriemen seiner Stiefel die Hände auf dem Rücken. Dann verschnürte sie ihm auch noch die Knöchel.
»Beeil dich!«
Sie blieb noch einen Augenblick stehen. »Er ist wahnsinnig, Ingunn.«
»Es kümmert mich nicht, komm jetzt! Er wird mich und dich töten, wenn er uns erwischt.«
Ingunn nahm den Ledergürtel, schob das Schwert in die Scheide und starrte die Waffe an wie eine Giftschlange. Zarabeth nahm ihr den Gürtel aus der Hand, schlang ihn um ihre Mitte und band ihn fest. Er hing ihr schräg an den Hüften.
Sie rannte barfuß neben Ingunn her. Erst tief im Wald hielten sie inne, beide hielten sich die stechenden Seiten.
»Warte«, keuchte Zarabeth. »Warte einen Moment, Ingunn.«
Zarabeth lehnte an einem Baum, ihre Lungen stachen, ihr Atem ging pfeifend, und sie fühlte sich schwindelig. Ihr Magen krampfte sich vor Hunger zusammen. Ingunn war auf die Knie gesunken und hielt den Kopf gesenkt.
»Warum hast du mich gerettet?«
Ingunn zog röchelnd Luft in die Lungen.
Zarabeth wartete. Auch sie keuchte erschöpft.
»Warum, Ingunn?«
»Ich habe erkannt, daß er sich geändert hat. Ich habe meinem Vater nicht geglaubt, als er mir sagte, was Orm verbrochen hatte. Ich glaubte, ich kenne ihn. Und ich habe ihn geliebt.« Sie schüttelte ungläubig den Kopf. »Wenn ich mit ihm zusammen war, glaubte ich ihm wieder, selbst als ich schon eine Ahnung hatte, daß etwas an ihm anders war. Ich weiß nicht, was es war. Aber er konnte so ... sanft und heiter sein, zumindest im Umgang mit Frauen. Er hat sich geändert, Zarabeth.« Sie kam auf die Füße und blickte den Weg zurück, den sie gekommen war.
»Er wird jeden Moment hinter uns her sein. Um mich zu töten. Und dich auch, nachdem er dich geschändet hat. Lauf, wenn dir dein Leben lieb ist.«
Zarabeth taumelte vorwärts. Es war dunkel geworden, und sie rannten über einen schmalen Streifen Moorland, an das sich wieder ein Föhrenwald anschloß, der sich bis zum Viksfjord hinzog.
»Schneller«, rief Ingunn ihr von hinten zu. »Er wird uns einholen, bei allen Göttern, ich weiß es.«
»Nein, wir werden ihn besiegen.« Im Rennen betete sie zu ihrem christlichen Gott und zu jedem einzelnen Wikingergott. Das Stechen in ihrer Seite war unerträglich geworden, sie rannte halb gebückt, hielt sich die Rippen, ihre Kehle brannte, ihr Atem ging stoßweise, röchelnd.
Sie stolperten auf dem unwegsamen Gelände, stürzten mehrmals, halfen sich gegenseitig hoch und rannten taumelnd weiter.
Dann hörten sie Pferdehufe, und beide warfen sich flach in den Schlamm des Hochmoors. Zarabeths Hände krallten sich in den Morast. Ihr Gesicht drückte sie in die nasse Erde. Schon einmal war sie so gelegen und hatte hilflos abgewartet. Und Orm war gekommen, um sie zurückzubringen, und er würde wieder kommen. Das Schwert wog schwer an ihrer Seite. Diesmal war sie nicht hilflos.
Die Pferde kamen näher. Hier im Morast wuchs kein hohes Gras, um sich zu verbergen. Orm mußte sie jeden Augenblick sehen.
»Diesmal warte ich nicht auf ihn, verflucht noch mal!« Sie sprang auf die Füße, riß das Schwert aus der Scheide und versuchte, auf dem schwammigen Boden das Gleichgewicht zu halten.
