19
Zarabeth konnte nicht klar denken. Sie schlug gegen seine Arme, seine Brust, sträubte sich mit aller Kraft gegen ihn, bohrte ihre nackten Fersen in den hartgetretenen Lehm. Doch er verlangsamte nicht einmal seine Schritte. Er war doppelt so stark wie sie, und er war wild entschlossen. Wozu, das wußte sie nicht. Sie kämpfte einfach gegen ihn. Ihr war, als risse er ihr den Arm aus dem Schultergelenk. Und sie kämpfte verbissen. Nachdem er sie aus dem Langhaus geschleift hatte, schrie Magnus: »Rollo! Rollo!«
Er würde sie töten, das wußte sie. Er holte eine Waffe beim Schmied, mit der er sie töten würde. Sie würde hier in diesem fremden Land sterben durch die Hand des Mannes, der einst geschworen hatte, sie zu lieben, der sie einst zur Frau haben wollte . . .
Plötzlich wollte Zarabeth nicht sterben. Lotti war tot, der einzige Mensch in ihrem Leben, der sie wirklich brauchte, der von ihr abhing, der sie rückhaltslos liebte, und dennoch: Zarabeth wollte nicht sterben. Sie wollte nicht im Nichts versinken, sie wollte ihr Leben nicht verlieren, es war zu früh. Und sie schrie gellend in ihrer Todesangst: »Nein, Magnus, töte mich nicht! Ich lasse nicht zu, daß du mich tötest! Ich will nicht sterben!«
Sie verdoppelte ihre Anstrengungen, sich zu befreien, denn die Worte, einmal ausgesprochen, wurden wirklich, so wirklich wie ihr bevorstehender Tod. Plötzlich warf sie sich auf ihn, mit geballten Fäusten, und er verlor beinahe das Gleichgewicht. Ihre Fäuste trommelten auf seinen Kopf, in sein Gesicht. Sie schrie ihn an, wieder und wieder, außer sich: »Nein! Du darfst mich nicht töten! Ich will nicht sterben!«
Magnus blieb erstarrt stehen. Er spürte ihre Fäuste, spürte den Schmerz ihrer Schläge, aber es bedeutete nichts. Ihre Worte ... Er sah sie nur an. Er packte ihre Handgelenke, sagte immer noch nichts. Schließlich bezähmte sich Zarabeth, stand keuchend und mit angstgeweiteten Augen vor ihm.
»Glaubst du wirklich, ich will dich töten?« fragte er langsam, seine Augen suchten forschend in ihrem Gesicht, studierten ihre Regungen, und in seiner Stimme lag soviel Schmerz, daß er ihre Angst durchdrang, und sie registrierte dies. Doch nein, er verspottete sie nur. Er würde sie töten, töten ... Sie durfte ihm nicht glauben.
»Ja! Aus welchem anderen Grund schleppst du mich aus dem Haus und rufst nach Rollo? Du willst mich umbringen.«
Er sah sie wieder an. Dann hob er die Hand, sie zuckte in Erwartung seines Schlages zurück, doch er legte seine flache Hand an ihre Wange und sagte eindringlich: »Ich werde dich nicht töten. Wenn du stirbst, stirbt ein Teil von mir. Nein, Zarabeth, ich werde dich nicht töten. Ich schwöre es.«
Langsam nickte sie. Sie glaubte ihm jetzt, wußte, daß er die Wahrheit sprach. Plötzlich wußte sie, daß sie ihm immer geglaubt hatte. Es hatte ihn große Mühe und Überredungskunst gekostet, ihr in York das Leben zu retten. Warum sollte er es ihr jetzt nehmen? Sie stellte ihren Widerstand ein. Schaudernd wurde sie sich ihrer Panikreaktion bewußt. Er nahm sie an der Hand und führte sie in die Hütte des Schmieds. Beim Eintreten schlug ihnen sengende Hitze von dem runden, gemauerten Schmelzofen entgegen. Zarabeth wich zurück.
»Komm! Du gewöhnst dich daran.«
Rollo war ein dunkler Mann mit dichtem, schwarzen Bart, der auf einem Auge schielte, was ihm ein bedrohliches, wildes Aussehen gab. Seine Beine waren zu kurz geraten, doch sein Oberkörper war kraftvoller gebaut als der von Magnus. Seine Arme waren stark wie Aste eines alten Baums. Er lag auf den Knien vor dem Schmelzofen und pumpte mit dem großen Blasebalg aus Leder Luft in die Glut, um sie noch mehr anzufachen. Er hob den Kopf, sah Magnus schweigend an, dann Zarabeth. Langsam erhob er sich und händigte Magnus ein Schwert aus.