»Zarabeth! Du Närrin! Leg dich hin!«
»Nein! Er wird mich nicht zurückholen. Diesmal nicht! Diesmal kämpfe ich gegen ihn.«
Magnus hielt Thorgell in einer gemäßigten Gangart. Er wollte nicht, daß sein wertvoller Hengst sich die Knochen brach. Der Mond stand hell am Himmel. Vor ihm dehnte sich eine langgezogene Moorwiese. Sie waren ganz dicht, er spürte es beinahe körperlich. Plötzlich erhob sich vor ihm eine Spukgestalt. Grauen schnürte ihm die Kehle zu. Das Gespenst schwang im Taumel des Wahnsinns ein Schwert über dem Kopf. Es war eine Frauengestalt — ein Dämon oder ein Wesen aus Fleisch und Blut?
Der Hengst zeigte keinerlei Anzeichen von Furcht. Gunnar, der hinter ihm ritt, fluchte leise, Ragnar schnappte hörbar nach Luft. Die andern Männer raunten sich erschrocken Wortfetzen zu.
»Was ist das?«
Dann erkannte er sein Weib, ihr wallendes Haar, das sie wie ein Glorienschein umgab. Sie trug ein Männerwams und einen breiten Gürtel um die Hüften.
Sie war im Kampfposition, hielt das Schwert über dem Kopf, stand mit breiten Beinen und angespanntem Körper da.
Zarabeth senkte das Schwert nach vorn und hielt es mit beiden Händen vor sich. Sie wartete, ihr Herzschlag hämmerte. Die Angst war von ihr abgefallen. Das war nicht Orm. Das war Magnus. Ein Schluchzen entrang sich ihrer Brust. Sie warf das Schwert weg und rannte auf ihn zu, ihre nackten Füße glitten im glitschigen Sumpf aus. Doch sie hatte all ihren Schmerz vergessen.
»Bei allen Göttern!« brüllte Ragnar und bohrte seinem Pferd die Fersen in die Seiten. »Ich bringe das Ungeheuer um!«
»Nein, Ragnar! Es ist mein Weib!« Magnus brachte Thorgell in Galopp. Er ritt dicht an sie heran, beugte sich weit aus dem Sattel und schwang sie mit einem Arm hoch. Sein Lachen klang tief und frei aus seiner Brust, er hielt sie eng an sich gedrückt, und sie schlang ihre Arme um seinen Hals.
Er brachte Thorgell zum Stehen. Er musterte seine Frau, die ihn schmutzig und verschwitzt anlächelte, ihre Augen strahlten vor Glück. »Hättest du mit dem Schwert gegen mich gekämpft? Mitten auf der Sumpfwiese?«
»Ja. Ich bin sehr wütend.«
»Ich verstehe.« Damit küßte er sie. »Du bist auch sehr schmutzig.«
»Magnus«, hauchte sie in seinen Mund und ihre Arme schlangen sich enger um seinen Hals. Leise brummend zog er sie quer über seine Schenkel. Thorgell tänzelte nervös seitwärts. Ihm behagte weder das zusätzliche Gewicht noch der Geruch des Moores.
»Ingunn versteckt sich gleich hier in der Nähe.«
Magnus rief den Namen seiner Schwester. Sie erhob sich und stand schweigend im Mondlicht.
»Ragnar, nimm sie auf dein Pferd.«
»Wir müssen uns beeilen«, sagte Zarabeth, plötzlich von Panik ergriffen. »Orm hat sicher das Bewußtsein wieder erlangt und verfolgt uns.«
»Sehr gut.«
Seine Stimme klang zufrieden und erwartungsfroh. Er war ein Krieger und hungerte danach, seinem Feind gegenüberzustehen .
Sie meinte gelassen wie ein alter Kämpfer: »Ihr seid sechs. Die anderen sind nur zu dritt. Sie haben noch eine Frau bei sich, eine Sklavin.«
Magnus wollte sich sogleich auf die Suche nach Orm machen. Er wollte ihn eigenhändig und sehr langsam töten.