»Es ist fertig und unversehrt, wie am ersten Tag, als ich es vor zwei Jahren für dich geschmiedet habe. Machen wir uns wieder auf die Suche nach Egill?«
Magnus nahm das Schwert entgegen. »Ragnar ist mit zwölf Männern aufgebrochen. Ich gehe bald wieder hinaus. Doch zuerst möchte ich, daß du das Eisen von ihrem Hals entfernst.«
Rollo sagte nichts. Er hob die Hand, um Zarabeths Haar beiseite zu schieben. Doch Magnus kam ihm zuvor. Er nahm ihr Haar mit beiden Händen, hob es hoch und entblößte dabei ihren Nacken. Rollo tastete das Eisenband ab, fand den Saum und nickte.
»Du mußt ganz ruhig halten, Herrin, sonst verlierst du möglicherweise deinen hübschen Kopf.«
Zarabeths Herz schlug hart. Er gab ihr die Freiheit. Sie blickte ihn an, verständnislos.
»Knie dich hin! Magnus, du hältst ihr Haar zurück, damit das Rot mich nicht blendet.«
Es war schnell vorüber. Sie zuckte mit keiner Wimper, als der schwere Eisenhammer auf das Eisenband niedersauste, einmal, zweimal, und beim dritten Mal sprang es entzwei. Sie blieb auf den Knien, den Hals auf dem Steinblock gebettet, ihre Augen waren geschlossen. Als sie hörte, wie das Eisenband klirrend zu Boden fiel, flüsterte sie: »Ich fühle mich so leicht.« Magnus half ihr beim Aufstehen. Ihre Finger tasteten nach ihrer Kehle. Ihre Haut war gerötet und aufgeschürft, doch das hatte keine Bedeutung. Sie wollte ihren Hals so spüren, wie er einst war.
Sie hörte, wie Magnus sich bei Rollo bedankte, wie die Männer über Egills Verschwinden redeten.
»Bald machen wir uns wieder auf die Suche, Rollo«, sagte Magnus beim Abschied, nahm Zarabeths Hand und führte sie zurück zum Langhaus.
Er hielt ihre Hand fest in seiner, als fürchte er, sie wolle wieder fortlaufen. Dann sagte er, ohne sie anzusehen: »Nun werden wir heiraten. Ich habe Ringe für uns, die ich bei einem Goldschmied in York anfertigen ließ, als du damals versprochen hast, meine Frau zu werden.«
Zarabeth war sprachlos. Er hatte sie von dem Sklavenband befreit, und jetzt das? »Du willst mich heiraten? Aber du haßt mich, du hältst mich für eine Mörderin. Du glaubst, ich habe dich verraten und betrogen. Lotti ist tot, Egill ist verschwunden. Und du willst mich heiraten?«
»Ja. Es wird sehr schnell gehen.«
»Aber warum? Niemand verlangt es von dir. Ich habe dir nichts zu bieten!«
»Das hat mir früher nichts bedeutet, und es bedeutet mir jetzt nichts. Wirst du das Ehegelöbnis mit mir sprechen?«
»Aber warum, Magnus? Warum?«
Er holte tief Atem, sah ihr aber noch immer nicht ins Gesicht. Sein Griff um ihre Hand festigte sich schmerzhaft. Er wußte keine Antwort. Er wiederholte nur: »Wir werden jetzt heiraten. Deine Fragen werde ich später beantworten. Mein Sohn ist irgendwo da draußen in der Wildnis, und ich muß nach ihm suchen.«
Sie sagte nichts mehr. Ob er glaubte, sein Sohn sei tot, tot wie Lotti? Beide Kinder? Wie konnte er das ertragen?
»Willst du, Zarabeth?«
Sie nickte bedächtig, schweigend. Es war unvermeidlich, sich mit diesem Mann zu verbinden. Sie hatte es längst akzeptiert. Sie konnte ihn nicht abweisen.
Sie zeigte keine Regung, als Magnus der Familie seine Entscheidung eröffnete. Sie schloß nur die Augen über das allgemeine Erstaunen in den Gesichtern der Anwesenden, über Cyras bleiche und Ingunns haßverzerrte Miene. Dumpf fragte sie sich, ob sie ihr ganzes Leben von anderen Menschen abhängig sein würde, ob alle Entscheidungen, die ihr Leben betrafen, von anderen getroffen würden. Dann hob sie die Schultern. Es war nicht von Bedeutung. Lotti war tot. Zarabeth würde zwar weiter leben, atmen, essen und schlafen, doch ihre Lebensfreude war dahin und würde nie wiederkehren.
Kurz darauf, so schnell, daß sie die Zusammenhänge kaum begriff, stand Magnus vor ihr, hielt ihre rechte Hand und sprach: »Vor diesen Zeugen und vor unseren Göttern gelobe ich dir, Zarabeth, die Treue zu halten, solange ich lebe. Du wirst mein Weib sein, bis daß der Tod uns scheidet. Ich verspreche, dich mit meinem Schwert und meinem Körper zu schützen, wir werden in Frieden leben. Du wirst mit mir teilen, was ich jetzt und in Zukunft besitze.« Er schob ihr einen schönen Goldreif über den Ringfinger.
Dann beugte er sich vor und sagte ruhig: »Nun wirst du die gleichen Worte zu mir sprechen, Zarabeth.«
»Aber ich bin Christin, Magnus. Es ist kein Priester hier. Wie können diese Worte uns vereinen?«
Er lächelte und wiederholte nur: »Sprich die Worte. Du bist in meinem Land, wir haben keinen christlichen Gott, dem wir unsere Seelen verpfänden.«
»Ich gelobe, dir ergeben zu sein, Magnus.«
»Du machst es richtig. Fahre fort.«
Ihre Stimme klang angestrengt. »Ich werde mit dir in Frieden leben. Ich werde dir alles geben, was ich besitze. Ich werde dich mit meinem Leben beschützen.«
»Und deine Treue, Zarabeth? Gelobst du mir Treue?«
»Ich gelobe dir Treue und Gehorsam.«
»Ich hoffe, dein Versprechen wird Bestand haben. Nun streife mir den Ring an den Finger.«
Sie tat, was er von ihr verlangte. Dann beugte er sich vor und küßte sie auf die Stirn. »Deine Worte haben mir Freude bereitet. Würdest du mich wirklich mit deinem Leben beschützen? Wirst du mir ehrlich die Treue halten? Vor allen anderen Menschen?« Sie senkte den Kopf. Er drehte sich um, sah seinen Vater an, dann Mattias und Jon und zuletzt seine Mutter. »Ihr seid unsere Trauzeugen. Gibt es jemand unter den Anwesenden, der Einwände gegen diese Verbindung erhebt?«
Allgemeines Schweigen.
»Gut. Zarabeth, hör mir zu! Du bleibst hier bei meiner Mutter und bereitest uns ein Mahl. Wir machen uns auf die Suche nach meinem Sohn. Ich weiß nicht, wie lange wir diesmal fortbleiben.«
Sie griff nach ihm, zerrte am Tuch seiner Tunika. »Aber ich möchte mit dir gehen, Magnus! Egill konnte nichts dafür. Er hat sich wohl die Schuld gegeben und ist fortgelaufen. Bitte, ich möchte mich an der Suche nach ihm beteiligen.«
Für einen kurzen Moment wich der Schmerz aus seinen Augen. Er brachte sogar ein Lächeln zustande, strich ihr über das leuchtendrote Haar. »Nein, du bleibst hier. Gehorche mir, Zarabeth.« Und zu Helgi gewandt: »Paß auf sie auf, Mutter. Sie darf den Palisadenzaun nicht verlassen.«
Damit drehte er sich um und ging, seine Brüder und sein Vater folgten ihm. Die restlichen Männer eilten hinterher.