Sie lächelte ihn an, ihre Fingerspitzen berührten seinen Mund. »Danke, daß du gekommen bist. Ich möchte, daß du ihn gefangennimmst, Magnus. Er ist wie ein gefährliches Tier. Seinem Treiben muß Einhalt geboten werden.«
»Ich mache mir Sorgen um dich.«
»Ich habe sein Schwert. Ich bin eine gefährliche Frau. Laß uns aufbrechen.«
Er küßte sie erneut, drückte sie an sich, bis sie aufstöhnte und brachte Thorgell mit einem Schnalzlaut in Bewegung. Seine Männer folgten ihm.
Sie ritten über das Hochmoor und bahnten sich langsam einen Weg durch den dichten Föhrenwald.
»So nah«, flüsterte Magnus an ihrer Schläfe. »Ich fürchtete, er hätte schon mit dir das Land verlassen. Er hat ein Boot in der Nähe liegen, stimmt's?«
»Ja. Ich weiß nicht, wieso er getrödelt hat. Er ritt zunächst landeinwärts, dann in nördlicher Richtung zum Viksfjord. Vielleicht wollte er, daß du ihn findest. Vielleicht wollte er dir gegenüberstehen und gegen dich kämpfen.«
»Hat er dich verletzt?«
»Er hat mich nicht geschändet. Er war dabei, es zu tun, aber Ingunn schlug ihn nieder. Ich habe ihn mit den Riemen seiner Stiefel gefesselt, und dann sind wir um unser Leben gelaufen.«
Er schlang seinen Arm um sie. »Das habt ihr beiden Frauen gut gemacht.«
Sie ritten hintereinander, als sie sich dem Lager näherten. Dann ließ Magnus anhalten und absitzen. Er befahl Zarabeth, bei den Pferden zu bleiben. Sie beobachtete ihn, wie er lautlos an den Rand des Waldes schlich.
Übelkeit drehte ihr den Magen um. Ingunn trat an sie heran.
Dann ein Schrei. »Er ist weg! Der Schweinehund ist fort! Der gemeine Feigling.«
Die Frauen sahen einander an, dann rannten sie los.
Gunnar lag auf den Knien und untersuchte die Feuerstelle und den Boden im Umkreis. »Ich glaube nicht, daß er überhaupt versucht hat, die Herrin zu verfolgen, Magnus. Er muß von dort zurückgekommen sein — schau, seine Fußabdrücke zeigen, daß er etwas wackelig auf den Beinen war. Ich glaube, eine Verfolgung war ihm zu gefährlich, und er machte sich lieber aus dem Staub.«
Alle waren weg, bis auf die Frau. Sie lag nackt und tot neben einem Baum. Erdrosselt.
Kurz darauf entdeckte Ragnar einige Strichzeichnungen im Sand nahe der Feuerstelle. Sie stellten einen kleinen Menschen dar mit einem Strick um den Hals, der von einem größeren Mann geführt wurde. Der Mund des Mannes lächelte. In seiner freien Hand hielt er ein Kästchen.
»Das ist Egill«, flüsterte Magnus heiser. »Das ist mein Sohn. Er hat Egill in seiner Gewalt.«
»Dein Traum«, sagte Zarabeth ehrfürchtig.
»Ja, er ist ein Sklave, aber er ist am Leben. Bei Thor, wo kann Orm ihn hingeschafft haben?«
Ingunn trat hinzu und ging in die Hocke, um die Zeichnungen zu studieren. »Er hat mir kein Wort davon gesagt, daß er Egill gefangengenommen hat, kein einziges Wort.« Ihre Stimme klang aufrichtig entsetzt.
»Aber wir wissen, wo wir Egill finden«, sagte Zarabeth mit einem Lächeln. »Er ist in Danelagh.«