Helgi nahm ihre neue Schwiegertochter in die Arme. »Sei nicht bekümmert, Zarabeth. Sie werden den Jungen finden.«
»Er ist fortgelaufen, weil er sich schuldig fühlte.« Zarabeth seufzte tief. »Er darf nicht sterben, nur weil Lotti gestorben ist.«
»Magnus wird seinen Sohn finden. Dein großes Herz für den Jungen gefällt mir, und es gefällt Magnus. Aber du mußt verstehen, daß deinem Gemahl deine Sicherheit sehr am Herzen liegt.«
Zarabeth rang die Hände. »Aber Egill trägt doch keine Schuld. Wenn ich ihn nur finden und mit ihm reden könnte.«
»Das geht nicht. Du wartest hier, wie dein Gemahl es wünscht, und dabei bleibt es.«
Ingunn stellte sich neben die Mutter, und ihre ganze Aufmerksamkeit galt der Frau, die ihr alles weggenommen hatte. Von der sie von Anfang an wußte, sie würde ihr alles wegnehmen, schon als sie zum ersten Mal hinter Magnus den Weg vom Wasser heraufgekommen war, mit ihrem roten Haar und dem Sklavenband um den Hals. Ja, sie hatte es damals schon gewußt. Magnus war ein Narr. Zu ihrer Mutter gewandt, forderte sie mit Nachdruck: »Ich möchte Malek auf der Stelle verlassen. Ich möchte diesen Hof nie wieder betreten. Mein Bruder sieht nicht, was das für eine ist, und nun hat er dieser Hure auch noch die Treue geschworen, dieser Giftmörderin. Wahrscheinlich ist sein Sohn tot, nur wegen diesem Frauenzimmer und dem schwachsinnigen Balg.«
Die zerbrechliche Fassung, die Zarabeth mühsam wahrte, zersprang. Sie knurrte wie ein wildes Tier und warf sich auf Ingunn, ihre Hände umkrallten ihre Kehle. »Du giftspeiende Natter! Ich würde dir am liebsten die Zunge herausschneiden. Du bist gemein und bösartig. Du solltest da draußen in den Wäldern herumirren, nicht Egill, nicht der unschuldige, kleine Junge!«
Zarabeth spürte, wie kraftvolle Hände an ihren Handgelenken zerrten. Und sie hörte Helgis beschwichtigende Worte: »Genug, Zarabeth. Laß sie zufrieden! Laß sie los! So ist es gut. Beruhige dich.«
Zarabeths Finger lösten sich von Ingunn. Sie zitterte vor Wut. Ingunn griff sich an den Hals, massierte ihn keuchend. Zarabeth wandte sich von ihr ab, um den tödlichen Haß in den Augen ihrer Feindin nicht zu sehen.
Helgi blickte von einer zur anderen. »Ich dulde deine Beschimpfungen nicht länger, Ingunn. Es gibt keinen Grund für deinen Haß. Dein Bruder hat Zarabeth zur Frau genommen. Du wußtest, daß er sich irgendwann eine Frau nehmen würde, und daß deine Stellung an seinem Hof nicht von Dauer ist. Warum hast du diesen Weg gewählt? Es war ohnehin eine falsche Entscheidung und weder dir noch deinem Bruder gerecht. Das ist nun aus und vorbei. Und du mußt es akzeptieren. Du wirst deiner Arbeit nachgehen, und du wirst deine Gemeinheiten für dich behalten.«
»Aber . . .«
»Genug! Wir werden einen Ehemann für dich finden, einen anständigen Mann, und du wirst Orm vergessen. Nein, ich will nichts mehr von ihm hören! Es geht das Gerücht, er und seine Männer hätten die Söhne von Ingolfsson umgebracht und die Frauen geschändet. Willst du dich an einen solchen Mann wegwerfen? Er ist ein Bandit, eine Bestie.«
»Das ist nicht wahr! So etwas würde Orm nie im Leben tun! Es ist eine Lüge! Nur mein Vater kann so etwas behaupten, weil er neidisch auf Orm ist!«
Helgi überhörte die letzte Beleidigung Ingunns gegen ihren Vater. »Es ist Zeit, daß du heiratest und Kinder bekommst, Ingunn. Dann wirst du Orm vergessen. Ich möchte nicht mehr darüber sprechen.«
Ingunn senkte den Kopf. Zarabeths Zorn legte sich, dennoch zitterte sie am ganzen Körper.
Helgi führte Zarabeth zu einer der Holzbänke, setzte sich neben sie und blickte ihr forschend ins Gesicht.
»Gibst du Egill wirklich keine Schuld an Lottis Tod?«
Zarabeth schüttelte den Kopf. »Er ist ein Kind. Er war eifersüchtig auf Lotti, weil Magnus sich mit ihr beschäftigte. Es war mein Fehler zu glauben, daß er ihr wirklich etwas antun könnte. Aber etwas in mir ist einfach zersprungen . . .«
»Ich weiß«, nickte Helgi und klopfte ihrer Schwiegertochter auf die Schulter. »Warum setzt du dich nicht in ein heißes Bad? Es wird dir guttun.«
Ich trage an allem die Schuld, brannte es Zarabeth auf der Zunge, hinauszuschreien. Ich war diejenige, die sie fortgetragen hat, ich habe sie ins Boot gesetzt. Ich habe sie getötet.
Doch sie schwieg. Hätte sie die Worte laut ausgesprochen, hätten sie sich für immer in ihre Seele gebrannt, und sie wußte, daß sie nicht stark genug war, das zu ertragen.
Nachdem sie gebadet hatte, das Haar gekämmt und zu einem Zopf geflochten und ein sauberes Kleid angezogen hatte, stand sie da und war zu keiner Bewegung fähig. Sie sah ihre kleine Schwester in den Tiefen des Meeres, von Seetang umschlungen, ihr feines Haar in der Strömung treibend. Und Lotti war still, ganz still . . .
Sie bemerkte ihre Tränen erst, als sie das Salz auf ihren Lippen schmeckte. Sie rannte zum Langhaus, rannte in Magnus' Kammer, setzte sich aufs Bett und weinte. Niemand kam, um sie zu trösten.
Sie wußte nicht, daß es so viele Tränen gab, die sie erstickten, ihre Kehle entzündeten, ihre Augen röteten. Sie flüsterte: »Lotti, es tut mir so leid. Mein Gott, vergib mir. Es war meine Schuld.«
Die Männer kehrten erst gegen Mitternacht zurück. Das Dämmerlicht der hellen Mittsommernacht tauchte die Landschaft in einen fahlen Schein, der Zarabeth noch immer in Erstaunen versetzte. Sie stand vor dem Palisadenzaun, den Blick auf das Wasser gerichtet. Irgendwo dort draußen lag Lotti auf dem Grund des Meeres in ihrem nassen Grab. Wenn sie wenigstens in einem Sarg in kühler Erde läge, friedlich schlafend.
Sie rieb sich die nackten Arme, der Nachtwind hatte Feuchtigkeit vom Meer her gebracht.
Die Männer kamen hintereinander in einer langen Linie den Pfad herauf. Sie hatten Egill nicht gefunden. Ihre Augen suchten Magnus, ihren neuen Ehemann. Er wirkte niedergeschlagen und erschöpft. In ihrer Seele nagte der Schmerz. Beide Kinder waren für immer verloren, eines war dem anderen gefolgt, und am Tod beider trug sie die Schuld.
Wieder flossen ihre Tränen.
Magnus sah sie an der Umzäunung stehen, reglos, ihren Blick ihm zugewandt, das Gesicht tränenüberströmt. Er schüttelte nur den Kopf und sah auf sie hinunter. Seine Fingerspitzen berührten ihre nasse Wange. Langsam zog er sie in seine Arme und legte ihren Kopf an seine Schulter.
»Wir haben ihn nicht gefunden, keine Spur von ihm. Das heißt, er könnte noch am Leben sein.«
Zarabeth hob das Gesicht. »Dann könnte Lotti auch noch am Leben sein.«
Magnus hörte die Unehrlichkeit seiner Worte, aber sie hielten ihn aufrecht. Sie waren alles, womit er seine Trauer bezwingen konnte.
»Ja, das wäre möglich«, hörte er sich sagen. Aber er wußte, daß es nicht stimmte. Lotti war ertrunken. Ihre Leiche war entweder von der Strömung in den Oslofjord getrieben worden, oder sie hing immer noch im dichten Seegras gefangen. Auch sein Sohn war tot. Er hatte ihn nur noch nicht gefunden. Warum war der Junge verschwunden? War er weggelaufen, aus Furcht, wegen Lottis Tod bestraft zu werden? Wo mochte er sein? Die vielen Möglichkeiten peinigten ihn. Vielleicht war er von einem wilden Tier zerfleischt oder verschleppt worden. Oder Banditen hatten ihn gefangen, die das Kind folterten. Möglicherweise verlangten sie Lösegeld für ihn ... Oder aber ... so ging es weiter, unaufhörlich. Magnus mußte seinen Gedanken Einhalt gebieten.
Er löste sich von seiner Frau.
»Wir sind jetzt so vereint, wie wir von Anfang an vereint sein sollten. Was auch geschehen ist, wir können es nicht ändern. Wir müssen es ertragen und uns damit abfinden.«
Das ist sehr schwer, Magnus.«
»Ja, ich weiß.« Wieder berührten seine Fingerspitzen ihre Wangen, wischten die Tränen fort und glitten über ihre Augenbrauen.
»Ich kann nicht aufhören zu weinen.«
Die Männer waren mit schweren, müden Schritten ins Langhaus gegangen. Einige aßen, andere legten sich sogleich hin und schliefen erschöpft ein.
»Jetzt bin ich wieder da, und ich werde dich im Arm halten, wenn du weinst.«
Und wer wird dich im Arm halten, fragte sie sich, denn dich sieht niemand, wenn du weinst.
Magnus Familie blieb noch zwei Tage, die Männer suchten jeden Tag stundenlang nach Egill. Niemand sprach davon, die Suche aufzugeben, aber es gab nirgends ein Zeichen, nicht die geringste Spur von dem Jungen. Er blieb verschwunden.
Helgi unterwies Zarabeth in Aufgaben der Haushaltsführung, die sie in York nicht gelernt hatte, gab knappe, sachliche Anweisungen, wurde aber nie ungeduldig oder schroff.
»Deine Familie in York war klein, und du konntest vieles kaufen oder gegen andere Waren tauschen. Aber hier müssen wir alles selber machen, denn fahrende Kaufleute kommen selten und unregelmäßig. Man kann sich nicht darauf verlassen. Du mußt auch Tuch färben können . . . siehst du dieses schöne rötliche Braun? Das gewinnen wir aus der Wurzel der Krapp-Pflanze. Farne und diese kleinen Zwiebeln ergeben ein helles Braun. Und diesen schönen Goldton erhalten wir aus Flechten. Du kommst aus Irland, Zarabeth. Sicher kennst du Safran, dieses satte Gelb, das uns die Blütenstände der Herbstzeitlose liefern.«
Zarabeth hörte ihrer Schwiegermuter aufmerksam zu, sie lernte mit Eifer, trotz der Leere in ihrem Innern, trotz der nagenden Gewissensbisse, die sie ständig quälten.
Helgi zeigte ihr, wie man Fische trocknete. Sie hielt eine frisch ausgenommene und gewaschene Forelle hoch. »Wir trocknen sie in Rauch und salzen sie ein. In den Herbst- und Winterstürmen können die Männer nicht zum Fischen aufs Meer hinausfahren. In diesen Zeiten brauchst du einen guten Vorrat an Trockenfischen, damit niemand hungern muß. Schau gut zu, Zarabeth. Du spreizt diese Holzstücke in den Fisch, damit die Luft überall an ihn herankommt, und dann hängst du ihn an den kleinen Stöcken auf, die du ihm zwischen die Kiemen steckst.«
Helgi lehrte sie Flachs kämmen und alle Knötchen und Verfilzungen daraus zu entfernen. Zarabeth konnte das Spinnrad bedienen und Fäden spinnen, doch Helgi zwirbelte die Fasern fester zusammen; ihr Faden war stärker und dauerhafter.
Ingunn verrichtete nur die Arbeiten, die ihre Mutter ihr auftrug. Zorn und Haß waren von ihr gewichen. Ihr Gesicht war ohne Ausdruck und seltsam leblos. Diese völlige Starre beunruhigte Zarabeth mehr als ihre früheren Wutanfälle.
Cyra hatte sich für Horkel entschieden und eröffnete Zarabeth ihre Wahl. Sie schien zu vergessen, daß sie Sklavin war; schließlich war Zarabeth ebenfalls Sklavin gewesen, auch wenn sie nunmehr die Herrin auf Malek war. Tagsüber würdigte Horkel seine Cyra keines Blickes, doch jeden Abend packte er sie bei der Hand und zog sie aus dem Langhaus. Am Morgen lächelte sie, mit sich und der Welt zufrieden. Magnus schwieg, und sein Schweigen bedeutete Einverständnis mit allem, was Horkel tat.
Cyra verrichtete ohne Murren die Arbeiten, die Zarabeth ihr auftrug. Auch das übrige Gesinde und alle Sklaven erkannten Zarabeth als Herrin an.
Das Leben ging weiter, so selbstverständlich, als sei nichts geschehen. Nur Zarabeth weigerte sich, das Schicksal hinzunehmen. Sie sträubte sich mit jeder Faser ihres Daseins dagegen, so zu tun, als sei alles wieder normal. Sie sah, wie Männer und Frauen miteinander redeten, lachten und zankten. In ihrer Niedergeschlagenheit zog sie sich völlig in sich selbst zurück. Sie arbeitete und beaufsichtigte das Gesinde, wie es ihre Pflicht war. Aber sie sonderte sich ab, blieb unbeteiligt. Dennoch gab ihr die Arbeit, die Eintönigkeit stets wiederkehrender Aufgaben und Handgriffe Trost, sie stumpften ihren Verstand ab.
Tante Eldrid saß wieder an ihrem Webstuhl. Sie verrichtete keine anderen Arbeiten. Und sie war eine sehr kunstfertige Weberin. Sie spielte mit den Kindern, unterwies die Mädchen in Handarbeiten. Um ihren Mund hatten sich noch tiefere Falten gegraben, und ihre Augen waren ohne Leben. Helgi mied ihre Schwester, und Zarabeth registrierte das Verhalten mit einiger Verwunderung.
Sie arbeitete, bis sie zu erschöpft war, um etwas zu essen. Magnus redete nicht mit ihr darüber. Wenn sie ins Bett fiel, legte er nur seine Arme um sie und hielt sie fest. Für Magnus war das Leben noch nie so unbeherrschbar gewesen. Und noch nie hatte er solche Qualen ausgestanden. Sein kleiner Sohn mußte mit acht Jahren sterben. Er war ihm entrissen worden. Er ließ sich seine Pein nicht anmerken, doch manchmal zweifelte er daran, ob er seinen Schmerz überstehen würde. Und in den langen, schlaflosen Nachtstunden suchten ihn die Erinnerungen heim.
Er hatte nicht viele Sommer auf dem Gehöft verbracht, denn dies war die Zeit der Seefahrer und Handelsleute. Seit früher Kindheit war er in diesen Monaten unterwegs. Dies war der erste Sommer seit fünf Jahren, den er hier mit Jagen und Feldarbeit verbrachte. Wie Zarabeth fand auch er Trost und Erleichterung in unermüdlicher Arbeit. Und er wußte, er durfte sie noch nicht alleine lassen. Es war noch zu früh. Er lag im Bett neben ihr und spürte ihre zarten, warmen Atemzüge an seiner Brust. Und seine Gedanken wanderten zu seinem Bruder Jon. Er fragte sich, wohin Jon in diesem Sommer reisen wollte. Er war mit seinem Boot Schwarzer Rabe und zwanzig Männern vor einer Woche in See gestochen. Magnus vermutete, daß er nach Kiew aufgebrochen war, um die Gegend dort zu plündern. Er schlug sich gern mit den Wilden dieser fernen Länder herum, tötete sie oder nahm sie als Sklaven gefangen und scheffelte Gold und Silber mit seinem Geschick als Händler, wenn er sie an Araber und reiche Edelleute verkaufte, die in der goldenen Stadt Miklagard lebten.
Magnus sehnte sich danach, mit Jon auf Seefahrt unterwegs zu sein, den Wind im Gesicht und das Kampfgeschehen vor Augen. Er wünschte, Zarabeth nie begegnet, von Lottis liebevollem Wesen nie verzaubert worden, nie nach York zurückgekehrt zu sein. Doch es war geschehen, und was geschehen war, war nicht zu ändern. Aber es fiel ihm schwer, das Schicksal hinzunehmen: Lotti und sein kleiner Sohn waren tot. Tot und fortgegangen. Damit konnte er sich nicht abfinden. Das fraß in seinem Inneren und nagte an seinem Verstand.
Zarabeth bewegte sich, stöhnte leise, und er festigte seine Umarmung, küßte ihre Schläfe. Sie war sein Weib.
Am Morgen des dritten Tages trafen seine Eltern Reisevorbereitungen.
»Ich habe Zarabeth in vielen Aufgaben unterwiesen«, erklärte Helgi ihrem Sohn. »Sie ist ein kluges Mädchen, und sie ist willig. Du hast eine gute Wahl getroffen, Magnus.« Sie strich ihrem Sohn sacht über den Arm. »Aber sie leidet sehr und ist in tiefer Trauer. Sie versucht es zu verbergen, aber es fällt ihr sehr schwer. Ich habe sie beobachtet und weiß, daß sie sich tief in ihr Inneres einschließt; nur dort kann sie ihren Schmerz ertragen. Dir fällt es weniger schwer, deine Gefühle zu verbergen, doch auch dein Schmerz sitzt sehr tief. Ihr zwei könnt miteinander genesen, könnt euch gegenseitig gesund machen, wenn du es nur zulassen würdest. Ich nehme nicht an, daß du ihr gesagt hast, was sie dir bedeutet.«
Er schüttelte den Kopf. »Sie bedeutet mir nichts«, sagte er mit fester Stimme, und die Unaufrichtigkeit seiner Worte war so deutlich, daß seine Mutter den Kopf abwandte, um ihr Lächeln zu verbergen. »Es ist wahr. Ich hatte keine andere Wahl. Ich war verantwortlich für alles, was geschehen ist. Ich habe nur meine Pflicht getan. Ich konnte nicht zulassen, daß Lottis Schwester weiterhin meine Sklavin bleibt.«
Helgi setzte ihren Gedankengang fort, als habe er nichts gesagt. »Zarabeth ist ein Mädchen, das nicht viel Zuneigung erhalten hat, zumindest nicht nach dem Tod der Mutter. Deshalb hat sie all ihre Liebe dem Kind gegeben. Wenn du es zulassen würdest, würde sie diese Liebe auf dich übertragen. Kannst du dir eine solche Liebe vorstellen?«
»Sie muß mir ihre Liebe geben, und sie wird es tun. Sie ist meine Ehefrau. Sie schuldet mir Treue. Sie hat es mir versprochen, wie du dich erinnerst.«
»Du warst schon als Knabe sehr eigensinnig«, stellte Helgi beinahe belustigt fest. »Aber mein Sohn, Tatsachen haben die Angewohnheit, sich nicht verleugnen zu lassen. Verschließ deine Augen nicht zu lange, Magnus.« Helgi küßte ihn. Dann ging sie zu Zarabeth am anderen Ende des großen Raumes und schloß sie in die Arme. »Denk daran, Waidfärben ist sehr mühsam und eine stinkende Angelegenheit. Aber nachdem du das Tuch zweimal gespült hast — vergiß nicht, zwei Mal — kommt die schöne blaue Farbe zum Vorschein, und du wirst wissen, daß alle Mühsal sich gelohnt hat. Blau ist eine Farbe, die Magnus gut kleidet. Es unterstreicht das Blau seiner Augen.«
»Zwei Mal«, nickte Zarabeth und schenkte ihrer Schwiegermutter ein dünnes Lächeln.
Helgi blinzelte. Es war das erste Mal, daß sie bei Zarabeth den Anflug eines Lächelns sah. Es verwandelte ihr Gesicht. Sie schickte ein stummes Gebet zu den Göttern und wandte sich ihrem Ehemann zu.
Ingunn verließ Malek mit den Eltern. Bevor sie ging, zischte sie Zarabeth zu: »Ich werde einen Weg finden, mich zu rächen, du Hure. O ja, ich finde einen Weg.«
Zarabeth starrte sie schweigend an. Ingunn verschwand aus ihrem Leben. Sie mußte sich nie wieder mit ihr abgeben.
Auf Malek lebten und arbeiteten zwar fünfzig Menschen, dennoch kehrte bedrückende Stille ein, nachdem Magnus Eltern samt Gefolge abgereist waren. Magnus und seine Männer brachen zur Jagd auf und Zarabeth suchte, wie jeden Morgen, das Heiligtum auf. Es war ein kleiner Tempel an der hinteren Umzäunung des Gehöftes, der von einem niederen, runden Zaun umfriedet war. Sie kannte die religiösen Rituale der Wikinger nicht, niemand hatte sie darüber aufgeklärt, ob das, was sie tat, richtig oder falsch war. Ihr diente der kleine Tempel aus Holz als Ersatz für eine christliche Kirche. Sie kniete in der Mitte nieder und betete.
Das gab ihr Frieden. Sie wünschte, sie könnte mit Magnus darüber sprechen. Doch er war ihr fremd, hielt sich von ihr fern, und wenn er in ihrer Nähe war, war er einsilbig und verschlossen. Es wurde nicht viel gelacht auf Malek in diesen Tagen.
Er wollte ihr Trost geben, das entnahm sie seinem Schweigen, den zarten Berührungen, wenn er ihr die Hand auf die Schulter legte, als wisse er, wann die schwarze Verzweiflung wieder Besitz von ihr ergriff.
Er berührte sie nur, um ihr Trost und Rückhalt zu geben. Dafür war sie ihm dankbar, doch ihr fehlten die Worte, um ihre Dankbarkeit zum Ausdruck zu bringen.
Sie war seit zwei Wochen seine Ehefrau. Und eines Morgens stellte Magnus fest, daß seine Lust zurückkehrte und sein Geschlecht schwoll, als er seine Blicke auf ihr ruhen ließ. Er begehrte sie. Er sah ihr zu, wie sie sich streckte, um einen Eisentopf vom Haken zu nehmen. Die Bewegung spannte das Kleid um ihre Brüste. Dabei spürte er das vertraute Anschwellen seiner Männlichkeit.
Er holte tief Luft und erhob sich langsam aus seinem Stuhl.